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Mysteriöser Tod auf Bornholm.
Sarah Pirohl, Ermittlerin auf Bornholm, bekommt von der deutschen Polizei einen besonderen Auftrag: Auf der dänischen Insel ist Monica Seffgen, die aus Flensburg stammt, auf dem Weg zum Strand überfallen und getötet worden. Sarah findet heraus, dass Monica meistens für sich blieb und sehr wohlhabend war. In Deutschland war sie bei einem Senioren-Service beschäftigt. Ihr letzter Patient war ein ehemaliger hochrangiger Marineoffizier. Und offenbar haben sich auch Geheimdienste für ihre Arbeit interessiert. Könnte Monica Seffgen eine Spionin gewesen sein?
Aktuell und temporeich – der neue Krimi von SPIEGEL-Bestsellerautorin Katharina Peters.
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Seitenzahl: 473
Ein brutaler Überfall auf Bornholm erschüttert die Polizei. Die vierzigjährige Monica Seffgen, eine gebürtige Flensburgerin, ist auf dem Weg zu Strand niedergeschlagen und mit ihrem Schal erdrosselt worden. Das Motiv jedoch ist unklar. Ein Raubmord kann ausgeschlossen werden. Die deutschen Behörden ziehen die Ermittlerin Sarah Pirohl hinzu, die als Verbindungsbeamtin auf Bornholm lebt. Sarah stößt sofort auf etliche Ungereimtheiten. Monica Seffgen war für einen Senioren-Service tätig und anscheinend sehr wohlhabend. Ihr letzter Patient war ein ehemaliger Marineoffizier in Eckernförde, bei dem sie sogar gewohnt hat. Es besteht der Verdacht, dass sie im Testament des alten Herrn bedacht worden ist. Könnte Monica Seffgens Reichtum damit zusammenhängen, dass sie ihre Patienten betrogen und getäuscht hat? Dann findet Sarah heraus, dass Marina Kleisberg, die Tochter des Marineoffiziers, sich zu genau der Zeit, als der Mord geschah, auf Bornholm aufhielt – und dass sich auch Geheimdienste für Monica Seffgen zu interessieren scheinen.
Katharina Peters schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt mit ihren Hunden in Schleswig-Holstein. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.
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Katharina Peters
Bornholmer Geheimnis
Kriminalroman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Impressum
Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...
Für Susanne und Christian
Sie schien bester Stimmung zu sein. Ein versonnenes Lächeln glitt über ihr Gesicht, während sie das Grundstück des Hotels zu Fuß verließ und direkt in den Wald eintauchte. Das tat sie jeden Abend nach dem Essen, seit sie hier war – sorgfältig, beinahe elegant gekleidet und dezent geschminkt, passend zu dem schönen Hotel am Meer, in dem keine Wünsche offenblieben. Der Strand war nur gut hundert Meter entfernt, und obwohl der Herbst der Insel inzwischen deutlich kühlere Temperaturen bescherte, war die Atmosphäre zauberhaft. Der Himmel erstrahlte in fast unwirklich kräftigem Blau vor dem flirrenden Grün des Waldes, während am Horizont die Abenddämmerung warme Rottöne hervorbrachte. In Kürze würden sie der Blick über die See und ihr salziger Duft verzücken. Sie würde noch breiter lächeln, eine Haarsträhne nach hinten streifen, vielleicht die Jacke schließen und sich den Schal enger um den Hals wickeln, weil der Wind auffrischte.
Er beobachtete sie aus ungefähr zwanzig Metern Entfernung, und auch an diesem Abend hatte sie nicht die geringste Ahnung, dass er in ihrer Nähe war. In gut einer Viertelstunde würde sie sich auf den Rückweg begeben, und an diesem zauberhaften und stillen Abend würde er es zu Ende bringen – im einsam dämmrigen Halbdunkel des Bornholmer Küstenwaldes. Für die späten Abend- und Nachstunden war Regen angesagt. Ein guter Zeitpunkt, nahezu perfekt für sein Vorhaben – den endgültigen Abschied.
Er schob sich hinter einen Baumstamm, ging in die Hocke und wartete. Zu seiner eigenen Verwunderung breitete sich eine süße Zufriedenheit in ihm aus, nachdem er seine Entscheidung noch ein letztes Mal unvoreingenommen von allen Seiten betrachtet hatte. Sie war unumstößlich wie eine Formel, die nur ein Ergebnis kannte. Er hatte an alles gedacht, kein Detail ausgelassen, nichts falsch gewichtet, dessen war er sicher.
Wenige Minuten später war es so weit. Sie hatte sich umgewandt und auf den Rückweg gemacht. Leise summend ging sie so dicht an ihm vorbei, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Er wartete, bis sie drei Schritte entfernt war, dann richtete er sich langsam auf und schlich hinter ihr her. Nur sie und er in diesem verzauberten Wald, der alle anderen Geräusche schluckte wie ein gefräßiges Tier. Er räusperte sich gedämpft, und sie schrak zusammen und fuhr herum.
Er lächelte. Sie blickte ihn an. Grenzenlose Verwunderung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Er lächelte immer noch, dann zwinkerte er, trat näher und blieb dicht vor ihr stehen.
»Du bist da«, sagte sie leise, und das Staunen wärmte ihr Gesicht. Die Überraschung war gelungen. »Ich habe nicht mehr mit dir gerechnet. Nun wird alles gut.«
Er nickte nachdenklich, strich sich eine Strähne aus der Stirn und hielt ihren Blick fest. Dann blieb die Zeit stehen. Er holte blitzschnell aus und schmetterte ihr die rechte Faust mit ganzer Kraft ins Gesicht. Sie ging wie gefällt zu Boden und schnappte nach Luft. Er betrachtete sie einen Moment, bevor er sich auf sie setzte, mit den Knien ihre Arme niederdrückte und in ihr blutendes Gesicht starrte.
Nachdem sie die Augen wieder geöffnet hatte, schlug er erneut zu – mit beiden Fäusten – und immer wieder. Harte, satte Treffer, und jeder einzelne löste tiefe Befriedigung in ihm aus. Schließlich hielt er atemlos inne, griff nach dem Schal, wickelte die Enden um seine Handgelenke und zog zu, bis sie nicht mehr atmete.
Als er aufstand, waren keine drei Minuten seit seinem Angriff vergangen. Drei Minuten, die ihr einen völlig unerwarteten und zugleich schmerzvollen Tod beschert hatten. Er riss sich los von ihrem Anblick, lief in nördlicher Richtung quer durch den Wald; auf der Höhe von Tofte wandte er sich nach Osten bis zum Aabywej, wo er in einem dichten Gebüsch sein Motorrad versteckt hatte. Er lächelte, als der Fahrtwind sein Gesicht kühlte und wenig später Regen aufkam. Es war getan.
Der Ausflug nach Kiel hatte ihr gutgetan. Doch Kommissarin Sarah Pirohl war auch zwei Tage nach ihrer Rückkehr auf die Insel unschlüssig, wie es für sie weitergehen sollte. Nach wochenlanger Auszeit, die sie fast ausschließlich genutzt hatte, um sich am Strand zu aalen, Bornholm mit dem Fahrrad zu durchstromern, endlich Abstand von den Fällen zu gewinnen, die sie Jahre beschäftigt hatten, und zur Ruhe zu kommen, markierte die Einladung des LKA zugleich das Ende des Sommers und die leise Aufforderung, sich konkret mit ihrer weiteren beruflichen Zukunft zu befassen. Das Angebot, das Ostsee-Team in Schleswig-Holstein zu verstärken, klang vielversprechend: Die Arbeit in einer gut besetzten Ermittlungsgruppe, die mit anderen Ostsee-Anrainerstaaten gegen Waffenschmuggel vorging, hatte durchaus ihren Reiz. Auch im Kieler Cold-Case-Team gäbe es einen Platz für sie, hatte man Sarah versichert. Darüber hinaus war die LKA-Sonderkommission in Berlin – insbesondere Ermittlungsleiterin Kathleen Bischoph – an einer weiteren engen Zusammenarbeit mit Sarah interessiert.
Die aufreibenden und definitiv finalen Ermittlungen zum Geschehen rund um ihren Vater, den Wirtschaftsanwalt Bernd Pirohl, und dessen Umtriebe als entscheidender Strippenzieher eines seit Jahrzehnten aktiven rechtsradikalen Netzwerks hatten neben Hannah Jakob, Frederik und Krølle zuletzt auch die Juristin und ihr Team auf den Plan gerufen. Und Kathleen war felsenfest davon überzeugt, dass sie die Zusammenarbeit fortsetzen sollten, weil sie sich gut ergänzten. Sarah zögerte deutlich. Die Aufgabe war zweifellos reizvoll und aufregend, doch sie war Kathleen nahegekommen, zu nahe.
Sarah hatte vor etlichen Wochen Kathleens Geburtstagseinladung angenommen und nach einer langen Partynacht in der Hauptstadt ein ganzes Wochenende mit ihr allein verbracht – in einem abgelegenen Ferienhaus an der Müritz. Ein paar rauschhafte Tage und Nächte voller Begehren und Nähe, die sie zugelassen hatten, um im nächsten Moment wechselweise zu betonen, dass keine Bindungsabsichten damit verbunden waren. Doch ganz so einfach war es dann tatsächlich nicht. Sarah hatte sich distanziert. Sie war davon überzeugt, dass ein gemeinsamer beruflicher Weg zu Irritationen führen und Probleme mit sich bringen würde, und sie wollte weder das eine noch das andere, wenn es sich verhindern ließ. Was sie darüber hinaus wollte, blieb zurzeit noch verschwommen.
Distanziert hatte sich auch Mikkel Bentsen, und das schmerzte. Der Bornholmer Kommissariatsleiter machte keinen Hehl daraus, dass er die Teamfähigkeit der BKA-Verbindungsbeamtin für unzureichend hielt. Ihre wiederholten Alleingänge und die persönliche Betroffenheit, erneut und ganz besonders im letzten Fall, waren ihm ein Dorn im Auge, und er hatte nichts dagegen, wenn diese Zusammenarbeit ein baldiges Ende finden würde.
Vielleicht sollte ich ihm den Gefallen tun und an diesem wunderbaren Ort nur noch Auszeiten genießen, dachte Sarah während eines frühen Strandspaziergangs. Die Wolken hingen tief, es hatte geregnet, und die See war aufgewühlt. Nur wenige Menschen waren unterwegs; in der Ferne joggte ein Mann, zwei Hunde rannten hinter ihm her.
Ende der Woche treffe ich eine Entscheidung, dachte Sarah, während sie zu ihrem Haus zurückkehrte. Sie kochte frischen Kaffee und bereitete ihr Frühstück zu – Haferflocken mit Obst –, als ein Wagen vor ihrem Haus hielt. Einen Moment später stand Mikkel Bentsen vor der Tür. Wenn man vom Teufel spricht oder an ihn denkt, dachte Sarah einen Moment amüsiert. Er grüßte knapp, warf ihr einen langen Blick zu und trat ein.
»Kaffee?«, fragte Sarah. »Er läuft gerade durch.«
Bentsen blieb mitten im Raum stehen und zögerte sichtlich, bevor er nickte.
»Setz dich doch.« Sie verkniff sich den Zusatz Kollege. Mikkel dürfte gerade wenig Wert darauflegen.
Er nahm am Küchentresen Platz, und Sarah reichte ihm eine Tasse, bevor sie ihre Frühstücksflocken zu essen begann.
Er trank einen Schluck. »Es gibt was zu tun für dich – für uns«, ergriff er schließlich das Wort. »Sofern ich nichts verpasst habe und du noch die zuständige BKA-Verbindungsbeamtin bist«, fuhr er auf Deutsch fort. »Vielleicht hast du ja inzwischen andere Pläne.« Ein fragender Unterton schwang mit. Und nicht das kleinste Bedauern.
»Nein. Ich bin nach wie vor die zuständige Beamtin«, erwiderte Sarah und unterdrückte ein Seufzen. »Hör mal, Mikkel, es tut mir leid, wenn ich dir …«
Bentsen winkte unwirsch ab. »Lass gut sein. Es tut dir eben nicht leid«, betonte er. »Du würdest jederzeit wieder genauso entscheiden und dein Ding durchziehen. Und das nehme ich dir übel. So arbeitet man nicht im Team, aber das Thema hatten wir schon oft genug …« Er trank einen Schluck und warf ihr einen scharfen Blick zu.
Die Pirohl-Fälle sind erledigt, hätte Sarah ihm am liebsten entgegengehalten. Endgültig. Da kommt nie wieder etwas hinterher. Mein Vater ist tot, diesmal tatsächlich, wichtige Gefolgsleute sind gefasst, Frederik lebt irgendwo auf der Welt unter anderem Namen, Krølle ist untergetaucht wie üblich, Hannah hat sich von allen offiziellen Ermittlungen verabschiedet, und sämtliche Spezialteams dieser Welt kochen ihr eigenes Süppchen, auch in Dänemark. Sie entschied sich, die Einwände nicht laut auszusprechen. Mikkel wollte weder diskutieren noch Argumente hören, selbst wenn sie überzeugend klangen, oder sich gar mit ihrer Seite befassen, sondern ihr die kalte, besser gesagt, verletzte Schulter zeigen. Sie hatte ihn nicht einbezogen, und das wertete er als Vertrauensbruch – immer noch. Und wahrscheinlich hatte er gar nicht vor, ihr zu verzeihen, weil er an der Stelle unnachgiebig und stur bleiben wollte.
Bentsen stellte seine Tasse ab. »Wir haben eine Leiche.«
Sarah legte ihren Löffel beiseite.
»Du kannst ruhig weiteressen. Es gibt keinen Grund zur Eile. Spaziergänger haben heute früh nördlich von Rønne in einem Waldabschnitt in der Nähe des Strands eine tote Frau entdeckt. Sie war Gast in dem keine hundert Meter entfernten Hotel. Nach erster Einschätzung wurde sie am Vorabend überfallen, niedergeschlagen und mit ihrem Schal erdrosselt. Es handelt sich um eine deutsche Touristin.«
»Verstehe.«
»Dachte ich mir. Die ersten Daten sind unterwegs zu dir. Lass das erst mal sacken. Wir sehen uns dann später im Kommissariat, oder?« Bentsen stand abrupt auf, schob den Stuhl heran und wandte sich zum Gehen. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ruf an, wenn du Fragen hast.« Damit verließ er das Haus; Augenblicke später hörte sie den Motor und das Knirschen der Reifen.
Sarah blickte ihm einen Moment verdattert hinterher, dann ertönte ein leises Pling auf ihrem Tablet, und sie öffnete die Datei.
Das Mordopfer hieß Monica Seffgen, war vierzig Jahre alt und gebürtige Flensburgerin. Sie hatte ihren Urlaub allein auf der Insel verbracht. Ein Sexualdelikt konnte nach bisherigem Kenntnisstand ausgeschlossen werden, auch ein Raubmord kam offensichtlich nicht infrage. Sarah zuckte zusammen, als sie die Fotos betrachtete. Die Tat war mit großer Vehemenz ausgeführt worden. Das Gesicht der Frau wies weitflächige Verletzungen auf – heftige Schläge, dachte Sarah. Das ließ auf einen wütenden und/oder hasserfüllten Täter schließen. Da es in der Nacht geregnet hatte, war die Spurenlage wenig aufschlussreich, las Sarah weiter. Zeugen hatten sich bislang nicht gemeldet. Es blieb abzuwarten, ob die an der Leiche gesicherten DNA-Spuren zu Erkenntnissen führen würden.
Sarah blickte hoch, überlegte einen Moment, ob sie gleich ins Hotel fahren sollte, dann griff sie ihr Smartphone und rief Bentsen an. Bloß keine voreiligen Entscheidungen.
»Das ging ja schnell«, meinte er in lapidarem Ton. »Ich höre.«
»Was ist mit dem Hotel? Wart ihr …«
»Selbstverständlich. Der Bericht kam eben rein. Bei den ersten Befragungen kam nichts heraus, was mit der Tat zu tun haben könnte. Hotelangestellte und die ersten Gäste, die befragt wurden, können nur wenig zu Monica Seffgen sagen. Sie ist meist für sich geblieben, hat die Wellnessangebote im Haus genutzt und war öfter mit einem Mietwagen der gehobenen Klasse unterwegs. Sie hat den Eindruck einer gut betuchten Touristin gemacht, die sich etwas gönnte und abends häufig eine Runde am Strand drehte«, fuhr Bentsen fort. »So beschreibt der Kollege seine ersten Ergebnisse. Das passt auch zum Hotelzimmer – sie hatte die Luxusvariante gebucht. Außerdem besaß sie wertvollen Schmuck und teure Kleidung. Mehr haben wir im Moment noch nicht.«
»Vielleicht sollte ich auf dem Weg nach Rønne einen Abstecher ins Hotel machen und …«
»Ich bin dafür, dass du erst mal ins Kommissariat kommst und dich mit ihren Angehörigen in Deutschland in Verbindung setzt.«
Das eine schließt das andere nicht aus, dachte Sarah, verkniff sich aber den Einwand. »Gibt es ein Tablet oder …«
»Das wird bereits gecheckt.«
»Alles klar. Bis gleich.«
Bentsen hatte ohne Abschiedsgruß aufgelegt. Er hat mich nur hinzugezogen, weil es um eine Deutsche geht und ich als Verbindungsbeamtin des BKA meinen Job machen muss, dachte Sarah. Außerdem sieht er mich lieber heute als morgen in Flensburg oder Kiel oder sonst wo, Hauptsache, ich mische mich nicht mehr auf der Insel ein.
Sarah machte sich wenig später mit gemischten Gefühlen auf den Weg nach Rønne. Der Empfang im Team war wie erwartet zurückhaltend. Die meisten Kolleginnen und Kollegen teilten wohl Bentsens Vorbehalte, oder Sarah war ihnen schlicht egal. Vielleicht sollte ich mich krankmelden, schoss es ihr durch den Kopf, während sie grüßend durch die Büroräume ging, hier ein Flüstern bemerkte und dort einen scharfen Seitenblick auffing. Oder mich nicht darum scheren, wer was warum über mich dachte oder zu wissen meinte. Dann nahm sie an ihrem Schreibtisch Platz, fuhr den Rechner hoch und begann zu recherchieren. Mach einfach deinen Job, trieb sie sich selbst an. Eine Frau aus Flensburg ist ermordet worden, und es gehört zu meinen Aufgaben, den Fall aufzuklären.
Als Bentsen das Team zur Besprechung zusammenrief, waren kaum zwei Stunden vergangen. Fotos von der Leiche und dem Tatort flammten am Wandbildschirm auf. »Das Ganze ist am frühen Abend passiert«, ergriff der Kommissariatsleiter nach kurzem Blick in die Runde das Wort. »Das können wir als ersten Ausgangspunkt für unsere Ermittlungen festhalten, obwohl das rechtsmedizinische Gutachten in Kopenhagen noch ein paar Tage braucht. Das sollte uns nicht überraschen. Die lassen sich auch nicht drängen.«
Sarah hörte konzentriert zu – das Dänische war ihr inzwischen deutlich geläufiger, und doch war sie weit davon entfernt, die Sprache mühelos und flüssig zu sprechen oder unmittelbar zu verstehen, schon gar nicht, wenn schnell gesprochen wurde. Und die atmosphärischen Störungen im Team taten ihr Übriges. Sie benötigte stets die Übersetzung im Kopf.
»Die Frau wurde gesehen, als sie das Gelände nach dem Abendessen im Hotel verließ, und ihr Tod trat mit großer Wahrscheinlichkeit ein, bevor es zu regnen begann – so weit die erste Einschätzung der Spurensicherung und unseres Arztes«, fuhr Bentsen fort. »Die Aussagen aus dem Hotel sind einhellig. Die Frau hat alleine Urlaub gemacht, und sie war offenbar gut bei Kasse, darauf weist alles hin. Zum Handy und Tablet gibt es noch keine Ergebnisse.« Er zögerte und fasste dann Sarah ins Auge. »Hast du schon was zum Hintergrund? Konntest du die Familie erreichen?«
»Das Opfer war ledig, die Eltern leben nicht mehr, es gibt eine ältere Schwester, mit der ich bislang noch nicht sprechen konnte«, begann Sarah in konzentriertem Ton zu berichten. »Monica Seffgen war seit vielen Jahren in einem Senioren-Servicedienst beschäftigt. Das erstaunt mich einigermaßen, denn Mitarbeitende in solchen Diensten gehören nicht gerade zu den Gutverdienenden – zumindest nicht in Deutschland.«
»Bist du sicher?«, fragte Bentsen verblüfft. »Sie war als Pflegekraft beschäftigt?«
»So sieht es aus. Allerdings scheint das Serviceunternehmen nach meiner ersten Einschätzung mit seinen Angeboten deutlich über das hinauszugehen, was ambulante Pflegedienste für gesetzlich Versicherte bereitstellen. Doch selbst wenn sie dort gut verdient hat …« Sarah wies auf den Bildschirm. »Allein der Schmuck in ihrem Hotelzimmer dürfte Zigtausende wert sein, dazu Edelklamotten vom Designer, einiges an Bargeld.«
Leises Gemurmel.
»Ich bin dafür, dass du dem nachgehst – vor Ort, in Deutschland«, meinte Bentsen schließlich. »Womöglich gibt es einen Zusammenhang.«
Sarah nickte.
»Vielleicht hat sie die Senioren beklaut«, murmelte ein Kollege.
»Oder sie stammte aus einer vermögenden Familie«, entgegnete ein anderer.
»Und hat aus Spaß Senioren betreut?«, erwiderte der erste in skeptischem Ton.
»Warum nicht?«
»Spekulationen helfen hier gar nicht weiter«, warf Bentsen ein. »Wir werden hoffentlich bald mehr dazu erfahren.«
»Wir können wohl davon ausgehen, dass sich der Täter in ihrer Nähe aufgehalten hat«, wechselte Sarah das Thema. »Der Zeitpunkt war ziemlich gut gewählt – vielleicht wusste er, dass Seffgen abends häufig zum Strand aufbrach und diesen Weg nahm. Vielleicht sollten wir im Hotel …«
»Darum kümmern wir uns bereits«, fiel Bentsen ihr ins Wort. »Alle Gäste und Angestellte werden noch einmal befragt und auch überprüft, sofern ein Check gerechtfertigt scheint.«
»Die Videoüberwachung …«
»Damit befasst sich Astrid bereits.« Bentsen schaute sie an.
Sarah hob beide Hände. »Alles klar.«
Wenig später strömten die Beamten und Kolleginnen wieder an ihre Plätze. Sarah war auf den Weg zu ihrem Schreibtisch, als ihr Diensthandy vibrierte – das Profilbild von Astrid Larsen war aufgeploppt. Die Kriminaltechnikerin mit dem besonderen Faible für IT-Forensik und alte Computersysteme hatte sich beim letzten Fall als wichtige Expertin erwiesen. Seit den abschließenden Untersuchungen hatten sie sich nicht mehr ausgetauscht. Falls Larsen ähnlich kühl und abweisend auf Sarah reagieren würde wie das restliche Kollegium, würde sie ihr in knappem Ton nur das Nötigste mitteilen. Sarah stellte die Verbindung her. »Hej, Astrid.«
»Hej … sag mal, wie klingst du denn?«
»Na ja, ich …«
»Lass mich raten – Bentsen spielt immer noch den Beleidigten?«
»So ungefähr. Er wäre mich lieber heute als morgen los – und mit der Ansicht hält er nicht einmal ansatzweise hinterm Berg. Ich kann ihm kaum verdenken, dass er stocksauer ist, aber seine nachtragende Art erschwert die Arbeit auf unerfreuliche Weise, und das restliche Team klatscht auch nicht gerade Beifall, wenn ich auftauche. Nun haben wir einen Fall und …«
Astrid Larsen lachte leise. »Komm mal bei mir vorbei. Ich fresse dich nicht, obwohl ich auch zum Team gehöre.«
Sarah atmete tief durch. »Das klingt schon mal nach einem guten Ansatz.«
Die Kriminaltechnikerin empfing Sarah wenig später mit einem Becher Kaffee in ihrem Büro und lächelte breit. »Beachte Mikkel einfach nicht. Früher oder später beruhigt er sich schon wieder … Oder willst du tatsächlich die Segel streichen?«
Sarah zuckte mit den Achseln. »Ich bin unschlüssig. Das soll auf keinen Fall verschnupft klingen. So schnell gebe ich nicht auf, zumal es für mich keine unbedingt brandneue Erfahrung ist, mit Leuten klarzukommen, die mich distanziert und skeptisch betrachten oder mir etwas nachtragen. Aber aktuell bieten sich für mich auch andere berufliche Möglichkeiten. Ich muss mich also nicht in einem Team herumplagen, das mich nicht will«, schob sie nach. Das klang nun doch etwas beleidigt, aber Sarah ließ den Satz so stehen – er hörte sich ehrlich an.
»Jetzt kümmern wir uns allerdings erst mal um die Flensburgerin, oder?«, warf Larsen ein.
»Genau.« Sarah seufzte erleichtert. »Ich werde in Kürze nach Schleswig-Holstein aufbrechen. Hast du vielleicht noch was Interessantes für mich?«
Larsen drehte sich zu ihrer Arbeitsplatte um und griff nach einem Tablet. »Das haben wir im Hotel gesichert. Da ist tatsächlich bemerkenswert wenig drauf – ein paar Filme und Spiele, das war es. Und ihr Handy ist ähnlich unauffällig – nur wenige Kontakte und Kurznachrichten-Chats, Urlaubsfotos, das war es.«
»Sie war in einem Senioren-Servicedienst beschäftigt«, meinte Sarah.
Larsen zuckte mit den Achseln. »Trotzdem ist sie digital ziemlich knapp aufgestellt, mit gerade mal vierzig Jahren. Kein Insta- oder Facebook- Account mit gepostetem Essen oder dergleichen.«
»Macht dich das stutzig?«
»Ein bisschen schon. Es ist auffällig unauffällig, was aber durchaus mit unserem Job zu tun haben könnte.« Larsen zuckte mit den Achseln. »Und vielleicht gehörte sie einfach zu den Frauen, die keinen Wert darauflegen, ihr Leben ins Netz zu stellen. Ich bin allerdings gespannt, ob sich eine schlüssige Erklärung für ihren Lebensstandard findet.« Sie zog eine Braue hoch. »An der Stelle könnte man doch glatt ins Grübeln geraten.«
»Ich hake da natürlich auf jeden Fall nach«, versprach Sarah.
»Davon gehe ich aus. Ich wünsche dir eine gute und erfolgreiche Reise – komm wieder und lass dich nicht ärgern!« Larsen zwinkerte.
Sarah telefonierte wenig später mit der Flensburger Dienststelle, informierte darüber hinaus das LKA in Kiel über ihre Aktivitäten und buchte für den nächsten Tag einen Flug nach Hamburg. Von dort würde sie zunächst mit dem Mietwagen weiterfahren. Als sie das Kommissariat verließ, war es früher Abend. Die Schwester des Opfers hatte sie immer noch nicht erreicht. Sie packte ihre Reisetasche und setzte sich auf die Terrasse. Es war kühl, doch der Regen hatte nachgelassen, und der Sonnenuntergang zauberte ein leidenschaftliches Farbenspiel, das den Horizont erglühen ließ. Das würde ich vermissen, dachte sie – diesen wunderbaren Blick, die Stille an der See, das warme intensive Licht so hoch im Norden. Ich muss gar nichts vermissen, dachte sie. Das hier kann mir niemand nehmen – auch kein griesgrämiger und beleidigter Mikkel, der mich aus dem Team drängen will.
Als sie ins Bett ging, zeigte ihr Smartphone den Eingang einer Nachricht an – von Kathleen. Ihr habt einen Fall. Übernimmst du die Ermittlungen in Deutschland? Oder verlängerst du deine Auszeit? Melde dich, falls ich dich unterstützen kann. LG.
Der Flug hatte fast eine Stunde Verspätung gehabt. Sarah war gerade in ihren Mietwagen gestiegen und wollte den Motor starten, als Monica Seffgens Schwester anrief – Birte Hansen. Sarah stellte sich vor. »Danke für den Rückruf, Frau Hansen«, sagte sie dann.
»Sie sind tatsächlich eine Kommissarin«, erklang eine unsichere Stimme in leisem Ton. »Ich dachte … Man hört so viel von Täuschungsversuchen über das Handy. Aber die Polizei hat mich nun informiert … Tut mir leid, wenn ich … Sie ist wirklich tot? Ein Mord? Das kann ich gar nicht glauben. Was ist passiert?«
»Können wir uns treffen? Ich bin gerade in Hamburg gelandet und fahre nach Flensburg.«
»Sie sind eine deutsche Kommissarin und leben auf der dänischen Insel? Das verstehe ich nicht.«
Sarah erläuterte ihren Status als BKA-Verbindungsbeamtin. »Und in Fällen wie diesen gehört es zu meinen Aufgaben, den Kontakt zu den deutschen Dienststellen zu suchen, Ermittlungen zu unterstützen, auch in Deutschland, und für eine reibungslose Zusammenarbeit Sorge zu tragen.« Und das klappt normalerweise richtig gut, wäre da nicht … Ich fange schon an wie Mikkel, dachte sie und schob den Gedanken schnell beiseite.
»Ich verstehe, ja … Natürlich können wir uns treffen. Haben Sie meine Adresse?«
»Es wäre hilfreich, wenn wir uns gleich in der Wohnung Ihrer Schwester verabreden könnten«, schlug Sarah vor. »Ich würde mich dort gerne umsehen.«
»Monica hat in den letzten Monaten gar nicht mehr in Flensburg gelebt. Sie wollte ihre Wohnung hier sogar ganz aufgeben, wenn ich sie richtig verstanden habe«, entgegnete Hansen nach kurzer Pause. »Sie hat sich in Eckernförde um einen kranken Patienten gekümmert und dort auch gewohnt.«
Interessant, dachte Sarah. »Gut, dann komme ich erst mal zu Ihnen.« Sie warf einen Blick auf ihren Routenplaner. »Ich brauche wohl mindestens anderthalb Stunden für die Strecke.«
Der Verkehr auf der A7 floss zäh, und Sarah benötigte fast zwei Stunden. Birte Hansen wohnte in einem ehemaligen Bauernhaus am südöstlichen Rand von Flensburg. Sie hatte Tee gekocht. Soweit Sarah die biographischen Daten in Erinnerung hatte, war Hansen verheiratet. Der Tod ihrer vier Jahre jüngeren Schwester hatte sie sichtlich erschüttert.
»Ich kann das noch immer nicht glauben«, sagte sie leise, während Sarah an einem wuchtigen Holztisch in der geräumigen Küche Platz nahm. Durch die kleinen Fenster blickte man direkt in den friesenwallumgebenen Garten. Der Tee dampfte in dickbauchigen dunkelblauen Tassen. Wenn der Anlass nicht so furchtbar wäre, könnte Sarah die norddeutsche Atmosphäre genießen.
»Wer sollte einen Grund gehabt haben, ihr so etwas anzutun? Das kann doch nur ein Irrer gewesen sein«, fuhr Hansen fort.
»Wir stehen ganz am Anfang der Ermittlungen«, erklärte Sarah. »Meine Kolleginnen und Kollegen auf Bornholm arbeiten unter Hochdruck, um mehr zu den Hintergründen zu erfahren …«
»Aber was genau ist eigentlich passiert? Der Beamte hat nur sehr dürftig berichtet.«
Kann ich mir denken, dachte Sarah. Details zum Geschehen sollten zum jetzigen Zeitpunkt unter Verschluss bleiben. »Sie ist nach dem Abendspaziergang auf dem Rückweg vom Strand ins Hotel überfallen worden – so erschließt sich die Situation bislang. Niemand hat etwas mitbekommen, und entdeckt wurde sie erst am nächsten Morgen.«
»Man hat sie ausgeraubt und getötet?«
Sarah zögerte. »Danach sieht es nicht aus.«
Hansens Mimik spiegelte Verblüffung. »Das verstehe ich nicht.«
»Wir können uns das Motiv im Moment auch nicht erklären. Und deshalb müssen wir den Hintergrund gründlich in Augenschein nehmen. Womöglich gibt es einen Auslöser, der sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Erzählen Sie doch bitte – was für ein Mensch war Ihre Schwester?«
Hansen stellte ihre Tasse ab. »Sie war … lebhaft, aufgeschlossen, eine lebenslustige Frau«, begann sie zu berichten. »Ihr Beruf hat ihr große Freude gemacht, sie hat ihn unglaublich ernst genommen. Monica war in einem Pflege- und Betreuungsdienst angestellt und hat sich um Senioren und Pflegefälle gekümmert, aber das wissen Sie ja längst …« Seffgens Schwester blickte einen Moment ins Leere.
»Wissen Sie mehr zu dem Unternehmen?«, fragte Sarah.
Hansen umschloss ihre Tasse mit beiden Händen und sah hoch. »Monica hat ziemlich gut verdient. Sie galt als erfahrene Kraft. Außerdem war dieser Service auch eher etwas für die Privatversicherten und Leute mit Geld.«
Sarah nickte. Das bestätigte ihren ersten Eindruck.
»Nichts, was sich ein gesetzlich Versicherter oder Otto Normalverbraucher leisten könnte.« Hansen zuckte mit den Achseln. »Die bieten alles Mögliche an, auch außerhalb der Pflege …«
»Zum Beispiel?«
»Freizeitaktivitäten, Alltagsbetreuung, Reisebegleitung und Ähnliches. Monica hatte meistens mit Menschen zu tun, für die Geld keine Rolle spielt, und sie war wirklich sehr beliebt. In den letzten beiden Jahren hat sie sich um Leute zwischen Hamburg und Flensburg gekümmert, bis sie vor einigen Monaten zu einem älteren und sehr kranken Witwer in Eckernförde gezogen ist. Mit dem hat sie sich sehr gut verstanden. Sie hat ihn bis zu seinem Tod rund um die Uhr versorgt.«
»Wissen Sie zufällig den Namen?«
Hansen überlegte einen Moment. »Ich kann mich nur an den Vornamen erinnern – Heinrich.«
Im Flur klingelte ein Telefon. Birte Hansen stand auf. »Das dürfte mein Mann sein. Der ist zurzeit auf Dienstreise. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
»Natürlich. Nur keine Eile.«
Während Hansen mit ihrem Mann plauderte, ließ Sarah ihre Schilderungen sacken. Die Bezahlung des Serviceunternehmens war, wie bereits vermutet, deutlich besser als in üblichen Pflegediensten, dennoch dürfte sich damit allein Seffgens Wohlstand nicht erklären. Der begründete sich vielleicht durch andere Umstände. Geschenke von vermögenden alten, manchmal sehr einsamen und kranken Menschen, die der Betreuerin Luxusurlaub ermöglichten? Nun ja … Die Frage war, ob sich dahinter ein Mordmotiv verbarg.
Birte Hansen kehrte wenig später zurück. Sie goss Tee nach.
»Wir haben den Eindruck gewonnen, dass es Ihrer Schwester finanziell hervorragend ging.«
Hansen runzelte die Stirn. »Wie ich schon sagte – Monica hat gut verdient.«
»Wir haben im Hotel wertvollen Schmuck entdeckt, teure Kleidung, viel Bargeld, und der gebuchte Urlaub fiel deutlich aus dem Rahmen. Was ihre Konten angeht, so haben wir bislang noch keinen Überblick gewinnen können.«
Hansen blinzelte irritiert. »Wertvoller Schmuck? Also, davon weiß ich nichts.« Sie schüttelte den Kopf.
»Haben Sie eine Vermutung, woher das Vermögen stammen könnte?«
»Wie meinen Sie das denn?« Hansen hob das Kinn.
»Können Sie sich erklären, wie sich Ihre Schwester Luxusurlaub und teuren Schmuck leisten konnte?«
»Nein!«, betonte Hansen energisch. »Und falls Sie andeuten wollen, dass meine Schwester in irgendwelche krummen …«
»Ich will überhaupt nichts andeuten«, warf Sarah schnell ein. »Ich suche nach Erklärungen im Umfeld eines Gewaltverbrechens – dem Motiv für den Überfall, bei dem Monica schwer verletzt und getötet wurde.«
Hansen erblasste.
»Das Geschehen erfordert eine gründliche Untersuchung aller Umstände und möglicher Zusammenhänge, und dazu gehört auch der Lebensstil Ihrer Schwester. Und wenn ich weiß, was den Täter antrieb, könnte sich daraus eine Spur ergeben«, führte Sarah weiter aus.
Hansen nickte zögernd.
»Hatte Ihre Schwester einen vermögenden Freund, einen spendablen Partner?«
»Es gab schon länger keine Beziehung mehr, soweit ich weiß.«
»Oder Menschen, die sie unterstützten, vielmehr großzügig beschenkten?«
Hansen wirkte unsicher. »Auch dazu kann ich nichts sagen. Das ist mir völlig neu. Falls es so war, hat sie nicht darüber geredet.«
Womöglich hat sie einiges aus ihrem Leben für sich behalten, dachte Sarah – auch und gerade die Quelle ihres Luxus. Wenig später verabschiedete sie sich von Birte Hansen. Die Schwester wirkte beunruhigt und ratlos.
Als Sarah im Auto saß, blickte sie auf ihr Handy. Die Flensburger Dienststelle hatte eine Nachricht geschickt. Moin und willkommen in Schleswig-Holstein. Kommen Sie gerne bei uns rum.
Zwanzig Minuten später saß Sarah im Büro der Polizeidirektion Flensburg und tauschte sich mit einer jungen Beamtin aus. Kommissarin Bianca Krüger – eine groß gewachsene athletische Frau mit dichten Locken und Sommersprossen – war neu in der Dienststelle und sichtlich aufgeregt, an einem länderübergreifenden Fall mitzuarbeiten. Sie strahlte Sarah mit roten Wangen an und tippte auf die Akte, die auf ihrem Schreibtisch lag.
»Der Chef hat mich für den Bornholmer Mord freigestellt. Ich habe schon mal einiges zusammengetragen«, erklärte sie in munterem Ton. »Und die dänischen Kollegen haben inzwischen Details zum Fall sowie erste Ermittlungsergebnisse geschickt. Ich bin sicher, dass wir das hinkriegen.« Sie lächelte. »Ich spreche übrigens ziemlich gut Dänisch. Vielleicht wird das noch wichtig.«
Bestimmt, dachte Sarah. Meine Sprachkenntnisse sind nach wie vor eher bescheiden. Die Akte enthielt neben den bekannten Punkten, biographischen Auflistungen und Kurzberichten nicht allzu viel Neues, wie Sarah schnell feststellte.
»Ich war gerade dabei, den Kontakt zu dem Seniorendienst aufzunehmen«, fuhr Bianca Krüger fort.
»Das klingt gut. Mit denen muss ich unbedingt sprechen.«
»Das dachte ich mir schon. Ich habe mir erlaubt, für morgen Vormittag einen Termin zu vereinbaren. Dort treffen wir dann mit dem Flensburger Chef zusammen und können sicher auch einige Kolleginnen sprechen.«
Wir? Sarah blickte sie verdutzt an. Sie war unschlüssig, wie sie auf den Übereifer der Kollegin reagieren sollte, deren Auftreten wenig von norddeutscher Zurückhaltung hatte. Vielen Dank für Ihre Bemühungen, aber ich arbeite lieber selbständig und treffe meine eigenen Entscheidungen? Sarah unterdrückte ein Seufzen.
»Ich bin mir übrigens sicher, dass das Mordmotiv Habgier ist.«
»Das Opfer wurde nicht ausgeraubt.«
»Kann man das so einfach feststellen? Wer weiß, was sie alles bei sich hatte.« Krüger nickte mit gewichtiger Miene.
»Das Gewaltpotenzial war ganz beträchtlich und …«
»Das eine muss ja das andere nicht ausschließen.«
»Wir werden sehen.«
»Sie sind nach der langen Reise sicher müde«, ergriff Krüger nach kurzer Pause wieder das Wort. »Ich habe ein Zimmer für Sie reserviert – in einem Hotel im Jens-Due-Weg, ganz in der Nähe. Da haben Sie es nicht weit zum Hafen. Soll ich Sie morgen früh abholen?«
»Das wird nicht nötig sein«, versicherte Sarah schnell. Sie erhob sich. Mikkel würde fröhlich vor sich hin feixen, wenn er zusehen könnte, dachte sie. »Zwei Sachen noch – Monica Seffgen hatte ihren ersten Wohnsitz noch in Flensburg …«
»Ja, aber sie hat ihre Wohnung kürzlich gekündigt. Offenbar wollte sie in Eckernförde bleiben.«
»Die Familie ihres letzten …«
»Genau: Heinrich Kleisberg – das habe ich auch schon recherchiert.« Breites Lächeln.
»Ich würde gerne Kontakt zur Familie aufnehmen.«
»Setze ich sofort auf meine To-do-Liste. Das kriegen wir hin.«
Bitte nicht! Sarah schloss kurz die Augen.
»Sie müssen sich jetzt erst mal entspannen.«
Sarah fasste die Kommissarin ins Auge und hielt ihren Blick einen Moment fest.
»Ich meine …« Krüger wischte sich verlegen eine Locke aus der Stirn. »Na, Sie wissen schon, wie ich das meine.«
»Ich denke, ja – bis morgen, Kollegin.«
In einem Punkt hatte Kommissarin Bianca Krüger völlig richtig gelegen – Sarah war tatsächlich erschöpft und so müde, dass sie direkt nach dem Essen ins Bett fiel und sofort einschlief.
Richard Billstedt, der Leiter des Serviceunternehmens im Bereich Flensburg/Kiel, war ein smarter Mittfünfziger, der sein Entsetzen in angemessenen Worten bekundete und ohne Zögern Befragungen im Umfeld von Seffgens Kolleginnen und Kollegen ermöglichte. Was die Namen von Kunden und Patienten anging, um die Seffgen sich gekümmert hatte, blieb er allerdings zurückhaltend. Nach mehreren persönlichen Gesprächen und Telefonaten bestätigte sich durchgängig die Darstellung der Schwester des Opfers: Monica Seffgen war beliebt, hilfsbereit und engagiert gewesen. Ein Mordmotiv konnte sich niemand erklären; Konflikte oder Streit seien nicht erkennbar gewesen. Dass sie sich teuren Schmuck und Luxusurlaub leisten konnte und über viel Bargeld verfügte, wurde mehr oder weniger achselzuckend zur Kenntnis genommen. Vermögende Kunden würden sich oftmals erkenntlich zeigen, private Zuwendungen könne man nicht verbieten, hieß es dazu in lapidarem Ton und hinter vorgehaltener Hand. Da es nie Anzeigen gegen Seffgen gegeben hatte und die Bankunterlagen noch nicht vorlagen, gab es an der Stelle wenig Spielraum für weitere Nachforschungen.
Womöglich hatte die Flensburger Kollegin doch recht, und die Tat war aus Habgier erfolgt, überlegte Sarah während der Rückfahrt ins Kommissariat. Wer weiß, was Seffgen noch bei sich gehabt hatte. Unmittelbar daran schloss sich die nächste Frage an: Wo hatte die Frau in den letzten Wochen gewohnt beziehungsweise ihren Hausstand untergebracht? Nach dem Tod von Heinrich Kleisberg? Sarah stutzte. Wenig später nutzte sie eine günstige Gelegenheit, überließ Kommissarin Krüger ihrer To-do-Liste und machte sich allein auf den Weg nach Eckernförde. Sie war sicher, dass die Kollegin diese Entscheidung nicht gutheißen würde. Frag Mikkel Bentsen – ich bin einfach keine geborene Teamplayerin, dachte sie, und schon gar nicht mag ich mir das Heft aus der Hand nehmen lassen.
Sie atmete tief durch und genoss die Stille im Wagen. Als zehn Minuten später das Telefon vibrierte und die Flensburger Vorwahl anzeigte, ignorierte sie den Anruf. Nach fünf Minuten rief Sarah zurück. »Ich dachte mir, Sie kommen alleine mit den letzten Befragungen klar«, erklärte sie Krüger. »Ich schaue mich schon mal bei den Kleisbergs um.«
Stille. »Aber ich hätte Sie doch begleitet«, entgegnete die Kommissarin schließlich.
»Das weiß ich. Nur arbeiten wir effizienter, wenn wir uns die Aufgaben teilen.«
Schweigen. »Wie Sie meinen. Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Das klang dezent verschnupft.
»Sehr gerne.«
»Ach … soll ich mich inzwischen schon mal allein um die privaten Kontakte kümmern? Es waren ja nur wenige Namen, die in ihrem Handy gespeichert waren. Ich könnte die Leute anrufen.«
»Das ist eine gute Idee. Und die Bank, auf die das Gehalt überwiesen wurde …«
»Habe ich nicht vergessen. Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß. Den Filialleiter kenne ich übrigens persönlich. Es sollte nicht lange dauern, bis wir eine Kontoübersicht haben«, versicherte Krüger, und das klang schon wieder deutlich munterer.
Sarah unterbrach die Verbindung. Sie erinnerte sich an die Unterredung mit Astrid Larsen und deren Bemerkung, dass Seffgen digital ziemlich dürftig aufgestellt war. Wenige Kontakte. Sarah war gespannt, ob es Freunde und Freundinnen gab, die mehr zu Monica zu berichten wussten.
Heinrich Kleisberg hatte in einer kleinen, zentrumsnahen Stadtvilla gewohnt – Ostsee und Hafen gleich um die Ecke, und der ehemalige Marineoffizier hatte es nicht weit zu seinem Stützpunkt gehabt. Sarah parkte vor dem Haus. Es wirkte solide, unauffällig und verlassen. Kleisberg war Witwer gewesen – weitere Details zum familiären Hintergrund hatte Sarah bislang noch nicht recherchiert. Sie klingelte am Tor, doch es tat sich nichts. Als sie das Grundstück umrundete, entdeckte sie im hinteren Bereich zwei Nebengebäude, eines wurde offenbar als Garage genutzt. Die Tore standen weit auf, ein Mann in Arbeitskleidung war mit Aufräumarbeiten beschäftigt – so wirkte es zumindest. Sarah hob eine Hand und machte auf sich aufmerksam. Er sah herüber, stellte einen Karton ab und trat mit gemächlichen Schritten an den Zaun – ein kräftiger Typ mit rotblondem Vollbart und hellblauen Augen, ungefähr vierzig. »Moin. Kann ich helfen?«
Sarah nickte und zückte ihren Ausweis. »Das hoffe ich. Kannten Sie Monica Seffgen?«
Er rieb sich über den Bart und warf ihr einen verdutzten Blick zu. »Polizei? Hat sie was angestellt?«
»Sie ist tot.«
Sein Blick weitete sich. »Das ist ja … Was ist passiert?«
»Sie wurde ermordet – im Urlaub auf Bornholm.«
Er schob seine Hände tief in die Taschen und schüttelte den Kopf. »Ach du liebe …«
»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Herr …«
»Meinert – Dietmar Meinert«, stellte er sich vor. »Ich wohne in der Nachbarschaft und kenne … kannte Heinrich und die Familie, seit ich laufen lernte … Ich habe einen kleinen Handwerksbetrieb und kümmere mich um alles Mögliche, was hier so anfällt. Heinrich war ja schon lange ziemlich krank.« Er blickte einen Moment zur Seite und sah sie dann wieder an.
»Meinen Sie, wir könnten uns drinnen weiterunterhalten?«
»Na klar – kommen Sie herum, ich öffne Ihnen das Tor.«
Wenig später führte Meinert sie in das Nebengebäude, das als Werkstatt und Gartenschuppen genutzt wurde. Er stellte zwei Campingstühle bereit und wies auf seine Thermoskanne. »Kaffee? Der hat allerdings so richtig Feuer. Falls Sie einen empfindlichen Magen haben oder Ihr Blutdruck zu hoch ist …«
Sarah schüttelte den Kopf. »Das zwar nicht, aber trotzdem – vielen Dank.«
Meinert goss sich einen Becher ein und griff nach einem Tabakbeutel. »Sie haben nichts dagegen?«
»Keineswegs.«
Er drehte mit schnellen Fingern eine Zigarette, und kurz darauf stieg würziger Geruch auf. Er kniff ein Auge zusammen und blickte Sarah durch den Rauch an. »Warum tötet jemand eine Pflegekraft?«
»Das ist die entscheidende Frage. Haben Sie die Frau kennengelernt und können mir mehr zu ihr erzählen?«
»Nun, Frau Seffgen hat sich um Heinrich gekümmert, und der war froh, dass er seine Kinder nicht behelligen musste.« Meinert inhalierte tief. »Es gibt drei. Früher hat sich häufiger die Jüngste gekümmert, aber dann ist sie nach Kiel gezogen, und es blieb oft nicht genug Zeit – wie das eben so ist«, erzählte er. »Die Älteste lebt in Berlin, und der Sohn ist gar nicht mehr im Lande – ist Dozent irgendwo ganz weit im Norden, Norwegen, um genau zu sein.« Er schnippte die Asche ab. »Was ich sagen will – die Monica war ein Segen für Heinrich. Sie hat sich ja um alles Mögliche gekümmert, ist auch mal mit ihm ins Kino gegangen oder an den Strand, ein Eis essen.« Er nickte. »Die Frau hat ihm gutgetan. So würde ich es ausdrücken.«
Es blieb also bei der liebenswerten, äußerst engagierten und umsichtigen Pflegekraft, dachte Sarah.
»Und er hat sich nicht lumpen lassen«, fügte Meinert hinzu.
»Würden Sie das erläutern?«
»Er war großzügig – das hat er selbst mal zu mir gesagt. Und ich kenne ihn ja auch so. Er gibt … er gab gerne ab. Als pensionierter Marineoffizier hatte er ein gutes Auskommen. Und er mochte die Monica, das war unübersehbar.«
»Verstehe.« Persönliche Bindung, Geschenke, Geldzuwendungen. Sarah hob den Blick. In gewissem Rahmen war durchaus vorstellbar, dass Kleisberg sich Großzügigkeiten leisten konnte, doch allein der Schmuck im Hotelzimmer passte nicht in das Bild. Hatte er womöglich der verstorbenen Ehefrau gehört? Wir brauchen die Namen der anderen Patienten, mit deren Pflege und Unterstützung Seffgen beauftragt war, überlegte Sarah. »Sie hat eine Weile hier gewohnt, soweit ich weiß«, bemerkte sie dann.
»Ja, als es ihm immer schlechter ging, hat er vorgeschlagen, dass sie ins Obergeschoss ziehen sollte. Das hat er mir auch erzählt. Das war eine gute Lösung.«
»Mit ihren eigenen Möbeln?«
Meinert runzelte die Stirn.
»Sie hat ihre Wohnung in Flensburg aufgegeben. Wir fragen uns gerade, wo sie ihr Mobiliar untergebracht hat.«
»Also – hier nicht. Die obere Etage ist möbliert – dort befanden sich die ehemaligen Kinderzimmer. Sie hatte nur ihren persönlichen Kram dabei. Ich habe ihr beim Tragen geholfen. Und nach Heinrichs Tod gab es ja nichts mehr für sie zu tun. Aber warten Sie …« Meinert nickte plötzlich nachdenklich. »Ja, stimmt, sie war dabei, umzuziehen – ihre Wohnung hat ihr wohl nicht mehr gefallen. Sie wollte ihren Kram einlagern, bis sie etwas Neues gefunden hat. Ob sie inzwischen eine andere Wohnung in Aussicht hatte, kann ich nicht sagen.« Er warf ihr einen forschenden Blick zu. »Warum müssen Sie das eigentlich so genau wissen?«
»Wir haben bislang kein Motiv für eine derartige Gewalttat entdeckt …« Sie zögerte. Womöglich war es hilfreich, etwas deutlicher zu werden. »Und wir haben den Eindruck gewonnen, dass Monica ziemlich vermögend war.«
Meinert verzog den Mund. »Vermögend?«
»Sie besaß überaus wertvollen Schmuck.«
Meinert zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, dann drückte er sie in einer Blechschachtel aus. »Heinrich hat ihr mal was geschenkt, könnte ich mir vorstellen.«
»Schmuck seiner verstorbenen Frau?«
Er zuckte mit den Achseln. »Würde ich nicht ausschließen.«
»Wir haben auch jede Menge Bargeld gefunden.«
»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Heinrich war, wie gesagt, spendabel und hatte ein gutes Auskommen, aber … na ja, ganz sicher war er kein reicher Typ, der mit den Scheinen nur so um sich warf. Das war mein Eindruck.«
Einen Moment blieb es still.
»Wie kamen eigentlich Kleisbergs Kinder mit Monica klar?«, fragte Sarah schließlich. »Haben Sie vielleicht mal etwas mitbekommen?«
Meinert sah sie an und wiegte den Kopf. »Schwer zu sagen. So oft bin ich ja auch nicht hier …« Er zögerte.
»Ich würde es nicht so toll finden, wenn die Pflegerin mit dem Familienschmuck herumliefe«, meinte Sarah. »Besser gesagt, ich könnte mir vorstellen, dass es an der Stelle Ärger gab.«
Meinert griff nach seinem Tabakbeutel. »Ich auch«, meinte er dann.
Interessant, dachte Sarah und blickte ihn abwartend an.
»Sie haben recht, es gab Ärger«, sagte er leise und drehte sich die nächste Zigarette. »Aber das haben Sie nicht von mir. Sprechen Sie mit den Angehörigen.«
»Würden Sie mir noch ein Stichwort nennen?«
Er zündete die Zigarette an und warf einen Blick zum Haus. »Das Testament.«
»Lassen Sie mich raten – er hat es zu ihren Gunsten geändert?«
Meinert zuckte mit den Achseln. »Ich habe nur mal einen Streit mitbekommen. Sie sollten mich da raushalten … Ich verstehe mich auch mit Heinrichs Kindern sehr gut.«
»Danke für Ihre Offenheit.«
Wenige Minuten später saß Sarah wieder in ihrem Wagen. Sie rief Kommissarin Krüger an. »Es gab einen Konflikt in der Familie«, erklärte sie und bat die Kollegin, die Kontaktdaten der Angehörigen sowie den Hintergrund zu recherchieren und nachzuforschen, wo Monica Seffgen ihre Möbel eingelagert haben könnte. »Ich bin jetzt auf dem Rückweg«, fügte Sarah schließlich hinzu. »Dann können wir gemeinsam …«
»Die Bank hat die Unterlagen zur Verfügung gestellt«, fiel Krüger ihr ins Wort. »Es gibt Auffälligkeiten. Das sollten Sie sich ansehen.«
Monica Seffgen hatte in den vergangenen Jahren sehr viel Geld verdient und immer wieder größere Summen an eine ausländische Bank überwiesen. Der Verdacht, dass sie sich grundsätzlich an ihren Patienten beziehungsweise an vermögenden Kunden bereichert hatte, lag auf der Hand. Dass es bislang nie Beschwerden oder Anzeigen gegeben hatte, war zumindest teilweise erklärbar: Alleinstehende Menschen hatten womöglich den Überblick über ihre Finanzen verloren oder schämten sich, dass sie den Betrug oder Diebstahl nicht bemerkt hatten. Und die Beweislage war in derartigen Fällen häufig miserabel – das ließ auch der Geschäftsführer des Betreuungsdienstes bei einem zweiten Gespräch durchblicken, nachdem er immerhin bereit gewesen war, Kontaktdaten zu Seffgens letzten Patienten und Kunden zur Verfügung zu stellen. Genaueres zu Straftaten wusste man in der Chefetage jedenfalls nicht – natürlich nicht.
Falls Heinrich Kleisberg Monica Seffgen tatsächlich in seinem Testament bedacht hatte, hatten zunächst einmal seine Erben unbestreitbar ein starkes Motiv. Doch das entsprechende Dokument fehlte. Auch die Entdeckung des Lagerhauses, in dem Seffgen ihren Hausstand untergebracht hatte, brachte die Nachforschungen in dem Punkt nicht weiter. Es gab zudem Lücken bei den persönlichen Unterlagen. Allerdings bestätigte sich bereits auf den ersten Blick erneut, dass die Betreuerin auf großem Fuß gelebt hatte – das Mobiliar stammte nicht vom Möbeldiscounter, das galt auch für die Kleidung. Zudem fuhr sie einen teuren Wagen, den sie in einer gemieteten Garage untergestellt hatte.
Sarah legte Mikkel Bentsen gut zwei Tage nach dem Beginn ihrer Ermittlungen in Flensburg einen ausführlichen schriftlichen Bericht vor. Zu ihrem Erstaunen rief er am späten Abend zurück. »Die Frau hat also über Jahre hinweg alte und/oder kranke Leute nach Strich und Faden ausgenommen?«, fragte er nach kurzer Begrüßung.
»Darauf läuft es wohl hinaus«, stimmte Sarah zu. »Dem Verdacht müssten wir allerdings noch im Einzelnen nachgehen – also bei ehemaligen Kunden und Patientinnen des Servicedienstes recherchieren. Und das dürfte sich schwierig gestalten. Einige der Leute, die Seffgen betreut hat, sind entweder bereits gestorben, oder es gibt keine Angehörigen. Oder man will sich keine Blöße geben und verweigert die Aussage. So zeichnet sich die Lage nach den ersten Überprüfungen bislang ab. Wenn wir hier ohne weitere Anhaltspunkte in die Tiefe gehen wollen, wird es mühsam und langwierig.«
»Wir sprechen hier von sehr viel Geld, oder? Wie ist das denn überhaupt möglich? Sie betreute doch kein Dutzend reiche Patienten gleichzeitig.«
»Der Punkt beschäftigt mich auch – ein paar Tausender hier und da, okay, aber Seffgen hatte ordentlich was zur Seite gelegt und ihr Geld ins Ausland transferiert. Bis wir von dort Einzelheiten erfahren, können Monate vergehen, falls es überhaupt eine Antwort gibt. Fest steht, dass sie organisiert vorgegangen ist.«
»Das passt irgendwie nicht. Vielleicht steckt etwas anderes dahinter«, meinte Bentsen nach einem Moment des Schweigens.
»Hinweise auf einen anderen Zusammenhang fanden sich bislang nicht. Ich bin gespannt, wie die Befragung mit Kleisbergs Angehörigen verläuft«, fuhr Sarah fort. »Vielleicht wissen wir danach mehr. Falls sich die Indizien auf ein geändertes Testament verdichten …«
»Gibt es ein starkes Motiv«, warf Bentsen ein. »Ja, mach an dem Punkt erst mal weiter.« Er räusperte sich. »Du kriegst in Kürze die vollständige Gästeliste aus dem Hotel, dazu Mitarbeiter und Besucher, die identifiziert werden konnten – einschließlich eines Kurzchecks der dänischen Landsleute. Vielleicht ergeben sich personelle Überschneidungen beim Abgleich mit deinen Recherchen vor Ort.«
»Gibt es schon andere Reisedaten im Umfeld des Mordes?«, fragte Sarah.
»Auch da sind wir dran. Dauert aber etwas länger.«
»Alles klar.« Sarah seufzte leise und erleichtert. Der Kollege klang sachlich und konzentriert. Offenbar hatte er beschlossen, sich bissige Bemerkungen zu verkneifen, zumindest für den Moment.
»Bis dann. Halt mich auf dem Laufenden.« Damit legte er auf.
Nun gut, für den herzlich vertrauten Ton zwischen ihnen war es dann vielleicht doch noch etwas früh.
Die jüngste Kleisberg-Tochter Katja befand sich zurzeit in einer Reha-Maßnahme, erfuhr Sarah am nächsten Morgen von Kommissarin Krüger. »Sie hatte einen Fahrradunfall mit komplizierten Brüchen – das kann dauern«, fügte sie hinzu. »Der Sohn Torben ist schwer erreichbar. Er hat per Mail versprochen, sich zurückzumelden – heute im Laufe des Tages.«
»Und die älteste …«
»Marina, fünfundvierzig, lebt in Berlin und arbeitet in einer Beratungsfirma als Coach. Mehr weiß ich noch nicht.«
»Haben wir die Handynummer?«
»Ja, natürlich. Sie ist nicht rangegangen.«
Sarah runzelte die Stirn.
Bianca Krüger sah sie an und zuckte mit den Achseln. »Ich gehe auch nicht immer ans Telefon – also privat. Vielleicht steht sie unter der Dusche oder …« Erneutes Schulterzucken.
»Keines der Kinder ist erreichbar, nachdem die Pflegerin und Betreuerin ihres Vaters ermordet wurde und sich der Verdacht nicht nur erhärtet, sondern bestätigt hat, dass diese Frau ihre eigenen Taschen gefüllt hat, womöglich sogar einen Anteil am Haus erben sollte …« Sarah hob beide Hände.
»Okay.« Krüger nickte eilig. »Ich versuche es gleich noch mal.«
»Gut. Ich übernehme die Älteste in Berlin«, entschied Sarah.
Marina Kleisberg meldete sich wenige Minuten später zurück, nachdem Sarah in der Beratungsfirma angerufen hatte. Sie klang deutlich angefasst. »Warum rufen Sie meinen Chef an?«
»Weil es dringend ist«, entgegnete Sarah gelassen. »Und weil wir weder Sie noch Ihre Geschwister erreichen konnten. Ich dachte, es kann nicht schaden, die Wichtigkeit der Kontaktaufnahme zu betonen. Außerdem würde ich dieses Gespräch gerne aufzeichnen – als interne Gedächtnisstütze.«
Kurzes Schweigen. »Na schön. Worum geht es?«
»Ich nehme an, Sie wissen vom gewaltsamen Tod der Betreuerin Ihres verstorbenen Vaters?«
»Ja, das hat sich herumgesprochen.«
»Wir haben in Erfahrung gebracht, dass Ihr Vater ein enges Verhältnis zu ihr hatte und sich äußerst spendabel gezeigt hat.«
»Kann sein. Und?«
»Hat Sie das nicht gestört?«, fragte Sarah.
»Das spielt ja wohl keine Rolle.«
»Vielleicht doch.«
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Es gibt Hinweise, dass Ihr Vater Monica Seffgen einen Anteil an seinem Erbe zugesichert hat und ein entsprechend geändertes Testament existiert.«
Pause. »Dann wissen Sie mehr als wir«, entgegnete Marina Kleisberg. »Es gibt kein Testament«, betonte sie.
Sarah nahm einen Stift und malte ein paar Kringel auf einen Block. Jede Wette, dachte sie, so ein Dokument gibt es – oder gab es.
»War es das jetzt? Ich muss zurück an die Arbeit.«
Das geht so nicht, dachte Sarah. Ich muss persönlich mit ihr sprechen. »Nein, das war es nicht«, erwiderte sie. »Wir müssen Sie bitten …«
»Eine Aussage zu machen?«
»Ganz genau.«
»Warum?«
»Weil Sie ein Motiv haben – Sie und Ihre Geschwister.«
Schweigen. »Ist das Ihr Ernst?«
»Unbedingt. Frau Seffgen hat sich im Rahmen ihrer Tätigkeit bereichert, auch an Ihrem Vater, nach allem, was wir wissen und …«
»Dann müssen Sie auch andere Angehörige überprüfen!«
»Das werden wir selbstverständlich – wir sind mitten in der Arbeit. Ich gewinne im Übrigen zunehmend den Eindruck, dass Sie deutlich mehr wissen, als Sie vorgeben«, erklärte Sarah mit Nachdruck. »Wie wäre es …«
»Ich schicke Ihnen eine schriftliche Aussage. Dann können Sie mein Alibi überprüfen.«
»Das wird nicht reichen«, entgegnete Sarah. »Falls Sie keine Zeit haben, nach Flensburg zu reisen, werde ich die Berliner Kollegen bitten, Sie zu kontaktieren.«
»Dann machen Sie das.« Es klickte in der Leitung.
Sarah blickte verblüfft auf ihr Telefon. Marina Kleisberg hatte einfach aufgelegt. Entweder hatte die Tochter nicht das geringste Interesse daran, an der Aufklärung des Geschehens mitzuwirken, weil ihr völlig egal war, wie und warum die Betreuerin ermordet worden war. Zudem gehörte ein höfliches oder zumindest kooperatives Verhalten gegenüber Behörden nicht zu ihren Stärken. Oder sie hatte gute Gründe dafür, sich bedeckt zu halten, weil sie an der Tat beteiligt war. Sie hatte natürlich gewusst, dass die Betreuerin sich schadlos gehalten hatte, und es war ihr ein Dorn im Auge gewesen. Aber hätte sie sich nicht unauffälliger verhalten, falls sie als Täterin oder Mitwisserin infrage kam?
Die kurzen Stellungnahmen der Geschwister Torben und Katja, die sich im Laufe des Tages meldeten, klangen im Ton zwar umgänglicher und sachlicher, doch auch sie schienen völlig desinteressiert an der Aufklärung des Falles. Sarah nahm schließlich Kontakt zum LKA-Berlin auf und bat die Kollegen, Marina Kleisberg zu befragen. Die jüngere Schwester würde sie selbst in der Rehaklinik aufsuchen, und Torben hatte zugesagt, sich in Norwegen für eine detaillierte Stellungnahme bei der Polizei zu melden.
Katja Kleisberg erwartete Sarah am nächsten Morgen in der Cafeteria der Rehaklinik in Kiel. Ein Bein war eingegipst, und sie hatte es hochgelegt, die Schulter bandagiert. Die Achtunddreißigjährige wirkte mitgenommen, blass und schmal – sie hatte zahlreiche Operationen hinter sich, und einen Moment überlegte Sarah, ob es tatsächlich angemessen war, sie in dieser Situation zu befragen. Schließlich setzte sie sich zu ihr. »Tut mir leid, dass ich Sie mit dem Thema auch noch persönlich belästigen muss. Ich werde mich beeilen.«
»Schon gut. Ein bisschen Abwechslung kann ja nicht schaden.« Katja bemühte sich um ein Lächeln. »Ich weiß allerdings gar nicht, was ich noch sagen soll. Als der Mord geschah, lag ich im Krankenhaus. Das erzählte ich Ihnen ja schon am Telefon. Und ansonsten … ja, mein Vater hat die Frau sehr geschätzt.«
»Sie nicht?«
Katja Kleisberg blinzelte. »Ich war froh, dass er versorgt war, und habe darüber hinaus nicht so viel mitbekommen. Es ging ihm gut. Und mein Leben ist ausgefüllt und anstrengend. Ich habe zwei kleine Kinder, bin berufstätig, wenn auch nur halbtags und oft im Homeoffice, doch mein Mann ist häufig geschäftlich unterwegs … Na ja, und so weiter. Es wird Zeit, dass ich schnell wieder auf die Beine komme.«
Das klang nach einem anstrengenden Alltag. Sarah behielt Katja im Blick.
Sie zuckte mit der unverletzten Schulter. »Was soll ich Ihnen noch dazu sagen?«
»Wir suchen nach einem Testament«, antwortete Sarah. »Wir konnten inzwischen feststellen, dass Monica Seffgen über ein beachtliches Vermögen verfügte, das sie sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit ihrer Aufgabe als Betreuerin erwirtschaftet hat, wenn ich das mal so vollmundig umschreiben darf – auch von anderen Kunden beziehungsweise Patienten.«
»Sie meinen, dass Monica sich Geld unter den Nagel gerissen hat?«, warf Katja ein. Sie zögerte einen Moment.
»Sie wirken alles andere als verwundert.«
»Sie hat ihn umgarnt, mein Vater hat sich nicht lumpen lassen. Das war uns klar«, erklärte Katja. »Nach seinem Tod fehlten Schmuck und Bargeld – ja. Doch letztlich war es ja seine Sache, wem er was schenkte. Aber ein Testament gab es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Was hätte da auch drinstehen sollen? Er hat drei Kinder, die erbberechtigt sind.«
»Das Haus ist sicherlich einiges wert.«
»Es ist unser Elternhaus – meine Urgroßeltern haben es gebaut, die Großeltern übernommen und saniert, dann folgten meine Eltern. Und jetzt sind wir an der Reihe. Es gehört der Familie.«
»Und falls er etwas geändert hat? Aus Verbundenheit mit Monica Seffgen, die ihm ans Herz gewachsen war?«
Katja hob das Kinn. »So weit wäre er nie gegangen«, entgegnete sie in eindringlichem Ton.
»Sicher?«
Sie nickte energisch. »Unbedingt. Es existiert kein Dokument über eine Erbbeteiligung der Frau. Sie ist wieder ausgezogen, als mein Vater gestorben war. Der Servicedienst hat wenig später seine letzte Abrechnung erstellt, und das war es dann. Wir haben sie nie wiedergesehen.«
Sollten wir keine weiteren Hinweise in dieser Familie entdecken, war an der Stelle Schluss, dachte Sarah, als sie eine Viertelstunde später wieder aufbrach. Die Sonne schien von einem makellosen Himmel. Der Fall war im Grunde wenig spektakulär. Eine offensichtlich habgierige Pflegerin und Betreuerin, die sich auf unverschämte Weise bereichert hatte, war getötet worden – brutal und hinterhältig. Erdrosselt mit ihrem Seidenschal. Und der Mörder hatte keine Spuren hinterlassen. Jemand war ihr gefolgt und hatte ihrem Treiben schlicht ein Ende gesetzt – ein grausames und schmerzvolles Ende. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Der Anruf erreichte sie kurz vor Flensburg. Kathleens Profil ploppte auf dem Display auf. Sarahs Puls beschleunigte kurz, sie atmete einmal tief durch und stellte die Verbindung her.
»Ich habe gehört, dass du in Deutschland zu tun hast«, erklang Kathleens dunkle Stimme.
»Stimmt. Auf Bornholm hat es eine deutsche Touristin erwischt, eine gebürtige Flensburgerin.«
»Ich weiß, und du benötigst Berliner Amtshilfe.«
»Du bist gut informiert.«
»Das hoffe ich. Kann ich dich unterstützen?«
Sarah zögerte nicht lange und verschaffte Kathleen einen Überblick zum Tatgeschehen und den ersten Verdachtsmomenten. Außerdem strengte sie sich an, nicht die kleinste Gesprächspause zwischen ihnen entstehen zu lassen, in der das gemeinsame Wochenende oder was auch immer nachwirken könnte.
»Ich könnte persönlich mit der Dame sprechen«, meinte Kathleen schließlich. »Dazu brauche ich allerdings noch die bisherigen Ermittlungsergebnisse.«
»Mikkel Bentsen wird es sicher für völlig übertrieben halten, wenn ich dich als Spezialermittlerin hinzuziehe, da doch letzten Endes nur zu prüfen ist, ob die Tochter ein überzeugendes Alibi hat.«
»Was heißt nur? Das ist ein wichtiger Aspekt.«
»Mein Stand bei ihm ist zurzeit alles andere als gut«, erklärte Sarah. »Er verzeiht mir unsere Eigenmächtigkeiten bei den letzten Ermittlungen nicht.«
»Du bittest die Berliner um Amtshilfe – das ist ein ganz normaler Vorgang«, gab Kathleen zu bedenken. »Und welches LKA-Ressort sich dann damit befasst, kann ihm doch völlig egal sein. Falls sich nichts daraus ergibt, ist die Sache ohnehin vom Tisch. Hinzu kommt, dass dieser Fall mehr deiner als seiner ist, oder?«
Sarah seufzte. »Dieses dauernde Gerangel um Zuständigkeiten und Befugnisse, um Grenzüberschreitungen und beleidigte oder auch nur verschnupfte Dienststellenleiter geht mir ziemlich auf die Nerven, und das ist noch milde ausgedrückt.«
»Tja …«
Bei mir hättest du mehr Freiheiten, sollte das wohl heißen, übersetzte Sarah den kurzen Einwand. Kathleen würde Sarah sofort in ihr Team aufnehmen – ein Wort der Zustimmung, und sie könnte in der Hauptstadt loslegen. Aber eine Rückkehr nach Berlin … Nein. Bornholm, die Ostsee – das war ihr Zuhause. Und das war nur ein Argument, das gegen Berlin sprach.