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Fluchtort Bornholm.
Sarah Pirohl galt als hoffnungsvolle Kommissarin, doch gleich ihr erster eigener Fall in Rostock ging schief. Ein Mädchen wurde ermordet, und der Hauptverdächtige beging in der Haft Selbstmord. Wenig später aber wurde eine zweite Leiche gefunden – auf die gleiche Art getötet. Weil sie sich ihre Ermittlungsfehler nicht verzeihen kann, zieht Sara sich nach Bornholm zurück. Bis Henrik, ein ehemaliger Kollege, vor ihrer Tür steht. Ein weiterer Mord ist passiert, und es gibt Hinweise, dass der Täter eine Verbindung zu Sarah hat. Dann wird die nächste tote Frau gefunden – ausgerechnet auf Bornholm ...
Ein atmosphärischer, packender Roman von der Bestsellerautorin der Romane „Schiffsmord“ und „Todeswoge“.
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Seitenzahl: 473
Fluchtort Bornholm.
Sara Pirohl galt als hoffnungsvolle Kommissarin, doch gleich ihr erster eigener Fall in Rostock ging schief. Ein Mädchen wurde ermordet, und der Hauptverdächtige beging in der Haft Selbstmord. Wenig später aber wurde eine zweite Leiche gefunden – auf die gleiche Art getötet. Weil sie sich ihre Ermittlungsfehler nicht verzeihen kann, zieht Sara sich nach Bornholm zurück. Bis Henrik, ein ehemaliger Kollege, vor ihrer Tür steht. Ein weiterer Mord ist passiert, und es gibt Hinweise, dass der Täter eine Verbindung zu Sarah hat. Dann wird die nächste tote Frau gefunden – ausgerechnet auf Bornholm.
Ein atmosphärischer, packender Roman von der Bestsellerautorin der Romane »Schiffsmord« und »Todeswoge«
Über Katharina Peters
Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord« und »Fischermord« lieferbar.Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakob als Hauptfigur sind »Herztod«, »Wachkoma«, »Vergeltung«, »Abrechnung«, »Toteneis« und »Abgrund« lieferbar.Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge« und »Todesklippe« lieferbar.
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Katharina Peters
Bornholmer Schatten
Kriminalroman
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Impressum
Für Niklas
Eine Chance zu überleben oder zu entkommen hatte sie nicht. Die beiden waren Profis, die zwei Aufgaben zu erfüllen hatten: sie zunächst mit allen Mitteln zum Reden zu bringen und anschließend zu töten. Doch der erste Teil ihres Auftrages würde misslingen, sie würden ihr keine einzige Silbe entlocken, egal, welche Qualen sie zu erleiden hatte. Eine Stunde vor ihrem Tod gewann sie zwei erstaunliche Erkenntnisse. Es war möglich, den Schmerz zu ignorieren, ihm einen Platz zuzuweisen, von dem aus er sie nur noch am Rande erreichte. Sie wusste nicht, wie sie es anstellte, aber plötzlich gelang es ihr, die Männer aus ihrem Bewusstsein zu drängen, als würde sie einen anderen Raum betreten oder unter Wasser tauchen – hinab in die eisige Tiefe der winterlichen See. Die Geräusche ebbten ab, die Schläge und Tritte, die Luftnot verkümmerten in ähnlicher Weise zu einem dumpfen, trägen Echo. Ein Kunststück, das den wenigsten gelingen dürfte, schon gar nicht unter der Folter, das wurde ihr bewusst.
Das Leben hatte ihr seltsame Talente mitgegeben, eines davon trat während des Sterbens in überwältigender Blüte in Erscheinung. Sie wünschte, sie hätte schon damals darüber verfügt, als der Schmerz und die Angst so unerträglich wurden, dass sie beides an den Ort des Vergessens verbannen musste, wo sie viele Jahre ausharrten und dann – unerwartet zu neuem Leben erweckt – aus ihr herausbrachen und alles veränderten. Die Erinnerung streifte sie für einen langen schweren Moment, dann verblasste sie in der Erkenntnis, dass jedes Trauma alles verändert.
Die Männer gaben sich große Mühe, ihr unaussprechliche Qualen zuzufügen, und je mehr Zeit verging, ohne dass sich der gewünschte Erfolg einstellte, desto stärker gerieten sie ins Wanken; der eine wurde immer wütender, dass sie sich widersetzte und stumm blieb, der andere zweifelte zunehmend.
»Ich glaube, sie hat keine Ahnung, worum es geht«, stieß er irgendwann hervor. »Sonst hätte sie längst geredet.«
»Red doch keinen Quatsch!«, entgegnete der Wütende. »Natürlich weiß sie etwas. Das ist doch kein Zufall, dass sie sich gerade jetzt hier herumtreibt.«
»Guck sie dir doch an – niemand hält das …«
»Sie ist eben ein harter Brocken, auch wenn sie nicht so aussieht. Denk dran, was sie auf dem Kerbholz hat. Offenbar müssen wir noch ganz andere Saiten aufziehen. Vergiss, dass sie eine Frau ist, noch dazu eine halbe Portion. Sie hat gelernt, mit Schmerzen umzugehen.«
Der Zweifler warf ihm einen unsicheren Blick zu, und sie spürte ein machtvolles Gefühl in sich aufsteigen. Wie wahr, ich habe gelernt, Schmerzen zu ertragen. Ihr brecht mich nicht. Niemand bricht mich. Ich breche euch. Das war die zweite Erkenntnis, und sie ging einher mit einer Welle von Wärme, die sie durchströmte. Als sie eine halbe Stunde später starb, ging die Wintersonne über der Insel auf, und ihr letzter Gedanke galt Sarah.
Der Hafen von Rønne tauchte schemenhaft im Novembernebel auf. Sarah stand an Deck und beobachtete, wie die Silhouetten nur zögerlich an Schärfe gewannen, während die Fähre gemächlich die Hafeneinfahrt passierte. Auf den zahlreichen Ferienreisen, die sie als Kind und Jugendliche mit ihren Eltern nach Bornholm unternommen hatte, war dies stets der Augenblick gewesen, auf den sie bereits eine Stunde vor dem Eintreffen sehnsüchtig in die Ferne starrend an der Reling gewartet hatte – bis sie endlich zu sehen waren: die roten Dächer der eng aneinandergeschmiegten Häuser, im Hintergrund die Kirchturmspitze, das Hafengelände mit seinen Baustellen und Kränen, das Gewusel an der Hafenstraße, das Kreischen der Möwen unter knallblauem Himmel, häufig jedenfalls. Doch selbst wenn sie im strömenden Regen angekommen waren, ihre unbändige Vorfreude hatte das kaum erschüttern können.
Sarah hatte vergessen zu zählen, wie oft sie bereits auf der Insel gewesen war – meist im Sommer, manchmal auch im Frühjahr –, doch sie konnte sich noch gut an die ersten Radtouren erinnern, die ihre Eltern mit ihr unternommen hatten. Anfangs hatte sie als Kleinkind bequem im Anhänger gesessen, später war sie auf einem wunderbaren Liegerad meist vorneweg gefahren – immer an der Küste entlang, durch dichte Kiefernwälder oder oben im Norden am Rande der schroffen Klippen. Sie hatten auf Naturplätzen gecampt und abends der Brandung gelauscht, wunderbares Softeis gegessen – angeblich gab es auf Bornholm die größte Eisportion weltweit zu kaufen – und Hering, geräucherten Hering, bis der Bauch prall war. Ihre Mutter bezeichnete Bornholm immer als Ostseeperle mit südlichem Flair und wurde nicht müde, bei jedem Aufenthalt die Offenheit, selbstverständliche Gelassenheit und Bedächtigkeit der Inselbewohner hervorzuheben. Nirgendwo auf der Welt gab es ein Oldtimer-Rennen wie auf Bornholm, bei dem der Langsamste gewann. Großstadthektik war hier ein Fremdwort, eigentlich jegliche Hektik. Ihr Vater hatte von den Kämpfen und Streitereien der Dänen und Schweden um die Insel in vergangenen Jahrhunderten erzählt, und auf jeder Reise hatten sie der Burgruine Hammershus im Norden und den Bunkern der Kanonenbatterie aus dem Zweiten Weltkrieg im Wald von Dueodde einen Besuch abgestattet. Zweimal waren auch die Großeltern in den Ferien mit von der Partie gewesen, die mit ihrer Segelyacht von Stralsund nach Bornholm geschippert waren. Jahrelang hatte zu Hause in Potsdam in Sarahs Zimmer eine überdimensionale Wandkarte von der Insel gehangen, die sie nach jedem Aufenthalt mit Zeichnungen und Anmerkungen ergänzt hatte; als sie älter wurde, hatte sie fotografiert und kleine Videos gedreht.
Mit achtzehn war sie zum ersten Mal ohne ihre Eltern, dafür mit Schulfreunden auf die Insel gefahren. Sie hatten ein großes Haus am Balka-Strand im Südosten gemietet, um zu surfen, zu feiern, zu kiffen und Sex ohne Ende zu haben. Das war vor zehn Jahren, dachte Sarah, kurz nach dem Abitur. Zwei wunderbare unvergessliche Wochen, die den Abschluss der Schulzeit markierten und zugleich den Aufbruch in ein völlig neues Leben – Umzug nach Berlin, Studium, das sie nach einigen Semestern abgebrochen hatte, um die Kommissarinnenlaufbahn einzuschlagen, schließlich die Stelle in Rostock. Einige Jahre hatte sie ihre Sommerferien in Spanien, Frankreich, Irland verbracht, um dann schließlich doch wieder die alte Tradition aufleben zu lassen, insbesondere nachdem Freunde aus Berlin auf Bornholm ein neues Zuhause gefunden hatten.
Tobias und Lisa, einige Jahre älter als Sarah, hatten sich als Ärzte auf der Insel niedergelassen und lebten seit drei Jahren in Rønne. Sie waren nie ihre engsten und vertrautesten Freunde gewesen, Menschen, mit denen man sich ständig austauschte und jeden Kummer teilte, aber Sarah hatte den Eindruck, dass sie sich seit gefühlt einer Ewigkeit kannten und gerade im Notfall die richtigen Ansprechpartner waren. Als sie angerufen hatte, um zu fragen, ob sie für einige Zeit in ihrem Ferienhaus unterkommen könnte, hatte Lisa sofort zugesagt.
»Natürlich. Wir wollten es in diesem Herbst endlich mal renovieren, das ist längst fällig, aber …« Leises Lachen. »Wir sind bisher wieder nicht dazu gekommen. Also, wenn es dir nichts ausmacht, dass es keine Zentralheizung gibt und längst ein neuer Anstrich fällig ist, von einem halben Dutzend anderer kleinerer Reparaturen mal ganz zu schweigen, komm vorbei, wann immer du willst, und bleib, so lange du magst.«
»Das ist sehr großzügig, danke. Ich bezahle natürlich …«
»Ach, komm, das können wir besprechen, wenn du hier bist.« Kurzes Zögern. »Warum erst jetzt, wenn hier alles still und einsam wird? Wir hatten einen wunderbaren Sommer, du hättest ihn in vollen Zügen genossen.«
Ich hatte einen schrecklichen Sommer, dachte Sarah. Mein Leben ist aus den Fugen geraten, und die Stille an der See ist genau das, was ich jetzt brauche. »Darüber sprechen wir, wenn ich da bin, okay?«, hatte sie schließlich gesagt.
Lisa hatte einen Moment geschwiegen. »Natürlich. Sag Bescheid, welche Fähre du nimmst. Wir freuen uns.«
Sarah spürte plötzlich, dass ihre Hände taub geworden waren, und stopfte sie tief in die Taschen ihrer Jacke. Ein kalter Wind fegte übers Deck. Der nahende Winter lag in der Luft, und es hieß, er würde diesmal ungewöhnlich streng werden. In den meisten Jahren herrschten zwischen November und März vergleichsweise milde, nahezu mediterrane Temperaturen auf Bornholm, bitterer Frost und schneereiche Zeiten waren selten, aber nicht gänzlich ausgeschlossen.
Das Schneechaos vor einigen Jahren würde den Bornholmern sicher lange in Erinnerung bleiben; die Bilder von der eingeschneiten und sturmumtosten Insel, die unter meterhohen Schneemassen ächzte, waren um die ganze Welt gegangen; einzelne Höfe und Gemeinden, die Sarah als sonnendurchflutete Idyllen kennen- und lieben gelernt hatte, waren komplett abgeschnitten – und inmitten dieser unberechenbaren Naturgewalten: die Dänen mit ihrer zupackenden, hilfsbereiten Art, die es sich nicht nehmen ließen, auch oder gerade unter diesen Umständen Weihnachten zu feiern.
Sarah drehte sich um und ging unter Deck zu ihrem Wagen. Während sie langsam aus dem Bauch der Fähre fuhr, traf eine Sprachnachricht von Lisa ein.
»Tut mir leid, Sarah, dass wir beide nicht zu Hause sind – Notfall in der Klinik.« Ihre Stimme klang etwas aufgeregt. »Fahr zum Haus. Der Schlüssel liegt an der üblichen Stelle. Holz und Kohle für den Ofen findest du im Schuppen. Du weißt ja Bescheid. Melde mich später. Oder auch Tobias. Komm gut an.«
Øster Sømarken lag an der Südküste. Die Strecke von Rønne über Arnager und Pederska betrug gut zwanzig Kilometer, und wenn man gemütlich unterwegs war und den Blick schweifen ließ, benötigte man eine halbe Stunde. Das kleine Ferienhaus lag in einem lichten Kiefernwald, wenige Meter vom Strand entfernt. Im nahegelegenen Fischerhafen gab es den besten frischgefangenen Fisch, den Sarah je gegessen hatte. Als sie am Haus eintraf, war es später Nachmittag und der Himmel immer noch grauverhangen. Sie stellte ihr Gepäck ins Haus und schlug den Weg zum Strand ein. Die See war unruhig. Sarah setzte sich und ließ den feinen Sand zwischen ihren Fingern hindurchrieseln. Kein Mensch war zu sehen. Die Ferienhäuser waren verwaist. Dämmrige Schatten krochen über den schmalen Strand. Einen Moment hatte sie das Gefühl, in einem seltsamen Traum gefangen zu sein.
»Du wirst umkommen vor Einsamkeit«, hatte ihre Mutter gesagt, als Sarah ihre Eltern in Potsdam besucht und nach einigen Tagen ihr Vorhaben angekündigt hatte, eine längere Auszeit auf Bornholm zu nehmen. »Ein dunkler skandinavischer Herbst macht dich nur trübe. Bleib doch erst mal bei uns. Wir finden eine Lösung. Dieser Polizeijob war nicht das Richtige für dich, aber das ist nicht weiter tragisch. Du bist so jung, nimm doch einfach dein Studium wieder auf. Obwohl wir es damals nicht ausdrücklich betont haben – dein Vater und ich waren immer der Ansicht, dass du mit Jura und Wirtschaft besser gefahren wärst. Du wirst sehen, in ein paar Wochen sieht dann alles schon wieder ganz anders aus.«
Dazu hatte sie dieses beschwichtigende Mamalächeln aufgesetzt – nichts passte weniger zu dem, was Sarah erzählt hatte. Doch die Einschätzung ihrer Mutter umkleidete es in nahezu perfekter Weise. Und ihr Vater? Er hatte mit ernster und anteilnehmender Miene genickt. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte ihr auf die Schulter geklopft. Das wird schon wieder.
Habt ihr mir überhaupt zugehört?, hatte Sarah gedacht, einen Moment wie erstarrt. Es geht nicht um irgendeinen Stress im Job oder um Liebeskummer oder Ähnliches.
Am nächsten Morgen war sie in aller Frühe abgereist – über Rostock, wo sie das Notwendigste gepackt und für eine längere Abwesenheit vorbereitet hatte, hoch nach Rügen bis Sassnitz und dann auf die Fähre. Sie war sicher, dass ihre Eltern mit allem gerechnet hatten, nur nicht damit, dass sie sich tatsächlich allein auf den Weg machen würde.
Sarah fröstelte, stand auf und klopfte sich den feinen Sand aus der Hose. Langsam ging sie zum Haus zurück. Sie machte Feuer, räumte ihre Taschen aus und füllte den Kühlschrank mit Lebensmitteln, die sie unterwegs besorgt hatte.
Das Haus war klein und bescheiden – ein typisches buntes dänisches Sommerhaus, umgeben von einem großen, aber nicht eingezäunten Grundstück, das notfalls auch im Winter genutzt werden konnte – und bestand im Wesentlichen aus einem Wohnraum mit Küche und einem großen Kaminofen, zwei Schlafzimmern, einem Bad, Terrasse und Schuppen. Es war dunkel, als sie ihr Abendessen zubereitete – Fisch und Kartoffeln. Sie aß draußen, in ihren dicksten Pullover gehüllt, und lauschte der Brandung. Bevor sie ins Bett ging, kontrollierte sie ihr Smartphone – mehrere Nachrichten waren eingetroffen, von ihren Eltern, von Lisa, die versprach, sich am nächsten Tag zu melden, und zwei Exkollegen. Den Eltern antwortete sie kurz und knapp. Gut angekommen. Alles okay. S. Nach einigem Zögern schickte sie eine zweite Nachricht hinterher. Und vergesst nicht: Es geht niemanden etwas an, wo ich bin. Und das meine ich verdammt ernst. Sie sah, dass ihre Mutter umgehend zurückschrieb, wartete aber das Eintreffen der Antwort nicht ab, sondern stellte auf stumm und legte sich schlafen. Zu ihrer eigenen Überraschung fiel sie umgehend in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Als sie aufwachte, war es noch dunkel. Sie schälte sich aus der Decke und sah zum Fenster hinaus. Am Horizont zeigte sich ein erstes flammendrotes Morgenlicht, das die grauen Dämmerschatten durchbrach. Sie schlüpfte in Jogginghose, Sportschuhe und Daunenweste und lief hinunter zum Strand. Leise zischende Wellen rollten behäbig über den Sand. Die Luft war getränkt von salziger Gischt. Weit draußen waren die Lichter einer Fähre zu sehen. Sarah hob das Gesicht und schloss die Augen. Was will ich hier? Zur Ruhe kommen? Den Dingen auf den Grund gehen? Das Gefühl der Ohnmacht und Schuld abstreifen? Das Versagen ertragen oder einfach weglaufen, mich verkriechen, niemandem in die Augen sehen müssen?
Von allem ein wenig, dachte sie und öffnete die Augen. Sie stopfte die Hände in die Taschen und lief Richtung Süden. Bis zum Leuchtturm von Dueodde an der Südspitze waren es fast sechs Kilometer. Als sie gut zwei Stunden später zurückkehrte, war der Himmel blank, und ein warmes intensives Licht lag über der See. Sie kochte Kaffee und überflog beim Frühstück die Nachricht ihrer Mutter kaum bis zur Hälfte. Sie zögerte, die Mitteilung von Henrik zu öffnen, einem Exkollegen, der seit etlichen Monaten im Berliner BKA beschäftigt war und ein bisschen mehr gewesen war als ein Kollege. Ein Dutzendmal hatte er in den letzten Wochen versucht, sie zu erreichen. Beim zweiten Kaffee öffnete sie die Nachricht schließlich doch. Lass uns doch endlich reden. Nein, dachte Sarah. Lass mich in Ruhe. Es ist besser so.
Henrik hatte sich geschworen, keinen einzigen Blick zurückzuwerfen, geschweige denn, alte Geschichten aufzuwärmen. Er hatte sich breitschlagen lassen und war nach Rostock gefahren, weil sein Bruder darauf bestanden hatte – Olaf feierte seinen vierzigsten Geburtstag, und ohne den Kleinen, der gerade mal ein Jahr jünger war, taugte die schönste Party nichts, wie er sich ausgedrückt hatte. Also würde Henrik es sich im Kreise der Familie und alter Freunde richtig gutgehen lassen, von seinem neuen hochinteressanten Job in der BKA-Identifizierungskommission schwärmen, die weltweit Todesopfer nach Unglücken ermittelte, und nach zwei Tagen mit dem guten Gefühl in die Hauptstadt zurückkehren, dass er alles richtig gemacht hatte.
Zunächst lief alles nach Plan. Die Feier fand in einem Club am Hafen statt, es wurde viel getanzt und noch mehr getrunken. Henrik flirtete mit einer jungen Frau vom Catering, und kurz nach Mitternacht hatte es ganz den Anschein, als könnte aus dem Flirt mehr werden. Er besorgte sich im Waschraum eine Packung Kondome. Als er an die Bar zurückkehrte, blickte ihm von Weitem ein Exkollege entgegen – genauer gesagt, sein ehemaliger Vorgesetzter, Dienststellenleiter Piet Meinhold. Sie hatten sich vor vielen Monaten zum letzten Mal gesehen, und Henrik hatte ihn nicht vermisst. Er kniff die Augen zusammen.
»Du hast doch nicht etwa vergessen, dass dein Bruder und ich demselben Ruderclub angehören?«, sagte Piet zur Begrüßung und streckte grinsend eine Hand aus. Sein Händedruck war fest wie eh und je. »Schön, dich zu sehen.«
Henrik nickte höflich und rang sich ein Lächeln ab.
»Ich hatte Spätdienst und einen langen Einsatz – na, du weißt ja, wie das ist.«
»Ja, weiß ich.«
»Komm, wir trinken was zusammen, und du erzählst mal, wie es dir so ergeht in deinem neuen Job. Ich wusste immer, dass du eines Tages Karriere machen würdest.«
Und ich wusste immer, dass du kein guter Chef bist und nie einer werden wirst, ob du mit Olaf in einem Boot sitzt oder nicht. Es war eine gute Idee gewesen zu gehen – so oder so. Henrik schob sich neben Piet auf den Barhocker. Aus den Augenwinkeln bekam er mit, dass die Frau vom Catering Feierabend machte und kurz seinen Blick suchte. Einen Moment lang war er versucht, Piet einen Korb zu geben, dann siegte seine gute Kinderstube. Er deutete eine bedauernde Geste an, erzählte dann ein paar Minuten, beantwortete Piets Fragen und trank seinen Gin-Tonic.
»Klingt echt gut, ziemlich spannend auf jeden Fall.« Piet drehte das Bierglas zwischen den Händen, es wirkte zierlich in seinen Pranken. Einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, und Henrik überlegte, dass er nicht allzu lange zögern sollte, den rechtzeitigen Absprung zu suchen.
»Weißt du, wo sie ist?«, ergriff Piet plötzlich wieder das Wort.
Henrik drehte ihm das Gesicht zu. Die Frage, um wen es ging, stellte sich nicht. »Ich weiß nur, dass sie nicht mehr in Rostock ist. Das stand ja sogar in der Zeitung.« Leitende Ermittlerin wirft das Handtuch und hat die Hansestadt verlassen, hatte es geheißen. »Alles Weitere entzieht sich meiner Kenntnis.«
Piet verzog das Gesicht. »Na, hör mal – ihr wart doch mal ein Paar. Oder entzieht sich das auch deiner Kenntnis?«
Das klang fast ein wenig, als würde er ihn nachäffen. Henrik starrte ihn an. Das geht dich einen Scheißdreck an.
»Hätte ja sein können, dass ihr noch Kontakt habt«, schob Piet schließlich nach.
»Falsch gedacht. Gegenfrage: Warum hast du sie einfach gehen lassen?«
Piet stellte das Glas wieder ab, das er gerade zum Mund führen wollte. »Was soll ich denn tun, wenn sie die Nerven verliert, mir Marke und Dienstwaffe auf den Tisch knallt und sich vom Acker macht?«
»Sie aufhalten – wäre ’ne Idee, oder?«
»Ach, komm!«
Henrik war kurz davor, einfach aufzustehen und ohne ein weiteres Wort zu gehen. Genau diese Unterredung hatte er nicht gewollt. Piet legte eine Hand auf seinen Unterarm. »Sie hat hingeworfen, als es schwierig wurde«, fügte er leise hinzu. »Sie ist konfliktunfähig und fällt um, sobald es nicht glatt läuft.«
»Sie ist achtundzwanzig«, entgegnete Henrik ebenso leise. »Das war ihr erster Job, ihre erste Mordermittlung, die sie eigenverantwortlich leitete, und allzu viel Unterstützung hatte sie nicht, als es nicht mehr glatt lief.«
Piet musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen von der Seite. »Du hast ja offenbar nach deinem Wechsel in die Hauptstadt doch noch einiges von der ganzen Sache mitbekommen.«
»Der Fall hat hohe Wellen geschlagen – über Mecklenburg-Vorpommern hinaus.«
»Und es gibt immer den einen oder anderen Kollegen, der gerne hinter vorgehaltener Hand redet, vorzugsweise dummes Zeug, und mir einen reinwürgen möchte, oder?«
Henrik schob Piets Hand beiseite. »Du hast ihr die Ermittlung nur allzu gerne überlassen, solange es reibungslos lief …«
»Es sah nach einem glasklaren Fall aus, das weißt du ganz genau!«, fiel Piet ihm ins Wort. »Sie war frisch im Team, aber mit Feuereifer dabei, und sie hat es gut hingekriegt – so sah es aus, am Anfang. Warum sollte ich ihr nicht freie Hand lassen? Du hast ja inzwischen auch nur noch halbherzig zur Verfügung gestanden – du warst auf dem Sprung nach Berlin, und ansonsten hattest du nur noch Augen für die schöne Sarah, nicht wahr? Der Fall interessierte dich doch gar nicht mehr.«
»Niemand stand in der entscheidenden Phase, als es aus dem Ruder lief, neben oder hinter ihr«, fuhr Henrik fort und tat so, als ob ihn der Seitenhieb überhaupt nicht interessierte – was eine Lüge war.
»Glaubst du das wirklich?«, entgegnete Piet barsch. »Sie ist gegangen. Sie hat aufgegeben, als es spannend wurde, von einer Minute auf die andere.«
»Spannend? Der angebliche verurteilte Mörder hat sich das Leben genommen, es gab ein zweites Opfer, und der wahre Täter hat sich über die Polizei lustig gemacht, insbesondere über sie. Das ist nicht spannend, das ist eine Katastrophe, die nicht nur eine Anfängerin aus der Bahn werfen kann.« Henrik trank aus und knallte sein Glas auf den Tresen.
»Aber einfach abhauen ist auch keine Lösung, oder? Sie hätte ein paar Tage freinehmen und dann zurückkommen müssen. Dann hätten wir den Mist gemeinsam gestemmt. So geht das hier bei uns. Das weißt du ganz genau. Gib es wenigstens zu!« Piet fasste erneut nach seinem Arm, aber Henrik schüttelte die Hand ab. »Vielleicht ist sie ja tatsächlich völlig falsch in dem Job, in dem es auch oder sogar meistens schmutzig, laut, brutal und ungerecht zugeht. Und es war wahrscheinlich das Beste – auch für sie –, dass sie ganz schnell die Notbremse gezogen hat.«
Henrik stand auf. »Tatsächlich?«
»Sie kommt aus einer anderen Welt. Vermögende Familie und so weiter. Sie hat es eigentlich gar nicht nötig, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, noch dazu bis an die Schmerzgrenze, vielleicht sogar darüber hinaus. Womöglich weiß sie gar nicht, was das ist.«
Henrik schloss kurz die Augen. »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
»Eine ganze Menge! Sie kann es sich leisten, einfach hinzuschmeißen. Papi wird es schon richten. Oder wer auch immer.«
»Nur kein Neid, Piet.«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Natürlich nicht. Wie steht es eigentlich inzwischen um die Ermittlungen? Man liest nur noch wenig.«
»Wir sind dran.«
»Ach ja? Seit wie vielen Monaten seid ihr ohne irgendein Ergebnis an der Sache dran? Zwei brutal totgeschlagene Mädchen, ein fälschlich verurteilter Mann, der sich in der Haft umgebracht hat, ein Täter, der sich ins Fäustchen lacht, eine junge Ermittlerin, die an der ganzen Geschichte zu zerbrechen droht, und es gibt nichts Vorzeigbares? Schwaches Bild, das wirst du zugeben.«
Piet kniff die Augen zusammen. »Weißt du was, Henrik – kümmere du dich doch um deinen tollen Job beim BKA und lass mich meinen machen.«
»Gute Idee. Dann schlage ich vor, du fängst so schnell wie möglich damit an. Wenn mich nämlich nicht alles täuscht, läuft da draußen immer noch ein ausgesprochen gefährlicher Typ herum, der mächtig Spaß hat, so lange auf junge Mädchen einzudreschen, bis kein Funken Leben mehr in ihnen steckt. Das LKA sollte euch Feuer unterm Hintern machen – das zumindest ist meine Meinung.«
Damit wandte er sich abrupt um und eilte Richtung Hinterausgang. Von Weitem hörte er Piet hinter ihm herfluchen, irgendwas in Richtung arrogantes Arschloch und Besserwisser. So weit zu seinem Vorhaben, nicht in alten Geschichten herumzustochern.
Henrik war aufgewühlt, wütend und niedergeschlagen zugleich. Nach kurzem Zögern ließ er den Wagen stehen und lief zu Fuß Richtung Stadtmitte, wo seine Eltern wohnten und er das Gästezimmer bezogen hatte. Er schlug ein flottes Tempo an und beruhigte sich nur allmählich. Piet hatte mit einigen seiner Einwände durchaus recht, was es nicht einfacher machte. Der Fall Marie Weber schien ein Musterbeispiel an Eindeutigkeit gewesen zu sein, und die junge Kommissarin, die seit Jahresbeginn das Rostocker Team verstärkt hatte, hatte ihm mit dem ersten Blickkontakt den Kopf verdreht. Ein Paar im herkömmlichen Sinn waren sie allerdings nie – sie hatten eine Affäre, eine höchst kurzweilige, die weder sie noch er vertiefen wollte, da Henrik auf dem Sprung nach Berlin war. Das war zwar nicht der einzige Grund, spielte aber keine Rolle mehr, so redete er es sich zumindest ein. Wenn er ehrlich war, hatte es ihn zutiefst irritiert, vielleicht sogar verstört, dass Sarah gar keine übliche Beziehung wollte und sich auch in Frauen verliebte, wie sie freimütig erzählt hatte. Das Gespräch hatte ihn tagelang beschäftigt. Dann war die Leiche gefunden worden, und Sarah hatte sich in den Fall gestürzt, der bald ihrer war, und es hatte kein anderes Thema mehr gegeben.
Marie Weber war aufgrund massiver Gewalteinwirkung gestorben, genauer gesagt, war sie totgeschlagen worden. Ihr Anblick hatte selbst hartgesottene Polizisten erschüttert. Ausflugsgäste hatten ihre verscharrte Leiche in der Nähe des Lokals Schnatermann im Naturschutzgebiet Rostocker Heide gefunden. Im Mittelpunkt der polizeilichen Aktivitäten stand sofort der vierzigjährige Stiefvater Georg Weber, der aufgrund von Schlägereien wiederholt mit der Polizei zu tun gehabt hatte und auch durch familiäre Gewalt aufgefallen war. Seine Frau hatte sich erst kürzlich von ihm getrennt; Tochter Marie hatte ihn mehrfach beim Jugendamt gemeldet und ihre Mutter tatkräftig bei der Trennung unterstützt. Weber bestritt die Tat vehement, doch er hatte kein überzeugendes Alibi, seine DNA-Spuren waren an der Leiche nachweisbar, er verwickelte sich zunehmend in Widersprüche, und der Auffindeort war zu glücklicheren Zeiten ein beliebter Ausflugsort der Familie gewesen. Niemand hatte auch nur den geringsten Zweifel an seiner Täterschaft. Opfer, Täter, Motiv und Umfeld passten so perfekt zusammen wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.
Währenddessen verließ Henrik Rostock mit einem seltsamen Gefühl der Leere. Er verdrängte es und konzentrierte sich auf seine neuen Aufgaben, besuchte Lehrgänge, lernte andere Kollegen kennen und fuhr zu ersten Einsätzen ins Ausland. Von Weitem verfolgte er, dass das Gericht ein gutes Vierteljahr später nach wenigen Verhandlungstagen eine besondere Schwere der Schuld feststellte und Weber zu lebenslanger Haft verurteilte. Kommissarin Sarah Pirohl erntete viel Anerkennung für ihre erste Mordermittlung, man sagte ihr eine große Karriere voraus. Sie war in der Hansestadt angekommen, hatte sich im Team bewährt, und alles schien sich wunderbar gefügt zu haben.
Von Webers Suizid erfuhr Henrik erst nach der Rückkehr von einem Lehrgang in den USA und im Zusammenhang mit der Berichterstattung nach der Entdeckung einer zweiten Leiche ganz in der Nähe des Fundorts von Marie. Die siebzehnjährige Nicole Kerber war ähnlich brutal misshandelt worden, und Weber kam als Täter nicht in Frage. Nach dem rechtsmedizinischen Gutachten stand eindeutig fest, dass das junge Mädchen getötet wurde, als er sich in Untersuchungshaft befand. Eine Verbindung zwischen den beiden bestand nicht; zudem existierte ein Bekennerschreiben, in dem der Mörder sich über die stümperhafte Polizeiarbeit und insbesondere über die leitende Ermittlerin lustig machte. Plötzlich zweifelte niemand mehr daran, dass Sarah fatale Fehler unterlaufen waren; sie war ausschließlich dem Offensichtlichen gefolgt, ohne einen einzigen kritischen Seitenblick gewagt zu haben.
Ein ehemaliger Kollege erzählte Henrik wenig später, dass große Unruhe im Team geherrscht habe und sie abgetaucht sei. Außerdem nahm der Mörder immer wieder Kontakt mit der Polizei auf, um Sarah zu verhöhnen. Henrik war wie vor den Kopf geschlagen. Ein ums andere Mal versuchte er, sie zu erreichen, doch sie antwortete auf keine seiner Nachrichten, und niemand wusste, wo sie war.
Henrik schlief nur wenige unruhige Stunden. Nach dem Frühstück mit den Eltern machte er sich auf den Weg. Er wählte die Route über den Südring Richtung Lindenpark – dort hatte Sarah gewohnt. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fuhr er zu ihrer Adresse. Ihr Name stand am Klingelbrett. Er zögerte einen Moment, dann klingelte er. Niemand reagierte. Natürlich nicht. Sie hatte ihre Wohnung noch nicht gekündigt und wahrscheinlich auch nicht untervermietet. Die monatlichen Kosten dürften sie nicht großartig beunruhigen. Auch damit hatte Piet recht – Sarahs Familie war vermögend, und wo immer sie jetzt war, um ihren Lebensunterhalt musste sie sich keine Sorgen machen. Ihr Vater war Teilhaber einer angesehenen europaweit agierenden Kanzlei sowie Dozent für Wirtschaftsrecht; ihre Mutter leitete ein exklusives Sportstudio mit persönlichem Coaching, und es gab eine spendable Großmutter. Sarah konnte in aller Ruhe ausspannen und ein neues Leben beginnen, besser gesagt: könnte, denn so oberflächlich schätzte er sie nicht ein. Oder vielleicht doch? Womöglich hatte er sich von Anfang an ein falsches Bild von ihr gemacht. Nicht auszuschließen.
In Berlin empfing ihn Novembertristesse; das Grau hatte alle Farben geschluckt. Der lange heiße Sommer schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Er schrieb eine SMS an Sarah und schwor sich, dass dies sein letzter Versuch war, Kontakt zu ihr aufzunehmen. In der Abendschau wurde über einen Leichenfund am Nikolassee berichtet. Henrik schaltete ab und ging früh schlafen.
Der skandinavische Winter sei nichts für schwermütige Menschen, hatten Lisa und Tobias mit ernsten Mienen betont, kaum dass sie die erste Gabel des köstlichen Heringsgerichts probiert hatte. Sarah war seit drei Tagen auf der Insel – Tage, die in betörendem Gleichklang vergangen waren, Nächte gespickt mit Träumen, an die sie sich nur bruchstückweise erinnerte. Am Abend zuvor hatte Lisa sich gemeldet und sie zum Essen nach Rønne eingeladen. Abgesehen von dem gemütlichen Esszimmer und dem Duft eines wunderbaren Fischgerichts erinnerte atmosphärisch wenig an zurückliegende Inselbesuche.
Sarah legte das Besteck auf dem Teller ab und fasste die beiden ins Auge. »Wer hat angerufen – meine Mutter oder mein Vater?«
Tobias räusperte sich. »Hör zu …«
»Wer?«
»Sie machen sich beide Sorgen«, warf Lisa ein. »Das ist nachvollziehbar. Sie wollen wissen, wie es dir geht und …«
»Sie wissen, wie es mir geht.« Sarah nahm die Gabel wieder zur Hand. »Ich habe mit ihnen geredet. Und sie machen sich höchstens Sorgen, dass ich eine Entscheidung getroffen habe, mit der sie nicht gerechnet haben und die sie nicht gutheißen. Das ist alles. Der skandinavische Winter hat noch gar nicht angefangen. Es ist Herbst, ja: Spätherbst, und ich fühle mich sehr wohl hier.«
Sarah blickte Tobias an, der tief durchatmete und dann nickte. »Ich denke auch, dass du alt genug bist, deine eigenen Entscheidungen zu treffen, keine Frage.« Er zögerte.
»Aber?«
Er zuckte mit den Achseln. »Du hast Fehler gemacht – als Polizistin. Das passiert. Aber warum gibst du so schnell auf?«
»Du denkst, ihr denkt, dass ich weglaufe? Das ist nur ein Aspekt, und zwar wahrscheinlich der unwichtigste.« Sie holte tief Luft. »Meine Fehler haben Menschenleben gekostet«, fügte sie leise hinzu. »Ich bin falsch in dem Beruf. Das habe ich erkannt und die Konsequenzen gezogen. Wie würdest du dich verhalten, wenn du bei einer OP komplett und auf übelste Weise versagt hättest? Das Ganze gründlich durchdenken, dir ein paar Tage später großherzig verzeihen, dich einmal schütteln und weitermachen?« Sie hob eine Braue. »Wohl kaum. Du würdest dich in Frage stellen. Dich und deine Eignung für den Beruf. Es ist nun mal ein grundlegender Unterschied, welche Fehler man in welchem Job macht. Ich war fasziniert von dem Beruf und habe mir eingebildet, dass ich eine gute Ermittlerin werden könnte. Das war falsch – eine Illusion, die ich ganz schnell wieder loslassen musste. Das ändert nichts daran, dass zwei Menschen tot sind, die wahrscheinlich noch leben könnten, wenn beim ersten Fall umfassender ermittelt worden wäre, aber es verhindert weitere Fehler.« Sie spießte ein Stück Fisch auf.
»Du bist doch nicht allein verantwortlich«, wandte Lisa ein. »Ihr seid ein Team gewesen, oder?«
»Ich hatte die Leitung.«
»Es war deine erste Stelle nach der Ausbildung. Da kann doch niemand erwarten, dass du keine Fehler machst. Wer davon ausgeht, trägt eine noch viel größere Verantwortung, wenn etwas schiefgeht.«
»Dennoch hätte ich sorgfältiger arbeiten müssen und damit Schlimmeres verhindern können. Diese Aufgabe hätte ich bewältigen müssen – auch als Anfängerin.« Sie steckte den Bissen in den Mund und kaute langsam. »Ich will das Ganze hinter mir lassen. Wenn das nach Weglaufen aussieht, kann ich es nicht ändern, und es ist mir egal.« Sie schluckte. Der Fisch schmeckte nach nichts.
Eine Weile aßen sie schweigend weiter.
»Und was willst du jetzt machen? Abgesehen von einer Auszeit auf Bornholm?«, fragte Tobias schließlich. »In Selbstvorwürfen ersticken? Grübeln, bis der Frühling kommt?«
»Ich könnte mich nützlich machen und ein bisschen renovieren. Das hattet ihr doch ohnehin vorgehabt, oder?«
Tobias sah sie verblüfft an. »So was kannst du?«
»Ja. Ich kann ganz gut mit Farben und Holz umgehen, zumindest reichen meine Fähigkeiten für einen frischen Anstrich und kleinere Ausbesserungen, wie ihr sie doch ohnehin vorgesehen hattet.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. Was denkt ihr eigentlich von mir? Dass ich eine verwöhnte Göre bin, die keinen Handschlag zu viel macht? Ja, natürlich dachten sie das. Sie sind nicht die Ersten und werden nicht die Letzten sein. »Und ich habe Zeit.«
»Tja, warum eigentlich nicht?« Tobias warf seiner Frau einen fragenden Blick zu, und Lisa nickte. »Ich finde die Idee gut.«
»Schön. Ich werde gleich morgen mal durchs Haus gehen, eine Auflistung machen und euch ein paar Vorschläge unterbreiten.«
Lisa lächelte. »Okay.«
Sarah ging jede Wette ein, dass Lisa ihr Engagement beruhigte – wer sich mit Renovierungsarbeiten beschäftigte, war selten depressiv, soweit sie wusste, jedenfalls.
Auf dem Rückweg setzte Nieselregen ein. Es herrschte nur wenig Verkehr. Ein Wagen hatte den gleichen Weg wie sie. Sarah fuhr über Arnager und bog bei Hullegard und Sankt Peters Kirke Richtung Süden ab, vorbei am Traktormuseum. Die Scheinwerfer des anderen Fahrzeugs blieben zurück und verblassten allmählich in der Dunkelheit.
Sarah musste plötzlich an ihre Großmutter Lotte denken. Die Mutter ihres Vaters war Mitte achtzig, lebte inzwischen in einer Senioreneinrichtung in Potsdam und benötigte nach einem Schlaganfall umfassende Betreuung. Ihre Beziehung war nicht innig gewesen, aber die alte Dame hatte Sarah nachhaltig beeindruckt. Nach dem unerwartet frühen Tod ihres Mannes war sie noch einmal richtig aufgeblüht, und sie hatte sich von niemandem reinreden lassen, was sie mit ihrem Vermögen machte und wie sie ihre Beteiligung an der Kanzlei verwaltete. Sie hatte einen Fonds für Sarah eingerichtet und sie stets angehalten, »niemals abzuheben, sondern auf dem Teppich zu bleiben« – das war einer ihrer Lieblingssätze, und das bedeutete für sie: Sarah sollte staatliche Schulen und Universitäten besuchen, aber jede zusätzliche Unterstützung erhalten, die nötig und sinnvoll war und nicht allzu aufdringlich nach Luxusgöre roch – eine Bezeichnung, die Lotte geprägt hatte. Sarah war erst später klar geworden, dass ihre Eltern, insbesondere ihr Vater, diese Haltung nicht teilten und sie gerne auf eine Privatschule geschickt hätten. Aber aus irgendeinem Grund hatte Lotte immer ein entscheidendes Wörtchen mitzureden gehabt und ihren Einfluss geltend gemacht, das galt wohl auch für die Kanzlei. Und als Sarah sich entschied, das Jura- und Wirtschaftsstudium abzubrechen und Polizistin zu werden, war sie begeistert gewesen, während die Eltern den Entschluss tolerierten und ihr keine Steine in den Weg legten.
Und nun sind sie froh, dass das alles ein Ende gefunden hat und ich mal eben eine Auszeit einlegen kann, um dann doch den Weg einzuschlagen, den sie für angemessener erachten, fuhr es Sarah durch den Kopf. Das Einzige, das sie dabei beunruhigt, ist die Tatsache, dass ich die Geschehnisse derart ernst nehme und mich zurückgezogen habe. Ich hätte mit Großmutter Lotte sprechen, sie zumindest aufsuchen sollen, überlegte sie weiter. Ich habe mich geschämt, für alles Mögliche.
Der letzte Besuch lag schon über ein Jahr zurück. Lotte hatte kaum sprechen können, aber ihre Augen hatten lebhaft geblitzt, als Sarah von dem bevorstehenden Umzug nach Rostock erzählt hatte.
Als sie am Haus ankam, bemerkte sie, dass sich die Außenbeleuchtung im Eingangsbereich nicht einschaltete. Am Abend zuvor hatte sie noch funktioniert. Wahrscheinlich war die Sicherung herausgeflogen. Das sollte ich auch auf meine To-do-Liste setzen, dachte sie. Sie nestelte nach dem Schlüssel, als ohne Vorwarnung von einer Sekunde auf die andere das Bild von dem toten Mädchen in ihr aufflammte. Totgeschlagen. Das Gesicht war zerschmettert gewesen. Der Rechtsmediziner hatte von hasserfüllter und zugleich zielgerichteter Gewalt gesprochen. Der gesamte Körper des Mädchens war gezeichnet gewesen, auch von Spuren älterer Gewaltanwendungen, aber das Gesicht hatte es nicht mehr gegeben. Ausgelöscht. Sarahs Hände zitterten, sie atmete heftig.
»So was hast du sicherlich noch nie gesehen, was?«, hatte ihr ein älterer Kollege zugeraunt. Und seine Stimme hatte ein bisschen so geklungen, als würde Großmutter Lotte von einer Luxusgöre sprechen, die im stinknormalen Alltag Probleme bekam. Eine winzige Prise Abfälligkeit hatte sie herausgehört, aber sie war nicht auf die Bemerkung eingegangen. Es war unwichtig, zumindest in diesem Moment. Ihr war schlecht geworden, doch sie hatte durchgehalten, bis sie in dem Gewusel zwischen Polizeifahrzeugen, Rechtsmedizin und Kriminaltechnik ein paar Minuten unbemerkt verschwinden konnte. Hinter einem dichten Busch spuckte sie ihr Frühstück aus. Als sie sich wieder aufrichtete und zurückging zu ihrem Team, wartete Henrik ein paar Schritte abseits auf sie. Er reichte ihr wortlos ein Taschentuch.
Das Wetter blieb trist, nachts gab es manchmal Frost. Hin und wieder zeigte sich eine versöhnlich stimmende Herbstsonne, wärmte den Strand und weckte für Momente Sommererinnerungen. Sarah verbrachte halbe Tage mit Renovierungsarbeiten – alle Räume benötigten dringend einen neuen Anstrich, Holzdielen mussten ersetzt oder ausgebessert werden, und je länger sie werkelte, desto mehr schadhafte Stellen entdeckte sie. Die zweite Tageshälfte fuhr sie mit dem Rad durch die Gegend, solange es nicht in Strömen regnete, oder lief am Strand entlang. Manchmal entdeckte sie in der Ferne eine Gestalt, die auch dem Herbstwind trotzte. An einem Tag unternahm sie einen Ausflug ins Waldgebiet von Almindingen ins Ekkodalen – oder Echotal –, einem zwölf Kilometer langen Spalttal, das im Sommer viele Touristen anzog, die natürlich ausprobierten, ob die Felswände tatsächlich ein Echo zurückwarfen. Als Kind hatte Sarah es viele Male versucht, mit mäßigem Erfolg. Nun hatte sie den Wanderweg fast für sich allein. Sie erklomm den Aussichtsturm und blickte still über das Panorama von Felsen und Wald unter einem stillen graublauen Himmel.
Es tat gut, abends müde ins Bett zu fallen und über irgendeinem Schmöker – Ferienlektüre, die sich dutzendweise im Wohnzimmerregal stapelte – einzuschlafen. Dennoch schreckte sie fast jede zweite Nacht aus einem Traum hoch, der von beängstigender Klarheit war, weit entfernt von Bruchstücken und Halbherzigkeiten. Sie sah eines der beiden zertrümmerten Gesichter vor ihrem inneren Auge, manchmal beide nebeneinander. Die Bilder waren immer die gleichen, und das damit einhergehende Entsetzen ebbte nicht ab. Nach fast zwei Wochen auf der Insel fuhr sie zum ersten Mal ihren Laptop hoch. Immer noch keine Spur im Fall des Rostocker Totschlägers, wie der Täter in einer Tageszeitung genannt wurde. Die Soko ermittelte in alle Richtungen, aber eine heiße Spur gab es nicht – das war eine behutsame Umschreibung für die schlichte Tatsache, dass sie nichts in der Hand hatten.
Das könnte fast ein Trost sein, dachte Sarah. Ich habe nicht alleine versagt. Das könnte aber auch bedeuten, dass der Täter aufgrund ihres Versagens Zeit gewonnen hatte, die kein Team aufholen konnte. Ein Schatten flog über ihr Gesicht. Sie blickte zum Fenster hoch und stutzte. Fast sah es so aus, als sei jemand dicht am Haus vorbeigegangen. Blödsinn. Sie stand langsam auf. Ihr Herz klopfte plötzlich schnell. Unvermittelt griff sie in Richtung ihres Gürtels, aber sie trug keine Waffe mehr. Zwei Sekunden später schlüpfte sie zur Tür hinaus. Niemand war zu sehen. Die See rauschte hinter dem Kiefernwald. Möwenschreie. Sie schüttelte den Kopf und atmete tief aus. Plötzlich freute sie sich, dass Lisa vorbeikommen würde – mit frischgebackenem Kuchen, einer gehörigen Portion Neugier auf das renovierte Häuschen und besorgtem Lächeln. Der skandinavische Winter. Sie ging zurück ins Haus und löschte den Großteil der Mails, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatten. Sie machte Feuer im Kamin und kochte Kaffee. Später setzte sie sich auf die Veranda und wartete auf Lisa.
Er hatte die interne Meldung über den Leichenfund am Nikolassee vor einigen Tagen nur beiläufig überflogen. Inzwischen lagen neue Erkenntnisse vor, die er während der Mittagspause aufschnappte, und als der Name Hannah Jakob fiel, stutzte er und sah sich den Bericht genauer an. Die Kriminalpsychologin vom BKA war Spezialistin für Vermisstenfälle und beschäftigte sich seit vielen Jahren insbesondere mit verschwundenen Kindern und Frauen, unterstützte zudem weitreichende LKA-Ermittlungen, leitete Weiterbildungsmaßnahmen und war überhaupt eine ziemlich interessante Frau, fand Henrik. Er hatte sie vor einigen Monaten in einem Seminar über Verhörtechniken kennengelernt – für seine neue Aufgabe in der Identifizierungskommission war diese Fortbildung nicht zwingend notwendig gewesen, aber Jakobs Vorgehensweise hatte ihn grundsätzlich interessiert, und er hatte seine Entscheidung keine Sekunde bereut. Die Kriminalpsychologin referierte nicht nur spannend, sie war auch charmant und apart und pflegte einen sympathischen Spleen: Sie wurde stets von ihrem Hund Kotti begleitet, einem ehemaligen Straßenhund, den sie vor Jahren in Kreuzberg aufgelesen hatte – »oder umgekehrt«, wie sie schmunzelnd hinzugefügt hatte.
Die skelettierte Leiche war vergraben gewesen und bei Forstarbeiten in der Nähe der Alemannenstraße entdeckt worden, nach ersten Einschätzungen handelte es sich um ein junges Mädchen, das aller Wahrscheinlichkeit nach das Opfer einer Gewalttat geworden war. Inzwischen hatte der Rechtsmediziner seine Angaben konkretisieren können, und das Opfer war identifiziert. Es handelte sich um die sechzehnjährige Birte Lahnder, die vor drei Jahren spurlos verschwunden war. Hannah Jakob hatte das Ermittlungsteam zwischenzeitlich beraten, doch die Suche war ergebnislos verlaufen. Der Zustand des Skeletts ließ den Schluss zu, dass das Mädchen erheblicher Gewalt ausgesetzt worden war. Gesichts- und Schädelknochen waren vollständig zertrümmert, andere Knochen wiesen ebenfalls massive Verletzungen auf.
Henrik runzelte die Stirn und legte sein Brötchen beiseite. Nicht jedes brutal erschlagene Mädchen muss zwingend etwas mit dem Rostocker Täter zu tun haben, mahnte er sich selbst. Er trank einen Schluck Kaffee, loggte sich in die polizeiinterne Datenbank ein, gab die Vorgangsnummer ein und rief die Akte zur Vermisstensuche auf. Sämtliche Dokumente waren ohne Zugangsberechtigung nicht abrufbar, doch neben der allgemeinen Fallbeschreibung konnte er die Liste der Beamten, die an dem Fall mitgearbeitet hatten, einsehen. Ziemlich weit unten stand Sarahs Name. Sie war damals noch Kommissaranwärterin gewesen und hatte im Rahmen ihres Studiums ein Praktikum in der Dienststelle absolviert.
Henrik ließ sich in die Rückenlehne fallen. Dann stand er auf, schnappte sich sein Smartphone und lief den Flur auf und ab, während er versuchte, die Kriminalpsychologin unter ihrem Dienstanschluss zu erreichen. Nach dem fünften Klingeln hörte er, dass der Anruf weitergeleitet wurde, und sie nahm das Gespräch an. »Hannah Jakob?«
Er räusperte sich leise. Sie hatte eine angenehme Stimme – sonor und warm. Den Umgebungsgeräuschen nach zu urteilen war sie unterwegs. »Henrik Buchner. Ich habe vor einigen Monaten eines Ihrer Seminare zu Verhörtechniken besucht.«
»Der ehemalige Rostocker und neue Kommissar, der in der Identifizierungskommission tätig ist?«
»Richtig. Schön, dass Sie sich erinnern. Störe ich gerade?«
»Keineswegs. Mein Hund braucht Bewegung, und dabei kann ich ohne Probleme telefonieren, wenn ich nicht gerade mit ihm jogge. Aber das hatten wir schon heute Morgen. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich würde gerne mit Ihnen über den Fall Birte Lahnder sprechen. Da zeigen sich – zumindest auf den ersten Blick – ein paar seltsame Parallelen, die mir keine Ruhe lassen.«
Kurze Pause. »Ich habe heute noch zwei wichtige Termine«, sagte sie dann schlicht. »Danach hätte ich Zeit – so gegen achtzehn Uhr in meinem Büro. Passt das für Sie?«
»Perfekt. Danke.«
»Keine Ursache. Bis später.«
Henrik hatte seine Laufbahn bei der Kriminaltechnik begonnen, bevor er sich entschloss, die Ausbildung zum Kommissar dranzuhängen; in Rostock war er als Ermittler mit dem Blick für die winzigen Details sowie profunden kriminaltechnischen Kenntnissen, die er stets auf den neuesten Stand gebracht hatte, geschätzt gewesen. Als beim BKA eine Stelle ausgeschrieben worden war, in der beide Aspekte zum Tragen kamen und darüber hinaus die Bereitschaft gefordert war, in der Kommission mitzuarbeiten, war er sofort Feuer und Flamme gewesen. Inzwischen gehörte er einer internationalen Arbeitsgruppe an, deren Ziel darin bestand, länderübergreifende Methoden zu verfeinern, Arbeitsabläufe aufeinander abzustimmen, Schulungen zu organisieren und bei Bedarf externe Spezialisten einzubinden. Das war insbesondere bei der Identifizierung von Opfern im Falle großer Katastrophen wichtig. Sein Arbeitsalltag in Berlin war von Teamsitzungen, stundenlangen Beratungen, Recherchen, Weiterbildungen und organisatorischen Aufgaben bestimmt, die kein Ende zu nehmen schienen. Er beschwerte sich nie darüber. Nach einem Flugzeugunglück vor rauchenden Trümmern zu stehen, während ihm der Kerosin- und Leichengeruch in die Nase stieg, die Überreste menschlicher Körper zu suchen, einzusammeln, zu begutachten und all sein Wissen und seine Kraft zu mobilisieren, um eine Identifizierung zu ermöglichen, war die andere Seite seines Berufes – für ihn gab es keine größere Herausforderung.
Er bereute seine Entscheidung keinen Augenblick, auch wenn er Rostock mit einem mulmigen Gefühl verlassen hatte, das nun im Laufe des Tages mit ganzer Kraft zurückgekehrt war, wie er zugeben musste. Als er um kurz nach sechs vor Hannah Jakobs Bürotür stand, hoffte er plötzlich, dass sie seine Unruhe nicht teilen, ihn womöglich auslachen würde, vielleicht sogar ein bisschen von oben herab. Aber nein, von oben herab passte ganz und gar nicht zu ihr. Jakob blieb immer auf Augenhöhe, so hatte er sie kennengelernt. Er klopfte zweimal und hörte ihr leises »Kommen Sie herein«.
Er trat ein und stand vor Kotti, der ihn mit fröhlichem Wedeln empfing, während die Kriminalpsychologin ein Telefonat beendete. »Bitte – nehmen Sie Platz, Kommissar Buchner.« Sie lächelte herzlich und wies auf einen bequemen Ledersessel vor ihrem Schreibtisch. »Mögen Sie etwas trinken?«
Er schüttelte den Kopf. »Danke.«
Sie stützte das Kinn auf eine Hand und sah ihn fragend an. »Legen Sie einfach los.«
Henrik nickte. »Der Rostocker Fall. Haben Sie davon gehört?«
Sie nickte.
»Ich hatte nur am Rande damit zu tun, weil ich kurz vor meinem Wechsel ins BKA stand. Aber ich kenne das Team und zumindest den Fall Marie Weber. Alles Weitere habe ich nur aus der Ferne mitbekommen.«
»Zwei junge Mädchen – mit äußerster Gewalt getötet – und der angebliche Mörder konnte zumindest beim zweiten Opfer nicht der Täter gewesen sein«, ergänzte Jakob.
»Nicht nur in dem Fall. Er war unschuldig. Es gab einen Bekennerbrief für beide Opfer. Es wurden Fehler gemacht, weil die Schuld des Stiefvaters so glasklar schien«, berichtete Henrik weiter. »Außerdem war die leitende Ermittlerin unerfahren.« Er sah kurz auf seine Hände. »Ich kenne sie näher. Sie hat vor ein paar Wochen die Dienststelle verlassen und ist erst mal abgetaucht. So weit die Vorgeschichte.« Er hob den Blick und gab sich einen Ruck. »Der Leichenfund am Nikolassee. Ich habe den Eindruck, dass es einen Zusammenhang mit den Rostocker Fällen gibt.«
Hannah Jakob ließ den Arm sinken.
»Vielleicht werden Sie mich auslachen und meine Bedenken ausräumen, aber es gibt Parallelen, die mich beschäftigen, zum Beispiel die massive Gewalt gegen Kopf und Gesicht, die die Rechtsmedizin festgestellt hat.«
Hannah Jakob wandte sich zu ihrem PC um und öffnete eine Datei. Sie drehte den Monitor herum, so dass Henrik die Fotos vom zertrümmerten Schädel erkennen konnte.
»Marie Weber wies am ganzen Körper Spuren von Gewalt auf, doch ihr Gesicht war kaum noch zu erkennen gewesen.« Er atmete tief aus. »Der Rechtsmediziner meinte, dass endlos auf sie eingeschlagen wurde – mit großer Kraft und noch mehr Hass –, bevor sie im Wald vergraben wurde.«
Jakob wandte ihm wieder das Gesicht zu. »Ein wutentbrannter Täter ohne jegliche Empathie, dem es gelang, seine Spuren zu verwischen. Welche Parallelen sehen Sie noch?«
»Die leitende Kommissarin in Rostock gehörte zu dem Team, das seinerzeit den Vermisstenfall Birte Lahnder bearbeitete. Sarah Pirohl stammt aus Potsdam, hat in Berlin gelebt und befand sich damals in der Ausbildung.«
Hannah Jakob hob eine Braue.
»Das kann natürlich lediglich ein ziemlich schräger Zufall sein«, fuhr Henrik fort. »Doch ich habe gelernt, dass Zufälle in unserem Beruf die ganz große Ausnahme sind und immer ein zweites Mal hinterfragt werden sollten. Hinzu kommt, dass der Rostocker Täter Sarah in seinem Bekennerschreiben persönlich angreift und sich über sie lustig macht. In Rostock sind mehrfach Schreiben von ihm eingegangen, auch als sie die Dienststelle längst verlassen hatte.«
»Ich verstehe. Das hätte mich auch stutzig gemacht.« Jakob drehte ihren Sessel herum und blickte einen Moment in die Ferne. Der Hund saß neben ihr, und sie kraulte ihm die Ohren. »Ich war damals beratend in dem Vermisstenfall Birte Lahnder tätig«, ergriff sie schließlich das Wort. »Es war eine von diesen erdrückenden Geschichten, in denen sich partout keine weiterführende Spur fand. Das Mädchen war wahrscheinlich auf dem Heimweg nach einem Clubbesuch überfallen worden. Es lagen keinerlei Hinweise vor, die für eine Beteiligung aus dem näheren Umfeld sprachen. Die Suche verlief schließlich im Sande.«
Sie zögerte und wandte sich dann wieder zu Henrik um. »Ich war damals nicht gerade in Bestform – daran musste ich sofort zurückdenken, als die Leiche gefunden wurde. Ich will und kann nicht ausschließen, dass seinerzeit etwas übersehen oder versäumt wurde. Vor gut drei Jahren war ich sehr nahe daran, alles hinzuschmeißen. Im Rahmen einer langwierigen und aufreibenden Ermittlung hatte eine Kollegin den Tod gefunden, und ich hatte genug von all den Morden und der überbordenden, kaum zu beherrschenden Gewalt.«
Henrik war berührt von ihrer Offenheit. »Aber Sie haben weitergemacht. Darüber bin ich sehr froh, wenn ich das sagen darf.«
Sie lächelte. »Sehr charmant, danke. Ja, ich habe weitergemacht. Allerdings halte ich mich inzwischen aus aktuellen Ermittlungen heraus und konzentriere mich auf mein Spezialgebiet.« Sie strich eine dunkle Haarsträhne zurück. »Ich habe mir die Akte heute noch einmal angesehen, als das rechtsmedizinische Gutachten vorlag, und bin inzwischen sicher, dass ich auch in besserer Form nicht weitergekommen wäre. Es gab keine Anhaltspunkte.«
Sie suchte seinen Blick. »Sie befürchten also einen Zusammenhang mit Ihrer ehemaligen Kollegin«, stellte sie fest. »Es gibt vieles, was sich dagegen einwenden ließe, aber ich kann verstehen, dass Sie beunruhigt sind. Was wollen Sie unternehmen?«
»Ich möchte, dass Sarah sich noch einmal mit den Fällen befasst – mit allen drei Fällen und sämtlichen Details. Vielleicht fällt ihr im Nachhinein etwas auf, wenn sie darüber nachdenkt, dass der Täter in ihrem Umfeld aufgetaucht sein könnte und ihr womöglich schaden will. Außerdem …«
»Ja?«
»Ich erreiche sie nicht. Niemand weiß, wo sie sich verkrochen hat.«
»Sie machen sich Sorgen?«
»Ich möchte mich vergewissern, dass es ihr gutgeht, und sie ermuntern, einen zweiten und dritten Blick zu wagen.«
Jakob sah ihn lange an. Dann nickte sie. »Lassen Sie mich eine Nacht darüber schlafen. Ich melde mich morgen bei Ihnen, einverstanden?«
»Natürlich.« Henrik stand langsam auf. »Vielen Dank für Ihr offenes Ohr.«
»Gerne.«
Sie streckte die Hand aus, und er ergriff sie.
Hannah Jakob rief am darauffolgenden Nachmittag an. »Sie haben mich überzeugt«, sagte sie schlicht.
»Das freut mich.«
»Ich habe auf unauffällige Weise einige Unterlagen für Sie zusammengestellt, auch aus Rostock …« Sie räusperte sich, und er begriff sofort, dass sie am Telefon nicht unbedingt ausführlicher darüber sprechen wollte.
»Was halten Sie von einem Treffen?«, fragte er rasch. »Heute Abend zum Beispiel. Wir könnten eine Kleinigkeit essen gehen. Ich würde mich freuen, wenn Sie mein Gast wären.«
Sie zögerte nur kurz. »Ja, warum nicht?«
Sie trafen sich bei einem Italiener in der Nähe des Treptower Parks. Jakob übergab ihm einen USB-Stick. »Er ist mit Passwort und Kopierschutz gesichert.«
»Und das Passwort sagen Sie mir erst, wenn die Pizza gut war?«
Sie lächelte, er tauchte in ihren Blick ein und spürte eine angenehm aufsteigende Unruhe. Einen Moment war er irritiert, und er spürte, dass es ihr ähnlich ging.
Als der Wein serviert wurde, stießen sie an. »Ich weiß, wo sich Ihre ehemalige Kollegin verkrochen hat«, sagte sie.
Er stellte sein Glas wieder ab.
»Wer mir in welcher Weise geholfen hat, ihren Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen, noch dazu ohne jegliche rechtliche Handhabe, ist unwichtig.«
Sie hat das Smartphone orten lassen, dachte Henrik verblüfft. Darauf hatte er kaum zu hoffen gewagt. Die Frau war sehr pragmatisch, und offenbar vertraute sie ihm. Sie hat womöglich Erkundigungen über mich eingeholt. Na und?
»Die GPS-Daten befinden sich auch auf dem Stick.«
»Sie machen es ganz schön spannend.« In jeder Hinsicht.
»Hat Sarah eine Vorliebe für Skandinavien?«
»Möglich, ja …«
»Bornholm«, sagte sie leise. »Dort hält sie sich seit einiger Zeit auf. Der Inselname bildet zusammen mit dem heutigen Datum das Passwort.«
Henrik trank einen Schluck. Sie hatte mal von Ferien auf Bornholm erzählt, fiel ihm ein. Sie konnte sogar ein paar Brocken Dänisch, weil sie häufig mit ihren Eltern dort gewesen war und Freunde auf der Insel lebten. Die Kellnerin brachte Salat und Pizza, und eine ganze Weile herrschte Schweigen. Das Essen war köstlich.
»Kennen Sie Pirohls Familie eigentlich näher?«, ergriff Jakob plötzlich wieder das Wort, und ihr Ton sollte wohl beiläufig klingen, tat es allerdings nicht.
»Nein. Ich weiß nur, dass sie aus gutsituierten Verhältnissen stammt. Geld ist kein Thema. Wer kann das schon von sich behaupten?« Er lächelte schräg. »Warum fragen Sie?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich habe mich natürlich ein bisschen schlaumachen wollen, bevor ich Ihnen Unterlagen überlasse, die so gar nichts mit Ihrem Ressort zu tun haben, noch dazu auf eine Art und Weise, die sich keineswegs herumsprechen sollte.«
»Ja, natürlich.« Henrik nickte eifrig. »Verstehe.«
»Und Sarahs Weg wirkt schon ungewöhnlich, finden Sie nicht?«, fuhr sie fort. »Eine Tochter aus reichem Hause wirft ihr Studium hin und wird Polizistin, statt alles dafür zu tun, in die Kanzlei einzutreten, die ihr Großvater aufgebaut hat und in der ihr Vater neben seiner Dozententätigkeit Teilhaber ist. Eine Kanzlei, die in ganz Europa Mandanten in Wirtschaftsfragen berät.«
Henrik schob seinen Teller beiseite und musterte sie aufmerksam. »Vermuten Sie da etwa einen Zusammenhang?«, fragte er verblüfft.
»Nun, falls Sie mit Ihren Befürchtungen richtigliegen, hat Sarah vielleicht einen Feind. Und der kann aus allen möglichen Zusammenhängen stammen, rein theoretisch. Darüber habe ich ein bisschen nachgedacht.«
Als Henrik sich eine knappe Stunde später von ihr verabschiedete und auf den Heimweg machte, hatte er Mühe, seine Gedanken und Gefühle zu sortieren. Sorge um Sarah, alte und neue Fälle, eine attraktive, unkomplizierte und hilfsbereite Kollegin, die offensichtlich keine halben Sachen machte und deren Lächeln sein Herz höherschlagen ließ.
Zuhause fuhr er umgehend seinen Laptop hoch. Fünf Minuten später wusste er, wo Sarah sich aufhielt. Bevor er ins Bett ging, schrieb er eine Nachricht an Hannah Jakob. Danke für Ihre Unterstützung und Ihr Vertrauen. Ich werde mich so schnell wie möglich auf den Weg machen. Es war übrigens ein schöner Abend. LG Henrik.
Ihre Antwort traf wenige Minuten später ein: Das finde ich auch. Danke für die Einladung. Halten Sie mich auf dem Laufenden, wenn Sie mögen. Hannah.
Henrik lächelte. Ich mag.
Die nächtlichen Temperaturen waren unter den Gefrierpunkt gesunken. Am Küchenfenster hatten sich Eiskristalle gebildet. Sarah ging mit einem Becher Kaffee vor die Tür. Einen Moment war sie wie verzaubert. Die Morgendämmerung zog ein rotglühendes Band über den Horizont, Raureif hing in den froststeifen Bäumen. Der Traum war nach einigen Nächten Pause zurückgekehrt – mit der gleichen bebenden Wucht wie zuvor, als wollte er sie verhöhnen. Ich habe dich nicht vergessen, keine Chance, und wenn du noch so sehr versuchst, zu vergessen und dich abzulenken, Ruhe in körperlicher Arbeit zu finden. Ihr Puls hatte sich beschleunigt. Sie stellte ihre Tasse ab und lief hinunter zum Strand. Die Wellen rollten träge über den Sand. Manchmal fühlte sich die Einsamkeit wie ein großes Floß an, mit dem sie über ein endlos leeres und stilles Meer orientierungslos dahintrieb, begleitet vom verträumten Flüstern der Wellen, dann wieder hatte sie den Eindruck, am richtigen Ort zu sein und völlig in sich selbst zu ruhen.
Aber so kann es ja nicht ewig weitergehen, flüsterte eine Stimme in ihr, als sie zurückging. Was bedeutet schon ewig? Der skandinavische Winter hat doch gerade erst seine Fühler ausgestreckt, und Lisa und Tobias hatten ihr zugesichert, dass sie bleiben könne, so lange sie wolle – erst recht nach all der Mühe und Sorgfalt, die sie auf das Renovieren verwendet hatte –, und das bedeutete wohl: einige Monate. Im Winter brauchten sie ihr Ferienhaus nicht.
Sarah bereitete ihr Frühstück zu und trank einen zweiten Kaffee. Den Morgen über war sie damit beschäftigt, Renovierungsmaterial wegzuräumen, zu putzen, Holz zu schichten. Später fuhr sie zum Einkaufen nach Aakirbeby. Die Kassiererin grüßte freundlich, und sie tauschten ein paar Worte – auch auf Dänisch. Sarah spürte, wie die Anspannung nachließ. Die Nacht war vorbei. Das Echo des Alptraums war verklungen.
Als sie zurückkam, stand ein Wagen mit Berliner Kennzeichen vor der Tür. Sarah erschrak kurz, dann erkannte sie den baumlangen Kerl, der auf ihrer Veranda saß und ihr erwartungsvoll entgegenblickte. Das Gefühl, das sich in ihr breitmachte, war schwer zu beschreiben – Ärger, Verunsicherung, Verblüffung, Erleichterung, von allem etwas. Sie stieg langsam aus, während er aufstand und ihr entgegentrat. Der Dreitagebart stand ihm gut, das etwas längere Haar auch. Er strich eine Strähne zurück. »Wir müssen reden«, sagte er leise.
»Müssen wir das wirklich?«