Böses Karma - Angelika Schröder - E-Book

Böses Karma E-Book

Angelika Schröder

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Beschreibung

Ein kleiner Ort im Sauerland. Pure Idylle. Doch in die beschauliche Ruhe bricht unvermittelt das Grauen ein. Ein Waldbesitzer wird bestialisch ermordet. Bald darauf findet man eine weitere Leiche. Dann legt ein gewaltiger Sturm mehrere Skelette frei. Der ermittelnde Kommissar steht vor einem Rätsel und vor der Konfrontation mit seiner Vergangenheit.

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BÜCHER DIESER REIHE

In dieser Reihe bisher erschienen7001 Stefan Melneczuk Marterpfahl7002 Frank W. Haubold Die Kinder der Schattenstadt7003 Jens Lossau Dunkle Nordsee7004 Alfred Wallon Endstation7005 Angelika Schröder Böses Karma7006 Guido Billig Der Plan Gottes7007 Olaf Kemmler Die Stimme einer Toten7008 Martin Barkawitz Kehrwieder7009 Stefan Melneczuk Rabenstadt7010 Wayne Allen Sallee Der Erlöser von Chicago7011 Uwe Schwartzer Das Konzept7012 Stefan Melneczuk Wallenstein7013 Alex Mann Sicilia Nuova7014 Julia A. Jorges Glutsommer7015 Nils Noir Dead Dolls7016 Ralph G. Kretschmann Tod aus der Vergangenheit7017 Ralph G. Kretschmann Aus der Zeit gerissen7018 Ralph G. Kretschmann Vergiftetes Blut7019 Markus Müller-Hahnefeld Lovetube7020  Nils Noir Dark Dudes7021 Andreas Zwengel Nützliche Idioten7022 Astrid Pfister Bücherleben7023 Alfred Wallon Der Sohn des Piratenkapitäns7024 Mort Castle Fremde7025 Manuela Schneider Die Waffe des Teufels

BÖSES KARMA

EIN MYSTERY-THRILLER AUS DEM SAUERLAND

ALLGEMEINE REIHE

BUCH 5

ANGELIKA SCHRÖDER

INHALT

Prolog

Böses Karma

Epilog

Über den Autor

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

© 2014 Blitz Verlag

Ein Unternehmen der SilberScore Beteiligungs GmbH

Mühlsteig 10 • A-6633 Biberwier

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Alle Rechte vorbehalten

eBook Satz: Gero Reimer

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-311-7

7005 vom 15.06.2024

PROLOG

Blut tropfte von ihren Händen und begrub ein Fachwerkhaus unter sich. Umgeben von dunklen Tannen und mit einem Geweih über der Eingangstür, an dem schon der Zahn der Zeit genagt hatte, wirkte es wie ein Relikt vergangener Zeiten, verlässlich und harmonisch. Doch in diesem Moment wurden seiner Schönheit tiefe Verletzungen zugefügt. Wie gefräßige Amöben breiteten sich die dunklen Flecken aus, vergrößerten und vermehrten sich, überzogen die weißen Quadrate des Fachwerks ebenso rasch wie die schwarzen Holzbalken. Das Ebenmaß schwand, und zurück blieben die ausgefransten Reste einer Ruine.

Sie fürchtete sich wie selten zuvor. Das Bild strahlte eine dumpfe Bedrohung aus. Sie wusste, dass sich ein Sturm zusammenbraute, bösartig und unaufhaltbar, der alles verschlingen würde, was sich ihm in den Weg stellte.

Das Fenster stand offen, ein Sonnenstrahl verirrte sich hinein und ließ den goldenen Hirsch am Rande der schwarz-roten Finsternis wie ein Warnlicht aufblitzen. Vom Hals abwärts floss Eiswasser ihren Rücken hinunter und ließ sie wie im Schüttelfrost erzittern. Sie glaubte, ersticken zu müssen, so dicht, so greifbar schien das Entsetzliche, das sie umgab, das durch jede Pore in sie eindrang und sich in ihren Eingeweiden festkrallte. Regungslos stand sie da. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten. Noch immer tropfte das Blut, stetig und vernichtend. Ein letztes Aufblinken, dann war auch der Hirsch unter der schmutzigen Masse verschwunden.

Endlich, ihr kam es vor, als seien Stunden vergangen, vermochte sie ihrem Körper zu befehlen, sich zu rühren und das Badezimmer aufzusuchen. Aus dem Spiegel blickte ihr das Grauen entgegen. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde und dass es kein Entkommen gab. Tief sog sie die Luft ein und streckte vorsichtig tastend eine Hand aus, um den Wasserhahn aufzudrehen. Sie wollte nicht hinschauen, doch etwas in ihrem Inneren zwang sie, den Kopf zu beugen.

Ihre Hand war verschwitzt und schmutzig.

Kein Blut.

BÖSES KARMA

Alois Krampe inspizierte sein Hotel. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, wenigstens einmal am Tag allen Bereichen einen Besuch abzustatten. Auf seinem Weg zum Restaurant blieb er kurz vor dem großen Spiegel im Barockdesign stehen, aus dem ihm ein gut erhaltener Endvierziger entgegenblickte, mit vollem, dunklem Haar und einem schmalen Gesicht, das für seinen Geschmack jedoch nicht kantig genug war, um das Attribut gut aussehend zu verdienen. Mit geübtem Griff rückte er seine grausilberne Krawatte zurecht, bevor er langsam weiterging und gemessenen Schrittes die Lounge durchquerte, deren Mobiliar er auf Antiquitätenmessen und Flohmärkten selbst zusammengetragen hatte. Eine zierliche Vitrine, gefüllt mit alten Gläsern und Porzellan, schmückte eine Seite des Raumes, während sich gegenüber eine Anrichte aus dem vorigen Jahrhundert befand, von der aus Kellner die Gäste mit Getränken versorgen konnten. Auf den Tischen standen Frühlingsblumen, und auf dem Kaminsims leuchteten Teelichter in farbigen Gläsern. Den offenen Kamin aus alten Backsteinen hatte der Hotelier selbst entworfen, was er seinen Gästen gegenüber nicht müde wurde zu erwähnen und auch, wie schwierig es gewesen war, diese alten Ziegel zu beschaffen. Neue Ziegel, so pflegte er stets zu betonen, besaßen einfach keine Ausstrahlung.

Krampe war ungeheuer stolz auf sein Haus, das klein genug war, um familiär zu wirken, aber trotzdem höchsten Ansprüchen genügte. Schon als Kind hatte er von einem Hotel geträumt, das er nach seinen Vorstellungen einrichten und führen konnte, und als vor einigen Jahren ein altes Gutshaus, eine wahre Bruchbude, verkauft werden sollte, war er der Einzige gewesen, der darin ein zukünftiges Hotel zu sehen vermocht hatte. Die Renovierung hatte für einen riesigen Schuldenberg gesorgt, aber es hatte sich gelohnt.

Der Hubertushof war bekannt als eine Oase der Ruhe und Erholung. Umso schlimmer war es daher für ihn, wenn er bei seinen Rundgängen auch nur die geringste Nachlässigkeit entdeckte. Seine Schimpfkanonaden waren unter den Mitarbeitern des Hotels berüchtigt. Wer einmal eine solche über sich hatte ergehen lassen müssen, tat alles, um eine Wiederholung möglichst zu vermeiden. Krampe war insgeheim zu Gehör gekommen, dass sogar Wetten darauf abgeschlossen wurden, wann der Chef zum ersten Mal jemanden vor Zeugen loben würde. Bisher war die höchste Ehrung ein anerkennendes Knurren gewesen, doch noch nie hatte er jemanden wirklich gelobt. Da viele Wetten in der Vergangenheit bereits verloren worden waren, war der Topf mit dem Einsatz bestens gefüllt. Krampe gab mit keiner Miene zu erkennen, dass er dieses gut gehütete Geheimnis des Hauses kannte, aber es beruhigte ihn zu wissen, dass ihm nichts entging.

Derzeit hielten sich nur wenige Besucher in der Hotelhalle auf. Krampe wünschte allen, denen er begegnete, einen guten Abend, wobei er mit dem einen oder anderen ein paar freundliche Worte wechselte. Ein guter Gastgeber hatte schließlich seine Gäste und ihre Vorlieben zu kennen. An diesem Samstagabend war das Hotel, obwohl noch keine Saison, fast ausgebucht, und Alois Krampe wirkte mit sich und der Welt zufrieden. Die beiden Polizisten, die mit ihren Jeansjacken und den darunter verborgenen Waffen so gar nicht in den kleinen Erholungsort und erst recht nicht in das Ambiente seines Hubertushofes passten, hatten sich diskret im Hintergrund gehalten und wollten am nächsten Morgen abreisen. So sehr ihn die Ursache ihrer Anwesenheit auch betrübte, war er doch froh, dass nun endlich alles geklärt schien und sie wieder verschwinden würden.

Natürlich galt der erste Blick im Restaurant den Gästen. Gab es vielleicht jemanden, der ungeduldig nach einem Ober Ausschau hielt? Nein, alle schienen zufrieden, studierten entweder noch die Karte oder genossen bereits den Aperitif. Mit einem eleganten Schlenker wich er einer Kellnerin aus, die drei Tassen mit Suppe auf ihrem rechten Arm balancierte und in der linken Hand einen Vorspeisenteller hielt. Sein zweiter Blick fiel auf die wenigen freien Tische, die sorgfältig gedeckt waren. Schimmernder Damast, funkelndes Silber und Kristall, in dem die letzten vorwitzigen Sonnenstrahlen aufblitzten, sorgten für eine romantische Atmosphäre, wie er sie liebte.

Alles schien seinen gewohnten Gang zu gehen. Als er jedoch gerade in Richtung Küche verschwinden wollte, bemerkte er aus den Augenwinkeln einen neuen Gast, der seine gute Laune ruinierte. Eine Frau, sehr groß, sehr schlank, die hellen, fast weißen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, betrat das Restaurant. Sie trug eine schwarze Stoffhose und eine bunt gemusterte Bluse, deren Schnitt schon seit einiger Zeit aus der Mode war. Krampe schnappte nach Luft. Er musste die junge Dame nicht von vorn sehen, um sofort das neue Zimmermädchen zu erkennen, das seit Kurzem für ihn arbeitete. Er hatte bei ihr von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt, und obwohl sie ihre Aufgaben stets tadellos erledigte, schien irgendetwas mit ihr nicht zu stimmen. Allerdings konnte Krampe auch nicht sagen, was genau es war, weshalb er seiner Hausdame keinen Vorwurf machen durfte, sie eingestellt zu haben. Insbesondere, da sie dringend jemanden gebraucht hatten.

Ein Abendessen in seinem Restaurant würde den gesamten Wochenlohn eines Zimmermädchens verschlingen. Mindestens. Was also tat sie hier? Ihre Bewegungen wirkten kraftvoll und geschmeidig, als sie dem Kellner den Weg frei machte, wobei sie ihn verständnisvoll anlächelte. Zu seinem Entsetzen erkannte Krampe, dass sie zielstrebig auf Urs von Holmstedt zusteuerte, dem Besitzer einer Privatbank, der mit seiner Frau an einem der Fenstertische saß. Sie bewohnten derzeit die Präsidentensuite, die zwar noch keinen Präsidenten gesehen hatte, aber aus offensichtlichen Gründen von allen so genannt wurde.

Eine Putzfrau, die einen seiner Gäste belästigte! Selbst wenn sie glaubte, einen guten Grund dafür zu haben, würde das eine Blamage für Krampe und sämtliche Angestellten des Hubertushofes bedeuten. Rasch setzte er sich in Bewegung, um dieses Zusammentreffen unter allen Umständen zu verhindern.

Franz Grevenstein hatte trotz seiner zweiundsiebzig Jahre noch viele Pläne. Gedanken an das Sterben verdrängte er, und wenn er doch einmal an den Tod dachte, dann stets nur im Zusammenhang mit erlegtem Wild und Kochrezepten. In einer der vielen Zeitschriften, die seine Schwiegertochter so gerne las, hatte er ein neues Rezept für eine Beize entdeckt. Er hatte überlegt, dass er, wenn er ein paar Zwiebeln mehr nehmen, zwei oder drei frische Tannenspitzen sowie Wacholderbeeren und Lorbeerblätter hinzufügen und den Braten etwas länger in einer gesalzenen Buttermilch-Rotweinmischung liegen lassen würde, mit ihrer Hilfe aus einem Hammel einen Wildschweinbraten zaubern könnte, und gleich darauf beschlossen, dieses im Laufe der Woche auszuprobieren. Am nächsten Samstag würde er das Ergebnis seinen Freunden vorsetzen. Bei dem Gedanken, wie er sie hereinlegen würde, obwohl sie alle Jäger waren und sich mit der Zubereitung von Wildbret bestens auskannten, blitzten seine hellblauen Augen inmitten der Furchen vergnügt auf.

Auch heute hing die Flinte über seiner Schulter, als er langsam den Hügel hinaufstieg. Verwundert blickte er sich um. Hier hatte sich viel verändert, seit er den schmalen Pfad zum letzten Mal gegangen war. Die Fichten, bei deren Anpflanzung er geholfen hatte, waren gefällt, die Buchenschösslinge zu kräftigen Bäumen herangewachsen, die keinen schonenden Zaun mehr brauchten. Eine Kastanie – war sie damals schon da gewesen? – stand in voller Blüte, und auf der Wiese unten im Tal schimmerte schwach violett das Wiesenschaumkraut. Versonnen blieb er stehen und schaute. An diesen Blick wollte er sich wieder gewöhnen. Er beabsichtigte, an der Fasanenkanzel das Rehwild zu beobachten, wenn es am Abend aus dem Wald herauskam, um am Bach zu trinken.

Grevenstein war ein leidenschaftlicher Jäger. Mit acht Jahren hatte er unter Aufsicht eines Onkels seinen ersten Fuchs geschossen. Dass der Rückstoß seine Schulter beinahe ausgerenkt hätte und er dabei fast vom Hochsitz gefallen wäre, hatte ihn nicht im Geringsten gestört. Der Fuchs war von seiner Schrotladung niedergerissen worden und regungslos liegen geblieben, was er ohne Erschrecken oder Bedauern zur Kenntnis genommen hatte. Zu oft war er beim Schlachten von Schweinen und Hühnern dabei gewesen. Die Jagd hatte ihn mit tiefer Befriedigung erfüllt. Der Tod gehörte zum Leben so selbstverständlich dazu wie die Geburt, das hatte der junge Grevenstein auch mit acht Jahren schon begriffen.

Als er so über die Vergangenheit nachdachte, wurde ihm bewusst, dass er im Laufe seines Lebens die meisten seiner Vorsätze verwirklicht hatte. Trotzdem waren immer noch Wünsche offen geblieben, beispielsweise ein Wanderurlaub im Erzgebirge oder der geplante Abstecher nach Tschechien im Herbst. Er freute sich schon auf die Rotwildjagd, von der ihm ein Freund vorgeschwärmt hatte, der mit einem erlegten Zehnender von dort zurückgekommen war. Es würde nicht leicht sein, diese Trophäe zu übertreffen. Grevenstein überlegte, ob er vielleicht mehr Bakschisch einplanen sollte. Mit Geld ließen sich viele Probleme erledigen. Andererseits war die Fahrt inklusive des Jagdausflugs schon teuer genug. Er verschob die Entscheidung auf später. Abgesehen davon erwartete er eine Einladung zur Hochzeit seines Enkels. Es wurde Zeit, dass der Junge seine Freundin endlich zum Traualtar führte. Als er in dessen Alter gewesen war …

Franz Grevenstein seufzte. Er hatte noch so viele Pläne.

Sterben gehörte eindeutig nicht dazu.

Als sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten, stieß Nina einen kurzen, fröhlichen Schrei aus, bevor sie tief einatmend zurücksank. Zärtlich strich sie dabei ihrem Freund über den Rücken, während er sie an sich drückte, als gehörte sie ihm, was für diesen Moment wohl auch stimmte. Er lachte und wälzte sich zur Seite, wobei er sie noch immer festhielt.

„Au, das piekt!“, beschwerte sich das Mädchen kichernd, als sie die weiche Decke verließen und auf den Waldboden gerieten.

Immer noch lachend drehte Alexander Nina herum, sodass sie auf ihm zu liegen kam, und fragte mit verschwörerischem Zwinkern in den Augen: „Weich genug?“

„Mhm, so könnte es bleiben.“

Allzu lange hielt er es allerdings nicht aus, denn nun wurde sein Rücken von Nadeln und Zapfen malträtiert. Er löste sich von seiner Freundin, warf das Kondom ins Gebüsch und kroch auf die Decke zurück. Verlangend streckte er beide Arme nach ihr aus.

„Jetzt verstehe ich“, meinte Nina kichernd, „woher der Name Pariser Tor stammt.“ Sie ließ sich neben Alexander nieder, umfasste die Knie mit beiden Händen und musterte ihn neugierig. „Da hätte ich auch eher draufkommen können. Ich vermute, du warst oft mit Freundinnen hier.“

„Du bist die Erste.“

Nina sah ihn ungläubig an.

„Doch, ganz bestimmt!“, bestätigte er lächelnd. „Ich schwöre es. Die Bezeichnung stammt übrigens nicht von mir. Ich glaube, sie ist fast so alt, wie es diesen Namen für Kondome gibt. Weißt du, das Land hier gehört schon lange unserer Familie. Im Laufe der Jahrzehnte haben viele Stellen Namen erhalten. Namen, die nur die Jäger und Förster kennen. Die meisten hat mein Großvater erfunden.“

„Was denn? Pariser Tor etwa auch?“

„Weißt du, er war nicht immer alt und langweilig …“

Alexander grinste in Erinnerung an die erste Begegnung zwischen Nina und seinem Großvater. Der alte Herr hatte das Mädchen in dem Raum mit den vielen Geweihen an der Wand erwartet. Gerade wie ein Laternenmast hatte er vor seinem Schreibtisch gestanden, Nina von oben herab über den Rand seiner Halbbrille hinweg gemustert, einen kurzen Blick auf ihren Rock geworfen und nach umständlichem Räuspern erklärt: Ja, ich freue mich auch, Sie kennenzulernen. Und obwohl Nina normalerweise über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügte, hatte Alexander sich des Eindrucks nicht erwehren können, seine Freundin würde sich in jenem Moment klein und unbehaglich fühlen.

„Das heißt, langweilig ist er heute eigentlich auch nicht, nur … wie soll ich sagen … seine Interessen haben sich irgendwie auf ganz wenige Themen reduziert. Wenn ich mich mit ihm unterhalte, geht es entweder um mein Studium oder um Heirat. Meistens Letzteres. Ich soll endlich häuslich werden, wie er es nennt. Deshalb gehe ich ihm, wann immer möglich, aus dem Weg. Dann gibt es noch drei oder vier Freunde, mit denen er ausschließlich über die Jagd redet. Tja, das ist es aber auch schon. Manchmal, wenn er getrunken hat und in Fahrt kommt, erzählt er von früher. Streiche, die er als Kind gemacht hat, würden heute wohl als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gelten. Ich weiß noch, wie er von seinen selbst gebastelten Bomben erzählt hat, die sie im Steinbruch hochgehen ließen, oder wie er und seine Freunde mit dem Luftgewehr auf Tauben schossen. Und später … ich glaube, meine Großmutter hatte es nicht immer leicht mit ihm.“

„Du meinst, er hatte … Freundinnen?“

„Ganz bestimmt, auch wenn er in diesem Punkt verschwiegen ist. Aber dies ist ein kleiner Ort. Ihm gehört viel Land, und er hat sich entsprechend benommen. Wie ein Gutsherr im letzten … nein, vorletzten Jahrhundert. Früher war man in solchen Dingen auch viel diskreter. Die Ehefrauen ließen sich mehr gefallen, solange alles schön unter der Decke blieb. Aber ja doch, ich bin sicher, dass er sich die eine oder andere Gelegenheit nicht hat entgehen lassen.“

Nina verpasste ihm einen spielerischen Knuff auf den Oberarm. „Wehe, wenn du auch nur daran denkst! Ich würde es mir nicht gefallen lassen!“

„Ich weiß. Deshalb liebe ich dich ja auch.“ Er umfasste und küsste sie.

Als sie sich schließlich wieder voneinander lösten, sagte sie: „Also hat wahrscheinlich schon dein Großvater diesen Ort benutzt, um sich mit seinen Freundinnen zu vergnügen.“

„Vermutlich. Aber der Name ist anders entstanden.“ Wieder grinste er, als die Erinnerungen in ihm hochstiegen. „Mein Vater hat mir die Geschichte erzählt. Als er mit seinem Vater, also meinem Großvater, zum Jagen unterwegs war, haben sie hier ein Liebespärchen überrascht … nicht zum ersten Mal.“

„Es ist ja auch wunderschön hier.“ Die Strahlen der tief stehenden Sonne schickten orangefarbene Lichtfinger durch die Bäume. Das Moos war weich und einladend. „Erzähl weiter.“

„Dann unterbrich mich nicht immer! Also, mein Großvater kann ganz schön wütend werden und ist dann nicht mehr zu bremsen. Er hatte hier Spuren von Schwarzwild gesehen und wollte nicht, dass die Sauen womöglich vertrieben wurden. Jedenfalls hat er furchtbar geschimpft und herumgebrüllt, was der Mann sich natürlich nicht hat gefallen lassen. Stell dir vor, du liegst da mit deiner Freundin vor Ort, bist so richtig schön bei der Sache, plötzlich taucht einer im grünen Rock auf und fängt an zu krakeelen. Als der Mann dann auch noch frech wurde, hat mein Großvater geschrien: Sollen meine Hasen hier etwa in Gummistiefeln rumlaufen? Und seitdem heißt dieser Ort eben Pariser Tor.“

Alexander lachte, und Nina, die sich das Bild gut vorstellen konnte, stimmte ein. Später, als ihnen kühl zu werden drohte, standen sie auf und pflückten ihre Hosen und Sweatshirts von einem Holunderbusch.

„Lass uns noch ein wenig spazieren gehen“, schlug Nina vor. „Es ist so ein herrliches Wetter, das sollten wir nutzen.“

„Gut, gehen wir Richtung Fasanenkanzel und dann durchs Tal zurück. Komm!“

Er umfasste sie und führte sie quer durch eine Fichtenschonung zum nächsten Wanderweg.

Kim Abalone freute sich auf das Essen mit Urs und Eva von Holmstedt. Sie mochte die beiden sehr. In den neun Jahren, die sie einander inzwischen kannten, hatten sie, trotz tiefer Freundschaft, nur selten miteinander gesprochen und sich noch seltener getroffen.

Eva entdeckte sie als Erste. Sie sprang auf, eilte Kim entgegen und drückte sie herzlich an sich. „Ach Kim, du weißt gar nicht, wie sehr ich mich freue, dich endlich wiederzusehen!“ Dann trat sie zurück, schaute die junge Frau von oben bis unten an und sagte vorwurfsvoll: „Du solltest mehr auf dich achten. Du bist schon wieder dünner geworden.“

Nebeneinander gingen sie zum Tisch zurück, wo ihr Mann wartete. Er verbeugte sich tief vor Kim und schenkte ihr einen formvollendeten Handkuss. „Wie schön, dich hier zu treffen. Bitte, setz dich doch.“ Er rückte ihr den Stuhl zurecht und wartete, bis beide Frauen saßen, bevor er selbst wieder Platz nahm. Jeder, der die kleine Szene mitbekam, konnte sofort erkennen, wie viel Respekt der Bankier ihr zollte.

„So aufmerksam bist du selten“, sagte seine Frau und lächelte mit einem verschmitzten Funkeln in ihren Augen. „Ist das Kims Anwesenheit zu verdanken?“

Wieder einmal dachte Kim, was für eine gute Ehe die beiden doch führten. Das Vertrauen zwischen ihnen schien durch nichts und niemanden zerstört werden zu können.

Urs grinste. „Eher dem bösen Blick des Hoteldirektors. Hast du gesehen, wie entsetzt er war, als er merkte, dass Kim zu uns wollte? Ich vermute, er gehört zu den dünkelhaften Typen. Der Anblick war sehenswert. Im Vergleich zu ihm ist eine Salzsäule ein Ausbund an Hyperaktivität.“ Dann wandte er sich an Kim: „Ich hoffe, du wirst keine Unannehmlichkeiten bekommen.“

„Ach nein, ich glaube nicht. Und wenn doch …“ Sie zuckte die Schultern.

„Bist du …?“ Eva zögerte. „Du bist doch nicht zufällig hier, oder? Ich meine, in diesem Hotel?“

„Lasst uns erst einmal nachschauen, was die Küche bietet“, meinte ihr Mann und reichte Kim die Speisekarte, bevor diese antworten konnte. „Alles andere können wir später besprechen. Ich schlage vor, zur Feier unseres Wiedersehens mit einem Champagnercocktail anzustoßen.“

„Hast du vergessen, dass Kim keinen Alkohol trinkt?“, warf Eva ein. „Oder hat sich das inzwischen geändert?“

„Nein. Aber einen Cocktail ohne Alkohol nehme ich gerne. Wie lange seid ihr schon da?“

„Seit vier Tagen. Seltsam, dass wir uns nicht eher über den Weg gelaufen sind.“

Als Urs hochschaute, näherte sich ein Kellner, und sie gaben ihre Bestellungen auf.

„Was tut ihr beide hier? Ihr seid doch nicht etwa im Urlaub? So schön es hier ist, aber Hotel und Gegend passen nicht zu euch. Was ist los?“

Von einem Moment zum anderen verfiel Evas Gesicht. „Isabel … sie ist …“

Kim erschrak zutiefst. Isabel war Urs’ und Evas einzige Tochter. Zögernd streichelte sie über die Hand ihrer Freundin.

„Isabel ist, wie du weißt, im Frühjahr achtzehn geworden und hat natürlich ein Auto bekommen. Sie wollte eine Rundfahrt machen, hier, durch die Dörfer, um es einzuweihen. Wir dachten, das sei weniger gefährlich als der Stadtverkehr bei uns und sie könnte üben und Erfahrung und Sicherheit gewinnen.“

Sie schwieg. Kim glaubte zu wissen, wie es weitergehen würde. „Ein Unfall?“

Eva schüttelte den Kopf. Kim konnte deutlich erkennen, wie sehr sie sich bemühte, ihre Tränen zurückzuhalten.

„Isabel liegt zurzeit im Krankenhaus in Tannberg“, erklärte Urs mit spröder Stimme. Er stockte, schluckte und fuhr dann fort: „Ein Selbstmordversuch. Wir haben keine Ahnung, warum sie es getan hat. Sie ist von der Eisenbahnbrücke gesprungen. Gott sei Dank hat sie überlebt. Ein paar Knochenbrüche, ein Milzriss … nichts, was die Ärzte nicht wieder zusammenflicken könnten.“

Kim holte tief Luft. „Habt ihr mit ihr gesprochen? Was sagt sie? Eine unglückliche Beziehung? Ärger in der Schule?“

„Sie hat gemeint, sie wisse es nicht“, antwortete Urs und sah dabei hilflos und verletzbar aus.

„Das ist das Schlimmste an der ganzen Sache“, erklärte Eva. „Nicht zu wissen warum. Ich verstehe das nicht. Man hält schließlich nicht einfach an, steigt aus dem Auto, klettert über das Geländer und springt einfach so, ohne jeden Grund. Das gibt es doch nicht … oder doch?“ Sie schaute zu Kim, als erwartete sie eine Antwort. „Auch wenn ich mir immer wieder sage, dass die Ursache nicht in der Familie liegen kann, so mache ich mir dennoch Vorwürfe. Ich hätte merken müssen, dass Isabel Kummer hat.“

In diesem Augenblick erschien der Kellner mit den Getränken. Urs schaute Kim an und nickte dann seiner Frau zu. „Trinken wir darauf, dass unsere Tochter wieder ganz gesund wird und dass wir beide trotz allem Grund zur Dankbarkeit haben.“

Eva hob stumm ihr Glas. Sie tranken, schwiegen.

„Isabel wird überleben“, nahm Eva nach einer langen Weile die Unterhaltung wieder auf. „Das ist im Moment unser einziger Trost. Aber was mir Sorgen macht, ist ihre beharrliche Weigerung, uns den Grund für ihr Verhalten zu nennen. Diese Unwissenheit macht mich verrückt. Könntest du nicht mal mit ihr reden, Kim? Sie mag dich, und vielleicht ist sie dir gegenüber offener.“

„Wenn sie euch nichts gesagt hat …“ Ich hätte öfter anrufen sollen, dachte Kim bekümmert und verfluchte insgeheim ihre ständige Befürchtung, aufdringlich zu erscheinen, wenn sie diejenige war, die sich meldete.

Kim hatte die Holmstedts immer um das gute Verhältnis untereinander beneidet, insbesondere da sie selbst nie eine richtige Familie gehabt hatte. Sie wusste, dass beide viel zu tun hatten. Er war zusätzlich zu seinen Aufgaben in der Bank auch Mitglied diverser Aufsichtsräte, und sie hatte sich verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten aufbürden lassen. Doch Urs und Eva liebten ihre Tochter über alle Maßen. Und obwohl das Mädchen von Eltern und Angestellten verwöhnt worden war, hatte Isabel sich zu einer freundlichen jungen Dame ohne Allüren entwickelt. Kim war sicher gewesen, dass sie sich mit jedem Problem vertrauensvoll an ihre Eltern wenden würde. Diese Sicherheit schien jetzt erschüttert.

„Die Polizei hat alles untersucht“, sagte Urs, „und natürlich ebenfalls mit Isabel gesprochen, aber auch den Beamten hat sie nicht mehr gesagt als uns. Glücklicherweise wurde Diskretion bewahrt, nichts davon ist in die Zeitungen gekommen.“

„Für die Polizei ist der Fall abgeschlossen“, meinte Eva bitter. „Der Rest ist Sache der Psychologen.“

„Jedenfalls sind wir froh, dass du hier bist, Kim“, fuhr Urs fort. „Du hast uns schon einmal geholfen, was wir dir nie vergessen werden.“

Das Essen kam, und das Gespräch verstummte. Kims Gedanken kreisten um Isabel und versuchten, eine Erklärung für das soeben Gehörte zu finden. Ein junges Mädchen, hübsch, mit einem großen Freundeskreis, das in der Schule problemlos alle Ziele erreichte und auch keine finanziellen Sorgen kannte … warum sollte so jemand versuchen, sich umzubringen? Kim ahnte, dass vor allem Eva von ihr eine Antwort auf diese Frage erwartete.

Kim mochte Isabel seit ihrem ersten Zusammentreffen vor neun Jahren, als die kleine Holmstedt noch ein Mädchen mit Zahnspange gewesen war. Kim arbeitete damals in jenem Hotel in Wiesbaden, in dem die Familie abgestiegen war. Isabel hatte es nicht lange am Frühstückstisch ausgehalten und war in die Suite der Bankiersfamilie zurückgekommen, als Kim gerade dabei war, das Schlafzimmer in Ordnung zu bringen. Isabel lehnte sich an die Wand neben der Tür und beobachtete sie bei der Arbeit, während Kim frische Bettwäsche aufzog. Sie unterhielten sich, und Kim bewunderte insgeheim das Selbstbewusstsein und das Wissen des Mädchens. Vielleicht, weil sie selbst nie so gewesen war.

„Ich fliege zu meiner Freundin nach Amerika“, erzählte Isabel. „Sie hat nächste Woche Geburtstag und mich eingeladen, weil wir gerade Ferien haben. Sie wohnt in Flagstaff, das ist ein kleines Kaff in Arizona. Nichts los da. Es gibt keinen Direktflug, deshalb muss ich in New York umsteigen. Der Flughafen ist bestimmt noch größer als Frankfurt. Ich bin schon ganz gespannt.“

„Fliegt deine Mutter mit?“

„Nein, wozu? Ich komme schon allein zurecht. Außerdem wird eine Stewardess auf mich aufpassen.“

Isabel spielte mit einem ihrer Zöpfe, zog das Gummi ab, glättete das dunkle Haar und flocht den Zopf neu. Dann griff sie in den Wäschehaufen, der am Boden lag, und suchte das Kopfkissen heraus. „Schade, dass wir nicht Frau Holle spielen können.“

„Und was ist das für ein Spiel?“

„Was denn? Du kennst Frau Holle nicht?“ Isabels Augen weiteten sich. „Die kennt doch jeder. Ein Märchen. Ist was für kleine Kinder. Soll ich das Zeug draußen in den großen Wagen werfen?“, fragte sie ablenkend, wie um deutlich zu machen, dass sie sich selbst nicht mehr zu den kleinen Kindern zählte.

„Aber ja, danke! Ich finde es sehr nett von dir, dass du mir helfen willst.“

Isabel griff nach der Wäsche und trug sie hinaus. „Darf ich mir eine Praline nehmen?“, rief sie vom Flur.

Für neue Gäste gab es als Begrüßungsgeschenk eine Praline, die Kim auf die Kopfkissen legen musste. Sie fand es bemerkenswert, dass das Mädchen fragte. Manche Gäste bedienten sich einfach im Vorübergehen.

Als Isabel auch am nächsten Tag den Frühstücksraum lange vor ihren Eltern verließ, um mit Kim zu plaudern, war das der Beginn einer engen Freundschaft gewesen. Und nur, weil ihr das Mädchen so sympathisch gewesen war, hatte sich Kim zu etwas hinreißen lassen, das sie nie hatte tun wollen. Nun schien es, als holte beide die Vergangenheit ein …

Warum bloß hatte Isabel versucht, sich umzubringen? Zu einem Selbstmord gehörte eine bestimmte psychische Verfassung, die am Ende einer Kette vieler mehr oder weniger tragischer Begebenheiten stand. Und selbst dann war es nicht leicht zu erklären. Kim versuchte abzuschalten und sich auf das Essen zu konzentrieren. Sie wollte die seltene Gelegenheit genießen. Eine Hasenkeule von derartiger Qualität und in so einer Umgebung würde sie sich selbst niemals leisten können. Doch ihre Gedanken unterlagen einem eigenen Zwang. Bedeutete Isabels Unfall – denn Kim weigerte sich, das, was geschehen war, anders zu bezeichnen – den Beginn jenes todbringenden Sturms, dessen Kommen sich so drastisch angekündigt hatte?

Sie waren beim Dessert angelangt, als Eva mit dem Kopf auf einen Mann und eine Frau wies, die gerade das Restaurant betraten, zu ihnen herübersahen und zur Begrüßung kurz nickten. „Das sind die zwei Beamten von der Kripo, die Isabel befragt haben. Die beiden waren zwar sehr nett und auch mitfühlend … so mitfühlend, wie Polizisten eben sein können. Aber sie glauben, wir seien schuld. Natürlich haben sie es nicht so deutlich gesagt. Aber gemeint. Ich kann Gesichter lesen. Und unsere Familie … nun ja, wer will, kann eine Menge über uns in der Presse und im Internet herausfinden. Da kann man noch so vorsichtig und zurückhaltend sein. Der junge Mann geht von den typischen Vorurteilen aus: Reiche Familie heißt für ihn automatisch, der eigene Nachwuchs wird vernachlässigt. Ich glaube, er war fast enttäuscht, dass die Ärzte bei Isabel keine Drogen gefunden haben und unsere Tochter so gut in der Schule ist. Die Frau ist verschlossener, viel kälter und beherrschter. Sie zeigt weniger Mitgefühl als der Mann. Man merkt bei beiden, dass sie ständig mit Verbrechern zu tun haben. Ihnen war nur wichtig, ob … ob vielleicht ein anderer …“

„Ob es sich möglicherweise um einen Mordversuch gehandelt haben könnte“, warf Urs ein.

„Die Polizistin ist davon überzeugt, dass es Probleme in unserer Familie geben muss, weil sie keine andere Erklärung gefunden haben und weil es keinerlei Anzeichen gibt, dass ein Außenstehender beteiligt gewesen wäre.“

„Sobald es Isabel wieder gut geht, werden wir uns länger und intensiver mit ihr unterhalten können. Und dann finden wir den Grund schon noch heraus, ganz bestimmt!“, versuchte Urs, seine Frau zu trösten.

Der Tisch war abgeräumt, und während die Holmstedts einen Eiswein als Abschluss gewählt hatten, trank Kim Kaffee. Nachdenklich drehte Eva ihr Glas in der Hand, betrachtete den tiefgoldenen Farbton, schnupperte am Bukett und schien mit ihren Gedanken meilenweit entfernt. „Hör mal, Kim, ich muss einfach danach fragen: Könnte es einen Zusammenhang geben? Ich meine zu dem, was vor neun Jahren geschehen ist. Der Gedanke macht mich fertig, dass meine Tochter in steter Gefahr lebt, eines Tages …“ Sie brach ab, als scheute sie sich, die brutale Wahrheit auszusprechen.

Wieder half ihr Mann. „Zu sterben. Bei einem Unfall, Mord oder Selbstmord, egal. Du hast Isabels Leben gerettet. Müssen wir jetzt den Preis dafür zahlen? Verstehst du, was ich meine? Ich bin nicht religiös, ich glaube nicht an Vorherbestimmung oder was auch immer. Aber was damals passiert ist, hat mich … nun ja, unsicher gemacht.“

Kim starrte in ihre leere Kaffeetasse. Sie hatte sich damals eingemischt, gegen alle Vernunft, und versucht, die Zukunft zu ändern. „Du möchtest wissen, ob das Schicksal auf diese Weise versucht, seine ursprüngliche Linie wiederherzustellen.“

An jenem Tag, als Isabel in die USA fliegen sollte, hatte Kim wie üblich in der Suite aufgeräumt und dabei das Flugticket in die Hand genommen, um auf dem Schreibtisch Staub zu wischen. Sie spürte die vertraute Kälte, die sich blitzschnell in ihrem Körper ausbreitete, während die Konturen des Zimmers vor ihren Augen verschwammen. Als sie wieder klar sehen konnte, sah sie das Meer. Auf den Wellenkämmen tanzte weißer Schaum, die Sonne strahlte. Es war ein Bild voller Frieden – bis aus weißgrauen Wolken ein Flugzeug hervorstieß. Sie hörte das Kreischen der Motoren so laut, dass ihr Kopf schmerzte. Unwillkürlich hielt sie sich ihre Hände an die Ohren. Sie erkannte Rauch und Flammen, die Nase senkte sich, die Maschine zielte nach unten. Schneller, immer schneller stürzte sie der Meeresoberfläche entgegen, bis sie mit entsetzlichem Donner auf dem Wasser aufschlug und im Ozean versank. Dann war es totenstill.

Langsam nahm Kim die Arme herunter. Das Ticket lag vor ihr auf dem Boden. Tief atmend schaute sie sich um. Sie war allein im Zimmer. Gott sei Dank! Es geschah nicht zum ersten Mal, dass eine Vision sie aus heiterem Himmel überfiel. Bisher hatte sie stets Glück gehabt und war von niemandem dabei überrascht worden. Aber zum ersten Mal stand sie vor der Entscheidung, ob sie sich einmischen sollte. Konnte sie, durfte sie das Schicksal des Mädchens ändern? Wenn ja, was würde mit dem Flugzeug geschehen? Mit den anderen Passagieren? Würden sie gerettet werden, wenn das Mädchen nicht in der Maschine saß? Oder mussten sie trotzdem sterben? Was Kim gesehen hatte, war die Zukunft. Eine mögliche Zukunft. Schon oft hatte sie darüber nachgedacht, ob es deren mehrere gab, doch damals war nicht die Zeit gewesen, philosophischen Fragen nachzuhängen. Wie konnte sie das Mädchen retten? Diese Frage schoss ihr durch den Kopf, während ein anderer Teil ihrer selbst sie zur Eile drängte. Ohne sich bewusst dazu entschieden zu haben, steckte sie das Ticket in ihre Tasche und dann, als sie Isabels Pass auf dem Tisch liegen sah, diesen gleich mit.

„Inzwischen habe ich ein bisschen mehr Erfahrung und ich bin mit Voraussagen viel vorsichtiger geworden. Meistens trifft genau das ein, was ich gesehen habe, gleichgültig, was ich den Leuten erzähle. Ich meine, du kannst nicht einfach zu fremden Menschen hingehen und sagen: Hallo, ich habe in einer Vision gesehen, wie Ihr Kind von einem Auto überfahren wird, wahrscheinlich morgen Nachmittag.“ Sie versuchte ein Lächeln, es verunglückte zu einer schmerzvollen Grimasse. „Wenn du Glück hast, wirst du nur beschimpft und fortgejagt“, fuhr Kim fort. „Ich bin es so satt, immer wieder als das personifizierte Böse behandelt zu werden. Ich will doch niemanden beunruhigen, niemanden verletzen. Jedes Mal nehme ich mir vor, nichts mehr zu unternehmen und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, aber ich schaffe es einfach nicht. Mein verdammtes Gewissen! Ein- oder zweimal hat erst aufgrund meiner Intervention genau der Unfall stattgefunden, den ich eigentlich hatte verhindern wollen. Das tut weh. Ich habe tagelang geheult. Glaubt mir, ich habe diese Fähigkeit nie als Gabe, immer nur als Belastung empfunden, und oft habe ich sie verflucht. Das Schlimmste ist, ich erkenne kein Muster. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich einmischen darf oder es sogar soll. Ich weiß nicht, ob die Zukunft veränderbar ist, so wie das bei Isabel der Fall war. Vielleicht wollte das Schicksal damals, dass eure Tochter überlebt, und ich habe deswegen eine nicht akzeptable Zukunft gesehen. Ich wünschte, es wäre einfacher und ich könnte euch mehr sagen, aber so ist es nun mal nicht.“

„Dann müssen wir also weiterhin mit der Angst leben, dass in Isabels naher Zukunft der Tod seinen festen Platz hat?“

Kim spürte die Anstrengung hinter Urs’ bewusst flapsigem Tonfall. Genau wie ihr schien ihm weder der Gegenstand der Unterhaltung noch die Stimmung zu behagen, die sich am Tisch ausbreitete.

„Ja und nein. Seht mal, das Leben an sich ist nun einmal lebensgefährlich, wenn ihr mir diese Plattheit verzeiht. Jedem von uns kann jederzeit ein tödlicher Unfall zustoßen. Es wäre unsinnig, bei Isabel ständig darauf zu warten, nur weil sie dem Tod aufgrund meiner Einmischung bereits einmal von der Schippe gesprungen ist und nun einen unerklärlichen Selbstmordversuch unternommen hat. Sobald es ihr besser geht, werdet ihr bestimmt erfahren, warum sie es getan hat. Ich vermute, sie schämt sich für ihre Tat und will deshalb nichts sagen.“

Kim schaute zu den beiden Polizisten hinüber und beobachtete, wie der Mann in diesem Moment sein Handy zückte und ans Ohr hielt. Er hörte reglos zu, dann stand er auf, winkte seiner Kollegin und verließ mit ihr den Raum, gerade als der Kellner ihnen das Essen servieren wollte. Die Teller auf dem Arm, starrte er den beiden mit offenem Mund nach.

Nina genoss den Spaziergang. Alexander kannte sich im Wald aus und zeigte ihr, wo sich die Wildschweine gesuhlt hatten, wo demnächst Bäume geschlagen werden sollten und schließlich, wo man am besten das Rehwild beobachten konnte. Dafür brauchte man allerdings Zeit und Geduld, doch beides fehlte ihr heute, sie wollte weiter.

Alexander schien ihre sonderbare Unruhe zu spüren. „He, was ist los? Was treibt dich an? Das Fernsehprogramm kann es doch nicht sein, und das Fest der Freiwilligen Feuerwehr in Tannberg sicher auch nicht. Wenn du aber mich willst …“ Alexander kicherte. „Die Decke liegt noch immer am Pariser Tor. Wir könnten hier quer durch den Wald gehen und wären in fünfzehn Minuten wieder dort.“

Nina lachte ebenfalls. Sie wusste nicht, warum sie nicht warten wollte, bis die Rehe aus dem Dickicht kamen. Allerdings war Selbstanalyse noch nie ihr Ding gewesen, deshalb dachte sie auch jetzt nicht weiter darüber nach. „Ach, ich weiß nicht … Es wird bald dunkel. Lass uns zurückgehen.“

„Wenn du meinst.“ Alexander klang enttäuscht. „Ich finde es immer faszinierend, wenn das Wild in der Dämmerung aus seinem Versteck kommt. Warst du schon mal nachts im Wald?“

„In der Grundschule haben wir eine Nachtwanderung mit der Klasse gemacht. Das war ganz schön gruselig. Keiner durfte eine Taschenlampe mitnehmen. Und ein paar Väter haben Gespenster gespielt.“

„Das wird dir heute nicht passieren. Ich meine, dass du Gespenster siehst.“ Er fasste sie um die Hüften und schwenkte sie durch die Luft. „Ich bin höchst lebendig. Sollen wir nicht doch die Abkürzung nehmen?“

Nina schaute in den Fichtenwald. Es gab kaum Unterholz, doch abgebrochene Zweige und dicke Äste lagen kreuz und quer auf einer zentimeterhohen Schicht aus Fichtennadeln. Da mochte sie mit ihren offenen Sandalen nicht gehen. Der kurze Weg vom Auto bis zum Pariser Tor hatte ihr gereicht.

„Na schön, dann weiß ich noch einen anderen Weg, der auch nicht viel länger ist und fast nur von Waldarbeitern benutzt wird. Los komm, hier entlang!“ Er bog auf einen schmalen Pfad ein, der eindeutig kein Spazierweg war.

„Ein Reiterweg?“, fragte Nina, als sie Hufspuren sah.

„Eigentlich nicht. Die Spuren stammen von Kaltblütern, die den Windbruch beseitigt haben. Da oben am Hang kann man mit Maschinen nicht arbeiten, deshalb werden hier manchmal Pferde eingesetzt, um die Stämme herauszuziehen. Weiter unten ist ein Kahlschlag, wo Traktoren die Arbeit übernehmen.“

„Du kennst dich ziemlich gut aus.“

„Ich bin damit aufgewachsen. Wenn mein Vater und mein Großvater zusammen sind, gibt es kaum ein anderes Gesprächsthema. Und da sie meist unterschiedlicher Meinung sind und dann auch heftig aufeinander losgehen, habe ich schon früh die verschiedenen Seiten der Waldwirtschaft kennengelernt. Weißt du, so toll, wie das klingt, ist es nicht. Wir können nicht mal eben ein paar Bäume fällen und verkaufen, wenn der Urlaub vor der Tür steht oder der Traktor repariert werden muss oder dringend eine neue Maschine gebraucht wird. Das ist alles gesetzlich geregelt und mit einer Unmenge Papierkram verbunden. Von den Steuern gar nicht zu reden.“

Sie gingen schweigend weiter. Immer dann, wenn der Pfad breit genug wurde, dass man zu zweit nebeneinander gehen konnte, umfasste Alex Nina und hielt sie fest im Arm. Ab und zu wehte ein laues Lüftchen, Bienen summten, und Schmetterlinge gaukelten lautlos von einer Blüte zur nächsten. Die meisten der am Wegesrand blühenden Blumen kannte Nina nicht, doch sie wusste, dass selbst Pflanzen, die im Allgemeinen als Unkraut galten, Heilkraft besitzen konnten.

Plötzlich blieb Alexander stehen, blickte sich mit sichtlichem Unbehagen suchend um und lauschte. Rechter Hand stieg der Berg steil an, links fiel die Böschung eher sanft nach unten. Auf der einen Seite dunkler Fichtenforst, auf der anderen hauptsächlich umgestürzte Bäume und dorniges Gestrüpp. „Hörst du das?“

„Nein. Was denn?“

„Genau wie damals …“

Nina blickte ihn fragend an.

„Fliegen.“

„Ja, und …?“

„Als ich vierzehn war, hat mich mein Großvater einmal zu einer Nachsuche mitgenommen. Ein Fuchs hatte ein angeschossenes Reh gerissen, und auf dem Kadaver hatten sich bereits die Fliegen niedergelassen. Ich werde weder den Anblick noch dieses eklige Gesumse jemals vergessen können, als bei unserer Annäherung Tausende Fliegen in einer dichten Wolke aufstoben. Da wir das tote Reh erst sehr spät gefunden haben, waren bereits Maden geschlüpft, die sich von dem abgestorbenen Gewebe ernährten.“

Angeekelt verzog Nina das Gesicht.

„Das widerliche Gewimmel in den offenen Wunden hat mir damals für viele Wochen den Appetit auf Fleisch verdorben. Mein Großvater hat mir ganz nüchtern erklärt, dass Fliegen zu den Helfern der Natur gehören, die den Prozess der Auflösung beschleunigen, indem sie totes Gewebe in jene Rohstoffe zurückverwandeln, aus denen der Organismus einst zusammengesetzt war, und dass sie somit für den Kreislauf des Lebens weitaus wichtiger wären als die Tiere, denen die Jäger so gern nachspüren. Das leuchtete mir ja noch ein. Aber dass die metallisch blauen Calliphora oder die grün schillernden Lucilia auf ihre Weise kleine Schönheiten sein sollten, wollte mir so gar nicht in den Kopf. Ich hasse sie bis heute.“

„Und jetzt hast du wieder so ein Summen gehört?“

„Ja. Falls hier irgendwo verendetes Wild liegt, müssen Vater und Großvater Bescheid wissen, also sollte ich besser nachschauen. Bleib du einstweilen hier. Wenn meine Vermutung stimmt, weiß ich, was mich erwartet, und diesen Anblick möchte ich dir gerne ersparen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er den Hang hinunter.

Nina blickte gelangweilt zum Himmel. Noch war vom vorhergesagten Regen nichts zu sehen, doch Alexander hatte ihr die großen Schäfchenwolken erklärt, die aus nebeneinanderliegenden, walzenförmigen Wolkenbändern bestehen und auf veränderliches Wetter hindeuten. Dann schaute sie die Böschung hinunter. Zwischen den vielen Sträuchern war Alex’ Gestalt kaum noch zu erkennen. Ab und zu blitzte seine rote Jacke zwischen dem Grün und Braun hindurch.

Kurz überlegte sie, ob sie ihm folgen sollte. Sie konnte es nicht gut leiden, wenn ein anderer einfach voraussetzte, dass sie tat, was ihr vorgeschrieben worden war. Stellenweise standen Gräser, Farne, Brennnesseln und anderes Gestrüpp so dicht, dass sie den Untergrund nicht sehen konnte. Sie ärgerte sich, dass sie keine festen Schuhe angezogen hatte. Inzwischen sollte sie eigentlich wissen, dass Alexander sich nur selten an Wanderwege hielt.

Nina kannte Alexander von der Schule. Alex war schon seit der ersten Klasse der Schwarm aller Mädchen gewesen. Kein Wunder, er sah gut aus, war hilfsbereit, nur selten in Raufereien verwickelt und behandelte selbst Außenseiter wie die dicke Saskia oder das schüchterne Mauerblümchen Karin freundlich, mit denen sonst niemand zu tun haben wollte. Irgendwie schaffte er es, den Bandenführern aus dem Weg zu gehen und sogar Thomas, der schon in der Mittelstufe angefangen hatte, mit Koks zu dealen, Kontra zu geben, ohne dafür Prügel zu beziehen. Obwohl oder vielleicht gerade weil er sich von allen Brennpunkten fernhielt, standen die Mädchen bei ihm Schlange, doch es hatte lange gedauert, bis er eine feste Beziehung eingegangen war. Erst als alle Jungen der Oberstufe bereits mit ihren Eroberungen prahlten und der Abiturball bevorstand, sah man ihn häufiger mit ein und demselben Mädchen. Aber die Beziehung hielt offenbar nicht lange; noch bevor er mit dem Studium begann, schien er wieder solo zu sein.

Nina hatte ihn all die Jahre teils mit Amüsement, teils mit Neid beobachtet. Ihm schien alles in den Schoß zu fallen. Er hatte ein angenehmes Zuhause, eine nette Familie, viele Freunde, selbst das Abitur schaffte er anscheinend mit links. Da Nina ebenfalls in Walldorf wohnte und sie meist denselben Bus benutzten, um nach Tannberg in die Schule zu fahren, kannten sie sich recht gut, obgleich Nina jünger und zwei Klassen unter ihm war. Lehrer, Mitschüler und Klassenarbeiten bildeten unerschöpfliche Gesprächsthemen. Irgendwann redeten sie sich gegenseitig auch ihre häuslichen Probleme von der Seele, doch trotz aller Vertrautheit war eine gewisse Distanz geblieben. Bis zu jenem Wochenende, als Alex sie zum Schützenfest eingeladen hatte.

Wo blieb er nur? Beunruhigt musterte sie das wirre Gestrüpp. Die Sonne war hinter dem Berg verschwunden, und die Farben begannen allmählich in einem einheitlichen Grauschwarz zu verschwimmen. Ein leichter Wind kam auf, sie fröstelte. Endlich bemerkte sie zwischen den Büschen eine Bewegung.

„Das hat gedauert! Was war denn …?“ Sie stockte. Alexander schien zu schwanken und war kreidebleich. Ohne auf die Dornen zu achten, die ihre Hose durchdrangen oder an ihren nackten Füßen kratzten, lief sie ihm ein paar Schritte entgegen. Sie sah, dass er sich übergeben hatte. Spuren davon hafteten noch an seiner Jacke. Er keuchte, als wäre er gerannt. „Was ist denn passiert? Du siehst ja furchtbar aus.“ Sie fasste nach seinem Arm, um ihn zu stützen.

„Hast du … hast du dein Handy?“, stotterte er.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie die Böschung hinab, konnte aber in dem dunklen Grün nichts erkennen.

„Nein, ich habe es im Auto gelassen. Ich dachte, wir wollten nicht gestört werden. Was ist los?“, fragte sie noch einmal.

„Da unten … das war kein Tier sondern … ein Mensch … voller Blut … und Fliegen … und …“ Er würgte.

Eine Leiche! Hier im Wald, zwischen Blumen und Gräsern! Eisige Kälte breitete sich in ihr aus. Sie schluckte. Nina mochte Horrorfilme, bei denen zerfetzte Leichen in Großaufnahme gezeigt wurden, doch jetzt schauderte sie. Dies hier war anders. Es war harte Realität. Aus dem mulmigen Gefühl wurde Angst, die in Panik umzuschlagen drohte.

„Los, komm! Weg hier!“ Sie griff seinen Arm fester und zog ihn mit sich. Eilig gingen sie den Weg weiter, Schritt für Schritt. Sie spürte, wie das Gleichmaß der Bewegung sie beide beruhigte.

„Bist du sicher, dass es kein Tier war?“, vergewisserte sie sich, als sein Atem sich normalisiert hatte.

„Das war zweifellos ein Mensch, Irrtum ausgeschlossen. Er lag auf der Seite. Das Gesicht konnte ich nicht erkennen, da war alles blutig.“

„Vielleicht ist er die Böschung hinuntergestürzt.“

Alexander überlegte einen Moment und begann wieder schneller zu atmen. Dann schüttelte er den Kopf. „Auch auf der Kleidung war überall Blut. Nein, das war … etwas anderes.“

Nina wollte weiterfragen, doch nach einem weiteren Blick in sein Gesicht schwieg sie. Stumm liefen sie den Hang entlang, bis sie endlich den Wanderweg im Tal erreichten und dann den breiten Hauptweg, auf dem ihr Auto geparkt war.

Alexanders Hände zitterten so sehr, dass er nicht in der Lage war, das Handschuhfach zu öffnen, in dem sein Handy lag. Nina zog ihres aus dem Seitenfach, wählte den Notruf und reichte es Alexander. Auch wenn sie sich einigermaßen auskannte, hätte sie doch nicht den genauen Weg beschreiben können.

„… Scheiße, nein! Ich bin Jäger, ich kann doch wohl ein totes Reh von einem Menschen unterscheiden! Nein, es war auch kein Wildschwein. Schicken Sie die Kripo! In einer Stunde wird es dunkel. Ja, wir warten … Himmel, was für Idioten sitzen da bloß am Telefon!“, schimpfte er, als er Nina das Handy zurückgab. „Sie wollen erst einmal einen Streifenwagen schicken, um sich zu vergewissern, dass es sich auch wirklich um einen Menschen und kein Wild handelt. Als wenn ich das nicht unterscheiden könnte. Schon als Kind habe ich Strecken gesehen und verblasen.“

„Du hast was getan?“