Boston Tea Crimes – Die Familiengruft - Charlotte MacLeod - E-Book
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Boston Tea Crimes – Die Familiengruft E-Book

Charlotte MacLeod

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Beschreibung

Es beginnt, wie so oft, mit einer Familienfehde – und endet mit Mord. Boston, 1979: Onkel Frederick würde im Grab rotieren, wenn er seine letzte Ruhestätte mit Tante Matilda teilen müsste, also lässt Sarah – ihres Zeichens jüngste Erbin der Kelling-Dynastie und damit Teil der exzentrischen Bostoner High Society – notgedrungen eine versiegelte Familiengruft öffnen. Womit niemand rechnet, ist das Skelett, das dort inmitten der altehrwürdigen Gräber liegt und sie mit blutroten Rubinen in den Zähnen angrinst. Bald steht fest, dass es sich um die »exotische Tänzerin« Ruby Redd handeln muss, die vor dreißig Jahren von Bostons Bildfläche verschwand. Sarah muss herausfinden, welche Geheimnisse ihre Familie zu verbergen hat. Auftritt Max Bittersohn: ein angeblicher Autor, der offenbar die gleichen Spuren verfolgt … Der Charme von Richard Osman und die Finesse von Agatha Christie – der Auftakt zu der exzentrischen »Boston Tea Crimes«-Reihe verspricht Cozy Crime mit Biss!

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Seitenzahl: 418

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Über dieses Buch:

Boston, 1979: Onkel Frederick würde im Grab rotieren, wenn er seine letzte Ruhestätte mit Tante Matilda teilen müsste, also lässt Sarah – ihres Zeichens jüngste Erbin der Kelling-Dynastie und damit Teil der exzentrischen Bostoner High Society – notgedrungen eine versiegelte Familiengruft öffnen. Womit niemand rechnet, ist das Skelett, das dort inmitten der altehrwürdigen Gräber liegt und sie mit blutroten Rubinen in den Zähnen angrinst. Bald steht fest, dass es sich um die »exotische Tänzerin« Ruby Redd handeln muss, die vor dreißig Jahren von Bostons Bildfläche verschwand. Sarah muss herausfinden, welche Geheimnisse ihre Familie zu verbergen hat. Auftritt Max Bittersohn: ein angeblicher Autor, der offenbar die gleichen Spuren verfolgt …

Über die Autorin:

Charlotte MacLeod (1922-2005) wurde in Kanada geboren und wuchs in Massachusetts auf. Sie besuchte das Boston Art Institute und arbeitete als Bibliothekarin und Werbetexterin. Ende der 1970er veröffentlichte sie ihre ersten Kriminalromane und zementierte ihren Ruf als Grande Dame des Genres. Für ihr Lebenswerk wurde sie unter anderem mit fünf American Mystery Awards und dem Malice Domestic Lifetime Achievement Award ausgezeichnet.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre »Boston Tea Crimes«-Reihe, beginnend mit »Die Familiengruft«.

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eBook-Neuausgabe November 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1980 unter dem Originaltitel »The Family Vault« bei Avon Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1988 unter dem Titel »Die Familiengruft« bei DuMont.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1979 by Charlotte MacLeod

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1988 by DuMont Buchverlag, Köln

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-481-1

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Charlotte MacLeod

Boston Tea Crimes – Die Familiengruft

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Daniela Hermes und Achim Schlickes

dotbooks.

Vorwort

Folgt man Moses Kings Abriß der Historie Bostons (King’s Handbook of Boston, erste Auflage, 1878), so passierte im Athen Amerikas wenig Bemerkenswertes, obwohl Mr. King über einige Bürger Bostons berichtet, die ermordet, erhängt, ins Gefängnis gesteckt, in den Stock gelegt, mit Geldbußen bestraft, ausgepeitscht oder aus dem einen oder anderen Grund in Käfige gesteckt wurden. Mit der Zeit entwickelte sich Boston aber zu einer lebendigen Stadt, und Beacon Hill wurde zu einer Gegend, die besonders reich an Geschichten und Legenden ist.

Die Autorin möchte ausdrücklich betonen, daß die vorliegende Chronik von Beacon Hill ohne Einschränkung in den Bereich der Legende gehört. Es gibt auf dem Hill keine Tulip Street. Und es gibt ihres Wissens keine Kirche, auf deren Friedhof in einer der Grüfte jemals eine rubinübersäte Leiche zum Vorschein gekommen wäre, die dort nicht hingehörte. Keine der Figuren besitzt mehr als zufällige Ähnlichkeit mit realen Personen, seien sie tot oder lebendig, und alle Ereignisse sind frei erfunden. Nachdem sich die Autorin nun einmal die Mühe gemacht hat, sich die gesamte Geschichte auszudenken, würde sie sich freuen, wenn die Leser sie als das genießen, was sie ist – ein Roman.

Widmung

Für Nate in Dankbarkeit

Kapitel 1

»Wen, sagten Sie, wollen Sie ausgraben?«

Sarah versuchte, aus seinem Windschatten zu rücken. Er schien ein netter alter Mann zu sein, und sie wollte seine Gefühle nicht verletzen. Aber an Leute, deren Frühstück aus Schlitz-Bier besteht, war sie nicht gewöhnt.

»Wir haben nicht vor, jemanden auszugraben«, erklärte sie zum dritten Mal. »Ich hoffe zumindest, daß wir es nicht tun. Wir wollen bloß diejenigen bitten, die für den Friedhof verantwortlich sind, eine der Grabstätten zu öffnen. Wir möchten sicher sein, daß die Gruft in einem Zustand ist, daß wir meinen Großonkel darin begraben können.«

»Warum dort?«

»Er wollte es so.«

Sie konnte schlecht einem völlig Fremden erklären, daß Großonkel Frederick geschworen hatte, er wolle weder tot noch lebend mit Großtante Matilda erwischt werden, die bereits den für sie bestimmten Platz in der neueren Familiengrabstätte der Kellings auf dem Mount-Auburn-Friedhof in Cambridge eingenommen hatte. Sie wußte gar nicht recht, wie sie überhaupt mit diesem abgerissen aussehenden alten Mann ins Gespräch gekommen war. Aber der Friedhof wirkte so trübe an diesem trostlosen Novembertag, und es war niemand da, mit dem sie sich die Zeit vertreiben konnte. Cousin Dolph hätte schon vor einer Stunde eintreffen müssen, aber er war noch immer nicht in Sicht.

Ihr neuer Bekannter wollte es genau wissen. »Heißt das, daß hier jeder begraben werden kann, der will?«

»Nun, das nicht«, mußte Sarah zugeben. »All die alten Friedhöfe um den Common herum sind unter Denkmalschutz gestellt worden, so daß nichts verändert werden darf. Doch diese Gruft dort drüben an der Mauer gehört meiner Familie, und wenn wir sie benutzen wollen, kann uns das niemand verbieten.«

Kein Kelling hatte das in den letzten einhundertsechsundvierzig Jahren gewollt, aber bei Großonkel Frederick konnte man völlig sicher sein, daß er bis zum allerletzten Moment Ärger machen würde. Andererseits hatte diese Änderung der Pläne auch positive Seiten. Es würde keinen langsamen Leichenzug geben, der den Verkehr den ganzen Weg von Boston über die Brücke nach Cambridge blockierte, sondern die Sargträger konnten den Sarg nun einfach durch die Seitentür der Kirche direkt zur alten Begräbnisstätte tragen.

Sarah hoffte nur, daß jemand intelligent genug war, die kunstvollen alten Eisengittertore zu schließen. Auch ohne Touristen, die Großonkel Fredericks Beerdigung für eine weitere Attraktion auf der Route mit historischen Sehenswürdigkeiten hielten, würde es genug Gedränge geben. Cousin Dolph hing wahrscheinlich noch am Telefon und führte leichtsinnig ein Ferngespräch nach dem anderen zum Höchsttarif, um den Familienclan zusammenzutrommeln. Es war hoffnungslos, darauf zu setzen, daß irgendjemand wegbleiben würde. Außer ihr selbst gab es keinen Kelling, der nicht ein Familienbegräbnis über alles liebte.

Die ganze Horde würde anschließend zum Haus zurückströmen und erwarten, daß sie ein Essen vorgesetzt bekäme. Wie um Himmels willen sollte sie ein Festmahl für so viele Leute zustande bekommen, wenn das Haushaltsgeld für diese Woche bereits ausgegeben war? Sie mußte Alexander darum bitten, das Budget einmal überziehen zu dürfen, obwohl das einige Anstrengung kosten würde. So umgänglich er war, was Geld anging, konnte er bemerkenswert stur sein. Es war seltsam, mit einem reichen Ehemann verheiratet, selbst recht wohlhabend zu sein und dennoch immer nur abgezähltes Geld im Portemonnaie zu haben.

Der alte Mann redete noch immer. Sarah hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht zugehört hatte, griff in die Tasche ihres abgetragenen braunen Tweedmantels und holte zwei kleine Milky Ways hervor. Sie waren diese Woche im Supermarkt im Sonderangebot. Weil Alexander wußte, wie sehr sie sie mochte, hatte er eine Tüte gekauft und eine Handvoll in ihre Tasche gesteckt, um sie zu überraschen. Er war so viele Jahre älter als sie, daß er sie manchmal wie seine Tochter und nicht wie seine Frau behandelte.

Ihr neuer Bekannter schüttelte den Kopf. »Danke, Miss, aber ich soll nix Süßes essen. Ich bin zuckerkrank, deshalb. Ich muß aufpassen, was ich esse. Und trinke.«

Er kicherte, als sei irgendetwas komisch an seiner Krankheit, und blies eine weitere Bierwolke in Sarahs Richtung. Sie rückte noch mehr zur Seite und steckte die Süßigkeiten zurück in ihre Tasche. Er bemerkte das.

»He, lassen Sie sich von mir nicht abhalten. Ich habe mir nie viel aus Milky Ways gemacht. Selbst als Kind waren meine Zähne so schlecht, daß ich nix außer vielleicht Suppe und Kartoffelbrei kauen konnte. Doch, Hershey-Riegel, die konnt’ ich essen. Die rutschten gut runter. Ich glaub’, ich hab’ eine Million Hershey Riegel gegessen, eh mir der Doktor riet, ich solle mit dem süßen Zeug aufhören. Während der Weltwirtschaftskrise, ich glaub’ nicht, daß Sie damals schon geboren waren, gab’s drei Stück für zehn Cent, so groß wie eine Holzschindel. Ich liebte Hershey Riegel, das können Sie mir glauben. Essen Sie Ihr Milky Way ruhig. Nur zu, es macht mir nix aus.«

Nun konnte Sarah keinen Rückzieher machen, packte einen der kleinen Riegel aus, den sie gar nicht mehr mochte, und stopfte ihn ganz in den Mund, um die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen. Natürlich traf Dolph ein, während sie mit der weichen Masse kämpfte, und selbstverständlich trat er mit Gefolge auf: einem angesehenen Mitglied des Geschichtsvereins, einem Angestellten des Bostoner Gartenamts und einem Vorarbeiter der Friedhofsverwaltung. Dolph beschwerte sich in Richtung ihrer prallgefüllten Backe.

»Ich sehe nicht ein, warum Alex nicht kommen konnte.«

Sarah schluckte die lästige Süßigkeit hinunter. »Als du anriefst, habe ich dir erklärt, daß er bereits mit Tante Caroline zum Augen- und Ohrenarzt zur Untersuchung aufgebrochen war. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen.«

Natürlich hätte sie ihren Mann sehr leicht finden können. Die weltbekannte Augen- und Ohrenabteilung des Massachusetts General Hospital war von ihrem Haus zu Fuß erreichbar, und das Klinikpersonal kannte Mrs. Kelling. Sarah hatte es nicht versucht, weil sie es herzlich leid war, daß der ganze Kelling-Clan Alexander als Mädchen für alles ausnutzte.

»Außerdem«, fuhr sie fort, »bin ich enger mit Großonkel Frederick verwandt als er. Tante Caroline war noch nicht einmal eine Kelling.«

Bis vor ungefähr einer Generation hatten die Kellings ihre Ehepartner oftmals unter ihren Cousins und Cousinen dritten, zweiten oder sogar ersten Grades gesucht. Einerseits waren sie eine eng verbundene Gruppe, andererseits blieb das Geld in der Familie. Niemand hatte es bemerkenswert gefunden, daß Sarahs Eltern verschiedenen Zweigen derselben Familie entstammten. Ebensowenig hielt es irgendein Verwandter für unpassend, daß das einzige Kind dieser Verbindung in rechtmäßiger Ehe mit einem Cousin fünften Grades ihres Vaters vereint wurde. Und das zu einem Zeitpunkt, als er fast dreiundvierzig Jahre alt und sie eine frischgebackene Waise von noch nicht neunzehn Jahren war.

Nach der Heirat hatte Sarah ihre Schwiegermutter weiterhin Tante Caroline genannt, wie sie es immer getan hatte. Jüngere Kellings redeten grundsätzlich alle älteren Verwandten als Onkel beziehungsweise Tante an, andere Verwandtschaftsbezeichnungen konnten nur verwirren. Seit langer Zeit schon war es gleichgültig, wie man Caroline Kelling ansprach, worauf Dolph in seiner üblichen taktvollen Weise hinwies.

»Ich kann mir nicht vorstellen, warum Alex immer noch Geld für Arztrechnungen hinauswirft. Caroline ist stockblind und stocktaub, und es gibt verdammt nochmal nichts, was die Ärzte daran ändern können.«

Sarah verzichtete auf eine Antwort. Dolphs Begleiter wurden unruhig. Sie übernahm es selbst, die Gruppe zur Gruft hinüberzuführen, und registrierte amüsiert, daß der Liebhaber von Hershey-Riegeln ihnen dichtauf folgte.

»Wirklich schade, daß Sie uns nicht im Voraus benachrichtigt haben«, murrte der Vorarbeiter der Friedhofsverwaltung. »Die Angeln sind wahrscheinlich durchgerostet.«

Nach umständlichem Hantieren mit einer langschnabligen Ölkanne zog er einen Bund gewaltiger alter Eisenschlüssel hervor und suchte den mit ›Kelling‹ etikettierten aus. »Das müßte er sein. Vorausgesetzt, daß das Schloß noch funktioniert.«

Offensichtlich zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm ziemlich schnell, den Schlüssel ins Schloß zu stecken, nachdem er das schützende kleine Abdeckplättchen aus Messing von Moos und Rost befreit und endlich zur Seite geschoben hatte. Der Schlüssel drehte sich. Der Vertreter des Geschichtsvereins hielt den Atem an.

»Nach all diesen Jahren«, murmelte er, »sehen wir –«

»Gar nichts«, schnaubte der Vorarbeiter.

Die geöffnete Tür gab den Blick auf eine massive Ziegelmauer frei, die den Eingang vollständig blockierte. Cousin Dolph war außer sich.

»Diese verdammten Bürokraten! Wer zur Hölle hat jemals die Erlaubnis erteilt, das Ding aufzumauern? Was soll ich nun tun? Alles umorganisiert, Tante Emma schon auf ihrem weiten Weg von Longmeadow, und wir kommen nicht in die Gruft hinein. Ich wünschte bei Gott, daß Alex hier wäre!«

»Er wüßte zumindest, wie man die Mauer niederreißt«, meinte Sarah und versuchte, nicht zu lachen.

»Die Mauer niederreißen, das ist es! Sie hätte erst gar nicht dort gebaut werden dürfen. Sie«, Adolphus Kelling rückte mit seinem Yankee-Zinken der gewöhnlicheren Nase des Vorarbeiters gefährlich nahe. »Holen Sie eine Spitzhacke oder was Ähnliches!«

»Einen Moment, Mr. Kelling«, unterbrach der Mann vom Gartenamt. »Ralph hier und ich sind im Hinblick auf die hervorragenden militärischen und staatsbürgerlichen Verdienste Ihres Onkels erfreut, Ihnen helfen zu können.«

Großonkel Frederick hatte erfolgreich unter Black Jack Pershing gekämpft und war dann für viele Jahre mit ebensolchem Erfolg ein politischer Querulant gewesen. Familienintern war man der Ansicht, daß die Bewohner von Massachusetts ihren leicht erregbaren Mitbürger einfach deshalb mit immer neuen Aufgaben nach Washington geschickt hatten, um ihn so von Boston fernzuhalten. Jetzt sah es sogar so aus, als würde der tapfere Sohn der Stadt nicht ohne einen letzten Kampf in Frieden ruhen können.

»Jedoch«, fuhr der junge Beamte fort, »können Ralph und ich nicht selbst die Verantwortung für einen Abbruch übernehmen. Ich fürchte, wir werden den Dienstweg einhalten müssen.«

»Wie lang wird das dauern?«

»In so einer ungewöhnlichen Situation kann ich das wirklich nicht sagen. Ich denke, wir müssen in den Archiven forschen –«

»Den Teufel tun Sie! Schauen Sie, junger Mann, jeder Dummkopf sieht, daß das Ziegelwerk kein Bestandteil der ursprünglichen Gruft ist. Der verdammte Mörtel ist noch nicht einmal angeschmutzt. Wahrscheinlich hat irgendein Trottel die Mauer während der Zweihundertjahrfeier hochgezogen, aus Angst, Touristen könnten unsere Knochen als Souvenir mitgehen lassen.

Hören Sie mir jetzt mal zu, und hören Sie genau hin! Ich habe gearbeitet wie ein Wahnsinniger, um die Beerdigung so zu arrangieren, wie Onkel Fred sie haben wollte. Alles ist planmäßig für morgen früh um exakt zehn Uhr angesetzt. Und wenn Sie meinen, daß ich alles wieder rückgängig mache und mich stattdessen die nächsten fünf Jahre neben einen stinkenden Sarg hocke, während ein Haufen Bürokraten das Geld der Steuerzahler vergeudet, um festzustellen, ob ein Mann das Recht hat, in der eigenen Familiengruft begraben zu werden, dann irren Sie sich gewaltig.«

Sarah wußte, daß Dolph wütend würde, wenn sie ihm nicht den Rücken stärkte. Sie war froh, daß er ausnahmsweise die Vernunft auf seiner Seite hatte.

»Ich bin sicher, daß mein Cousin mit dieser Mauer recht hat. Mein Vater war selbst an der Vereinbarung beteiligt, als dieser Friedhof unter Denkmalschutz gestellt wurde, und er hat ausdrücklich sichergestellt, daß wir unsere Gruft immer dann benutzen können, wenn wir wollen. Und mit dieser Mauer geht das selbstverständlich nicht.«

»Verdammt richtig. Gut überlegt, Sarah. Also laßt uns loslegen!«

»Entschuldigen Sie«, sagte der nun tief beunruhigte junge Mann. »Ich glaube, ich rufe besser im Büro an.«

Er verschwand in Richtung Telefonzelle und wirkte erleichtert, als er zurückkam. »Wenn Sie bereit sind, eine Erklärung zu unterschreiben, daß Sie die Verantwortung übernehmen, ist wohl alles in Ordnung. Hast du eine Spitzhacke beschafft, Ralph?«

Ralph hatte nicht, und es verdroß ihn sehr, etwas nicht mitgebracht zu haben, von dem er nicht hatte erwarten können, daß es benötigt wurde. Nach kurzer Diskussion gingen sein Kollege und er los, um bei einigen Arbeitern drüben in der Nähe des Parkman-Musikpavillons eine zu leihen. Dolph brüllte nun den Mann vom Geschichtsverein an, der Ritling hieß.

Sarah wünschte, ihr Cousin würde den Mund halten. Die städtischen Beamten waren sehr viel freundlicher in dieser ganzen Angelegenheit, als die Familie eigentlich erwarten durfte, besonders, wenn man die Planung in letzter Minute und die störende Mauer als neueste Komplikation in Betracht zog. Sie lehnte sich gegen einen der alten Grabsteine, um ihre müden Beine zu entlasten, und starrte das Anstoß erregende Mauerwerk an. Sie hätte schwören können, daß sie alles über diese Gruft wußte, was es zu wissen gab. Als damals das Problem mit dem Denkmalschutz erstmals aufkam, hatte es ihr Vater während der Mahlzeiten so oft durchgekaut, daß er ihr das Essen verleidet hatte. Aber er hatte niemals erwähnt, daß der Eingang der Gruft zugemauert worden war. Hatte er möglicherweise gar nichts davon gewußt?

Es gab eigentlich keinen Grund, den Eingang zuzumauern, es sei denn, daß es zu der Zeit, als die alte Gruft zugunsten der weiträumigeren auf Mount Auburn aufgegeben wurde, noch nicht völlig ungewöhnlich war, Leichen für studentische Sezierübungen zu stehlen. Aber mit Sicherheit wäre die Errichtung eines Hindernisses, um Grabräuber fernzuhalten, in den Familienannalen festgehalten worden, die Walter Kelling vorwärts und rückwärts kannte. Jedenfalls hatte Dolph recht, das Mauerwerk sah gar nicht so alt aus.

Wer immer es hochgezogen hatte, verstand auf jeden Fall sein Handwerk. Die Ziegel waren ungewöhnlich klein und besaßen das richtige Verhältnis zur Größe der Öffnung, die nur ungefähr ein Meter zwanzig im Quadrat maß. Sie waren in einem komplizierten Muster von ineinandergreifenden Rauten gemauert, das Sarah schon irgendwo gesehen hatte, aber nicht auf Anhieb einordnen konnte. Um sich die Wartezeit zu vertreiben, zog sie ein Notizbuch hervor und skizzierte die Öffnung, wobei sie jeden einzelnen Ziegel sorgfältig im Detail einzeichnete.

Alexander würde sich dafür interessieren. Maurerarbeit war eines seiner Talente, die man nicht bei ihm vermutet hätte. Er hatte Kurse in verschiedenen praktischen Tätigkeiten besucht, meistens im Zentrum für Erwachsenenbildung drüben an der Commonwealth Avenue. Das Erlernen von Fertigkeiten, die man im eigenen Haus nützlich einsetzen konnte, war seine einzige Entschuldigung, ab und zu einmal Tante Caroline zu entkommen. Man könnte denken, daß die Möglichkeit, etwas Zeit mit seiner Frau allein zu sein, ein noch besserer Grund gewesen wäre, doch Alexander schien diese Idee nicht zu teilen. Sie kniff die Lippen zusammen und fuhr mit der Zeichnung fort. Als die Männer mit einer Spitzhacke zurückkamen, fügte sie der Zeichnung gerade ein nicht sehr schmeichelhaftes Porträt von Dolph hinzu.

»Mr. Kelling«, sagte der Vorarbeiter, »wollen Sie sich die Ehre geben?«

»Mit Vergnügen.«

Cousin Dolph nahm die Hacke, betrachtete sie neugierig, hob sie ein oder zwei Mal hoch und schlug dann mit aller Kraft zu. Die ganze Mauer gab nach. Er stolperte nach vorn in ein Durcheinander von Ziegeln und Mörtel.

»Ist Ihnen etwas passiert, Mr. Kelling?«

Zufrieden mit seiner Leistung, wehrte Dolph die Männer ab, die ihm zur Hilfe eilten. »Mir geht’s gut. Ich war mir nur meiner eigenen Kraft nicht bewußt. Verdammt schludrige Konstruktion, ich muß schon sagen. Guter Gott, was ist das?«

Ritling drängte sich neben ihn. »Aber, das ist –« Er stürzte hinaus zwischen die Grabsteine und begann zu würgen.

Der Vorarbeiter der Friedhofsverwaltung war sichtlich angewidert von dieser Schwäche. »Was ist los? Gräber sind für Leichen bestimmt, oder? Augenblick, gleich können wir besser sehen.«

Er holte ein Feuerzeug aus seiner Tasche, und die kleine Flamme erleuchtete den Hohlraum. Sarah, die sich über die ganze Aufregung wunderte, starrte über seine Schulter. Eine Bierfahne sagte ihr, daß ihr neuer Freund unmittelbar hinter ihr stand.

Sie war auf etwas Schreckliches gefaßt gewesen, aber nicht auf das, was sie jetzt sah: Auf dem Steinfußboden lag ein Körper, so, als wäre er ohne jede Achtung vor dem Tod hier hineingeworfen worden. Es handelte sich offensichtlich um den Körper einer Frau. Das Fleisch war verwest, doch das Skelett war noch übrig, umgeben von den vermoderten Überbleibseln eines engtaillierten Korsetts und eines scharlachroten Rocks. Hohe schwarze Stiefel mit modischen roten Absätzen hielten Bein- und Fußknochen zusammen.

Aber was Mr. Ritling den Magen umgedreht hatte und was alle Anwesenden zeit ihres Lebens in ihren Alpträumen heimsuchen würde, waren die winzigen Splitter blutroter Rubine, die in glühendem Purpurrot zwischen den grinsenden Zähnen hervorblitzten.

Kapitel 2

»Gott steh mir bei!« Der alte Mann schnappte nach Luft. »Es ist Ruby Redd!«

»Sie kennen sie?« Dolph ging auf ihn los wie ein angreifender Stier. »Was macht sie in unserer Gruft?«

»Dolph, mach dich nicht lächerlich«, protestierte Sarah. »Er hat sie nicht dorthin gelegt.«

»Das stimmt, Miss. Ich würd’ nicht sagen, daß Ruby und ich jemals dick befreundet waren, aber so was hab’ ich noch nie jemandem angetan. Dahin ist sie also verschwunden.«

Der alte Mann wurde sich plötzlich bewußt, daß er im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, trat einen Schritt zurück und murmelte: »Ich wollte mich nicht einmischen.«

»Wir sind ungeheuer dankbar, daß Sie hier sind«, drängte Sarah. »Bitte bleiben Sie. Können Sie uns nicht mehr über diese – Ruby Redd erzählen?«

»Sie war – nun, sie bezeichnete sich als exotische Tänzerin.«

In Cousin Dolphs hervortretende Augen trat ein wissendes Funkeln. »Mein Gott, ich erinnere mich an Ruby Redd! Jem und ich pflegten früher häufig im Old Howard vorbeizuschauen, wo sie in ihrem Zeug herumstolzierte. Sie hatte eine Art Goldrauschvergangenheit, angeblich als Tanzdielenkönigin in einer wilden Gegend am Mississippidelta oder so ähnlich. Trug immer dieses schwarze Korsett, und der Vorbau, der oben herausquoll, hatte die Größe von Wassermelonen. Entschuldigung, Sarah, aber verdammt, du bist schließlich eine verheiratete Frau.«

»Schon gut, Dolph. Deshalb hatte sie also diese Rubine in den Zähnen? Gab es nicht mal eine Revuetänzerin, die Diamanten auf dieselbe Weise trug?«

»Logisch, daß sie die Idee irgendwo geklaut hat«, brummte der Alte.

»Wieso? War sie eine Diebin?«

»Ruby war alles Mögliche, aber vor allem bösartig. Die bösartigste Frau, der ich mein Lebtag begegnet bin, und das heißt ’ne Menge, obwohl man ja eigentlich nicht schlecht über Tote reden soll. Komisch, irgendwie kann ich’s nicht begreifen, daß Ruby hier liegt. Muß aber so sein. Ich hab’ mein ganzes Leben in Boston verbracht und bin nie jemand Ähnlichem begegnet. Wenn sie die Washington Street entlangstolzierte, erinnerte ihr Lächeln an eine Reihe Rücklichter in einer Regennacht.«

»Wie lange ist sie schon verschwunden?« fragte Sarah ihn. »Solche Kunstlederstiefel waren vor ein paar Jahren bei jungen Leuten groß in Mode.«

»Die Stiefel – über die weiß ich nix, aber Ruby ist schon lange Zeit weg. Es mag fünfzig oder einundfünfzig gewesen sein. Ich weiß, daß ich damals schon eine ganze Reihe von Jahren bei Danny’s hinter dem Tresen stand. Danny Rates Pub war das, direkt neben dem Old Howard. Sehen Sie, ich kannte die Mädchen, weil viele nach der Show vorbeizuschauen pflegten. Die Kleinen waren nett, die meisten zumindest. Und alle flott angezogen, bis auf diese Ruby. Egal, ob auf oder hinter der Bühne, sie trug ausschließlich diese Zusammenstellung, im Winter mit einem schäbigen alten Seehundcape darüber. Keine Ahnung, wo sie die Stiefel her hatte, wahrscheinlich aus ’nem Kostümverleih. Man sieht, daß sie kein echtes Leder sind, sonst wären sie wohl verrottet. Egal, ich hätt’ sie nicht gefragt, und sie hätt’s mir nicht erzählt. Ruby hat noch nicht mal guten Tag gesagt, wenn kein Dollar für sie drin war. Außerdem hatt’ ich selten viel Zeit zum Herumstehen und Schwatzen, nach der Show war immer viel zu tun. Ich wette, euch Jungs hab’ ich ein paarmal bedient. Wahrscheinlich habt ihr mich auch mit gefälschten Ausweisen hereingelegt.«

»Es würde mich nicht wundern«, brummte Dolph Kelling und war keineswegs verärgert, die Rolle des ungestümen jungen Mannes zu besetzen. »Wo wir nun wissen, wer sie ist, was tun wir mit ihr? Die Gruft muß geräumt werden, aber dalli.«

»Wir müssen die Polizei alarmieren«, sagte Sarah.

»Wozu, verdammt?« Er wandte sich an den Mann von der Friedhofsverwaltung. »Können Sie nicht einfach eine andere Gruft öffnen und sie hineinstecken?«

»Ich bin doch nicht verrückt, Mr. Kelling. Niemand kann mir einreden, daß diese Ruby Redd sich hier höchstpersönlich eingemauert und dann Selbstmord begangen hat. Mord verjährt nicht, und ich riskiere nicht meinen Kopf. Wie Sie sagten, es ist Ihre Familiengruft, also sind Sie verantwortlich.«

Zufrieden mit seiner Rede zog sich der Mann zurück und fischte in seiner Tasche nach Zigaretten. Dolph bedrängte den anderen Beamten. »Also, Sie sind hier verantwortlich. Tun Sie, was Sie müssen, und zwar ein bißchen flott.«

»Tut mir leid, Mr. Kelling. Wie Ralph richtig gesagt hat, gehört der Inhalt der Gruft Ihnen. Ich meine, daß es das Klügste wäre, die Polizei zu holen, wie die junge Dame vorgeschlagen hat.«

»Zum Teufel noch mal! Sarah, wo du so entschlossen bist, diesen unglückseligen Vorfall zu einem öffentlichen Skandal zu machen, geh und ruf die Polizei. Und sage nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Unerwartet zog Mr. Ritling Sarahs Aufmerksamkeit auf sich und zwinkerte. »Soll ich gehen, Mrs. Kelling?«

»Nein«, antwortete sie zurückhaltend, »warum bleiben Sie nicht und machen sich Notizen? Immerhin schreiben wir ein neues Kapitel der Familiengeschichte. Betrachte es mal unter diesem Aspekt, Dolph. Oh, ich fürchte, jemand muß mir einen Zehner fürs Telefon leihen. Ich bin ohne jedes Geld unterwegs.«

»Ich hab’ einen Zehner.«

Der alte Mann, der für Ruby Redd Drinks gemischt hatte, kam wieder nach vorne, nahm Sarahs Arm und lotste sie zwischen den Grabsteinen durch. Seine Galanterie rührte sie. Das war wahrscheinlich sein aufregendstes Erlebnis, seit Danny Rates Pub der Stadtsanierung zum Opfer gefallen war.

Hinter ihnen warf der Vorarbeiter die hohen Eisentore zu. Sarah hörte, wie Cousin Dolph dem Mann sagte, daß er daran auch früher hätte denken können. Ihr war nie zuvor bewußt geworden, was für ein aufgeblasener Dummkopf Dolph war.

Wie sich herausstellte, brauchte sie das Geld des alten Barkeepers nicht. Als sie auf die Telefonzellen in der Nähe des U-Bahn-Eingangs zustrebten, stoppte ein Polizeiwagen bei Rot. Sein Fahrer hielt den Verkehr auf, um ihre Geschichte zu hören, wendete völlig gesetzwidrig und parkte auf dem Bürgersteig nahe bei dem kunstvollen Eisenzaun. Sarah führte den Polizisten hinüber zur Gruft. Erst als der Beamte versuchte, die Einzelheiten des grausigen Fundes aufzunehmen, wobei alle, Dolph Kelling, der Vorarbeiter, Mr. Ritling und der Angestellte des Gartenamtes, durcheinandersprachen, fiel ihr auf, daß ihr selbsternannter Beschützer sich still und heimlich in Luft aufgelöst hatte.

Sie konnte sein Verschwinden gut verstehen. Wenn sie klug gewesen wäre, hätte sie sich ihm angeschlossen. Es war unhöflich, unklug und ganz typisch für Adolphus Kelling, ihr die Schmutzarbeit zu überlassen. Ohne Zweifel würde er auf der Beerdigung allen ausführlich erzählen, wie er die Dinge um der Familie willen vertuschen wollte, aber die junge Sarah unbedacht aus irgendeinem Grund darauf bestanden habe, daß mit ihnen ein Affenzirkus veranstaltet wurde.

Sarah wurde sich bewußt, daß es ihr wirklich gleichgültig war, was die Familie von ihr dachte, und das schon seit einer ganzen Weile. Dieses neue Gefühl der Distanz kam gerade zur rechten Zeit, weil es ihr half, diesen, wie sich herausstellte, höchst unangenehmen Tag zu überstehen.

Adolphus Kelling hatte offensichtlich angenommen, daß sie nur das Vorgefallene berichten müßten, damit das geschmacklos herausgeputzte Skelett schnellstens an einen verschwiegenen, versteckten Ort gebracht würde und die Gruft bereit wäre für ihre Rolle in den geplanten Trauerfeierlichkeiten. Er hätte sich nicht mehr getäuscht haben können.

Nach einer Untersuchung des rubinverzierten Skeletts, die der junge Beamte offensichtlich genoß, meldete er dem Polizeipräsidium über Funk diese faszinierende Unterbrechung in der eintönigen Abfolge von Straßenraub, Verkehrsunfällen, bewaffneten Raubüberfällen und Schlägereien zwischen Betrunkenen. Von da an war die Hölle los. Menschenmassen drängten sich hinter dem schmiedeeisernen Zaun. Kameraleute vom Fernsehen kämpften um Nahaufnahmen des funkelnden Schädels und wurden weggescheucht von Lieutenants der Mordkommission, die zu ermitteln versuchten, wie aus der roten Ruby die tote Ruby geworden war. Reporter in der Hoffnung auf Stellungnahmen ließen ihnen keine Ruhe. Sarah, die zur Höflichkeit erzogen war, beantwortete freundlich Fragen, als sie bemerkte, daß ihr Mikrofone vors Gesicht gehalten wurden.

»Warum wollte Ihr Großonkel Frederick hier begraben werden, Mrs. Kelling?«

»Ich glaube, daß Ihnen mein Cousin da besser antworten kann als ich«, wich sie aus. »Vielleicht könnte man sagen, daß er einen ausgeprägten Sinn für Geschichte hatte. Nicht wahr, Dolph?«

»Genau. Sehr gut, Sarah. Einen ausgeprägten Sinn für Geschichte. Die Kellings hatten schon immer einen ausgeprägten Sinn für Geschichte.«

Und Dolph legte los. Sarah schaffte es, den Reportern zu entkommen und nachzusehen, was bei der Gruft vor sich ging. Jemand hatte gefragt, warum ihrer Meinung nach die Gruft der Kellings als Versteck gewählt worden war, und sie hatte geantwortet, daß sie keine Ahnung hätte. Die Gruft war weder die größte noch von der Straße aus am schlechtesten zu sehen. In Nähe der Kirche und weitab vom Eingang war sie schwer zu erreichen. Sarah vermutete, daß es einfach diejenige war, die jemand hatte öffnen können. Nein, der Friedhofswärter hatte keine besonderen Schwierigkeiten gehabt, die Tür aufzuschließen. Ja, diese einfachen alten Schlösser waren wahrscheinlich für jemanden, der wußte, wie, sehr leicht aufzubrechen. Sie selbst hatte von so etwas nicht die leiseste Ahnung. Man müßte – sie hatte sich gerade rechtzeitig bremsen können zu ergänzen »meinen Mann fragen«. Das war weder die rechte Zeit noch der rechte Ort, publik zu machen, daß Alexander auch einen Schlosserkursus besucht hatte.

Die Leute der Mordkommission arbeiteten so exakt wie Archäologen, fotografierten das Skelett aus verschiedenen Winkeln und packten soviel des vermodernden Kostüms zusammen, wie sie retten konnten. Sie achteten besonders darauf, keine Rubinsplitter zu übersehen, die vielleicht aus den Zähnen gefallen waren. Es dauerte lange, bis sie ihre Arbeit beendet hatten. Als die Polizei endlich geneigt schien, die Kellings ihren Privatangelegenheiten nachgehen zu lassen, war Sarah die Kälte bis in die Knochen gedrungen, sie war halbverhungert und mußte dringend auf die Toilette.

»Dieser alte Mann, der behauptete, die Frau zu kennen«, fragte jemand sie zum wohl sechsten Mal, »wo, sagten Sie, ging er hin?«

»Ich sagte nichts, weil ich es nicht weiß«, antwortete sie etwas giftig. »Er begleitete mich, als ich Hilfe holen ging, und war verschwunden, als ich zurückkam. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich ihn Weggehen sah, weil ich mit dem Polizisten sprach.«

»Wie lang war er hier?«

»Das kann ich nicht sagen. Er war auf dem Friedhof, als ich hier ankam, das ist alles, was ich weiß.«

»Sagte er, warum er auf dem Friedhof war?«

»Oh, ich bezweifle, daß er einen besonderen Grund hatte ...«

»Wie kamen Sie mit ihm ins Gespräch?«

»Soweit ich mich entsinne, machte er eine Bemerkung über das Wetter und fragte mich, ob ich Tourist sei. Ich dachte, er hoffe vielleicht auf ein Trinkgeld für eine Führung, und so erklärte ich ihm, daß ich auf meinen Cousin wartete. Dann plauderten wir ein bißchen, um die Zeit totzuschlagen. Mein Cousin hatte den Eindruck erweckt, daß er mich sofort treffen wolle, aber wie sich herausstellte, mußte ich ziemlich lang warten, weil er erst noch eine andere Sache erledigte.«

Dolph hatte es als ganz selbstverständlich betrachtet, daß Alex’ Frau nichts Besseres zu tun hatte, als sich auf einem kalten Friedhof herumzutreiben, so lange, wie es ihm paßte.

»Wußte der Alte, daß die Gruft geöffnet werden würde?«

»Erst als ich es ihm sagte, wenn Sie das meinen. Ich bin nicht sicher, ob er dann begriff, worum es ging. Er fragte immer wieder, wen wir denn ausgraben wollten. Ich wußte selbst nicht, was geschehen sollte, bis mein Cousin mich heute Morgen anrief, und ich glaube, auch er erfuhr es erst kurz vor diesem Telefongespräch.«

Der Mann von der Mordkommission wandte sich an Dolph. »Ist das richtig, Mr. Kelling?«

»Es stimmt«, antwortete Dolph verdrießlich. »Ob es richtig war, können Sie entscheiden. Ich hatte natürlich angenommen, daß Onkel Fred wie wir alle auf Mount Auburn beerdigt werden wollte. Ich organisierte alles, setzte die Todesanzeige in die Zeitungen, sagte den Verwandten Bescheid, ging heute Morgen als erstes hinüber, um Onkel Freds Rechtsanwalt zu treffen, und dieser unerhörte Testamentszusatz traf mich wie ein Hammer. Ich hatte ungefähr vierundzwanzig Stunden Zeit, alles, was ich arrangiert hatte, rückgängig zu machen und wieder von vorne anzufangen, und nun hat sich diese verdammte Schlampe in unsere Gruft schmuggeln lassen! Es schickt sich wohl kaum, jetzt einfach so weiterzumachen, als sei nichts gewesen.«

Dolph ereiferte sich noch eine Weile und seufzte dann. »Nun, Onkel Fred wollte es so, also werden wir wohl weitermachen müssen, und wenn die Sintflut kommt. Sie sammeln die Ziegel ein und kehren die Rubine zusammen, was? Bei Gott, was für eine Situation! Sarah, meinst du, daß Alex schon zurück ist?«

»Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie, »und wenn, könnte er auch nichts tun. Lieutenant, wenn Sie uns nicht länger brauchen, können wir dann bitte das erledigen, wozu wir eigentlich hergekommen sind?«

»Ich schätze, ja.«

Der Polizeibeamte lächelte Sarah so menschlich an, daß sie aus irgendeinem Grund fast in Tränen ausgebrochen wäre. »Sie können sich weiter um Ihre Beerdigung kümmern. Wir sehen zu, daß alles für morgen in Ordnung ist. Okay, Ralph?«

»Okay«, seufzte der Vorarbeiter. »Stört es Sie, wenn ich erst einen Bissen esse?«

Adolphus Kelling wurde heiter. »Das ist eine ausgezeichnete Idee. Komm, Sarah, ich lade dich zu einem Drink ein.«

Obwohl ein Langweiler und Tyrann, ließ sich Dolph als Gastgeber nicht lumpen. Gestärkt von zwei Cocktails und hervorragendem, reichlichem Essen, entschied Sarah, daß es ihr nicht sonderlich viel ausmachte, ihn zum Friedhof zurückzubegleiten.

Immer noch drängten sich Zuschauer am Zaun, aber es war kaum etwas zu sehen. Die Tür zur Gruft war geschlossen, und einer von Ralphs Helfern schaffte in einer Schubkarre die letzten Ziegel weg. Am Tor sagte der Wache stehende Polizist Sarah und ihrem Cousin, daß sie nicht hineinkonnten.

»Aber ich bin Adolphus Kelling, verdammt noch mal! Das ist meine Gruft.«

»Tut mir leid, Mr. Kelling.«

»Komm schon, Dolph«, redete ihm Sarah gut zu. »Wir müssen sowieso den Pfarrer aufsuchen, und wahrscheinlich läßt er uns durch die Kirche hinein. Jedenfalls scheinen sie zu tun, was sie versprochen haben.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, schnaubte Dolph. Aber er war vernünftig genug, nicht den Kampf mit dem Gesetz zu suchen. Er konnte immer noch den Pfarrer und den Organisten tyrannisieren.

Während ihr Cousin mehr als eine Stunde damit verbrachte, einen Gottesdienst zu diskutieren, der insgesamt vielleicht zwölf Minuten dauern würde, ruhte sich Sarah in der Kirchenbank der Familie aus, versuchte angesichts des herrlichen alten Altarraums Kraft zu sammeln und fragte sich, wie sie mit der Schar morgen Nachmittag fertig werden sollte. Eigentlich sollte sie einkaufen oder putzen oder wenigstens ihre eigene Familie von dem absonderlichen Fund in der Gruft informieren. Trotzdem blieb sie, bis Dolph alles zu seiner und vermutlich Onkel Freds Zufriedenheit geregelt hatte. Als sie hinausgingen, war es fast dunkel.

»Dolph«, sagte sie, »ich lass’ dich jetzt allein. Alexander muß schon vor einer Ewigkeit nach Hause zurückgekehrt sein. Er wird sich fragen, wo ich stecke.«

»Alex? Den habe ich ganz vergessen. Ich bin ganz gut allein zurechtgekommen, oder? Vielleicht werfen wir besser noch einen letzten Blick auf die Gruft. Eine weitere Revuetänzerin, die sich unbemerkt einschleicht, können wir nicht gebrauchen. Komm mit zurück, wir bitten den Pastor, uns die Seitentür zu öffnen.«

Zögernd gehorchte Sarah. Der Pfarrer, der zwar freundlich wie immer war, aber inzwischen ohne Zweifel wünschte, er könne den ganzen Kelling-Clan beerdigen, führte sie durch die Sakristei und hinaus auf den alten Friedhof.

»Sicherlich werden Sie feststellen, daß alles in Ordnung ist«, sagte er hoffnungsvoll.

Das war es auch, abgesehen von einem Ziegelstein, der irgendwie vergessen worden war. Dolph hob ihn auf und begann zu schäumen.

»Oh, reg dich nicht auf, und gib ihn mir«, sagte Sarah. »Ich werfe ihn auf dem Heimweg in einen Abfallkorb.«

Es war ein hübscher schmaler Ziegelstein, klein genug, daß er in ihre lederne Umhängetasche paßte. Sie steckte ihn ein, dankte dem Pfarrer, nahm erleichtert Abschied von Cousin Dolph und machte sich über den Hill auf den Weg zur Tulip Street.

Kapitel 3

Alexander hatte die Tür geöffnet, ehe sie nur halb die Treppe hinauf war. »Sarah, ich habe am Fenster nach dir Ausschau gehalten. Wo warst du?«

»Bei Cousin Dolph. Er rief an, kurz nachdem ihr zum Krankenhaus aufgebrochen wart.«

»In heller Aufregung wegen Onkel Freds Beerdigung vermutlich. Pech, daß er dir den ganzen Tag gestohlen hat. Harry ist zurück, und sie haben uns zum Dinner eingeladen.«

»Auch das noch!« Wenn es irgendetwas gab, was Sarah in diesem Moment nicht brauchen konnte, so war das eine spontane Dinnerparty der Lackridges. »Alexander, es ist etwas ganz und gar Unglaubliches geschehen!«

»Das kannst du später erzählen. Du hast gerade fünf Minuten Zeit, dich umzuziehen.«

Wütend rannte sie in den zweiten Stock hinauf, wobei der Ziegelstein, den sie in ihrer Umhängetasche vergessen hatte, bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte schlug. Typisch, für ihn war Harry Lackridge natürlich wichtiger als alles andere. Alexander trug seine Smokingjacke, nicht, weil das Ereignis es forderte, sondern weil er sie sich vor Urzeiten für irgendeine Feier hatte anschaffen müssen und es für seine Pflicht hielt, daß diese Investition sich bezahlt machte.

Es wäre unpassend, wenn die Frau an seiner Seite in einem graukarierten Rock und einem ausgeleierten hellbeigen Pullover erschien.

Zum Glück hatte sie diesmal wenigstens schon gegessen. Und warm angezogen war sie auch. Da sie Leila Lackridges Verachtung für leibliche Bedürfnisse kannte, hatte sich Sarah extra für diese Anlässe ein Kleid geschneidert: langärmelig, mit langem Rock, einfach geschnitten wie die Ausschneidekleidchen für Anziehpuppen, aus einem dicken, weichen Frotteestoff in exakt dem Farbton von Alexanders blauen Augen. Um es aufzuputzen, brauchte es etwas Aufregenderes als die Amethystbrosche ihrer Großmutter und die kleine Perlenkette, die Alexander ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, aber das war alles, was sie hatte, und so legte sie sie an.

Eines Tages würde sie mehr Schmuck besitzen, als eine Frau überhaupt tragen konnte. Es war lächerlich, daß sie sich nicht schon jetzt an einigen Stücken erfreuen durfte. Was für ein gräßliches Leben, hier herumzusitzen und auf Tante Carolines Tod zu warten!

Taten sie das? Dieser Gedanke, den sie nie zuvor hatte aufkommen lassen, erschreckte Sarah, und sie starrte in das ihr fremd erscheinende Gesicht im grünlichen, mit Flecken übersäten Spiegel. Sie sah das Gesicht irgendeiner Frau mit hellbraunen Haaren und graubraunen Augen, von denen eins ein klein bißchen höher stand als das andere, in einem blassen viereckigen Gesicht. Sie trug etwas Lippenstift auf, griff die Ohrclips, die zur Amethystbrosche gehörten, und steckte sie an, während sie die Treppe hinunterlief.

Alexander wartete auf sie. Er hielt das glänzende, schütter werdende Cape aus Bisampelz bereit, das einst ihrer Mutter gehört hatte.

»Du darfst nicht so schnell laufen in dem langen Rock«, wies er sie sanft zurecht. »Du könntest stolpern und fallen.«

»Aber du hast gesagt, ich soll mich beeilen«, gab sie schnippisch zurück. »Wo ist Tante Caroline?«

»Draußen auf der Treppe. Du weißt, daß sich Mutter gern beim Hinuntergehen Zeit läßt.«

Natürlich wußte Sarah das. Es gab keine Marotte oder Laune ihrer Schwiegermutter, auf die sie in den letzten sieben Jahren nicht Rücksicht genommen hatte. Es war immer noch Caroline Kellings Haus, und immer noch drehte sich alles um Caroline. Wer konnte Anstoß nehmen, wenn der gesunde Menschenverstand vorschrieb, daß alles an seinem angestammten Platz blieb, damit eine blinde Frau sich ohne Führung in den Räumen zurechtfand, und wenn der Anstand forderte, daß auf eine doppelt Behinderte jegliche Rücksicht genommen wurde? Konnte eine Frau ihrem Gatten vorwerfen, daß er fast seine ganze Zeit von früh bis spät mit seiner Mutter verbrachte, wenn Caroline nur dank Alexander überhaupt fähig war, so etwas wie ein normales Leben zu führen?

Selbst wenn dieses völlige Eingehen auf Carolines Wünsche bedeutete, daß Sarah und Alexander gar kein eigenes Leben kannten? Sie sprachen sogar kaum noch miteinander. Damals, als Sarah sechs Jahre alt war und Cousin Alexander als junger Mann in Flanellhosen von Brooks Brothers aussah wie ein junger Gott, war ihre Beziehung weitaus befriedigender gewesen. Er hatte mit ihr Spaziergänge im Stadtpark gemacht, während seine Mutter mit Sarahs Vater Schach spielte. Damals liebte sie ihn über alles. Sie nahm an, daß sie das heute noch tat. Jedenfalls gab es im Moment wohl nichts, was sie unternehmen konnte.

Sarah zog ihr unzulängliches Cape enger um ihre Schultern und trottete hinter ihrem Mann und der weißhaarigen Frau her, die fast so groß war wie er. Caroline Kelling hatte eine Hand auf den Arm ihres Sohnes gelegt, weil der Bürgersteig recht steil abfiel, aber sie ging so gerade, als hätte sie ihren Blindenstock verschluckt, und stolperte kein einziges Mal auf dem unebenen Backsteinpflaster.

Die Lackridges lebten auf der dem Fluß zugewandten Seite von Beacon Hill in einem gepflegten Wohnhaus, das vor dem Umbau Leilas Großeltern als Kutscherhaus gedient hatte. Im ursprünglichen Herrenhaus befand sich nun ein renommierter, aber nicht immer einträglicher Verlag, den Leilas Familie gegründet und in den Harry Lackridge eingeheiratet hatte.

Nach der Hochzeit hatten Leila und Harry die Dachböden und Abstellkammern ihrer jeweiligen Familien nach jedem überflüssigen Möbelstück abgesucht, das sie bekommen konnten. Leila hatte dann eine Innenarchitektin zu Rate gezogen und sie gezwungen, aus diesem Mischmasch etwas Ansehnliches zu machen. Jetzt kam einmal die Woche ein Reinigungsdienst, und alle sechs oder acht Jahre ließ Leila das Haus in fast den gleichen Mustern und Farben wie zuvor neu tapezieren und streichen. Über die Jahre hinweg hatten die Räume einen eigenartigen Charakter angenommen – sie wirkten wie einbalsamiert. Leila nahm das nie zur Kenntnis. Sie hatte anderes zu tun.

Es war zum guten Teil Leila Lackridge zuzuschreiben, daß in Caroline Kellings Leben so viel los war. Die beiden gehörten zu denen, die ständig in den städtischen Angelegenheiten Bostons mitmischten, das heißt, Leila mischte mit, während Mrs. Kelling allein durch ihre Anwesenheit auf dem Podium Mitgefühl auslöste, ihre toten Augen hinter einer getönten Brille versteckt, ihr schönes Gesicht voll Aufmerksamkeit für die Mitteilungen, die ihre Freundin oder ihr Sohn in ihren Handteller buchstabierten.

Nicht allen Menschen, die als Erwachsene blind und taub werden, gelingt es, alternative Methoden der Verständigung zu erlernen. Caroline beherrschte Braille und zudem ein stenographisches System von Handsignalen, das nur Leila und Alexander in einem Tempo meisterten, das mit Carolines schnellem Verstand und ihrer gelegentlich scharfen Zunge mithalten konnte. Sarah hatte es mit den Handsignalen probiert, aber das ungeduldige Zucken von Tante Carolines Fingern entmutigte sie, und sie plagte sich nicht weiter ab. Nun stach sie mit Schablone und Griffel Nachrichten in Braille oder ließ Alexander übersetzen, wenn sie ihrer Schwiegermutter etwas Besonderes mitzuteilen hatte. Seit sie die meiste Hausarbeit übernommen und keine Anleitung mehr nötig hatte, war das nur selten der Fall.

Diese Abendessenseinladungen zu den Lackridges kamen immer in letzter Minute, da Harry wie Leila soviel unterwegs waren, daß es schwierig war, im Voraus zu planen. In der Regel konnte Sarah gut auf sie verzichten. Die Cocktailstunde zog sich endlos hin, während Leila und Tante Caroline sich über ihr neuestes Anliegen ausließen und die beiden Männer sich in Erinnerungen an ihre Schul- und Collegezeit ergingen, Jahre vor Sarahs Geburt. Das Haus war immer kalt, selbst im Sommer, und das Essen war ungenießbar.

Vielleicht wurde es heute Abend gar nicht so schlecht. Vielleicht ließen sie sie ihre erstaunliche Geschichte erzählen. Und wenn nicht, konnte sie sich in ihrem wollenen Kokon einigeln und heimlich ein Nickerchen halten. Sie war schläfrig vom Herumstehen in der kalten Luft und gesättigt von dem späten schweren Mittagessen. Wenigstens war es besser, den Abend mit Leila und Harry zu verbringen, als wenn sie in einem Bestattungsinstitut den Belehrungen von Cousin Dolph zuhören müßte. Es würde keine Aufbahrung mit Abschiedsbesuchen geben. Der Testamentszusatz von Großonkel Frederick über Verwandte, die sich an seinen sterblichen Überresten weiden wollten, war eindeutig.

Sarah hatte immer den Eindruck gehabt, daß Leila und Harry ihr die Heirat mit Alexander übelnahmen. Die Lackridges hatten mit ihm und Caroline über so viele Jahre ein trautes Quartett gebildet, daß sie die junge Braut so oft wie möglich in den Hintergrund schoben. Heute Abend allerdings war sie der Ehrengast. Zu ihrer Überraschung zog Harry sie mit Schwung in seine Arme, sogar ehe er Caroline ihren zeremoniellen Kuß gab.

»Hier ist sie höchstpersönlich! Wie geht’s unserer kleinen Berühmtheit? Spricht sie noch mit gewöhnlichen Leuten?«

Sarah war zu durcheinander, um irgendetwas zu sagen. Alexander fragte ruhig:

»Berühmtheit?«

»Hast du keine Nachrichten gesehen?« frohlockte Harry. »Ach, ich vergesse immer, daß ihr intellektuellen Snobs nicht fernseht.« Sein Grinsen, das auf Fotografien, die Alexander seit ihrer Schulzeit hütete, so charmant wirkte, ließ seine gelb verfärbten Zähne sichtbar werden. Die Jahre hatten Harry nicht schöner gemacht.

»Sarah!« Seine Frau trat zu ihnen, in einen orientalischen Kaftan gehüllt, der zu ihrer eckigen Gestalt einfach nicht paßte. Im Gegensatz zu ihrem Mann war Leila nie auch nur leidlich gutaussehend gewesen. Im Alter von siebenundvierzig war sie so häßlich wie die Drachen, die auf ihr Gewand gedruckt waren, doch machte sie einen angenehmeren Eindruck als Harry, weil in ihrem Gesicht stets Begeisterung für etwas Neues leuchtete. Zum allerersten Mal zeigte sie starkes Interesse an Sarah.

Caroline, ausnahmsweise einmal nicht im Mittelpunkt, begann zu sprechen. Niemand beachtete sie, nicht einmal Alexander.

»Sarah«, wollte er wissen, »hast du die leiseste Ahnung, wovon sie reden?«

»Ich glaube schon. Ich habe versucht, es dir zu erzählen, aber du wolltest nicht zuhören.«

»Du meinst, er weiß es noch gar nicht?« rief Leila.

»Es heißt, der Ehemann erfährt es immer als letzter«, schaltete sich Harry ein, »aber das ist doch absurd!«

»Es ist seine eigene Schuld«, sagte Sarah. »Ich kam erst vor ganz kurzer Zeit nach Hause. Ich versuchte sofort, ihm davon zu erzählen, aber er wollte nicht zuhören. Dann ging er in einem solchen Tempo hierher, daß ich kaum atmen, geschweige denn reden konnte. Ihr wißt, wie sehr er jede Unpünktlichkeit haßt.«

»Aber, Sarah«, begann Alexander.

»Aber, aber. Kein Aber mehr, alter Junge«, unterbrach ihn Lackridge. »Komm und trink was. Wenn es je einen Menschen gab, der sofort einen Drink braucht: Du bist der Mann.«

Caroline Kelling war inzwischen recht aufgebracht. Schließlich konnten sie sie beruhigen und nach einigem Hin und Her ins Wohnzimmer geleiten. Sarah steuerte auf ihre übliche Ecke am Kamin zu, als sie bemerkte, daß dieses Ende des Sofas bereits besetzt war. Ein junger Mann stand da und wartete reichlich verlegen darauf, vorgestellt zu werden. Da beide Lackridges damit beschäftigt waren, die ältere Mrs. Kelling zu besänftigen, ging Sarah zu ihm hin und reichte ihm die Hand.

»Guten Abend! Ich bin Sarah Kelling.«

»Ich weiß«, erwiderte er mit einem zaghaften Lächeln. »Ich bin Bob Dee, einer der hilfreichen Geister aus Harrys Büro. Waren Sie zum ersten Mal im Fernsehen? Sie haben das wie ein Profi hingekriegt.«

Sarah lächelte zurück. »Wirklich? Ich muß gestehen, ich hatte keinen blassen Schimmer, daß sie mich filmten, bis es passiert war. Sonst hätte ich Todesängste ausgestanden.«

Es wäre angenehm gewesen, sich hinzusetzen und in Ruhe mit diesem sympathischen Jungen zu plaudern, der ihr altersmäßig so viel näher stand als jeder andere im Raum, aber es sollte nicht sein. Sobald Harry sie alle mit Drinks versorgt hatte, befahl er ihr, ihre Geschichte zu erzählen. Sarah begann zu reden, schilderte auf Leilas Drängen auch die grausigen Einzelheiten und war fast bis ans Ende ihrer Geschichte gelangt, als sie bemerkte, daß Alexanders Hände völlig ruhig waren. Tante Caroline bekam kein Wort mit.

Sie war so verblüfft, daß sie mitten im Satz abbrach. »Alexander, erzählst du denn deiner Mutter nichts?«

Er sah sie verständnislos an, so, als hätte er vergessen, wer sie war. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, ich möchte lieber nicht. Es würde sie – schrecklich aufregen.«

Es fiel ihm sichtlich schwer, die Worte herauszubekommen.

»Ich – sie – würde niemals –«

»Glauben, daß eine waschechte Leiche im Familienkeller steckt, wie man so schön sagt?« Harry klopfte ihm auf die Schulter.

»Entspann dich, alter Knabe. Sonne dich in Sarahs Rampenlicht. Brauchst du einen Muntermacher?«

Alexander Kelling schüttelte seinen schönen Kopf. »Nein, nicht jetzt, danke. Ich – ich kann einfach nicht –«

»Komm schon, Alexander, du übertreibst. Gott erbarme sich unser, wenn der alte Fred jemals erfahren hätte, in welche Gesellschaft er geraten würde! Das gibt einen Spaß in der nächsten Halloween-Nacht! Meiner Meinung bist du ein Spielverderber hoch zwei, Caro nichts davon zu erzählen. Los, Leila, erzähl du es ihr.«

»Bitte nicht«, sagte Alexander erneut. »Sie ist schon beunruhigt, weil sie morgen zu Onkel Freds Beerdigung muß. Du weißt, wie sie auf Veränderungen reagiert. Das – das würde –«

Die Aufregung ihres Mannes ging Sarah zu Herzen. Sie hätte ihn noch zu Hause zum Zuhören zwingen sollen. Es war grausam, in Gesellschaft jemanden mit einer solchen Schauergeschichte zu überraschen, nur weil er sie zu etwas gedrängt hatte, was sie nicht wollte. Zumindest konnte sie ihn jetzt unterstützen.

»Alexander hat recht, Harry. Ihr macht euch nicht klar, wie sprunghaft Tante Caroline reagieren kann. Sie schließt sich dann in ihrem Boudoir ein und bestickt die Vorhänge. Es bricht einem das Herz, weil die Stiche auf dem Vorhangmuster noch nicht einmal zu erkennen sind. Wir wissen nie, was sie aufregt, und manchmal ist sie tagelang depressiv. Tu’s nicht, Leila, bitte!«

Mrs. Lackridge zuckte mit den Achseln, mit dem Erfolg, daß die auf ihren Kaftan gedruckten Drachen auf sehr beunruhigende Weise in Bewegung gerieten. »Wenn Alex sich derart darüber aufregt. So oder so – ich finde die Sache nicht besonders wichtig. Harry, sagtest du nicht, daß noch jemand kommt?«

»Ja, oh Perle des Morgenlandes. Ein Typ namens Bittersohn, der eine Art Experte für seltene Juwelen ist. Er schreibt ein Buch für uns. Ich dachte, es könnte ein Gewinn für ihn sein, Caro zu treffen.«

Alexander blickte den Verleger scharf an. »Ich hoffe, du hast ihm nichts versprochen. Du kennst Mutter doch.«

»Natürlich, und versprochen habe ich nichts. Wenn ich so drüber nachdenke, weiß ich eigentlich gar nicht, warum ich ihn eingeladen habe; sieht man davon ab, daß er von irgendeinem Juweliersverein einen Riesenzuschuß für die Druckkosten bekommt, was ihn automatisch zu unserem blondgelockten Liebling des Monats macht, obwohl er ein bißchen wie ein dunkelhäutiger Jude aussieht. Stimmt’s, Bob?«

»Stimmt, Chef«, antwortete der hilfreiche Geist schnell und nahm sich eine große Handvoll Erdnüsse.

»Ein Jude weiß natürlich, wo was zu holen ist.«

Es gab eine ganze Reihe Punkte, die Sarah an Harry Lackridge nicht mochte. Dazu gehörte seine Einstellung gegenüber allen, die nicht der Gruppe der weißen protestantischen Angelsachsen angehörten.

»Ich dachte, Antisemitismus wäre passé«, sagte sie scharf.

Ihr Gastgeber zog eine farblose Augenbraue hoch. »Wer ist anti? So wie die Geschäfte heute gehen, könnten wir kaum mehr pro sein. Stimmt’s, Bob?«

»Stimmt, Chef.«