Botschafter der Sterne - Baoshu - E-Book

Botschafter der Sterne E-Book

Baoshu

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Beschreibung

Ein »Trisolaris«-Roman – die erfolgreichste Saga der chinesischen Unterhaltungsliteratur

China, in nicht allzu ferner Zukunft. In einer Welt, die von der Ankunft einer außerirdischen Sternenflotte vom Planeten Trisolaris bedroht wird, liegt Yun Tianming allein und ohne Hoffnung auf dem Sterbebett. Doch dann wird er für eine Aufgabe auserwählt, die alles bisher Dagewesene übersteigt: Er soll die Menschheit retten und als ihr Bote zu den Trisolariern geschickt werden. Er willigt ein, und so wird Yun Tianming nach seinem Tod ins All geschossen. Seitdem hat niemand auf der Erde von ihm gehört. Dies ist seine Geschichte – es ist die Geschichte eines Verrats …

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Seitenzahl: 444

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Das Buch

Ein halbes Jahrhundert nach der Entscheidungsschlacht hält der Waffenstillstand mit den Trisolariern immer noch stand. Die Hochtechnologie der Außerirdischen hat der Erde zu neuem Wohlstand verholfen, auch die Trisolarier haben dazugelernt, und eine friedliche Koexistenz scheint möglich. Der Frieden hat die Menschheit allerdings unvorsichtig werden lassen. Als mit Cheng Xin eine Raumfahrtingenieurin des 21. Jahrhunderts aus dem Kälteschlaf erwacht, bringt sie das Wissen um ein längst vergangenes Geheimprogramm in die neue Zeit. Wird die junge Frau den Frieden mit Trisolaris ins Wanken bringen – oder wird die Menschheit die letzte Chance ergreifen, sich weiterzuentwickeln?

»Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, und lesen Sie Cixin Liu!« Denis Scheck, Druckfrisch

»Cixin Liu ist der chinesische Arthur C. Clarke.« The New Yorker

Der Autor

Cixin Liu ist einer der erfolgreichsten chinesischen Science-Fiction-Autoren. Er hat lange Zeit als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmen konnte. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits viele Male mit dem Galaxy Award prämiert. Cixin Lius Roman Die drei Sonnen wurde 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert.

Mehr über Cixin Liu und sein Werk auf:

BAOSHU

BOTSCHAFTER

DERSTERNE

EIN TRISOLARIS-ROMAN

Aus dem Chinesischen

von Marc Hermann

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Original ist unter dem Titel (Sāntĭ X Guānxiăng zhī zhòu) bei Chongqing Press, Chongqing, erschienen.

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Deutsche Erstausgabe 03/2021

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2011 by Baoshu ()

German rights authorized by

China Education Publications Import & Export Corp., Ltd.

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

Umschlagillustration: Stephan Martinière

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26541-0V001

diezukunft.de

Cixin Liu gewidmet

Inhalt

Vorwort

Übersicht der Zeitalter

Prolog

ERSTER TEIL: Die Vergangenheit innerhalb der Zeit

ZWEITER TEIL: Der Teeweg

DRITTER TEIL: Der Himmelskelch

Epilog: Provence

Nach dem Epilog: Aufzeichnungen aus dem neuen Universum

Anmerkungen

Vorwort

Die Geburt dieses Buchs ist das erstaunlichste Ereignis meines Lebens.

Wie viele andere Science-Fiction-Leser wurde auch ich Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu einem treuen Fan von Cixin Liu, der damals gerade erst begonnen hatte, sich in Genrekreisen einen Namen zu machen. Wir nannten uns citie – »Magneten«, ein Wortspiel mit der Abkürzung für »eingefleischte Fans von Cixin Liu« – und diskutierten leidenschaftlich jedes seiner Werke. Wann immer eine neue Geschichte von ihm erschienen war, verbreitete sich die Nachricht unter uns wie ein Lauffeuer, und wir kauften bei erster Gelegenheit die betreffende Zeitschrift. Als dann 2006 Die drei Sonnen, der erste Band der Trisolaris-Trilogie, in Fortsetzungen in der Zeitschrift Science Fiction World erschien, verschlang ich jedes neue Kapitel und konnte kaum das nächste erwarten, so sehr faszinierte mich die Geschichte.

Anfang 2008 erschien Die drei Sonnen als Buch, und der zweite Band Der dunkle Wald folgte ein halbes Jahr später. Auch wenn der Mainstream der literarischen Szene diese Bücher ignorierte, waren sie für Science-Fiction-Fans doch ein Festschmaus. Danach versank ich zusammen mit den anderen citie in qualvollem Warten, das erst zweieinhalb Jahre später endete. Doch als im November 2010 der dritte und letzte Band der Trilogie, Jenseits der Zeit, erschien, hielt ich mich gerade zum Studium in Belgien auf und sah keine Möglichkeit, auf die Schnelle an das Buch zu kommen. Ich überlegte ernsthaft, nach China zurückzufliegen, nur um es zu kaufen. Doch schließlich half mir mein Freund Gao Xiang aus der Patsche: Er fotografierte jede Seite einzeln ab und schickte mir die Aufnahmen per E-Mail.

Dieser Freundschaftsbeweis berührte mich tief, doch erst lange danach sollte ich begreifen, welche Bedeutung dieser Roman für mich gewinnen würde. Nachdem ich Jenseits der Zeit genauso rasch durchgelesen hatte wie die ersten Leser in China, analysierte und diskutierte ich eifrig mit all den anderen Fans im Internet jedes Detail. Doch egal, wie ausgiebig wir debattierten, die gewaltige Trilogie hatte ein Ende gefunden, und sie rückte in immer größere Ferne. Aus der Melancholie, die damit einherging, fasste ich zwei Tage später den entscheidenden Entschluss: Ich würde eine kleine Geschichte über einige der Romanfiguren schreiben, um Lius Epos noch ein wenig weiterzuspinnen. Also schrieb ich einen Dialog zwischen Yun Tianming und Ai AA auf Planet Blau und postete ihn im Internet unter dem Titel Three Body X, wobei »X« nicht etwa »zehn« bedeutete, sondern »ungewiss«.

Es war nicht meine erste Cixin-Liu-Fan-Fiction, und ich war auch nicht der Erste, der auf diese Idee gekommen war, doch bis dahin waren solche Geschichten nur in einem kleinen Kreis eingefleischter Fans zirkuliert. Ich ahnte damals noch nicht, dass die Situation diesmal vollkommen anders geartet war: Mit dem, was ich schrieb, stillte ich das Bedürfnis Zehntausender Leser, die nach mehr Geschichten aus dem Trisolaris-Universum dürsteten. Das schnelle Erscheinen meines Textes – nicht einmal eine Woche nach der Veröffentlichung von Jenseits der Zeit – sicherte ihm eine Aufmerksamkeit, die seine Qualitäten weit überstieg und mich ermunterte, meine Geschichte immer weiterzuspinnen, sodass sie sich mit der Zeit zu einer eigenen Welt auswuchs. Drei Wochen später, am Vorabend zu Weihnachten 2010, hatte ich meinen Roman abgeschlossen.

In der Zwischenzeit hatte sich meine Geschichte bis in die letzten Winkel des chinesischen Internets verbreitet und fast genauso ein lebhaftes Echo erregt wie Jenseits der Zeit selbst. Und auch ein guter Freund von Cixin Liu, Yao Haijun, den man scherzhaft den »Chinesischen Campbell« nennt, weil er als Chefredakteur der Science Fiction World so viele junge Autoren gefördert hat, fand Gefallen an meinem Roman und kontaktierte mich, weil er ihn als Buch veröffentlichen wollte. Einige Monate später schlug die Trisolaris-Trilogie immer neue Wellen, und weitere Fangeschichten erschienen, doch sie hatten den günstigsten Augenblick bereits verpasst und erregten keine allzu große Aufmerksamkeit mehr. Umso glücklicher konnte ich mich schätzen.

Als ich meinen Roman Botschafter der Sterne im Internet gepostet hatte, hatte ich keinen Gedanken an das Urheberrecht verschwendet, doch nun, da er als Buch erscheinen sollte, erwuchs daraus eine Reihe heikler Fragen. Cixin Liu jedoch zeigte sich mir gegenüber ungeheuer großmütig und wohlwollend und stimmte der Veröffentlichung zu, wofür ich ihm unaussprechlich dankbar bin. Sobald das Buch erschienen war, schickte ich ihm ein Exemplar. Einige Jahre später, nachdem ich einige eigenständige Werke veröffentlicht hatte und festes Mitglied der kleinen Gemeinschaft chinesischer Science-Fiction-Autoren geworden war, wurden Liu und ich Freunde und trafen uns oft auf den einschlägigen Veranstaltungen. Er erzählte mir, wie gern er Botschafter der Sterne gelesen hätte und dass er bei chinesischen Science-Fiction-Preisen sogar dafür gestimmt hätte. Am Ende gewann mein Buch zwar keinen Preis, doch Lius ermutigende Worte und sein Lob bedeuteten mir viel mehr als alle Preise.

Der chinesische Untertitel meines Buchs – Die Erlösung der Zeit – und einige Namen, die darin vorkommen, haben eine besondere Vorgeschichte, die heute nur noch wenigen geläufig ist. In den zweieinhalb langen Jahren zwischen 2008 und 2010 stellten die Fans, die dem dritten Band der Trisolaris-Trilogie entgegenfieberten, alle möglichen Spekulationen über die Richtung an, die die Handlung im letzten Band nehmen würde, und setzten Gerüchte über angeblich »geleakte« Titel und Inhalte in die Welt. Natürlich stellten sich all diese Gerüchte später als mutwillige Flunkereien heraus, von denen keine mit dem schließlich veröffentlichten Buch übereinstimmte. Doch selbst diese Gerüchte bereiteten uns manche Freude, während wir uns voll Ungeduld den Abschluss von Lius Trilogie ausmalten. Deshalb habe ich bewusst einige Begriffe aus diesen Gerüchten in meinen Roman eingebaut, zur Erinnerung an jene unschuldige Zeit, als das breite Publikum noch nichts von der Trisolaris-Trilogie ahnte.

Botschafter der Sterne war zwar nicht so erfolgreich wie Lius Epos und konnte es auch unmöglich sein, doch es stieß bei vielen Lesern auf ein positives Echo. Trotzdem wäre ich nie so vermessen zu behaupten, mein Roman könnte ein Teil des offiziellen Trisolaris-Universums sein, auch wenn er in derselben Reihe desselben Verlags erschienen ist. Ich betrachte ihn vielmehr als eine individuelle Interpretation und Ergänzung dieses Universums – als eine seiner unzähligen möglichen Fortschreibungen. Jedem Leser der Trisolaris-Trilogie steht es frei, mein Buch als unvereinbar mit Lius Vision abzulehnen oder sich zwar an ihm zu erfreuen, es aber nicht als Teil der Trisolaris-Welt zu akzeptieren – all das sind vollkommen legitime Reaktionen.

Vier Jahre nach dem Erscheinen von Botschafter der Sterne hat CEPIEC (China Educational Publications Import & Export Corporation Ltd.) sich entschlossen, nach der Trisolaris-Trilogie auch dieses Buch der englischsprachigen Leserschaft vorzustellen – eine Aussicht, die mich mit einer Mischung aus freudiger Erregung und banger Sorge erfüllt. Aus der englischsprachigen Science-Fiction sind mir nicht wenige berühmte Fan-Fiction-Werke bekannt, darunter die Zweite-Foundation-Trilogie von Greg Bear, Gregory Benford und David Brin oder Zeitschiffe von Stephen Baxter, eine Fortsetzung von H.G. Wells’ Die Zeitmaschine, ganz zu schweigen von Universen wie Doctor Who und Star Trek, an deren kreativer Ausgestaltung sich zahlreiche Menschen beteiligt haben. Natürlich kann sich mein Roman nicht mit derart erfolgreichen Klassikern messen, doch immerhin haben wir eines gemeinsam: Alle grandiosen, von Genies geschaffenen Werke rufen uns dazu auf, in ihre Welt einzutreten und sie mit unserer Leidenschaft und Begeisterung zu erfüllen, auf dass wir die Zeit zurückdrehen, die Figuren zu neuem Leben erwecken und ihr Universum immer weiterentwickeln.

Baoshu,

30. August 2015

Übersicht der Zeitalter

Zeitalter der Krise201X – 2208

Zeitalter der Abschreckung2208 – 2270

Post-Abschreckungszeitalter2270 – 2272

Zeitalter der Übertragung2272 – 2332

Zeitalter der Bunker2333 – 2400

Zeitalter der Milchstraße2273 – unbekannt

Zeitalter von Planet Blau2687 – 2731

Zeitachse der Vorbereitung des Universums 6472731 – 18.906.416

Zeitachse des Universums 64718.906.416 – 11.245.632.151

Endzeit11.245.632.142–11.245.632.207

Zeitachse des neuen Universums11.245.632.207–…

Prolog

Endzeit, Jahr 1, Stunde 0, Minute 0, Sekunde 0. Das Ende des Universums

Es war einmal vor langer, langer Zeit in einer anderen Galaxie …

Noch immer funkelten die Sterne, noch immer wogte die Galaxie wie ein mächtiger Strom, und hinter jedem Stern verbargen sich, getrennt durch die Weiten des Alls, Myriaden Lebensformen. Sie versteckten sich in jedem Winkel der Galaxie, wuchsen und gediehen, kämpften ums Überleben und töteten einander … Wie jeder andere Teil des Universums war auch diese entlegene Galaxie vom Puls des Lebens und der Wehklage des Todes erfüllt.

Doch dieses uralte, unermesslich große Universum hatte bereits das Ende seines Daseins erreicht.

In einem Umkreis von über zehn Milliarden Lichtjahren rings um die Galaxie starben die Sterne mit unvorstellbarer Geschwindigkeit, Zivilisationen verschwanden, Galaxien erloschen … Alles kehrte zurück ins Nichts, als hätte es nie existiert.

In dieser Galaxie jedoch ahnten die unzähligen Lebewesen noch nicht, dass all ihre Kämpfe und Niederlagen, ihre Tarnungen und Gemetzel jede Bedeutung verloren hatten. Auf der großen Bühne des Universums hatte ein unvorhergesehener, grauenerregender Wandel eingesetzt, der auch ihre Existenz schon bald ins Nichts zurückstürzen würde.

Aus Galaxien, die Milliarden Lichtjahre entfernt erloschen waren, hatten einige schwache Lichtstrahlen den unermesslichen schwarzen Raum durchquert und beschienen nun diese entlegene Galaxie. Wie Briefe ohne Empfänger erzählten sie stumm von alten Legenden aus längst versunkenen Zeiten.

Einer dieser Strahlen kam aus einer unscheinbaren, zehn Milliarden Lichtjahre entfernten Ecke des Kosmos namens »Milchstraße«. Sein Licht war so schwach, dass die allermeisten Lebewesen es unmöglich wahrnehmen konnten, und doch barg es unzählige Legenden, die einst ganze Welten erschüttert hatten.

Ye Wenjie, Ding Yi, Zhang Beihai, Luo Ji …

Mike Evans, Frederick Tyler, Bill Hynes, Thomas Wade …

Die Basis Rotes Ufer, die Erde-Trisolaris-Organisation, das Wandschauer-Projekt, der Treppenplan, die Schwerthalter, der Bunkerplan …

All diese uralten Geschichten wirkten noch immer so lebendig, als hätten sie sich erst gestern ereignet und als erstrahlten ihre Helden und Heiligen noch immer am Sternenhimmel. Doch niemand gedachte ihrer, und das Wissen um sie war erloschen. Der Vorhang war gefallen, die Schauspieler von der Bühne getreten, und das Publikum hatte sich zerstreut. Selbst das Theater war längst in Trümmer gesunken.

Bis …

… in einem bestimmten Moment, inmitten des endlosen schwarzen Raums, in einem einsamen Winkel fern von jedem Stern, aus dem Nichts ein Geist erschien.

Schwache Strahlen umrissen vage eine Kreatur, die man einst »menschlich« genannt hatte. Doch natürlich existierte im Umkreis von Milliarden Lichtjahren kein »menschliches« Wesen mehr, das die Kreatur als seinesgleichen hätte erkennen können.

Dem Geist war dies bewusst. Seine Welt war mitsamt seiner Spezies längst in einem anderen Winkel des Universums untergegangen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Einst hatte seine Spezies eine Zivilisation erschaffen, deren Glanz in einer ganzen Galaxie erstrahlt war – eine Galaxie, die Milliarden andere Welten unterworfen, unzählige Feinde vernichtet und grandiose Epen aufgeführt hatte. Doch diese Zivilisation war längst im Strom der Geschichte versunken, der selbst wiederum in das Meer der Zeit gemündet war. Und nun stand selbst dieses Meer vor dem Austrocknen.

Doch ausgerechnet jetzt, da sich der Kosmos seinem Ende entgegenneigte und der Fluss der Zeit versiegen würde, hielt der Geist hartnäckig daran fest, eine Geschichte fortzuschreiben, die eigentlich schon geendet hatte.

Während er inmitten der Dunkelheit schwebte, streckte er sachte ein Glied aus – nennen wir es »Arm« – und spreizte die fünf Finger an dessen Ende. Auf seiner Handfläche schimmerte ein winziger silberner Lichtfleck auf.

In den Augen des Geists spiegelten sich unzählige Sterne, während er auf den Silberfleck starrte, als wäre er in einem Meer von Erinnerungen versunken. Der Fleck trieb auf und ab, anmutig wie ein Glühwürmchen und so zart, als könnte er jeden Moment erlöschen. Und doch schien er unendliche Möglichkeiten zu bergen wie die Singularität vor der Geburt des Universums. In Wahrheit handelte es sich bei ihm um ein winziges Wurmloch, das mit einem gewaltigen schwarzen Loch im Herzen einer Galaxie verbunden war, einem Loch, das die Energie einer ganzen Galaxie hätte freisetzen können.

Niemand hätte sagen können, wie viel Zeit verstrichen war, doch endlich erteilte der Geist einen Befehl, und sogleich verwandelte sich der Lichtfleck in einen silbernen Faden, der sich wie eine endlose Zeitachse in die Ferne erstreckte. Schon im nächsten Moment entfaltete sich dieser Faden zu einer weißen Fläche, und dann nahm eine dritte Dimension Gestalt an. Die Fläche wogte auf und ab und gewann an Dicke. Verglichen mit ihrer Länge und Breite freilich war ihre Dicke noch immer verschwindend gering – so als hätte der Geist ein weißes Blatt Papier im All ausgebreitet.

Mit ausgestreckten Armen glitt der Geist über das Papier. Ein Windhauch wehte rings um ihn, und aus dem Nichts bildete sich eine Atmosphäre. Auf dem Papier darunter traten, wie vom Wind aufgerührt, Wellenmuster und Falten hervor, die sich rasch zu Hügeln und Bergen, Schluchten und Ebenen verfestigten.

Dann erschienen Feuer und Wasser. Unter mächtigen Explosionen entzündeten sich Wasser- und Sauerstoff, aus reiner Energie entstanden, zu lodernden Flammen, die sich zu einem gewaltigen Meer aus Feuer vereinten. Die dabei erzeugten Wassermoleküle verschmolzen zu Tropfen, die sich zu Wolken und Nebel zusammenballten, ehe sie in sintflutartigem Regen auf die neugeborene Erde niederrauschten – die Gravitation entfaltete schon ihre Wirkung. Der endlose Regen überflutete die tiefen Ebenen und verwandelte sie in gigantische Ozeane.

Wie ein riesiger Vogel glitt der Geist über die Meere, ehe er an einem leeren Strand landete. Er streckte die Hände aus, die eine nach dem Wasser, die andere nach dem Land, und hob beide empor, und schon erwachten die ungeheuren Datenmengen, die in seinem Innern gespeichert waren, zum Leben, schöpften Energie von ringsum und nahmen Gestalt an. Alle Arten von Leben erschienen im Wasser und an Land, als wären sie von einem Orkan herbeigewirbelt worden: Aus den Wogen tauchten Fischschwärme und Wale empor, als wollten sie ihren Schöpfer ehren; aus den Tiefen der Erde quollen Gräser und Bäume hervor, zwischen denen Vierfüßer und Kriechtiere umherstreiften; am Himmel kreisten große und kleine Vögel. Das lärmende Stimmengewirr des Lebens erhob sich in dieser neugeborenen Welt. Und mit all diesen Lebensformen bildeten sich auch Wälder und Steppen, Seen und Wüsten.

Nachdem er all dies vollbracht hatte, schien es dem Geist doch, als fehlte noch etwas. Gedankenversunken blickte er zum dunklen Himmel empor, und da fiel es ihm endlich wie Schuppen von den Augen. Mit dem Finger malte er einen Kreis an das Firmament, schnippte einmal, und sogleich schoss ein Lichtfleck empor und füllte den Kreis als strahlende goldene Kugel aus – die gute alte Sonne war an ihren Platz zurückgekehrt, oder zumindest schien es so. Kaum wurde das Licht von der Atmosphäre gestreut, erstrahlte die ganze Welt, und Himmel und Meere funkelten in einem kristallklaren Azurblau.

Auch auf den Geist fiel das neugeborene Licht. Verzückt blickte er auf und badete in dem Sonnenschein, den er so lange entbehrt hatte.

Wie das Goldene Zeitalter von einst.

Die Sonne schien auf seine nackte Haut und sein Haar. Das Licht zeichnete die Konturen eines typischen Vertreters der Menschheit. Nun war es offenkundig, dass dies hier kein trübes Gespenst war, sondern ein Individuum – ein Mann von jener lange versunkenen Welt, die man einst »Erde« genannt hatte.

Und diese neue Welt wirkte genauso vertraut wie jene alte Erde.

Dabei war sie in Wahrheit nur ein Schatten, den jene Erde hier am Ende des Universums warf, lange nachdem sie mit all ihren menschlichen Zivilisationen zerstört worden war.

Verglichen mit dem großen Universum von einst und mit jener wahren Erde war diese künstliche Welt – das wusste der Geist – verschwindend klein, unecht und nichtig. Und dennoch wollte er diese winzige Welt erschaffen, um das kosmische Epos, das eigentlich schon abgeschlossen war, noch ein wenig fortzuschreiben. Zwar würde dieses Epos deswegen keine wirkliche Fortsetzung erfahren, und doch lag ein eigentümliches Glück darin, nun, da das Universum seinem Untergang entgegensah, noch eine Weile in diese trügerische Welt einzutauchen und die ersterbende Glut ihrer Sonne, die so echt wirkte, auf der Haut zu spüren.

»Dies«, murmelte er, »ist der letzte Sonnenuntergang des Universums.«

ERSTER TEIL

Die Vergangenheit

innerhalb der Zeit

Schwarze Domäne der Galaxie DX 3906, unsere Welt

Der Himmel war ein verschwommenes Dunkelgrau, von dem ein genauso verschwommener Nieselregen herabfiel, der den See in einen feinen nachmittäglichen Dunst hüllte. Die Gräser am Ufer wippten sachte im Wind und sogen begierig das süßliche Regenwasser in sich auf. Ein Spielzeugboot, geflochten aus Grashalmen, trieb immer weiter hinaus auf den See, dessen Oberfläche sich im Regen kräuselte.

Als triebe es dem Ende der Welt entgegen …

Yun Tianming saß am Ufer, warf geistesabwesend einen Kieselstein nach dem anderen ins Wasser und sah dabei zu, wie sich die Wellenmuster auf dem Wasser ausbreiteten. An seiner Seite saß eine bildhübsche Frau, die ihn mit ihren großen schönen Augen still betrachtete. Das zarte Kitzeln ihres langen Haars, das ihm der Wind ins Gesicht wehte, weckte sein Begehren.

Für einen flüchtigen Moment verwirrte sich ihm das Gefühl für Raum und Zeit, und er glaubte sich zurückversetzt in sein erstes Studienjahr, als er am Rand von Peking auf einem Ausflug einen glücklichen Nachmittag mit Cheng Xin verbracht hatte. Doch der hellgelbe See, das blaue Gras und die bunten Steine – alles vor seinen Augen erinnerte ihn daran, dass er sich in einer anderen Welt befand, beinahe sieben Jahrhunderte später auf einem Planeten, der fast dreihundert Lichtjahre entfernt war.

Und mit einer anderen Frau.

Feiner Regen, schräg im Wind. Wozu nach Hause kehren? Aus irgendeinem Grund kam ihm auf einmal dieser alte Vers in den Sinn. Seine Eltern, die so großen Wert auf klassische Bildung gelegt hatten, hatten ihn genötigt, das Gedicht auswendig zu lernen. Heute nun konnte er tatsächlich nicht mehr »nach Hause kehren«. Jede Hoffnung auf Heimkehr war ihm genommen; ihm blieb nichts, als auf diesem fremden Planeten dem kalten Wind und Regen zu trotzen.

Was hast du denn geglaubt?, verspottete er sich selbst. Dass du hier wieder mit deiner Cheng Xin am See sitzt und Papierschiffchen faltest? Träum weiter! Die Hoffnung, er könnte nach siebenhundert Jahren mit der Frau, die er liebte, wiedervereint sein, war absurd. Nüchtern betrachtet bedeutete schon die Tatsache, dass in diesem Moment hier neben ihm eine weibliche Angehörige seiner Spezies saß, ein ungeheures Glück.

Doch ein so viel größeres Glück war für ihn zum Greifen nahe gewesen. Wäre er nur wenige Stunden, nein, wenige Minuten früher hier eingetroffen, so hätte er nun mit der Frau, die er in den siebenhundert Jahren ihrer Trennung so innig herbeigesehnt hatte, für immer am Ufer dieses Sees zusammenleben können. Die Frau dagegen, die jetzt an seiner Seite saß, wäre nichts als die beste Freundin seiner Ehefrau geblieben, verheiratet mit einem anderen.

Selbst jetzt trennte ihn von der Frau seiner Träume keine allzu große Entfernung – es mochten höchstens tausend Kilometer sein. In sternklaren Nächten konnte er sogar sehen, wie ihr Raumschiff gemächlich den Planeten umkreiste. Und doch war sie für ihn in unerreichbar weite Ferne gerückt.

Einst hatte er ihr einen Stern geschenkt. Doch nun, da sich die Totenlinien so plötzlich ausgedehnt hatten, konnte sie unmöglich noch auf dieser Welt landen. Sie selbst war nun sein Stern geworden.

Mit einem bitteren Lächeln blickte er gewohnheitsmäßig zum Himmel empor, doch heute konnte er nichts als Regenwolken erkennen. Und dennoch wusste er, dass sie dort oben war – vielleicht glitt sie genau in diesem Moment über seinen Kopf hinweg …

Ein zarter Arm schlang sich um seinen Nacken, und ein weicher Körper schmiegte sich an ihn, während ihm eine silberhelle Stimme ins Ohr hauchte: »Na, denkst du wieder an sie?«

Statt einer Antwort streichelte er nur ihr schönes Haar. Er wusste, dass in diesem Moment kein Wort der Welt etwas ausgerichtet hätte – dafür war die Frau an seiner Seite viel zu schlau.

»Ich habe dir doch gesagt, du darfst ruhig an sie denken«, raunte Ai AA ihm ins Ohr. »Nur wenn ich bei dir bin, darfst du das auf keinen Fall tun, sonst … bestrafe ich dich!« Sie biss ihm ins Ohrläppchen.

»Aua, das tut weh!«

Sie brach in schelmisches Gelächter aus, ehe sie ihm jene Frage stellte, die zu allen Zeiten und in allen Galaxien unzählige intelligente weibliche Wesen gleich welcher Spezies gestellt haben: »Wen liebst du mehr: mich oder sie?«

»Dich natürlich!«, antwortete Tianming, ohne zu überlegen. Ganz egal, ob es nun die Wahrheit war oder nicht, ihm war diese Antwort nach zahllosen schmerzlichen Lektionen zum Reflex geworden.

»Und was an mir liebst du mehr?« Der Dialog nahm seinen üblichen schablonenhaften Verlauf.

»Na, alles …«, antwortete er geistesabwesend, während er im Stillen seufzte. Diese Frauen mochten durch noch so viele Jahrhunderte tiefer Freundschaft miteinander verbunden sein und noch so viele welterschütternde Katastrophen überlebt haben, im Angesicht eines Mannes versuchten sie trotzdem einander auszustechen, und auch wenn solch ein Wettstreit nur imaginär war, verschaffte ihnen ein Sieg darin doch nicht weniger Befriedigung.

Ob Cheng Xin genauso eifersüchtig wäre?

»Pah, das glaube ich dir nicht!«, zischte Ai AA sogleich und biss ihm zur Strafe in die nackte Schulter – doch diesmal so kräftig, dass er vor Schmerz aufheulte und sie wegstieß, während eine Flut von Bildern aus den Tiefen seiner Erinnerung auf ihn einstürzte und sich so schwer auf ihn legte, dass er nach Atem rang und keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Gequält vergrub er seinen Kopf in den Armen.

»Ich hab doch nur Spaß gemacht, was regst du dich denn so auf! Du bist echt kleinkariert!« AA zog einen Schmollmund und stampfte mit dem Fuß auf. Doch bald merkte sie, dass mit Tianming wirklich etwas nicht stimmte: Sein Gesicht war totenblass, und er zitterte am ganzen Körper, als wäre er von ungeheuren Ängsten und Wahnvorstellungen gepeinigt.

»Tianming? Was ist denn mit dir los?«, fragte Ai AA verunsichert. Verstört und verängstigt, unter heftigem Keuchen, starrte er sie an. Endlich stieß er hervor: »Bist … bist du echt?«

»Was redest du denn da?« Ai AA war tief erschrocken. Sie wollte zu ihm stürzen und ihn in die Arme schließen, doch er wich zurück und duckte sich, während er argwöhnisch jeden ihrer Schritte verfolgte. »Bist du ein echter Mensch oder nur eine Sinnestäuschung? Ist diese ganze Welt vielleicht nur ein Trick meines Gehirns?«

Nun erst erfasste Ai AA den ganzen Ernst der Lage. Sie schöpfte tief Luft und betonte jedes Wort, als sie ihm antwortete: »Ich bin echt. Tianming, sieh mich an: Ich stehe hier vor dir, und jedes Stückchen Haut von mir und jedes Haar sind echt … und diese Welt ist genauso echt. Tianming, das hier … das ist unsere Welt!«

»Unsere … Welt?«, fragte er ungläubig.

»Ja! Erinnerst du dich nicht mehr an den Tag, als wir hier standen und auf Cheng Xin und Guan Yifan warteten? Wir haben dabei zugesehen, wie ihr Raumschiff in den Orbit von Planet Blau eintrat. Du hast gelacht wie ein Kind, hast meine Hand gar nicht mehr losgelassen und mir vorgeschwärmt, was für eine freudige Überraschung du Cheng Xin bereiten und wie du mit ihr dieses fantastische Miniuniversum betreten würdest, das du selbst noch nicht gesehen hattest. Aber dann haben sich auf einmal die Totenlinien ausgeweitet, und der Himmel hat sich verdüstert. Es gab keine Sonne mehr und keine Sterne. Als du endlich begriffen hast, was passiert war, standst du wie betäubt da. Du hast nicht geheult oder geschrien, du standst einfach nur da wie ein Zombie. Erst als ich dich so abgrundtief verzweifelt sah, habe ich verstanden, wie sehr du Cheng Xin geliebt hast.«

»Ich erinnere mich«, murmelte Tianming, doch seiner Miene nach zu urteilen war er in Gedanken immer noch weit weg.

»Drei geschlagene Tage und Nächte lang hast du weder gegessen noch getrunken und kaum ein Auge zugetan. Ich habe dir in einem fort gut zugeredet: ›Sie sind nicht tot, sie leben bloß in einem anderen zeitlichen Bezugssystem. Vielleicht werdet ihr euch eines Tages sogar wiedersehen.‹ Aber du schienst mich gar nicht zu hören. In der dritten Nacht dann hast du endlich geweint. Erst hast du bloß stumm ein paar Tränen vergossen, dann geschluchzt und schließlich lauthals geheult. Und da … da habe ich dich einfach in die Arme genommen, und du hast deinen Kopf an meiner Brust vergraben. Schließlich hast du zu mir gesagt: ›Es gibt jetzt nur noch uns beide auf diesem Planeten! Nur uns beide!‹ Weißt du noch, was ich darauf zu dir gesagt habe?«

»Du hast gesagt: ›Von nun an bist du mein Adam, und ich bin deine Eva.‹« Er schloss die Augen, in die Erinnerung versunken.

»Ich weiß auch nicht, was mich damals dazu getrieben hat, dir so etwas zu sagen.« Sie biss sich auf die Lippe und errötete. »Jedenfalls … sind wir so ein Paar geworden. Wir hatten die Verzweiflung noch nicht hinter uns gelassen, und trotzdem haben wir an dem Tag alles beiseitegeschoben, und dabei … waren wir richtig glücklich. Am nächsten Tag hast du zu mir gesagt: ›Das ist jetzt unsere Welt.‹ Weißt du noch?«

Ohne dass es ihm selbst bewusst geworden wäre, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Ja, ich weiß.«

»Dann sag mir: Was könnte realer sein?«

Mit einem aufmunternden Lächeln machte sie einen Schritt auf ihn zu, und diesmal wich er nicht vor ihr zurück. Sie ergriff seine Hände, ehe sie die Arme um ihn schlang. Das Ohr an seiner Brust, lauschte sie dem Pochen seines Herzens. Noch immer verstört betrachtete er sie und ließ ihre Umarmung über sich ergehen, doch dabei wurde sein Blick allmählich sanfter. Und als sie seine Wange mit zärtlichen Küssen bedeckte, erwiderte er endlich, zögernd zuerst, ihre Umarmung und dann auch ihre Küsse, was sie zu einer noch glühenderen Erwiderung veranlasste …

So wurde ihm der denkbar primitivste und greifbarste Realitätsbeweis zuteil.

Der Regen war schon vor einer Weile versiegt, und das blaue Gras wiegte sich im Wind. Die Abendsonne brach durch die Wolken und fasste die azurblauen Hügel in strahlendes Gold ein.

Und dann geschah etwas, das auf der Erde undenkbar gewesen wäre: In den Wäldern erwachten die blauen Bäume und Sträucher zum Leben, reckten die Glieder und kehrten ihre Abertausende von Blättern der untergehenden Sonne zu, um ihre Energie in sich aufzusaugen. Im Kampf um den letzten Lichtstrahl stritten manche Blätter und Zweige sogar miteinander und versuchten sich unter leisem Rascheln und Scharren beiseite zu drängen. Amphibische Insekten, die an Libellen erinnerten, erhoben sich aus dem Wasser und tänzelten in der Luft. Dabei breiteten sie ihre vier zarten, transparenten Flügel aus, um die Nährstoffe in sich aufzunehmen, die die blauen Gräser abgegeben hatten, und stießen ihre dünnen Balzschreie aus. Davon angelockt, erwiderten die Weibchen die Schreie, ehe sich die Tiere zu ihren komplizierten Paarungstänzen zusammenfanden und das heilige Ritual der Fortpflanzung vollzogen … All diese vielen kleinen Geräusche vereinten sich auf Planet Blau zu einem einzigartigen Chor des Lebens.

Im Herzen dieser neuen Schwarzen Domäne nahm das Leben seinen Lauf wie eh und je – ungeachtet der beiden einsamen Eindringlinge von weither, die sich so innig umschlungen hielten und für immer auf diesem Flecken Erde bleiben würden. Doch für diesen Planeten, der seit Jahrmilliarden existierte und noch in Jahrmilliarden existieren würde, wären sie in einem Wimpernschlag schon wieder vergangen, ohne eine Spur hinterlassen zu haben, wie die feinen Kräuselungen auf dem See.

»Für mich«, sagte Tianming leise, während er die untergehende Sonne betrachtete, »gleicht die ganze Welt einem Traum. Ai AA, sei mir nicht böse, dass ich mich eben so danebenbenommen habe. Selbst jetzt weiß ich nicht, ob ich wirklich schon wach bin. Ich kann nicht mehr unterscheiden, wann ein Traum beginnt oder aufhört. All das erscheint mir so … endlos.«

»Endlos? Wie meinst du das?«, fragte Ai AA verständnislos.

»Wie alt bist du jetzt?«, fragte Tianming zurück.

»Keine Ahnung«, antwortete sie leichthin. »Über vierhundert, glaube ich.«

»Und wenn du die Jahre im Kälteschlaf abziehst?«

»Zwanzig … oder dreißig? … Ach nee, ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern. Was musst du eine Frau auch nach ihrem Alter fragen?« Sie zog einen Schmollmund.

»Ja, ohne den Kälteschlaf bist du erst Anfang dreißig. An den Maßstäben des Zeitalters der Abschreckung gemessen, bist du noch sehr jung. Aber weißt du auch, wie lange ich schon auf der Welt bin?«

»Gut siebenhundert Jahre, oder? Aber ohne den Kälteschlaf solltest du nicht viel älter sein als ich.«

»Nein.« Auf einmal schienen seine Augen uralt. »Geistig bin ich mindestens ein paar Tausend Jahre alt, vielleicht sogar Zehntausende.«

Ai AA verstand ihn nicht, bemühte sich aber, ihm aufmerksam zuzuhören.

Mit einem bitteren Lächeln fuhr er fort: »Du kannst das nicht verstehen, oder? Der Unterschied zwischen uns ist: Ich habe den Großteil meines Lebens in Träumen verbracht – Tausende, vielleicht Zehntausende von Jahren …

Vom ersten Jahr des Zeitalters der Krise an, von dem Moment an, in dem ich – nein, mein Gehirn – gefroren war, habe ich geträumt. Endlose Träume haben mich umfangen, während ich durch das dunkle All getrieben bin. Natürlich waren die meisten von ihnen nur nachträgliche Einbildungen, denn ein Gehirn nahe am absoluten Nullpunkt kann unmöglich noch Träume hervorbringen … Und als mich dann die Trisolarier gefangen genommen haben, machten sie von den Träumen als ihrer mächtigsten Waffe Gebrauch – um mich zu stimulieren und zu erforschen und … um mich zu benutzen.«

Seine Stimme war so ruhig geblieben, als spräche er von etwas ganz Alltäglichem. Dennoch erschauderte AA bei dem Wort »benutzen«, denn sie ahnte, was für unermessliche, grauenvolle Leiden und Schmerzen sich dahinter verbergen mussten.

Seit der Ausweitung der Totenlinien lebten sie beide nun schon ein Jahr gemeinsam auf Planet Blau. Sie waren aufeinander angewiesen, und ihre Bedrängnis hatte sie zusammengeschweißt. Mehr als einmal hatte Tianming unter solchen Ausbrüchen von Wahnvorstellungen gelitten, doch nie hatte er AA über die Hintergründe aufgeklärt, und sie hatte ihn auch nie danach gefragt. Sie hatte nur vage gemutmaßt, dass seine Probleme mit seinen Erlebnissen bei den Trisolariern zusammenhingen.

Tianming war der größte Spion in der Geschichte der Menschheit gewesen, so viel wusste AA. In Form eines isolierten Gehirns hatte er sich bei einer fremden Spezies eingeschleust und der Menschheit Informationen von unschätzbarem Wert übermittelt. Doch dafür hatte er gewiss einen hohen Preis gezahlt. Sie glaubte sich vorstellen zu können, was für blutige, grausame Qualen er bei den Trisolariern zu überstehen gehabt hatte. Sie sehnte sich danach, die ganze Wahrheit zu erfahren und den Schmerz und die Beklemmung, die er durchlitten hatte, mit ihm zu teilen, um ihn zu trösten, doch sie wagte nicht, ihn danach zu fragen, aus Furcht, an alte Wunden zu rühren. Manchmal zweifelte sie sogar daran, ob die zarten Liebesbande, die sie mit ihm geknüpft hatte, seinen Schmerz jemals heilen könnten.

Deshalb durchströmte sie nun, da Tianming ihr endlich von diesen Dingen erzählte, ein bittersüßes Glücksgefühl.

Doch was sie von ihm hören sollte, überstieg alles, was sie sich ausgemalt hatte.

»Gerade eben sind mir unwillkürlich diese Albträume in den Sinn gekommen.« Er spielte mit den Kieselsteinen zu seinen Füßen. »In vielen der Träume, die die Trisolarier erzeugten, war ich wieder als Student auf dem Ausflug von damals, saß mit Cheng Xin zusammen und unterhielt mich vertraulich mit ihr. Dann schloss sie mich in die Arme und küsste mich, und ich schwelgte in tiefster Seligkeit … Aber mit einem Schlag mutierte sie zu einem grauenhaften Monster, ihre Haut verwandelte sich in einen Schuppenpanzer, ihre Zähne in Hauer, mit denen sie sich in meiner Kehle verbiss und mich in einen bodenlosen See hinabriss, wo ich, von kaltem Grauen gepackt, ertrank …«

»Das ist ja entsetzlich!«, rief AA aus.

»Entsetzlich?« Er lachte bitter auf. »Von dem, was wirklich entsetzlich war, habe ich noch gar nicht erzählt. Viele Leute haben noch schrecklichere Albträume gehabt, aber das Besondere an meinen Träumen war, dass sie so ungeheuer echt wirkten. Ich erinnere mich noch immer klar und deutlich daran, wie das Monster seine Hauer in mein Fleisch schlug und wie mich seine riesigen Facettenaugen mit ihrem Blick durchbohrten. Der Schmerz und das Gefühl des Erstickens waren vollkommen real. Aber das Entsetzlichste war: Diese Träume wollten einfach nicht enden. Ich sank in den See und bekam keine Luft mehr, aber ich erwachte nicht und fiel auch nicht in Ohnmacht, und gestorben bin ich erst recht nicht. Es war, als hätte die Zeit in diesem Moment stillgestanden, und meine Qual dehnte sich ins Unendliche.

Dabei war ich manchmal bei klarem Verstand und manchmal nicht. Es gab Momente, da wusste ich, dass all das nur ein Traum war, aber im nächsten Moment war dieses Bewusstsein schon wieder verblasst, und ich glaubte wirklich, ich würde von einem Ungeheuer verschlungen werden …«

Er murmelte nur noch vor sich hin, als spräche er im Schlaf. »In solchen Momenten klammerte ich mich an das Bild, das ich von Cheng Xin in mir trug. Ich stellte mir vor, wie sie inmitten einer Schar von Engeln wie Dantes Beatrice in den Wolken erschien, von Blumen bekränzt und wie in Flammen gekleidet, und wie ihr reiner Glanz den finsteren See erhellte und mir einen Hoffnungsstrahl brachte. ›Cheng Xin ist kein Monster‹, sagte ich mir. ›Unmöglich. Sie ist eine Göttin, die mich erretten wird. Ich lasse mich nicht täuschen. All das ist nur ein teuflischer Trick …‹ Aber die Welt ist kein Märchen, in dem man den Namen einer Fee nur aussprechen muss, und schon kommt sie herbei, um einen zu retten. An Cheng Xin zu denken und mich an diesen Strohhalm der Hoffnung zu klammern linderte meine Qualen nicht, im Gegenteil: Es steigerte sie nur noch.«

»Schon gut.« Sie strich ihm zärtlich über den Stoppelbart. »Ich verstehe dich ja. Vergiss diese Albträume einfach. Das waren bloß Träume, und jetzt sind sie vorbei.«

»Nein, du kapierst überhaupt nichts!«, fuhr Tianming auf und schüttelte ihre Hand ab. »Das waren keine Träume im normalen Sinne! Wann begreifst du das endlich? Die Trisolarier haben mein Gehirn mit elektrischen Impulsen gefüttert, die für mich genauso real waren, wie ich dich jetzt sehe oder berühre – in der Intensität der Wahrnehmung gab es keinen Unterschied. Sie haben alle möglichen Albträume in meinem Kopf zur Realität werden lassen, indem sie sich meine biologischen Mechanismen zunutze gemacht haben. Ich war dagegen völlig wehrlos. Ich habe nicht mit der Realität einem Trugbild getrotzt, im Gegenteil: Ich habe Trugbilder erzeugt, um mich gegen die Wirklichkeit zu wehren, und das war ein Krieg, den ich unmöglich gewinnen konnte.

Glaubst du wirklich, es hätte mir irgendwie geholfen, Cheng Xins Bild heraufzubeschwören? In der nächsten Sekunde ließen meine Peiniger sie manchmal wirklich vor mir erscheinen und mich glauben, das Wunder wäre eingetreten und ich gerettet – nur um mich danach in eine Hölle zu stürzen, die noch tausendmal grauenhafter war als die, von der ich dir eben erzählt habe.

In einem Traum lebte ich zehn Jahre mit Cheng Xin zusammen. Wir hatten sogar eine süße kleine Tochter. Aber das friedliche Glück dieser zehn Jahre bildete nur das Vorspiel für das Grauen, das dann folgte: Eine entsetzliche Hungersnot brach aus, und wir alle waren bis aufs Skelett abgemagert und mehr tot als lebendig. Da tischte mir Cheng Xin auf einmal einen Topf Fleischsuppe auf. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Wo in aller Welt hatte sie nur mitten in der Hungerkatastrophe eine solche Suppe hergezaubert? In einer Ecke der Küche stieß ich auf einen Streifen Haut und lauter Haarbüschel, und mich packte das Grauen. Da fischte Cheng Xin einen matschig gekochten menschlichen Kopf aus dem Topf und zeigte ihn mir, und mir dämmerte, dass dies der Schädel meiner Tochter war. Cheng Xin lachte mich nur an und sagte: ›Lang nur tüchtig zu, das wird dich stärken!‹«

»Mein Gott!« Von Übelkeit überwältigt, packte AA Tianmings Arm. Die Existenz solch grauenhafter Albträume überstieg ihr Vorstellungsvermögen.

Doch Tianming fuhr unerbittlich fort: »Das Entsetzlichste daran war: Einerseits fühlte ich ein ungeheures Maß an Ekel, Trauer und Grauen, andererseits war ich so sehr vom Hunger beherrscht, dass ich keine Kontrolle mehr über mich besaß und wirklich meine eigene Tochter aufaß, bis ich befriedigt rülpste. Ich hatte sogar noch Sex mit Cheng Xin neben dem Schädel unserer Tochter, bevor ich erschöpft einschlief …

Als ich wieder erwachte, hatte Cheng Xin mich gefesselt. ›Um zu überleben, muss ich dich essen‹, sagte sie, und dann musste ich mit ansehen, wie sie mir das Fleisch vom Arm nagte, bis nur noch der nackte Knochen übrig blieb …«

»Nun hör schon auf, ich bitte dich!«, schrie Ai AA, die es nicht länger ertrug. Die Hände auf den Bauch gedrückt, wandte sie sich ab, würgte und spuckte Magensäure.

»Aber warum?«, fragte sie, als sie sich wieder gefasst hatte. »Warum haben die Trisolarier dich mit solchen grotesken Albträumen gequält?«

»Um uns Menschen besser zu verstehen«, antwortete Tianming. »Überleg mal: Das liegt eigentlich auf der Hand. Mithilfe der Sophonen konnten die Trisolarier zwar alles beobachten, was auf der Erde geschah, aber um heftige emotionale und körperliche Reaktionen zu studieren, mussten sie solche Tests durchführen. Für die Trisolarier wäre so eine Episode, wie ich sie dir gerade erzählt habe, keine große Tragödie gewesen, schließlich folgten sie einer völlig anderen Moral als wir und verspeisten oft andere dehydrierte Trisolarier. Deshalb war ihnen unser Abscheu vor Kannibalismus völlig fremd. Aber ich habe noch viel widerlichere Dinge erlebt, zum Beispiel …«

»Spar dir diese unschönen Geschichten lieber für später auf«, fiel ihm AA ins Wort. Sie verstand nun, warum er nie von seinen Erlebnissen erzählt hatte. »Jedenfalls musst du dir eines immer vor Augen halten: Du hast diese Prüfung bestanden. Du hast das Vertrauen und den Respekt der Trisolarier errungen und konntest sie so infiltrieren. All die Opfer, die du gebracht hast, waren nicht umsonst.«

Er fixierte sie und verzog den Mund zu einem Grinsen. »Ja, meine Opfer waren in der Tat nicht umsonst: Sie haben die Erde und die Menschheit in den Untergang geführt.«

Sie starrte ihn entgeistert an. Er schöpfte tief Luft, ehe er das Geheimnis aussprach, das er so lange gehütet hatte. »Verstehst du es denn immer noch nicht? Der einzige Grund, warum ich das Vertrauen der Trisolarier erringen und sie infiltrieren konnte, war, dass ich mich in ihren Dienst gestellt habe. Die Tropfenattacke, die das Zeitalter der Abschreckung beendete, war zum Großteil mein Werk.«

Wenn man ein einzelnes Individuum als Schuldigen dafür hätte benennen müssen, dass die Wiege der Menschheit zerstört worden war, so wäre es nicht Cheng Xin gewesen und auch nicht Yun Tianming, sondern Thomas Wade, der sich mit Haut und Haar der Mission verschrieben hatte, die menschliche Spezies mit Gewalt zu retten. Vor über sechshundert Jahren hatte er deshalb jene verhängnisvollen Worte ausgesprochen, die letztlich das Schicksal beider Spezies entscheiden sollten:

»Wir schicken nur ein Gehirn.«

Dieser geniale Plan verlieh dem Treppenplan, den man eigentlich schon abgeschrieben hatte, neuen Schwung und gab den Trisolariern das kostbare Musterstück eines menschlichen Gehirns in die Hand. Auch wenn die Sophonen imstande waren, das menschliche Gehirn bis ins letzte Detail zu observieren, reichte eine solche bloße Beobachtung nicht aus, um die konkreten kognitiven Mechanismen zu verstehen. Überdies hatten die irdischen Regierungen nach Bill Hines’ mentalem Sabotageakt die latenten Gefahren der Hirnforschung erkannt und ihren Umfang streng reglementiert: Eine tiefergehende Erforschung der kausalen Zusammenhänge zwischen den neuronalen bioelektrischen Impulsen und dem Denken war seitdem verboten, um die Trisolarier nicht mit den Erkenntnissen einer solchen Forschung in die Lage zu versetzen, mithilfe von intensivem neuroelektrischem Monitoring menschliche Gedanken zu lesen.

Und so stellte das menschliche Denken über zweihundert Jahre später für die Trisolarier noch immer eine Blackbox dar. Umso mehr brannten sie darauf, Experimente an einem lebenden Menschen durchzuführen – nicht etwa aus wissenschaftlicher Neugier, sondern aus einem höchst praktischen Interesse an strategischer Täuschung.

Zwar sahen die Trisolarier während des gesamten Zeitalters der Krise keine strategische Notwendigkeit, die Menschheit zu täuschen – genauso wenig, wie die Menschen auf die Idee verfallen wären, einem Haufen Ungeziefer statt mit einem Schädlingsbekämpfungsmittel mit Lügen zu begegnen. Doch nachdem die Trisolarier das Gesetz des Dunklen Waldes entdeckt hatten, das den Kosmos beherrschte, flößte ihnen der gesamte Rest des Universums Angst ein. Denn nun wussten sie, dass in seinen Weiten ungezählte Jäger lauerten und dass die Nachrichten, die sie mit der Erde getauscht hatten, womöglich auch von fremden Spezies abgehört worden waren, die nun ihre eigene Existenz bedrohten. Strategische Täuschung war deshalb eine wichtige Waffe zur Verteidigung, die sie dringend in Betracht ziehen mussten. Doch um diese Waffe handhaben zu können, mussten sie erst die einzige ihnen bekannte Spezies verstehen, die über diese Fähigkeit verfügte: den Menschen.

In der trisolarischen Gesellschaft etablierte sich deshalb schon bald, nachdem Evans dieses Geheimnis des menschlichen Geists offenbart hatte, die komplexe Disziplin der Täuschungslehre. Anfangs hofften die Trisolarier noch, sie könnten sich binnen Kurzem diese einzigartige menschliche Fähigkeit aneignen, doch diese Hoffnung zerschlug sich schnell. Wie die trisolarischen Wissenschaftler aufzeigten, war das Prinzip der Täuschung theoretisch leicht zu verstehen: Man verschaffte sich einen Vorteil, indem man sein Gegenüber dazu brachte, eine vorsätzlich gemachte Falschaussage zu glauben. Doch bald zeigte sich auch, worin die Schwierigkeit lag: Weil den Trisolariern der natürliche Instinkt zum Lügen fehlte, waren sie außerstande, dieses simple Prinzip in die Praxis umzusetzen. Ihnen erging es so ähnlich wie den menschlichen Wissenschaftlern, die zwar in der Theorie die mathematischen Prinzipien eines vierdimensionalen Raums beschreiben konnten, aber nicht in der Lage waren, sich auch nur die einfachsten vierdimensionalen Figuren vorzustellen.

Zwar waren auch die Trisolarier nicht vor Fehlern gefeit, doch weil ihre Sprache aus direkt ausgesendeten elektronischen Gedankenimpulsen bestand, konnten sie etwas, das sie als richtig erkannt hatten, unmöglich für falsch ausgeben. Wenn ein Trisolarier von der Falschheit einer Aussage überzeugt war, übermittelte er dies durch die ausgesendete Hirnaktivität automatisch an sein Gegenüber. Unter besonderen Umständen wie denen einer Fernkommunikation wäre es zwar technisch machbar gewesen, Signale einer falschen Hirnaktivität zu erzeugen, doch der Instinkt der Trisolarier, der sich im Laufe einer langen Evolution von einer primitiven Lebensform zu einer hochintelligenten Spezies tief in ihnen verwurzelt hatte, hielt sie von einem solchen Schritt ab.

Ursprünglich hatten sie gehofft, sie könnten sich die Fähigkeit zur Täuschung aneignen, indem sie einschlägige Musterbeispiele der menschlichen Geschichte und theoretische Werke aus Politik und Militärstrategie, Handel und Spieltheorie studierten. Doch bald dämmerte ihnen, dass sie die menschliche Geschichte nicht verstanden, und mit den tiefgründigen theoretischen Werken dazu erging es ihnen auch nicht besser – ähnlich wie den meisten Menschen auf der Erde.

Also richteten sie den Blick notgedrungen auf die Werke der schöngeistigen Literatur, die ihnen vergleichsweise zugänglich erschien. Populäre Schmöker über List und Trug waren eine Zeit lang Pflichtlektüre für trisolarische Wissenschaftler und Politiker. Werke wie Der Graf von Monte Christo, Die Abenteuer des Sherlock Holmes oder Die Drei Reiche wurden zu Bestsellern, doch die Trisolarier waren noch immer außerstande, den Inhalt wirklich zu begreifen. Bücher, die man auf der Erde zur Zerstreuung las, erschienen ihnen so rätselhaft und verworren wie Hieroglyphen. Selbst nach jahrelangen Studien konnten die klügsten Köpfe unter den Trisolariern allenfalls Täuschungsmanöver verstehen, die so simpel gestrickt waren wie in Rotkäppchen und anderen Kindermärchen. Für den interstellaren Krieg waren derart primitive Techniken naturgemäß wertlos.

Nach jahrzehntelangen fruchtlosen Bemühungen mussten die Trisolarier den vermessenen Plan, ihre eigene Natur zu ändern, fallen lassen. Stattdessen versuchten sie nun, mithilfe von Computersimulationen potenzielle Formen strategischer Täuschung zu ermitteln. Doch die Fähigkeiten der Computer waren nur ein vergrößertes Spiegelbild der Fähigkeiten ihrer Schöpfer. Um einen Computer mit einem besonderen Können auszustatten, hätte man erst die entsprechende Software entwickeln müssen, und dies wiederum hätte ein profundes Verständnis der zugrunde liegenden Prinzipien erfordert. Solange den Menschen kein Weg einfiel, um die Goldbach’sche Vermutung zu beweisen, konnten auch ihre Computer unmöglich einen solchen Beweis errechnen. Entsprechend verstanden auch die trisolarischen Computer zwangsläufig so wenig von Täuschung wie die Trisolarier selbst.

Nach langjähriger intensiver Forschungsarbeit und wiederholten Tests mehrerer Generationen der brillantesten trisolarischen Wissenschaftler, gestützt auf einen gewaltigen Dateninput, der der Informationsmenge gleichkam, die in sämtlichen menschlichen Bibliotheken gespeichert war, hatten die trisolarischen Computer endlich die Fähigkeit zur Täuschung auf dem Niveau eines durchschnittlichen zwölfjährigen menschlichen Kindes erworben. Allerdings war diese Fähigkeit auf Lebenswelten beschränkt, die den Menschen vertraut waren (weil sämtliche Szenarien zum Training der Computer aus solchen Lebenswelten stammten). Entsprechend gering war ihr Nutzen für die trisolarische Zivilisation und deren potenzielle Konflikte mit anderen Zivilisationen. Tatsächlich waren die Computer, auf denen diese Täuschungssoftware installiert war, kaum imstande, eine vernünftige Konversation zu führen, und hätten nicht einmal einen simplen Turing-Test bestanden.

Nachdem sie so viele Jahre auf Irrwegen vergeudet hatten, kamen die Trisolarier endlich zu dem Schluss, dass sie, um ein praktikables strategisches Täuschungsmanöver inszenieren zu können, erst einmal an ein lebendes menschliches Individuum gelangen mussten, das sie studieren konnten. Solange die trisolarische Flotte die Erde noch nicht erobert hatte, war das für sie einzig zugängliche Exemplar der menschlichen Spezies das Gehirn von Yun Tianming, das bereits das Sonnensystem verlassen hatte. Deshalb beschloss die trisolarische Flotte gegen Ende des Zeitalters der Krise, einen Raumkreuzer zu entsenden, nur um den Flugkörper mit dem Gehirn abzufangen.

Tragischerweise vermutete die Menschheit hinter diesem Raumkreuzer eine trisolarische Gesandtschaft, die Friedensverhandlungen führen sollte – eine Fehleinschätzung, die indirekt die Vernichtung der gesamten irdischen Flotte heraufbeschwor. Damit wurde ausgerechnet eine »strategische Täuschung«, die von den Trisolariern gar nicht beabsichtigt gewesen war, zu einem überwältigenden Erfolg.

Erst nachdem Luo Ji eine strategische Abschreckung aufgebaut hatte, gelang es der trisolarischen Flotte endlich, in den Besitz von Yun Tianmings Gehirn zu kommen. Doch inzwischen hatte sich die Lage grundlegend gewandelt, und zwischen Erde und Trisolaris herrschte nun ein labiles Kräftegleichgewicht. Nach der langjährigen Blockade durch die Sophonen entwickelten sich Wissenschaft und Technik auf der Erde sprunghaft, während der Vorsprung der Trisolarier zusehends dahinschmolz.

Sie hatten bei der strategischen Täuschung nun nicht mehr irgendwelche unbekannten Spezies im Weltall im Visier, sondern die Menschheit. Zwar gab es auf der Erde noch genügend geistige Nachfahren der Erde-Trisolaris-Organisation, die bereitwillig für die außerirdischen Invasoren intrigiert hätten, doch die Trisolarier wollten sich nicht vor den Augen der Menschen auf irgendwelche arglistigen Manöver einlassen und so eine Botschaft ins All riskieren. Umso größer war die Bedeutung, die sie Yun Tianming beimaßen.

Sie benötigten beinahe zehn Erdenjahre, um die Grundstruktur seines Gehirns zu entschlüsseln. In Anbetracht der Tatsache, dass die Trisolarier weit effektiver arbeiteten als die Menschen, entsprach ihr Fortschritt der Arbeit eines Jahrhunderts auf der Erde. Sie konstruierten einen simulierten Körper für das Gehirn, damit es sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken konnte, und dann erforschten sie, auf welche Weise es diese sensorischen Signale verarbeitete. Danach versuchten sie, die Informationen, die in Tianmings Erinnerungen gespeichert waren, zu entschlüsseln – ein Unterfangen, das sich als nicht sonderlich schwierig erwies. Die Trisolarier mussten nur im rechten Moment Tianmings Sprachzentrum stimulieren, und schon gab er unwillkürlich preis, was er sah, hörte, dachte und so weiter. Obwohl sie seine Gedanken noch immer nicht direkt lesen konnten, waren sie doch dank fortwährender Tests mit unterschiedlichen Stimuli bald in der Lage, sein Gehirn mit jeder erdenklichen Information zu füttern, um dann seine Reaktion im Spiegel seiner eigenen Worte zu studieren.

Anfangs gingen die Trisolarier bei ihren Experimenten sehr behutsam zu Werke. Sie fütterten Tianming sogar mit vielen schönen, anheimelnden Bildern, die ihn glauben ließen, er habe während seines Flugs durchs All geträumt. Doch in dem Maße, in dem die Trisolarier ein immer gründlicheres Verständnis seines Gehirns gewannen, wurden ihre Experimente immer grausamer. Dutzende Male brachten sie ihn an den Rand des geistigen Zusammenbruchs, aber sie wussten genug über ihn, um stets einen Schritt vor dem Abgrund innezuhalten und ihn mit Beruhigungsmitteln so weit zu stabilisieren, dass er sich wieder erholen konnte.

So präzise sie mit der Zeit auch Tianmings Bewusstsein zu erfassen vermochten, mussten sie zu ihrer Enttäuschung erkennen, dass sich ihre Forschungsergebnisse angesichts der Tatsache, dass jedes menschliche Individuum über seine eigenen neuronalen Strukturen verfügte, die sich nur auf einer sehr elementaren Ebene auf andere Menschen übertragen ließen. Die neuronalen Strukturen und Muster für höheres Denken, die sie entschlüsselt hatten, zeichneten allein Tianming und niemanden sonst aus. Damit erwies sich der trisolarische Traum, die Gedanken aller Menschen lesen zu können, als illusorisch.

Die Individualität des Erlebens und Erinnerns sorgte dafür, dass das menschliche Denken eine Blackbox blieb. Hätten die Trisolarier eine Unzahl menschlicher Testpersonen zur Verfügung gehabt, so hätten sie womöglich auch diese Blackbox geknackt. Doch sie hatten nur Yun Tianming.

Dennoch brachten sie schon mit diesem einen Gehirn erstaunlich viel zustande.

Sieben Jahre, nachdem sie in den Besitz von Tianmings Gehirn gelangt waren, hatten sie ein erstes digitales Modell davon erstellt. Dieses Modell enthielt sämtliche Daten seines Geists auf molekularer Ebene und ließ sich dazu verwenden, seine grundlegenden Gedanken zu simulieren. Die Trisolarier löschten alle »nutzlosen« menschlichen Gefühlsregungen und Zugehörigkeitsgefühle aus diesem digitalen Gehirn und fütterten es danach mit einer Flut von Daten aus ihrer eigenen Welt, in der Hoffnung, dieses synthetische Gehirn könnte ihnen mit seiner Fähigkeit zu Lug und Trug von Nutzen sein. Sie nannten ihre Schöpfung »Cloud-Computing«, weil dieses Gehirn wie eine Wolke das Licht der Wahrheit verhüllen konnte, aber auch weil der natürliche Prototyp ihrer Erfindung mit Familiennamen »Yun«, also »Wolke«, hieß.

In der Folge kam es zu einer interessanten Entwicklung. Im Zuge einer fortschreitenden Kommerzialisierung der trisolarischen Gesellschaft hielten einige Billigversionen von Yun Tianmings digital simuliertem Gehirn unter den gewöhnlichen Konsumenten Einzug. Die Trisolarier installierten diese Programme, die sich mit ihren eigenen Denkmustern kompatibel machen ließen, auf ihrem kognitiven Apparat, um ihre wahren Gedanken zu verbergen. Damit erzielten sie auf einmal Effekte, die für sie vorher undenkbar gewesen waren.

Zur trisolarischen Paarungszeit beispielsweise hatten sich traditionell oft Dialoge wie der folgende abgespielt:

»Liebes Weibswesen, ich ersuche ergebenst um Vereinigung«, erbat der potenzielle männliche Partner und schwenkte zum Zeichen seines Liebeswerbens die Fühler. (Auch die Trisolarier kannten zwei Geschlechter, die sich allerdings von den unseren vollkommen unterschieden.)

»Verzieh dich, du Missgeburt! Wenn ich dich nur sehe, will ich schon meine Exkremente ausscheiden!« Die Gedankenwellen der Umworbenen machten keinen Hehl aus ihrer heftigen Abscheu.

Eine derart schroffe Offenheit führte oft dazu, dass die männlichen Trisolarier die körperliche Vereinigung mit Gewalt erzwangen und die Paarungszeit für die Trisolarierinnen zu einem Albtraum machten. Doch das Cloud-Computing ermöglichte es desinteressierten Trisolarierinnen, eine höflichere Form der Antwort zu wählen: »Danke, aber du bist zu gut für mich. Ich bin deiner nicht würdig.«

Damit konnte der abgewiesene Trisolarier rundum zufrieden von dannen ziehen, womöglich sogar noch mit einem besseren Gefühl als bei vollzogener Vereinigung, und sich frischen Mutes ein neues Objekt seines Werbens suchen.

In der trisolarischen Gesellschaft markierte dies eine bedeutsame Wende zum Besseren, doch andere Anwendungen der neuen Technologie erwiesen sich als weniger segensreich. Weil die Trisolarier keinen Betrug kannten und ihr Gedächtnis weit besser war als das der Menschen, konnten sie auf Bargeld verzichten. Gewöhnliche Geschäfte pflegten sie nicht einmal schriftlich zu dokumentieren; stattdessen besiegelten sie solche Geschäfte lediglich, indem sie ihr eigenes Restguthaben und den Betrag verkündeten, den sie zu zahlen bereit waren. Eine derartige geschäftliche Transaktion, wie sie auf der Erde undenkbar gewesen wäre, lief typischerweise wie folgt ab:

»Ich möchte diesen Turbo-Dehydrator erwerben. Ich habe 12.563 Guthabenpunkte. Davon bezahle ich dir 231 Punkte, sodass ich noch 12.332 Punkte übrig habe.«

»Einverstanden. Ich hatte 73.212 Guthabenpunkte. Mit deinen 231 Punkten habe ich jetzt 73.443 Punkte.«

»Gut, dann nehme ich jetzt den Turbo-Dehydrator mit.«

Tatsächlich erforderte ein solcher Geschäftsabschluss gar keinen derart langatmigen Dialog. Die beiden Parteien projizierten lediglich ihre jeweiligen Rechenoperationen und besahen sich die veränderten Zahlen der Gegenseite. War einer Seite ein Fehler unterlaufen, korrigierte die andere ihn sogleich. Doch das Cloud-Computing erlaubte es den Trisolariern, ihre wahren Gedankenwellen zu verbergen und falsche Rechenergebnisse zu projizieren. Ein armer Schlucker, der sich eigentlich niemals irgendwelche Luxusartikel hätte leisten können, behauptete nun einfach, er schwämme in Geld, und egal, wie viel er kaufte, sein Restguthaben schrumpfte nicht. Händler wiederum gaben minderwertige Ware als Spitzenqualität aus, um die Preise in die Höhe zu treiben. Manche verpanschten sogar die Nährflüssigkeit