Bourdieus Kunstsoziologie - Florian Schumacher - E-Book

Bourdieus Kunstsoziologie E-Book

Florian Schumacher

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Beschreibung

Mit dieser Einführung wird das komplexe, auf verschiedene Schriften und Forschungsphasen verstreute kunstsoziologische Werk Bourdieus chronologisch und systematisch verfolgt. Florian Schumacher beleuchtet die wichtigsten Einflüsse der Bourdieu'schen Kunstsoziologie und damit die AuseinanderSetzungen Bourdieus mit Sartre, Foucault und Panofsky. Besonderes Augenmerk legt er auf Bourdieus frühe Untersuchungen aus den 1960er-Jahren zu ästhetischer Wahrnehmung und Klassenzugehörigkeit sowie auf die darauffolgende Konzeption eines Feldes der Kunst, auf dessen Geschichte und auf aktuelle Entwicklungen.

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Inhalt

Vorwort: Bourdieu und die Liebe zur Kunst

Einleitung

1. Sartre, Flaubert und die Figur des Intellektuellen

1.1 Den Menschen zum Projekt machen

1.2 Sartres Flaubert

1.3 Bourdieus Flaubert

1.4 Frédéric als Möglichkeit Flauberts

1.5 Die biographische Illusion

1.6 Bourdieus Sartrekritik

1.7 Die soziale Verortung der Figuren des Künstlers und des Intellektuellen

2. Foucault, Panofsky und der Begriff des Habitus

2.1 Bourdieus Auseinandersetzung mit der Theorie Michel Foucaults

2.2. Sprache als soziales Machtinstrument

2.3 Zwischen Objekt und Subjekt

2.4 Panofsky: Scholastisches Denken und gotische Architektur

....

2.5 Der Begriff des Kunstwollens

2.6 Bourdieus Begriff des Habitus

2.7 Körperliches Lernen

3. Lebensstil, Geschmack und Ästhetik

3.1 Drei Geschmacksformen

3.2 Reine und populäre Ästhetik

3.3 Die Teilung der herrschenden Klasse

3.4 Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie

3.5 Die Entschlüsselung von Kunstwerken

3.6 Das Museum als Stätte der herrschenden Klasse

3.7 Rezeption und Diskussion

4. Die Konzeption des Feldes der Kunst

4.1 Die Theorie des Feldes

4.2 Elemente und Begriffe des künstlerischen Feldes

4.3 Wer verliert, gewinnt

4.4 Zwei Hierarchisierungsprinzipien

4.5 Das Feld der Kunst und der soziale Raum

4.6 Der Einfluss des Feldes der Macht

4.7 Positionskämpfe – Orthodoxie und Heterodoxie

4.8 Das künstlerische Feld als Glaubensuniversum

4.9 Die Kämpfe um die Wahrheit der Kunst

4.10 Disposition, Position und Positionierung

4.11 Künstlerische Revolutionen

4.12 Der Raum des Möglichen

4.13 Unendliche Abstraktionen

5. Genese und Entwicklung des Feldes der Kunst

5.1 Die Geschichte des Feldes als Prozess der Autonomisierung

5.2 Die Konstellation des 14. Jahrhunderts

5.3 Die Konstellation des 19. Jahrhunderts

5.4 Baudelaire und die Idee des totalen Bruchs

5.5 Manet und Flaubert – die absolute Kunst

5.6 Die Konstellation der 1990er Jahre

5.7 Die Perspektive des Widerstands

Schlussbetrachtung

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Vorwort: Bourdieu und die Liebe zur Kunst

Die Rezeption von Pierre Bourdieu ist durch ein Paradox gekennzeichnet. Die Arbeiten des Soziologen, Ethnologen und Philosophen, dem zu Lebzeiten vor allem in der angelsächsischen Welt nicht selten sein gallischer intellektueller Stil und seine Beschränkung auf französische Daten sowie bisweilen sogar „Parochialität“ vorgehalten wurden, haben im letzten Jahrzehnt eine beispiellose globale Verbreitung gefunden. Sie werden mittlerweile international ungleich häufiger rezipiert als Schriften von Autoren, die Zeichen ihres kulturellen Herkunftsfeldes weniger deutlich erkennen lassen. In den Sozialwissenschaften wird Bourdieus internationale Resonanz heute lediglich noch durch die Aufmerksamkeit übertroffen, die dem Werk von Max Weber zuteil wird. Unter den Beiträgen von Philosophen des 20. Jahrhunderts finden nur Texte von Michel Foucault eine stärkere Beachtung im akademischen und intellektuellen Feld.

Aus der im vergangenen Jahr publizierten Studie von Gisèle Sapiro und Mauricio Bustamante geht hervor, dass bis zum Jahre 2008 die Zahl der außerhalb Frankreichs verfügbaren Buchtitel von Pierre Bourdieu auf 347 angestiegen war, wobei Monographien und in Buchform publizierte Sammlungen von Aufsätzen berücksichtigt wurden. Ungeachtet dessen, dass sich Englisch als lingua franca der Wissenschaftskommunikation durchgesetzt hat, lagen diese Bücher in nicht weniger als 34 Sprachen vor und waren in 42 Ländern erschienen (vgl. Bustamante/Sapiro 2009). Am häufigsten erfolgten Übertragungen in deutsch- und englischsprachige Kontexte. Ein für die Soziologie der Kunst zentrales Werk wie „La Distinction“ wurde im internationalen Vergleich für deutschsprachige Leser besonders früh zugänglich gemacht, nämlich bereits drei Jahre nach dem Erscheinen dieses Jahrhundertwerks in Paris. „L’amour de l’art“ hingegen erschien mit besonders großer Verzögerung in Deutschland, nämlich erst rund 40 Jahre nach der ersten, gemeinsam mit Alain Darbel und Dominique Schnapper, der Tochter Raymond Arons, in Paris publizierten Auflage. Immerhin war ein Teilprodukt dieser Forschungsarbeit bereits 1970 in dem Aufsatzband „Soziologie der symbolischen Formen“ erschienen, der ersten deutschen Buchveröffentlichung von Bourdieu. Den Intentionen von Karl Markus Michel zufolge, des für die frühe Bourdieu-Rezeption im deutschsprachigen Raum maßgeblichen Verlegers, sollte dieser Band den zu dieser Zeit modischen französischen „Strukturalismus“ vorstellen und im intellektuellen Feld verankern (vgl. Gemperle 2009: 6). In einem Interview aus den Anfängen der 1980er Jahre, in dem auch die Rezeption seiner Theorie im deutschsprachigen Raum angesprochen wurde, verwies Bourdieu auf die frühen Übersetzungen dieser dem Habitus- und Feldbegriff sowie der Kunst gewidmeten Arbeiten wie auf sein Netzwerk im deutschsprachigen Raum, das bereits zu dieser Zeit relativ stark war.1

Bourdieu hat in seinem Essay über „Die internationale Zirkulation von Ideen“ (Bourdieu 2009b), der auch die Bildung des von Franz Schultheis koordinierten Bourdieu-Netzwerks Pour un Espace des Sciences Sociales Européen (ESSE)2 anregte, selbst auf die Feldabhängigkeit der Rezeption von wissenschaftlichen Texten und kulturellen Gütern hingewiesen, für die mit den Übertragungen von einem in ein anderes nationales Feld verbundenen Interessen, die damit einhergehenden spezifischen Selektionen, Dekontextualisierungen und Verzerrungen. Der Bourdieu etwa der spanischen oder der japanischen Welt ist mit dem des deutschsprachigen Feldes kaum vergleichbar. Alle diese Variationen des Werks ein und desselben „Autors“ unterscheiden sich wiederum erheblich vom frankophonen Bourdieu, der ein ungemein breites, in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und intellektuellen Diskursen verankertes Oeuvre hinterlassen hat. Durchgängig wurden etwa die visuellen Elemente seiner Schriften in den Übersetzungen stark abgeschwächt, insbesondere in Form der Eliminierung, des Austausches und der Bearbeitung von Bildern, ein Indiz für die Distanz der Sozialwissenschaften und der für dieses Wissenschaftssegment maßgeblichen Verlage gegenüber der visuellen Repräsentation. „Actes de la Recherche en Sciences Sociales“, das von Bourdieu Mitte der 1970er Jahre auf den Publikationsmarkt gebrachte Journal, in dem viele seiner Arbeiten zunächst erschienen, war eine ausgesprochen reichhaltig mit photographischen Reproduktionen und Diagrammen versehene Zeitschrift, eine Neuerung auf dem Gebiet der Verbindung von Text, Bild und Zahl. Dies gilt auch für die in diesem Journal erschienenen Texte von Bourdieu. In den Übersetzungen dieser Schriften finden sich davon kaum noch Spuren, die Übertragungen ins Deutsche bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme (vgl. Wuggenig 2008).

Aber auch die Bezüge auf die Bildende Kunst – der hauptsächliche Bezugspunkt für die als Rekonstruktion von Bourdieus genetischem Strukturalismus angelegte Studie von Florian Schumacher – sind in den Übersetzungen seiner Werke ungleich seltener anzutreffen als im französischen Korpus. Gemeinsam mit dem Frühwerk, insbesondere den in Algerien durchgeführten Studien, zählt dieser Teil seiner Schriften zu den außerhalb des frankophonen Raumes am relativ schwächsten zugänglich gemachten Teilen seines Oeuvres, was auch für die insgesamt durchaus zahlreichen Übersetzungen seiner Texte ins Deutsche gilt. Eine Reihe der für Bourdieus Analysen der Bildenden Kunst besonders interessanten Essays, auf produktionsästhetischer Ebene etwa die über die symbolische Revolution des Impressionismus, oder über den von Bourdieu in diesen Schriften als „kapitalistischen Revolutionär“ bezeichneten Edouard Manet (vgl. Bourdieu 1987d), dem er eine ganze Vorlesung im Collège de France widmete, auf rezeptionsästhetischer Ebene etwa über den auf die Kunst bezogenen „ästhetischen Populismus“, mit dem er sich in seinem Spätwerk befasste, harren noch einer Übersetzung.

Wendet man sich diesem Teil seines Werkes zu, dann wird man überrascht sein, wie eingehend sich Bourdieu mit bestimmten Aspekten der Kunstgeschichte beschäftigte, wie gut vertraut er mit den Werken eines guten Teils der führenden Köpfe dieser Disziplin war. Da er kein Studium dieses Faches durchlaufen hatte und ihm auch über sein Elternhaus kein Zugang zu dieser Disziplin eröffnet wurde, bleibt als Erklärung für sein alles andere als naives Verhältnis zu dieser Disziplin seine Ausbildung an der Ecole normale supérieure im Zusammenspiel mit seiner privaten Verbindung mit der Kunsthistorikerin Marie Claire Brizard, die er 1962 geheiratet hatte. In späteren Jahren kam die Zusammenarbeit mit der Pariser Kunsthistorikerin und -kritikerin Inés Champey, seiner Brücke in die Kunstwelt, auf einer Arbeitsebene hinzu.

Bourdieu nutzte und eignete sich auf seine Weise vor allem die Arbeiten von Kunsthistorikern an, die sich mit der Renaissance, mit dem 18., dem 19. und dem 20. Jahrhundert beschäftigten. Zu nennen sind insbesondere Erwin Panofsky, Michael Baxandall, Arnold Hauser, Carlo Ginzburg, J. C. Sloane, Albert Boime, Francis Haskell, Nicholas Pevsner, Dario Gambioni, Michael Fried, Rosalind Krauss, Timothy J. Clark und Jacques Tuilliers. Einigen von ihnen, wie vor allem Panofsky und Baxandall, die er selbst ins Französische übersetzte beziehungsweise für deren Übersetzung er sorgte, brachte er eine hohe Wertschätzung entgegen. Es ist bekannt, dass er sich von Panofsky sowohl für die Ausarbeitung des Habitusbegriffes anregen ließ als auch für die Entwicklung seiner soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung. Weniger bewusst ist, dass Baxandalls Studie über das Quattrocento, die Bourdieu 1981 auszugsweise in „Actes de la Recherche en Sciences Sociales“ veröffentlichte, ihn zur Relativierung der ursprünglich vertretenen intellektualistischen Theorie der Kunstwahrnehmung und zu einer praxistheoretischen Reformulierung seiner Rezeptionstheorie führte (vgl. Bourdieu/Delsaut 1981). Gegenüber anderen Kunsthistorikern nahm er hingegen eine sehr kritische Haltung ein. Dies gilt für den im intellektuellen Subfeld der Kunstgeschichte respektierten T. J. Clark genauso wie für den konservativen Kunsthistoriker Jacques Tuilliers. Diesem kurze Zeit vor ihm an das Collège de France berufenen Gelehrten, der in dieser Institution die Kunstgeschichte vertrat und für die französische Museumspolitik der 1960 bis 1980er Jahre überaus einflussreich war, warf Bourdieu den Versuch der Rehabilitierung der mit Namen wie Thomas Couture, Alexandre Cabanel, Jean-Léon Gérôme, Jean Louis Ernest Meissonier oder William Adolphe Bouguereau verbundenen art pompier vor, aus Bourdieus Sicht Repräsentanten einer heteronomen Staatskunst. Gegen das Kunstverständnis und die Kunstmarktdominanz dieser Ausgeburten des homo academicus im 19. Jahrhundert richtete sich die impressionistische Bewegung, die Bourdieu zufolge nicht nur eine symbolische Revolution herbeiführte, sondern auch die relative Autonomie des Kunstfeldes gegenüber dem Machtfeld durchsetzte und entscheidend dazu beitrug, den Künstler im modernen Sinne zu schaffen.

Wenn Bourdieu, woran Florian Schumacher zu Recht erinnert, in den 1980er Jahren schrieb, dass sich „Kunst und Soziologie nicht vertragen“, dann ist der in dieser Form angesprochene Antagonismus durchaus nicht nur auf die individualisierenden und hagiographischen Neigungen einer Disziplin wie der Kunstgeschichte zurückzuführen oder auf die charismatischen Strukturen des künstlerischen Feldes, sondern auch auf Denkstile, die sich in der Soziologie verbreitet haben. Zunächst betonte Bourdieu in diesem Zusammenhang vor allem die Neigung zur Negierung der künstlerischen Singularität, die zu berücksichtigen ein feldtheoretischer Zugang ohne weiteres erlaubt. In seinem Spätwerk, das noch einer Übersetzung harrt – ich denke vor allem an die schriftliche Fassung seines bemerkenswerten Auftritts an der Kunsthochschule im südfranzösischen Nimes aus dem Jahr 2000 oder an seinen Beitrag für den Katalog von Daniel Burens großer Ausstellung im Pariser Centre Beaubourg im Jahre 2002 (vgl. Bourdieu 2001c; 2002) – problematisierte Bourdieu anders als in seinem Frühwerk, in dem, wie in „L’amour de l’art“ die Kritik der begrenzten Zugänglichkeit der Kunst im Vordergrund stand, den gegen die zeitgenössische Avantgardekunst gerichteten „ästhetischen Populismus“. Dieser findet sich in der Soziologie selbst, in Teilen des kulturellen Feldes und bei den „konservativen Revolutionären“, die sich Bourdieu zufolge den Umstand zu Nutze machen, dass die kulturelle Armut im Gegensatz zur ökonomischen den Betroffenen selbst nicht bewusst ist. Die nicht vorhandene Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und das Fehlen von Wahrnehmungskategorien führen zu einer ungleich profunderen Indifferenz als zu derjenigen der blasierten Ästheten. Bourdieus Vorbehalte gegenüber dem Theoretizismus und bestimmten Spielarten des Intellektualismus sowie der scholastischen Disposition sind bekannt. Kaum weniger ausgeprägt waren jedoch seine Aversionen gegenüber dieser Spielart des Anti-Intellektualismus, die er als Ausdruck eines „inversen Klassenrassismus“ interpretierte. Eine Verherrlichung der „vox populi“ in dieser Form ist heute nicht nur im „sociology of the arts“-Subfeld der internationalen Soziologie verbreitet oder in einem Paradigma wie dem der Cultural Studies. Man findet sie auch in der frankophonen Soziologie und Ökonomie der Kunst, die auf einige namhafte Vertreterinnen und Vertreter wie etwa Raymonde Moulin, Eve Chiapello, Nathalie Heinich, Alain Quemin, Jean-Claude Passeron oder Pierre Michel Menger verweisen kann.

Im Gegensatz zu den kaum verhüllten kunstbezogenen Präferenzen von Bourdieu, der sich bis zum Ende seines Lebens hin offen für jene avancierte relativ autonome künstlerische Produktion zeigte, für die er an seinem von teleologischen Konnotationen befreiten Begriff der „Avantgarde-Kunst“ auch in jener Zeit festhielt, als dieses Label im Kunstfeld angesichts seiner Problematisierung durch Postmodernismus und Poststrukturalismus längst außer Mode geraten war, herrschen in den kunstsoziologischen Zirkeln des frankophonen Feldes andere Präferenzen vor. Einerseits wird abgesicherte historische Kunst bevorzugt, andererseits marktnahe heteronome Kunst. Nicht selten findet man den Hang zum ästhetischen Populismus, als dessen herausragender soziologischer Vertreter Howard S. Becker angesehen werden kann, der Theoretiker der „Art World“, der auch in Frankreich über eine gewisse Popularität verfügt. In seinem Spätwerk verankerte er ungeachtet der friedliebenden Momente seiner interaktionistischen Soziologie, die auch die künstlerische Produktion im Sinne eines „doing things together“ interpretiert, eine scharfe Abgrenzung gegenüber dem sukzessive zu einem theoretischen Hauptrivalen aufgestiegenen Paradigma der Feldtheorie (vgl. Becker 2008). Die kämpferische Haltung, mit der Bourdieus Theorie nicht selten von Autoren entgegengetreten wird, welche Kooperation und Konsens in der sozialen Realität und in den Kunstwelten betonen und die eine konflikttheoretische Perspektive, wie Bourdieu sie vertritt, als unrealistisch beziehungsweise als übertrieben agonistisch empfinden, kann als eine Art performativer Widerspruch der Argumentation und als ein weiteres bemerkenswertes Paradox in der Rezeption seines Paradigmas angesehen werden.

Bereits zu der Zeit als Bourdieus Äußerung über die Unverträglichkeit von Kunst und Soziologie fiel, gab es durchaus Gegenevidenz, die sich nicht ohne weiteres als Ausnahme von der Regel interpretieren lässt. So ist zunächst daran zu erinnern, dass sich eine bedeutende Künstlerin wie Martha Rosler (1984) in ihrem in jungen Jahren unternommenen Versuch, die Funktionsmechanismen des sich expansiv entwickelnden eigenen Feldes zu erhellen, auf soziologische Daten und Analysen stützte, die sie „L’amour de l’art“ von Bourdieu und Darbel entnahm. Dieser Versuch erschien zunächst 1979 in „Exposure“, einem Organ der "eingeschränkten Produktion", das heißt weitgehend außerhalb der Öffentlichkeit. Er wurde 1984 jedoch in das im künstlerischen Feld bis in die Gegenwart rezipierte Kultbuch „Art After Modernism: Rethinking Representation“ aufgenommen, was ihren Ausführungen wie auch den Befunden von Bourdieu und Darbel breitere Resonanz im Kunstfeld sicherte.

Ein anderes Beispiel ist die Affinität zu soziologischen Studien, die ein Künstler wie Hans Haacke zeigte, einer der Hauptrepräsentanten der als „institutionelle Kritik“ (Buchloh) beziehunsweise „institutionelle Analyse“ (Jameson) bezeichneten Strömungen der Conceptual Art und der späteren postkonzeptuellen Kunst. Haacke hatte sich bereits in den frühen 1970er Jahren der Soziologie zugewandt. Seine mit Hilfe von Sozialwissenschaftlern durchgeführten Erhebungen in der New Yorker Kunstwelt erbrachten im Hinblick auf den sozialen Hintergrund der Besucher vergleichbares Datenmaterial zu dem von „L’amour de l’art“. Während sich die Studie von Bourdieu und Darbel auf die Welt der konsekrierten historischen Kunst und hauptsächlich auf den darauf bezogenen Kunsttourismus beziehungsweise schulisch organisierten Ausstellungsbesuchs bezog, sammelte Haacke in New York Daten im Subfeld der zeitgenössischen Avantgardekunst im Galerienkontext (vgl. Haacke 1975: 14ff.). Seit diesen Erhebungen sind die erheblichen Differenzen zwischen einem „großen Publikum“ historischer Kunst und einem Publikum der eingeschränkten Produktion beziehungsweise von Avantgardekunst hinsichtlich der im sozialen Raum eingenommenen Positionen empirisch belegt, im Prinzip bekannt und durch eine Reihe späterer Studien, auf die Florian Schumacher verweist, bestätigt worden. In diesem Subfeld findet sich unter Ausstellungsbesuchern nicht nur ein hoher Anteil von Künstlerinnen und Künstlern sowie von professionell involvierten Ausstellungsbesuchern, sondern es wird auch ein höheres Maß an kulturellem Kapital vorausgesetzt als in der Sphäre historischer, das heißt abgesicherter Kunst. Bourdieu selbst trug dem in Form der Formulierung der folgenden Gesetzmäßigkeit Rechnung: „Je stärker man sich dem Zeitgenössischen nähert, desto höher die Sozialstruktur des Publikums. Das musée d'Art moderne hat, um es kurz zu sagen, ein ‚kultivierteres‘ Publikum als der Louvre.“3

Hans Haacke lernte Bourdieu Ende der 1980er Jahre im Anschluss an seine Ausstellung in Paris kennen. Er blieb Bourdieu bis zu seinem Tod verbunden. Zunächst hatte Haacke auf Vermittlung von Jack Burnham vorübergehend jedoch mit Howard S. Becker kooperiert. Die Wahlverwandtschaft erwies sich jedoch als begrenzt, sodass Haacke sich zunächst dem gegenüber der Avantgardekunst ungleich aufgeschlosseneren Fredric Jameson zuwandte, jenem Theoretiker der kulturellen Logik des Postmodernismus, dem das Verdienst zukommt, früher als die meisten Fachsoziologen die Bedeutung, die Bourdieu als Sozialtheoretiker noch gewinnen würde, erkannt zu haben. In Haackes Katalog schrieb er im Hinblick auf dessen Kunsttheorie: “In this critical area of aesthetic ideology – that is, of the various theories and apologia of art and culture – no work has been more radical or profound than that of Pierre Bourdieu.” (Jameson 1986: 44)

In den 1980er Jahren war die New Yorker Künstlerin Andrea Fraser, die später zur führenden Figur der zweiten Generation der institutionellen Kritik aufsteigen sollte, in sehr jungen Jahren in Kontakt mit Bourdieus Arbeiten geraten (vgl. Fraser 2008). Anfang der 1990er Jahre setzte unter ihrer maßgeblichen Beteiligung im Zuge einer sozialreflexiven Wende in der zeitgenössischen Kunst eine Konjunktur des Rückgriffs auf soziologische und ethnologische Theorien im künstlerischen Feld ein. Dies ließ Bourdieus Diagnose einer Unverträglichkeit von Kunst und Soziologie als einigermaßen obsolet erscheinen. Diese Konjunktur schlug sich unter anderem in der Integration von Bourdieus Analyseinstrumenten in künstlerische Arbeiten (am prominentesten in denen von Andrea Fraser) nieder, im Rückgriff auf soziologische Begriffe in der Kunstkritik, in einem großen Symposium über das „ästhetische Feld“ in Wien (1992) mit Künstlern, die zu dieser Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit des internationalen Kunstfeldes standen, wie u.a. Andrea Fraser, John Miller, Jeff Koons, Renée Green, Peter Fend, Raymond Pettibon, Christian Philipp Müller, Jessica Stockholder, Gerwald Rockenschaub und Peter Weibel. Sie machte sich in Interviews mit Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu in der Anfang der 1990er Jahre von Stefan Germer und Isabelle Graw begründeten Zeitschrift „Texte zur Kunst“ bemerkbar oder in dem sich über mehrere Jahre erstreckenden „freien Austausch“ von Pierre Bourdieu und Hans Haacke, jener Stellungnahme in Reaktion auf die zunehmende Heteronomisierung des künstlerischen Feldes, das sich zunehmend sowohl politischen Zugriffen (insbesondere in den USA) als auch dem Eindringen von Modellen der „ökonomischen Ökonomie“ im Zuge der allgemeinen neoliberalen Strömung ausgesetzt sah.

Mitte der 1990er Jahre verfasste der einzige lebende Philosoph von Rang, der neben seiner Vertrautheit mit der Gegenwartskunst auch über einen nennenswerten Status als Kritiker im Feld der zeitgenössischen Kunst verfügt, anlässlich des Erscheinens von Bourdieus „The rules of art“ in den USA eine erstaunliche Eloge auf den feldtheoretischen soziologischen Zugang. Über die auf die „Kunstwelt“ beziehungsweise die „Institution Kunst“ angewandte Theorie Bourdieus schrieb Arthur Danto im Buchbesprechungssupplement von Artforum, der zentralen Zeitschrift des Feldes der Gegenwartskunst, unter anderem den folgenden Satz, mit dem er die einschlägigen kunstphilosophischen Bemühungen der Vergangenheit für obsolet erklärte: „The ‚field‘ is an immeasurably more nuanced structure than whatever it is that philosophers subscribing to what is called the ‚Institutional Theory of Art‘ have so far sought to make explicit.“ (Danto 1996: 16) Während ein Philosoph wie Kant mit Formulierungen, die im Kunstfeld später in dieser oder ähnlicher Form weithin auf Zustimmung stießen, das „Genie“ als eine „Naturgabe“ und als eine Fähigkeit, „dasjenige, wozu sich ‚prinzipiell‘ keine Regel geben lässt, hervorzubringen“ (Kant 1968: 307f.) bestimmte, hatte Bourdieu der soziologischen Auffassung zum Durchbruch verhelfen können, dass auch die Produktion der Kunst sich an Regeln orientiert und dass die Vorstellung von einer Naturgabe für die Kunst ein unhaltbarer Mythos ist. Heute wird die Vorstellung einer natürlichen Begabung für die Kunst unter dem Eindruck der Argumente von Bourdieu und anderen Sozialwissenschaftlern zumindest im Feld der zeitgenössischen Kunst nur noch von einer Minderheit vertreten.

Die Annäherung von Kunst und Soziologie kulminierte, was die soziologische Seite betrifft, nicht zuletzt in dem Entwurf, den Bourdieu für eine Beteiligung an der großen Ausstellung von Daniel Buren im Pariser Centre Beaubourg im Jahre 2002 hinterließ. Für diese Ausstellung, die er auf Grund seiner Erkrankung nicht mehr erleben sollte, entwickelte Bourdieu das kuratorische Konzept einer interaktiven Installation mit dem Titel „Habitus in situ et ‚vox populi‘“. Als künstlerische Arbeiten, die er im Rahmen dieser „Intervention“ auf dem Plafond platzieren wollte, schlug Buren eines der abstrakten Bilder von Jackson Pollock sowie eine auf Pollock referierende figurative Arbeit von Erró vor, die Bourdieu in einem Text interpretieren wollte. Beisteuern wollte Bourdieu zudem einen Videofilm sowie Stellungnahmen zur Gegenwartskunst, die drei Kategorien im Sinne von drei Arten typischer Reaktionen auf die Kunst zugeordnet werden sollten: Bourdieu bezeichnete sie als „Niveau der ‚vox populi‘“, „Niveau der Kritiken“ und „reflexives Niveau“. Auf diese sowohl an die Wand projizierten als auch von einem Schauspieler vorgetragenen Stellungnahmen, übertragen in alle Räume der Ausstellung von Buren, sollten die Besucher wiederum eingeladen werden, zu reagieren. Unter den letzten Zeilen des Konzepts für diese Ausstellung findet sich das Datum 15. 1. 2002, wenige Tage später, am 23.1.2002 verstarb Bourdieu.

Während Bourdieus Gegner nicht müde werden, zu versuchen, ihn auf jene Aspekte seiner Theorie der Kunst zu reduzieren, welche die Kunst als Fetischobjekt und als soziale Projektionsfläche relativiert (vgl. Heinich 2008; Albertsen/Diken 2004), verhält es sich in Wirklichkeit so, dass Bourdieu die Kunst auf seine Weise liebte. Immer wieder, wenn auch nicht kontinuierlich, ließ er seine Nähe zu einem bestimmten Typus von relativ autonomer künstlerischer Produktion erkennen. Davon zeugen u.a. die großformatige Abbildung eines der berühmten ready mades von Marcel Duchamp als visuelle Einleitung in eine seiner zentralen Arbeiten über symbolische Güter (vgl. Bourdieu 1977), die Beisteuerung eines Vorworts für die gesammelten textuellen Arbeiten von Andrea Fraser (vgl. Bourdieu 2005a) oder der erwähnte Entwurf für die künstlerisch-wissenschaftliche Intervention gegen den ästhetischen Populismus im Rahmen der Ausstellung von Daniel Buren, die er nicht mehr realisieren konnte.

Es hieße die Position Bourdieus gründlich zu verkennen, wenn man in ihm einen Vertreter einer simplen formalistischen Auffassung sehen würde, die postuliert, dass die Formästhetik an die Stelle einer Inhaltsästhetik zu treten habe und Wahl und Struktur des Gegenstandes sich nur nach rein ästhetischen Gesichtspunkten begreifen lassen. Der Gegensatz zwischen der „formalistischen“ und der „funktionalistischen“ These ist aus Bourdieus Sicht in Wirklichkeit ein fiktiver: „Eine Revolution der Form“, so heißt es etwa in dem Text über „Die impressionistische Revolution“, „beinhaltet auch eine Revolution des Inhalts, insofern der Bildaufbau nach formal begründeten Anforderungen (...) einen Bruch mit den Gesetzen der Bedeutungsabstufungen impliziert, die dem Aufbau des Bildinhalts (und der Wahl des Bildthemas) zugrunde lagen“ (Bourdieu 1987e: 15; Übersetzung U.W.).

Auf der Grundlage seines insgesamt durchaus ambivalenten, jedoch differenzierten Verhältnisses gegenüber der Kunst verfügt Bourdieu heute, wie eine in der Zürcher Kunstwelt in den Jahren 2009 und 2010 durchgeführte empirische Erhebung demonstriert, über eine Bekanntheit und Anerkennung im Feld der Gegenwartskunst, die jener der Hauptvertreter der philosophischen „Künstlerkritik“ (Boltanski / Chiapello), zu der u.a. Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida zu zählen sind, in nichts nachsteht (vgl. Munder/Wuggenig 2010). Lediglich Roland Barthes übertrifft Bourdieu in diesem Feld an Popularität. Die Soziologie, zumindest in ihren Spielarten von adornitischer kritischer Theorie und Bourdieuscher Feldtheorie, erscheint vor diesem Hintergrund heute durchaus ähnlich kompatibel mit der avancierten Kunst wie etwa die poststrukturalistische Philosophie, die sich in den 1980er Jahren eine dominante Stellung im Feld des Kunstdiskurses sichern konnte und diese bis heute behauptet.

Nur dem „französischen Bourdieu“ ist bislang zu entnehmen, dass die frühesten Spuren des Interesses an der Erforschung von Aspekten der Rezeption Bildender Kunst bis ins Jahr 1961 zurückführen, also bis in Bourdieus Anfangsphase als Soziologe. Zu dieser Zeit hatte er nach seiner Rückkehr aus Algerien und einer kurzen Zeit, die er in Paris als Assistenzprofessor bei Raymond Aron an der Sorbonne verbrachte, seine Tätigkeit als Maître de Conférences an der „Faculté des Lettres“ an der Universität Lille aufgenommen. Während die empirische Kulturforschung bis zum heutigen Tag oftmals an höchst allgemein formulierten Fragen zu künstlerischen, musikalischen oder literarischen Genres festhält4 , mit deren Hilfe sich kaum kunst- oder kultursoziologische Daten von Relevanz oder Informationsgehalt gewinnen lassen, war bereits Bourdieus frühe, gemeinsam mit Jean-Claude Passeron realisierte Forschung hinreichend spezifisch angelegt, um Aufschluss über kunstbezogene Praktiken und Präferenzen beziehungsweise über die, wie sie schrieben, „piktoriale Kultur“ in Abhängigkeit von der sozialen Position zu geben. Dem dienten Fragen nach der Vertrautheit nicht nur mit Malerei, sondern auch mit einer Reihe ihrer Repräsentanten. Noch war offenbar das Interesse an Manet und dessen Rolle in Zusammenhang mit der symbolischen Revolution, zu der es in der Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam, bei Bourdieu nicht ausgebildet. Aber bereits die im Jahre 1961 gestellten Fragen bezogen sich auf mehrere Protagonisten jener „impressionistischen Revolution“, der wir Bourdieu zufolge die Herausbildung des modernen, relativ autonomen Feldes der Kunst wesentlich mit verdanken: auf Degas, Monet, Renoir, Sisley und Cezanne. Für diese, aber auch eine Reihe weiterer Künstler, wie unter anderem van Gogh, Klee, Léger, Kandinsky, Mondrian, Toulouse Lautrec sowie – als Vertreter der kleinbürgerlichen „culture picturale moyenne“ (Bourdieu et al. 1964: 113) – Buffet und Utrillo wurden mehr als 1000 Studenten verschiedener Studiengänge in exemplarischer Konkretisierung einer soziologisch beziehungsweise für die „Wissenschaft des Geschmacks“ interessanten Fragestellung ersucht anzugeben, von welchen dieser Künstler sie gerne Reproduktionen an den eigenen Wänden sehen würden, und welche von ihnen sie in Museen, in Ausstellungen, in privaten Sammlungen oder auf Reproduktionen gesehen hätten. Außerdem wurde nach dem Besitz von Originalen wie auch von Kunstbüchern gefragt.

Nicht weniger aufschlussreich als die Ergebnisse über die Abhängigkeit der materiellen und symbolischen Aneignung der Kunst von der an der sozialen Herkunft und der gewählten Studienrichtung festgemachten Position im sozialen Raum oder als die von Bourdieu und Passeron konstruierte Typologie der Künstler auf der Basis ihrer ermittelten sozialen Konnotationen, ist aus heutiger Sicht die mit entsprechendem Dank versehene Auflistung der Namen jener Lehrenden, aus deren Veranstaltungen die Studierenden für die Befragungen rekrutiert wurden. Sie geben Aufschluss über die soziale Vernetzung des jungen Bourdieu in jener Phase, in der er begann, sich zunehmend stärker der Soziologie zuzuwenden. Unter ihnen finden sich eine Reihe jener Intellektuellen und Gelehrten, die sich einen Namen weit über Frankreich hinaus machen sollten, wie u.a. Jacques Derrida (Paris), Michel Serres (Clermont-Ferrand), Paul Veyne (Aix-en-Provence), Paul Vidal-Naquet (Lille), Raymonde Moulin (Paris) und Robert Castel (Lille) (vgl. Bourdieu et al. 1964: 9).

Mit Raymonde Moulin befand sich auch eine Soziologin auf dieser Liste, die später mit Bourdieu vorübergehend kooperierte, dann jedoch eigene Wege in einem sich herausbildenden Feld der Soziologie der Kunst ging. Dieses Subfeld weist dank der Arbeiten von Bourdieu und der Impulse, die von ihr für die theoretische Fundierung wie für die empirische Analyse ausgingen, aber auch dank der Tätigkeit einer nicht geringen Zahl an Schülern wie an Gegnern der feld- und habitustheoretischen Perspektive, heute eine bedeutend stärkere institutionelle und personelle Basis auf als das entsprechende Subfeld im deutschsprachigen Raum. Zur Institutionalisierung eines solchen Feldes im deutschsprachigen Raum haben in den letzten Jahren eine Reihe von jungen Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit und gegen Bourdieu beigetragen.5 Neben der Domäne der Soziologie der Literatur, in der vor allem ein Autor wie Joseph Jurt Entscheidendes für eine angemessene Rezeption von Bourdieus Theorie der Felder der kulturellen Produktion geleistet hat, gibt es mittlerweile eine ernsthafte soziologische Beschäftigung mit der lange vernachlässigten und weitgehend Disziplinen wie der Kunstgeschichte oder der Philosophie überlassenen Bildenden Kunst.

Eine einführende Studie der Art, wie Florian Schumacher sie vorgelegt hat, war lange überfällig. Sie ist ein weiteres herausragendes Beispiel für einen Beitrag zur Herausbildung eines Subfeldes der Soziologie der Kunst, das diese Bezeichnung auf Grund der realisierten Intertextualität, der paradigmatischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Zugängen und Perspektiven, aber auch der Bezüge auf die künstlerische Produktion im Sinne einer Soziologie nicht nur der Produzenten oder der Rezipienten, sondern auch der Werke verdient.

Lüneburg 18.08. 2010Ulf Wuggenig

1 Vgl. Pierre Bourdieu, Gespräch mit Maria Iser. In: Iser 1983, Anhang I.

2 Vgl. die Website von ESSE http://www.espacesse.org/index.php?lang=en(15.08.2010).

3 Pierre Bourdieu 2001, a.a.O., S. 37. Übersetzung U.W.

4 Diesbezüglich sind auch die neueren Studien, die sich affirmativ oder kritisch an La Distinction orientieren, ziemlich enttäuschend und fallen bereits auf der Ebene der Erhebungsinstrumente weit hinter die von Bourdieu bereits in den 1960er Jahren zugrundegelegten methodologischen Standards zurück (vgl. Bennet et al. 2009; Chan/Goldthorpe 2007; Lahire 2004).

5 Ich denke an kunstsoziologische Arbeiten von jungen Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wie unter anderem Larissa Buchholz, Dagmar Danko, Patricia Holder, Andrea Glauser, Pascal Jurt, Jens Kastner, Valerie Moser, Christine Nippe, Sophia Prinz, Hilmar Schäfer, Florian Schumacher und Nina Tessa Zahner.

Einleitung

Betrachtet man das Bourdieusche Gesamtwerk, so fallt auf, dass sich zur Thematik der Kunst in jeder Schaffensphase Arbeiten finden. Bereits während seiner frühen Aufenthalte in Algerien veröffentlichte Bourdieu immer wieder kleinere Arbeiten zu künstlerischen Thematiken (Bourdieu et al. 1963a; 1963b). Insbesondere die intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Kunsttheorie von Erwin Panofsky trug entscheidend zu seiner Konzeption des Habitus bei. Nach der Rückkehr nach Frankreich wendete sich Bourdieu der Analyse der französischen Gesellschaft zu. Im Rahmen seines Entwurfs des sozialen Raums untersuchte er nun den Kunstkonsum und die Kunstrezeption, also die Zusammenhänge von ästhetischen Einstellungen, kulturellen Praktiken, Konsumgewohnheiten und sozialen Positionen. Zu erwähnen sind an dieser Stelle vor allem die beiden Studien aus den 1960er Jahren: „Eine illegitime Kunst“ (Bourdieu 1981) zu den sozialen Gebrauchsweisen der Photographie und „Die Liebe zur Kunst“ (Bourdieu 2006) über die Besucher europäischer Kunstmuseen. Diese frühen Analysen zu Ästhetik und Geschmack stellen dabei eine entscheidende Grundlage seiner meistzitierten Studie „Die feinen Unterschiede“ dar (Bourdieu 1982). Auch seine spätere Konzeption des Feldes veranschaulicht Bourdieu Anfang der 1990er Jahre zunächst anhand einer Modellanalyse zum Feld der Kunst, die unter dem Titel „Die Regeln der Kunst“ (Bourdieu 1999) erschienen ist. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Rezeption, in welcher „Die feinen Unterschiede“ als Bourdieus unumstrittenes Hauptwerk eingestuft wird, betrachtete der Autor selbst „Die Regeln der Kunst“ als Krönung seines soziologischen Schaffens (vgl. Wuggenig 2009b: 9).

Obwohl inzwischen auch in Deutschland eine erste Einführung in das kunstsoziologische Werk Bourdieus erschienen ist (vgl. Kastner 2009), zählen seine Arbeiten zur Kunst dennoch zu den eher schwächer diskutieren Teilen seines Gesamtwerkes. Dies zeigt sich beispielsweise an der Tatsache, dass die gängigen soziologischen Einführungen zum Bourdieuschen Werk die Schriften zur Kunst vollkommen ausklammern (vgl. Schwingel 1995; Fuchs-Heinritz/König 2005; Barlösius 2006; Rehbein 2006).6

Auf Seiten der Sozialwissenschaft mag diese Distanz zum kunsttheoretischen Werk Bourdieus mit dem schwierigen Verhältnis von Soziologie und Kunst im Allgemeinen zusammenzuhängen. Bourdieu selbst reflektiert in seinem Vorwort von „Die Regeln der Kunst“ (Bourdieu 1999: 9–16) dieses problematische Verhältnis als Ausgangspunkt der Konzeption eines Feldes der Kunst. „Soziologie und Kunst vertragen sich nicht“, konstatierte er dabei bereits 1980 in einem Vortrag (Bourdieu 1993a: 197).7 Denn die Soziologie greift das Selbstverständnis der Künstler an, wenn sie versucht, die Kunst sozial zu verankern. „Das Universum der Kunst“ dagegen ist „ein Universum des Glaubens, des Glaubens an die Begabung, an die Einzigartigkeit des unerschaffenen Schöpfers“ (Bourdieu 1993a: 197). Durch wissenschaftliche Analyse und rationale Methodik, so der Vorwurf, entzaubere Bourdieu die Besonderheit der künstlerischen Werke und zerstöre damit das ästhetische Vergnügen. In „Die Regeln der Kunst“ führt Bourdieu dies auf zwei inkompatible Wahrnehmungsmodi der beiden Bereiche zurück:

„Der Soziologe [ist] zum Relativismus verdammt [...] , zur Nivellierung der Werte, zum Niedermachen des Großen, zur Abschaffung der Unterschiede, die doch die Singularität des ‚schöpferisch Wirkenden‘ ausmachen, der immer auf seiten des Einzigartigen steht?“ (Bourdieu 1999: 10)

Die Soziologie ist demzufolge unfähig, die Einzigartigkeit von Künstler und Kunstwerk zu erkennen, weil sie „mit der großen Zahl im Bunde steht, mit dem Durchschnitt, dem Mittel und folglich mit dem Mittelmäßigen, dem Minderen, den minores“ (Bourdieu 1999: 10). Die Einzigartigkeit der Kunst hingegen „entziehe sich der Definition nach rationaler Erkenntnis.“ (Bourdieu 1999: 11)

Bourdieu versteht seine Soziologie der Kunst davon ausgehend als eine Art Sakrileg, wenn er konstatiert, „diese Niederlage des Wissens“ nicht kampflos anerkennen zu wollen (Bourdieu 1999: 11). Seine Kunstsoziologie intendiert nichts anderes als eben diese Objektivierung des künstlerischen Glaubensuniversums. Bourdieu wehrt sich also dagegen, alle Versuche, eine rationale Analyse zu leisten, gleich vorneweg zu diskreditieren. Die vielfachen Widerstände gegen die soziologische Untersuchung von Kunstwerk und ästhetischer Erfahrung interpretiert er auch als fundamentale Angst der Vertreter der Kunstwelt vor ihrem Niedergang: Wenn Künstler und Kunstwerke auf die soziale Welt, das heißt auf ihre sozialen Entstehungsbedingungen, reduziert werden, so die beängstigende Vorstellung, könnten sie vollständig entzaubert werden und ihre magische Kraft einbüßen. Wird das „unsagbare Individuum“ erst einmal „sagbar“, dann ist der Künstler in seinem Narzissmus getroffen, denn er wird in der Sphäre der gewöhnlichen Menschen verortet und sein Schaffen dadurch banalisiert (vgl. Bourdieu 1999: 12; zudem Kastner 2009: 42; Jurt 1997: 160).

Obgleich Bourdieu diese Entzauberung nicht nur in Kauf nimmt, sondern sogar intendiert, geht es ihm explizit nicht darum, „der Reduktions- oder Destruktionslust zu frönen“, sondern einfach darum, „den Dingen offen gegenüberzutreten und sie zu sehen, wie sie sind“ (Bourdieu 1999: 15). Eine „wirkliche Wissenschaft des Kunstwerks“, so Bourdieus Überzeugung, lässt sich nur auf einer „Suspendierung des komplizenhaften Einverständnisses gründen, das jeden Gebildeten mit dem Bildungsspiel verknüpft“ (Bourdieu 1999: 364). Eben dieses Spiel, das den Sinn und den Wert des Künstlers und seiner Kunstwerke erschafft, versucht Bourdieu zum Gegenstand seiner Analyse zu machen. Oder anders ausgedrückt: Der Diskurs der Kunst und all seine Institutionalisierungen sind ein wesentlicher Teil des künstlerischen Schöpfungsaktes. Kunstwissenschaft und Kunsttheorie versteht Bourdieu damit selbst als „Teil des Gegenstands, den sie zum Gegenstand zu haben meinen“ (Bourdieu 1999: 464). Seine Intention liegt darin, die sozialen Bedingungen des künstlerischen Denkens zu denken, um „damit die Möglichkeit einer Freiheit gegenüber diesen Bedingungen“ zu erreichen (Bourdieu 1999: 489). Die Aufgabe der Wissenschaft ist es damit, „die Wahrheit dieser Kämpfe um die Wahrheit herauszuarbeiten“ (Bourdieu 1999: 467). Damit stellt Bourdieu seine Kunstsoziologie in die Tradition der Aufklärung, wenn er bemerkt, „den Bannkreis des kollektiven Leugnens“ durchbrechen zu wollen und intendiert, ein Bewusstsein und ein Wissen darüber zu erschaffen, „wovon das Universum des Wissens – vor allem, wenn es selbst davon berührt ist – nichts wissen will“ (Bourdieu 2001b: 12).

Dem Vorwurf einer Entwertung von Kunst und einer Relativierung des künstlerischen Wertes durch seine soziologische Herangehensweise tritt Bourdieu dabei selbstbewusst entgegen: Seine Art der kunstsoziologischen Betrachtung von Schöpfer und Schöpfungen soll nämlich keinesfalls reduzieren und die Einzigartigkeit zerstören, sondern im Gegenteil eine allumfassende Perspektive auf Produzent und Produkt erst ermöglichen (vgl. Bourdieu 1999: 14).8 Wenn die sozialen und historischen Umstände eines schaffenden Künstlers ausgeblendet werden, dann wird Bourdieu zufolge gerade das Außergewöhnliche aus dessen Biographie entfernt. Erst vor dem Hintergrund des Sozialen können künstlerische Leistungen tatsächlich gewürdigt werden. Denn erst dadurch würden die Anstrengungen sichtbar, die der Künstler vollbringen musste, um etwas Außergewöhnliches und Neues zu erschaffen (vgl. Bourdieu 2001b: 108f.). Den Vorwurf, die Soziologie reduziere und entwerte die Kunstwerke, wendet Bourdieu also umgekehrt gegen die etablierten Formen von Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Alleine seine Methode zeige die künstlerische Einzigartigkeit auf, indem sie das künstlerische Universum einer bestimmten Epoche und damit die sozialen Bedingungen des Kunstschaffens mitdenkt (vgl. Bourdieu 2001b: 112). Indem Bourdieu die Kunsttheorie von ihrem Subjektivismus befreit, welcher immer nur das schaffende Subjekt als Genie inszeniert und in den Fokus nimmt, intendiert er, die Kunsttheorie zur tatsächlichen Wissenschaft machen (vgl. Bourdieu 1999: 450). Alleine der so verstandene soziologische Blick ist Bourdieu zufolge ein Rundumblick. Die Singularität des Kunstwerks wird vom soziologischen Blick also nicht zerstört, sondern wirkt durch ihn klarer (vgl. Jurt 1995: 102f.).

Bourdieus Perspektive auf die Kunst ist somit eine soziologische, die aber nicht nur aufzeigt, dass das künstlerische Schaffen kein rein individueller Prozess ist, sondern sich andererseits auch von der konträren Ansicht abgrenzt, dass Kunstwerke direkter Ausdruck der sozialen Lebensbedingungen sind, also zwangsläufig substantiell mit der Klassenlage des Künstlers zusammenhängen. Bourdieu versucht, künstlerische Produktionen nicht als außerhalb der sozialen Welt stattfindend zu begreifen, sondern als genuin soziale Phänomene, ohne jedoch dabei den Künstler in der Struktur aufzulösen und als schaffendes Subjekt zu dekonstruieren. Durch das Überschreiten der Grenze zwischen Subjektivismus und Objektivismus erhebt er explizit den Anspruch, Kunst als Ganzes verstehen zu können und dies aus streng wissenschaftlicher Sicht (vgl. Jurt 2007: 212). Die in „Die Regeln der Kunst“ intendierte „Wissenschaft von den Kulturprodukten“ (Bourdieu 1999: 281) geht also mit einem Universalitätsanspruch9 einher: Bourdieus Auffassung zufolge

„muss die Soziologie der kulturellen Werke sich die Gesamtheit der (objektiven und auch in Form von Interaktionen realisierten) Beziehungen zwischen einem Künstler und den anderen Künstlern zum Objekt nehmen, und darüber hinaus die Gesamtheit der in die Produktion des Werkes oder zumindest in die Produktion des sozialen Werts des Werkes engagierten Akteure (Kritiker, Leiter von Galerien, Mäzene usw.).“ (Bourdieu 1993a: 199)

Bourdieu entwickelte seine Konzeption folglich gegen alle bestehenden theoretischen Ansätze, die er durchweg als zu einseitig zurückweist: Er grenzt sich dabei von den internen Lesarten (Strukturalismus, Poststrukturalismus) ebenso ab wie von den externen Lesarten (sozialistische Kulturtheorie) (vgl. Bourdieu et al. 1985: 30f.; Bourdieu 1991b: 103ff.; 1999: 328). Mit seiner Konzeption des künstlerischen Feldes können die unterschiedlichen Strategien und Machtverhältnisse bei der Kunstproduktion ebenso reflektiert werden wie die subjektive Intention vor dem Hintergrund der jeweils bestehenden Regeln und Normen einer Epoche sichtbar gemacht werden (vgl. Bourdieu 1993a: 200). Damit objektiviert er nicht nur die Künstler und die Kunstwerke, sondern darüber hinaus auch das komplette künstlerische Universum, welches Künstler „als Produzenten sakraler Objekte, von Fetischen, produziert oder, was auf dasselbe hinausläuft, das Kunstwerk als Objekt von Glauben, Liebe und ästhetischem Vergnügen“ (Bourdieu 1993a: 209; vgl. auch 1999: 450).

Diese Überlegung begründet Bourdieu aus seiner sozialen Position als Intellektueller, die er aus seiner speziellen Biographie herleitet:

„Ich glaube, dass ich in meiner Jugend und in meinem ganzen sozialen Lebenslauf, der mich, wie das bei Aufsteigern oft der Fall ist, durch ganz unterschiedliche soziale Milieus geführt hat, im Geiste eine ganze Serie von photographischen Aufnahmen gemacht habe, die ich mit meiner soziologischen Arbeit zu entwickeln versuche.“ (Bourdieu 1996a: 240f.)

Seinen eigenen sozialen Standpunkt versteht Bourdieu also analog zu seiner Interpretation der künstlerischen Perspektive Gustave Flauberts, dem er eine ähnliche weitgehend objektive soziale Position zuordnet:

„Flaubert hat ungefähr gesagt: ‚Ich möchte alle Leben leben.‘ Das ist etwas, was ich sehr gut verstehen kann: alle nur möglichen menschlichen Erfahrungen machen zu wollen. Ich finde, dass eine der großartigsten Befriedigungen, die einem der Beruf des Soziologen verschafft, diese Möglichkeit ist, in das Leben anderer Leute einzutreten.“ (Bourdieu 1996a: 241)