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Lebe deine schönen Momente aus. Denn aufgeben kannst du immer.
Nach der Trennung versucht Elli Edwin zu vergessen und ein neues Leben anzufangen. Doch kann man die erste Liebe vergessen, die schönen und farbenfrohen Erlebnisse einfach so löschen? Sie liebt ihn weiterhin und sieht dennoch die Hoffnungslosigkeit in der Situation, die außer Kontrolle gerät. Elli will nicht aus ihrem schönen Märchen erwachen und wenigstens in ihren Erinnerungen leben, und Edwin weiterhin lieben. Doch was wäre, wenn die Psyche ihre eigenen Regeln hat? Wie kann man sich von einer Sehnsucht und Herzschmerz befreien, die nicht zulassen, die bunte Welt um sich herum zu bemerken?
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© Christine Eder 2023
2019 Erstausgabe:
Die Farben des Lebens – Ein Hauch von Finsternis
Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Coverdesign: © Licht Design – Kristina Licht
Korrektorat/Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Handlung und alle handelnden Personen dieses Buches sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre rein zufällig.
Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
»Wenn Liebe zur Besessenheit wird,
gleitet der Verstand in den Abgrund
und die Liebe verwandelt sich
in ein Duell zwischen
Herz und Vernunft.»
Christine Eder
… ein braves Mädchen und sie lebte ein schönes Leben. Sie hatte allen vertraut, allen geglaubt, sah in ihnen nur Gutes und hatte sie geliebt. An jeden gab sie einen Hauch ihrer Freude, Güte, ihres Glückes und ihrer Liebe ab, immer ein Stückchen mehr von sich selbst. Doch eines Tages war dieses Mädchen aufgebraucht!
Ja, es war einmal … So fingen bekanntlich schöne Märchen an. Dass diese sich auch mal zum Bösen wenden könnten oder irgendwann endeten, lernte ich natürlich bereits in meinen ersten Kinderbüchern, deren Helden ich liebte. Man fühlte, litt, hoffte mit ihnen und verliebte sich in sie. Sie blieben im Gedächtnis haften, sie lebten im Herzen weiter. Zu akzeptieren, dass alles endete, war unmöglich, man wollte sie nicht loslassen oder aufgeben.
Jedes Leben glich einem Buch, einem ungelesenen und unerforschten Buch. Nie wusste man, was einen dort erwartete, und man las gespannt ein Kapitel nach dem anderen, um die Wahrheit und den Sinn der Story zu erfahren. Weil wir an die Geschichte glauben wollten und geblendet von dem wunderschönen Cover waren, vergaßen wir dabei, dass der Sinn irgendwo zwischen den Zeilen verborgen lag … Aber wir warteten doch so sehnsüchtig auf ein Happy End. Man konnte allerdings tausende von Büchern auslesen und würde trotzdem nicht das ganze Leben verstehen. Die Beziehungen sind ebenfalls wie Romane, an denen man sehr lange schreiben muss und nur Sekunden bräuchte, um sie wieder zu vernichten.
Niemals hätte ich gedacht, dass ich selbst in einem Märchen stecken würde, aus dem ich mich auch selbst herausgeworfen hatte. Was blieb, waren Gefühle, die man nicht in Worte fassen, und Worte, die man nicht mehr aussprechen konnte. Und natürlich die Erinnerungen. – Die waren die reinste Hölle. Man konnte sie zwar leicht in seinem Herzen verbergen, aber da tat es auch am meisten weh.
Alles blieb in mir drin verborgen. Ich hatte alles in mir eingesperrt: meine Empfindungen, meine Sehnsucht, Gewissensbisse, Schuldgefühle, Schmerz, Liebe. Es war schwer, zu akzeptieren, dass nichts mehr so sein würde, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war schwer jemanden zu verlassen, wenn das Herz es gar nicht wollte und Tag für Tag auf ein Wunder hoffte. Wenn man mit jemandem zusammen sein wollte, aber sich zusammenreißen musste, weil daraus nichts mehr werden würde. Grausam, denjenigen zu lieben, wenn man sich nicht entlieben konnte, aber auch nicht wollte.
Schmerz und Tränen versteckte ich hinter einer lächelnden Maske und spielte mein glückliches Leben wie eine Schauspielerin. Ich malte alles mit bunten Farben an, doch diese lösten sich in der Wirklichkeit wieder auf, als würde man ein Lösungsmittel darübersprühen, sobald ich alleine war. Die Bitterkeit wuchs, die Kälte legte sich um mein Herz und meine Seele verfinsterte sich. Auch wenn ich von Menschen umgeben war, fühlte ich mich einsam. Sobald ich mich ihnen etwas öffnete, ihnen meine Stärke zeigte, schlugen sie genau dahin, wo es wehtat.
Ich war lange genug naiv gewesen, vielleicht zu stolz, hatte immer an das Gute geglaubt, sogar für das Böse eine Rechtfertigung gesucht. Ich glaubte und wartete. Die Zeit würde Wunden heilen – vorausgesetzt, man würde den Sturz in den dunklen Abgrund überleben. Irgendwann begann sich alles zu verändern und ich verstand, dass man besser ein Miststück sein sollte als ein braves und liebliches Mädchen. Ich begann mich zu verändern. Es änderten sich meine Ansichten zu irgendwelchen Dingen, Gesprächen und schließlich auch zu den Menschen, denen ich vertraute. Ich entfernte mich sogar von denen, die ich in meinem Leben für unentbehrlich hielt. Es schien mir, dass jeder gegen mich war, die ganze Welt gegen mich war, und mich niemand verstand. Mir fehlten Wärme, Nähe und Geborgenheit. Ich wollte so sehr, dass mich jemand ohne Neid oder Hinterhältigkeit in den Arm nahm, ohne belehrende Worte, ohne mir etwas einzureden oder Druck auszuüben … Nur umarmen … einfach so.
Genau in solchen Momenten würde man am wenigsten erwarten, dass jemand in dein Leben kommt und Licht in deine Dunkelheit bringt. Vielleicht war es nicht verkehrt monatelang im Dunkeln zu tappen, so lernte ich wenigstens, nicht nur in anderen zu erkennen, wer sie wirklich waren, sondern konnte auch mich selbst finden. Diese Jahre zeigten mir und lehrten mich, was eine Stärke tatsächlich bedeutete und was einem im Leben wichtig war. Nichts lief so wie in irgendeinem wunderschönen Roman, der mit einem Happy End schloss. Alles war vergänglich; Liebe, Freundschaften, das Leben selbst … und alles hinterließ dadurch üble Überreste, mit denen man lernen sollte umzugehen, sie zu akzeptieren und weiterzuleben.
… bleibt immer ein Gefühl der Leere zurück. In mir drin war es nicht nur leer, sondern kalt und finster. Es kam mir vor, als hätte jemand mein ganzes Leben aus mir herausgedroschen. Was blieb, war ein widerlicher Schmerz, der in meiner Brust pochte. Ohne Edwin schien mir meine Welt wie eingestürzt. Ich lebte nicht, ich existierte nur noch. Seine Liebe hatte sich zu stark in mein Herz eingebrannt, blühte dort weiter in schönen Farben. Die Realität sah aber ganz anders aus, elendig, farblos und grässlich.
Mai 2001
Mein Atem war zittrig. Seine Hände streichelten zart meine Oberschenkel und wanderten höher unter das Kleid. Vor Lust drückte ich meinen Rücken an seine Brust und legte meinen Kopf auf seine Schulter ab.
»Du machst mich wahnsinnig, Elli«, hauchte er und sein heißer Atem kitzelte mir meinen Hals, bevor er ihn küsste. Tief sog ich die Luft ein und versuchte, vor Verlangen nach ihm nicht durchzudrehen. In meiner Lunge kam kaum Luft an, als er mich um die Brust umarmte. »Liebst du mich?« Seine Worte klangen bereits wie ein Echo, während ich noch versuchte, ein- oder auszuatmen, etwas zu erwidern, aber keine Luft bekam. Tränen sickerten hervor.
Langsam öffnete ich meine schweren Augenlider und mein Traum verschwamm im sonnendurchfluteten Zimmer. Schwer atmete ich durch und schluckte. Die Bitterkeit hüllte mich sofort ein und ein Kloß steckte in meinem Hals.
Seit Langem hatte ich wieder so einen klaren Traum. Es war aber kein hellseherischer, was die leichte Verschwommenheit verdeutlichte, so als würde man gegen das Licht schauen. Inzwischen fiel es mir leicht das zu unterscheiden. Es war die starke Sehnsucht nach Edwin, die diesen Traum heraufbeschwört hatte, da war ich mir ziemlich sicher.
Mein Blick wanderte auf meine Hand, die auf dem Kissen neben meinem Gesicht lag. Ich hob sie leicht an und betrachtete den Ring, der mir noch von Edwin geblieben war. Sehnsüchtig, weil er ihn mal angefasst, mal in seinen Fingern gehalten hatte, strich ich mit meinem Daumen darüber. Edwins Blick, wie er mich damals beim Juwelier angesehen und mir den Ring dann zu meinem Geburtstag geschenkt hatte, tauchte in meinem Kopf auf. Wie viel Glanz hatte Edwin dabei in seinen Augen gehabt, mehr als in diesem Diamanten. Wie viel Freude hatte er, ihn mir zu schenken … und ich empfand dieses Schmuckstück als Last, das mich leiden ließ. Nun kam es mir so leicht vor, so vertraut, weil es eben das Einzige war, was mir von Edwin blieb.
Müde richtete ich mich vom Bett zum Sitzen auf. Vielleicht sollte ich heute nicht zur Schule gehen? Ein Tag würde doch nichts ausmachen. Eine Entschuldigung konnte ich mir mit meinen achtzehn Jahren ja selbst schreiben: Ich, Elli Schwartz, konnte am 21. Mai 2001 nicht in die Schule kommen, weil ich meine Liebe umgebracht habe und nun im Sterben liege.
Ich warf mein Gesicht in meine Hände. Oh mein Gott, meine Nerven. Halt bloß die drei Tage durch, baute ich mich selbst auf. Danach würde das wegen Christi Himmelfahrt verlängerte Wochenende kommen und ich wieder meine Ruhe in der Abgeschiedenheit meines Zimmers genießen können. Momentan hatte ich zu nichts Lust und wollte niemanden sehen.
Der Schultag verging zäh und war ebenso merkwürdig wie die letzten. Ich fühlte mich wie in einem Nebel. Die Pausen verbrachte ich alleine und vor mich hinstarrend, ohne mit jemandem zu sprechen. Ständig tauchte Edwins Gesicht vor meinen Augen auf und in meinem Kopf reihten sich die schönen Erinnerungen mit ihm auf. Wie sehr ich auch versuchte, sie von mir abzuschütteln, es funktionierte nicht. Noch nicht, dafür war es einfach noch zu früh, zu frisch waren die Wunden. Die Gespräche und den Trubel meiner Klassenkameraden bekam ich kaum mit, außer dem von Lorenz, Kathrin und Ricardo hinter mir.
»Vielleicht sollten wir sie lieber in Ruhe lassen, wer weiß, was passiert ist«, hörte ich Kathrin leise sagen.
Vermutlich sah ich so erbärmlich und bemitleidenswert aus. Das hasste ich eigentlich, aber es war momentan so schwer zu vermeiden. Kaum merklich reckte ich meine Schulter hoch, während ich noch immer auf der Schulbank vor der Klasse saß.
»Ja, eben, wenn etwas passiert ist, müssen wir das wissen. Womöglich kann sie jetzt nicht mehr teilnehmen. Was machen wir dann?«, erwiderte Lorenz.
Natürlich konnte ich sie nicht im Stich lassen. Innerlich igelte ich mich aber ein, denn ich würde am liebsten gar nicht mehr aus meinem Zimmer herauskommen, am liebsten hätte ich mich in irgendeine Ecke verkrochen und mich noch kleiner gemacht, als ich es eh war.
»Ich frage sie«, sagte Ricardo. Schon ein paar Sekunden später saß er neben mir, blieb aber stumm.
Ich schaute zu ihm auf und drückte ein Lächeln heraus. »Ich habe es nicht vergessen. Natürlich werde ich spielen.«
»Ist alles okay bei dir?«, fragte er, und ich nickte. »Nur, wenn du ausfällst, finden wir keinen Ersatz mehr, Elli … Kathrin und Niko können sowieso nicht wirklich gut Volleyball spielen und alle anderen in der Klasse erst recht nicht.«
Schmunzelnd nickte ich. »Ich werde kommen.«
Es würde in zwei Tagen ein Volleyballturnier zwischen den Berufsschulen stattfinden und wir konnten gerade so unser Team zusammenstellen, weil in unserer Klasse nur wenige gut spielen konnten. Ricardo, Lorenz und ich waren sehr erfahren darin, Kathrin und Nico auch nicht schlecht.
Als unser merkwürdiger Arbeitslehre-Lehrer kam, den alle so hassten, schleppten wir uns zur letzten Stunde in die Klasse. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren, meine Gedanken geisterten in der Vergangenheit herum und waren gar nicht anwesend. Irgendwann bemerkte ich den bohrenden Blick meines Lehrers auf mir und schaute zu ihm hoch. Mist, hat er mich gerade etwas gefragt?
Während er mich widerlich angrinste, sprach er dann entweder weiter oder fing gerade an: »Dann kamen die roten Oktobermännchen und haben uns hier die Arbeitsstellen weggenommen.«
Mir fiel die Kinnlade nach unten und ich schielte ihn an, konnte aber in meinem Zustand nicht wirklich schnell erfassen, ob es wieder seine üblichen Anspielungen waren. Es war nicht das erste Mal, dass er solche Äußerungen in Richtung der deutsch-russischen Schüler gemacht hatte.
Auf einmal zuckte ich vor Schreck zusammen, weil etwas laut und klappernd umfiel. Der Lehrer und ich bemerkten den wilden Blick von Lorenz, der so wütend vom Stuhl aufgesprungen war, dass dieser nach hinten umkippte.
»Ich werde es nicht mehr dulden, dass Sie hier so dermaßen die Schüler beleidigen«, warf Lorenz scharf ein, während er bereits seine Sachen in den Rucksack stopfte. Ricardo neben ihm fing ebenfalls an die Sachen zu packen. Die Jungs verließen zusammen die Klasse, während ich es ihnen dann verärgert gleichtat. Der Lehrer stand nur bedröppelt da, aber mit seinem blöden Grinsen im Gesicht.
Ich hielt noch die Tür für meine Mitschülerin Lina auf. Wir sahen die Jungs nach draußen gehen und folgten ihnen. Lorenz blieb auf dem Schulhof stehen, gestikulierte aufgeregt mit den Händen, während Ricardo zustimmend nickte. Wir gingen nach draußen. Die Jungs rauchten und beschimpften derbe und laut den Lehrer. Uns folgten noch drei deutsche Schüler und Schülerinnen, unter ihnen war auch Kathrin.
»So ein Schwein!«, fauchte Lorenz und stieß den blauen Dunst aus.
Tief durchatmend blieb ich bei ihnen stehen und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ähm, danke für die Unterstützung?!
»Mann, und was ist, wenn wir jetzt von der Schule fliegen, so kurz vor dem Abschluss?«, sorgte sich Kathrin.
»Warum bist du dann mit rausgegangen?«, schnaubte Ricardo genervt und pustete den Rauch in ihre Richtung.
»Niemand wird von der Schule fliegen!«, entgegnete Lorenz erbost. »Wenn er sich beschwert, dann beschweren wir uns. Was glaubst du, wer dann wohl das Fliegen lernt?!«
»Ja, schon gut! Schrei mich doch nicht an!«, gab Kathrin laut zurück, und er seufzte.
»Du hättest es aber trotzdem nicht machen müssen«, wandte ich mich an Lorenz.
»Hey Elli, ich bin auch Brasilianer und er diskriminiert hier nicht nur dich damit, sondern alle Schüler, die keine deutschen Wurzeln haben!«
»Du zählst aber nicht zu den ›roten Oktobermännchen‹!«, erwiderte ich schmunzelnd.
Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Dass dich das so kaltlässt, Elli, verstehe ich nicht.«
»Na, was soll ich denn machen?« Ich zuckte mit der Schulter. »Ich habe mich irgendwie schon damit abgefunden«, brummte ich dann ernst.
Zuhause angekommen, warf ich meine Schultasche auf den Boden. Dabei betrachtete ich das Bild auf dem Schreibtisch, das ich gestern gemalt hatte. Ohne meine Augen davon abzuwenden, plumpste ich in den Stuhl und versuchte zu verstehen, warum ich es überhaupt gemalt hatte. Irgendwie gefiel es mir nicht und irgendwas hatte es. Es zeigte einen Apfelbaum, der auf einer Seite der Zeichnung mit rosa Blüten übersät war, und diese fielen wie in jenem Traum, in dem ich das erste Mal Edwin gesehen hatte, auf die saftig grüne Wiese herab. Die andere Seite war jedoch kahl. Graue, spitze Äste ragten in den finsteren Himmel. So fühlte sich die Liebe an; auf der einen Seite wunderschön, unbeschwert, lebendig und farbenfroh; auf der anderen sah sie düster und kalt aus, wenn man ihretwegen erkrankt war.
Meine Brust drückte und brannte. Die Sehnsucht nach Edwin war so groß, dass ich das Gefühl hatte, es würde mich gleich auseinanderreißen. Es war kaum auszuhalten. Rasch wischte ich mir über die Wangen, als ich merkte, wie meine Tränen flossen, aber auch, weil ich die Schritte meiner Mutter im Flur hörte. Ich rollte gerade das Bild zusammen, da stand sie schon in meinem Zimmer und begrüßte mich.
»Was hast du heute eigentlich vor?«, fragte sie.
»Nichts«, murmelte ich und nahm das Etui aus der Ecke zwischen meinem Schrank und der Wand, in dem ich meine gerollten Bilder aufbewahrte.
»Kommt Edwin heute?« Ihre Stimme klang schon so dümmlich, wie ihr Gesichtsausdruck aussah.
Stirnrunzelnd schaute ich sie an. »Sag mal, hörst du mir gar nicht zu?! Wir haben uns getrennt!« Meine Stimme klang gereizt, denn es ärgerte mich.
Sie atmete so schwer durch, als ob sie das nicht bereits zum zehnten Mal, sondern noch nie gehört hätte. »Willst du ihn vielleicht anrufen? Wir können morgen alle zusammen grillen. Ihr könnt miteinander reden.«
Mir stand der Mund offen, weil sie alles, was ich bezüglich Edwin sagte, völlig ignorierte. »Mum! Ich habe ihn verlassen! Er wird nicht mehr kommen.«
»Das denkst du. Aber vielleicht will er –«
»Nein!«, schnitt ich ihr das Wort laut ab.
»Na!«, hörte ich meinen Vater hinter mir und wandte mich um. »Warum schreist du deine Mutter an?« Als Antwort presste ich nur schuldbewusst meine Lippen zusammen. Ich bräuchte ihm auch nichts zu sagen, da würde ich alles nur noch schlimmer machen. Für meine Eltern war ich nun mal noch ein Kind. »Ich möchte diese Respektlosigkeit nicht mehr zu hören bekommen! Wenn du schlechte Laune hast, dann lass es woanders ab, aber nicht hier. Wir sind nicht deine Freunde!«
Innerlich schrie ich bereits vor Wut, dass er nicht mal annähernd wusste, was sie davor gesagt hatte, sich aber ihr gegenüber loyal verhielt – egal ob sie recht hatte oder nicht.
»Wir fahren gleich zu den Großeltern und du kommst mit uns«, entschied Mutter für mich und wandte sich ab, um zu gehen. Mein Vater folgte ihr.
Mein Hals schwoll an. Ich hätte am liebsten die Tür hinter ihnen zugeknallt und starrte diese so verbissen an, als würde ich sie allein durch meinen Blick schließen können.
Bei meinen Großeltern saß ich während des Abendessens still und schmollend am Tisch. Ich war mal in meiner Vergangenheit gefangen, mal in meinen Phantasien oder versuchte, meinen inneren Konflikt zu schlichten, damit er nicht nach außen sickerte. Je länger ich es unterdrückte, desto mehr regte es mich auf. Ich bräuchte eine Ablenkung, doch Stifte hatte ich bei den Großeltern nicht, um mich mit Malen beruhigen zu können. Also half ich dann meiner Oma beim Abräumen des Geschirrs, während meine Eltern eine wilde Diskussion mit Opa führten. Ich würde immer wieder darauf wetten, dass sie meinen Opa nicht umstimmen würden. Er war stur, was meine Mutter von ihm geerbt – und vermutlich auch an mich weitervererbt hatte –, und sie war immer außer sich, dass er nicht nachgab oder von seiner Meinung abkam, auch wenn er bereits merkte, dass er gar nicht recht hatte. Es war immer amüsant, es mit anzuhören und zu beobachten. Doch diesmal nicht. Es wühlte mich nur noch mehr auf, weswegen ich auch bei der Oma in der Küche blieb und das Geschirr abzuwaschen begann. Hauptsache, ich tat etwas, das lenkte mich ab, vielleicht ließ es mich auch ein bisschen herunterkommen.
»Dir geht’s nicht gut, Engelchen«, stellte meine Oma fest. Mit Sicherheit wusste sie von meiner Mutter bereits über alles Bescheid, und was mit mir los war, aber ich blieb stumm und stellte einen sauberen Teller auf die Ablage ab, bevor ich den nächsten einschäumte. Meine Oma nahm ihn und trocknete ab. »Sag es mir, ich sehe es doch. Wo tut es dir weh?«
»Da, wo es keiner sehen kann«, antwortete ich leise.
»Das dachte ich mir … Dann hast du ein gutes Herz, Liebes, wenn es dir wehtut.«
Ich stockte. So gesehen hatte ich eher ein Herz aus Eis oder gar keins, denn sonst hätte ich Edwin nicht verletzt. »Nein, Oma, ich glaube, ich habe eine Dummheit gemacht, und das spricht nicht gerade für ein gutes Herz.«
»Na, wenn du solche Schuldgefühle hast, dann war diese Dummheit das Richtige.« Erstaunt blickte ich sie an. Vielleicht wollte sie mich nur aufbauen, damit ich nicht in mir selbst verzweifelte. Doch ich wusste ja besser, was mit mir und Edwin geschehen war. »So erkennt man seine Fehler, lernt, sich diese einzugestehen und mit ihnen zu leben. Und eine Dummheit zu begehen ist manchmal auch nicht verkehrt, um nicht dein ganzes Leben lang irgendeine Last mit dir herumzutragen.« Still wandte ich mich wieder dem Abwasch zu.
Edwin sah ich nicht als Last an, sein Misstrauen wurde allerdings zur Last. Seine Liebe hätte ich hingegen ewig einatmen können … aber nur die Liebe, wie sie am Anfang war. Zum Schluss schaffte ich es, weder sie ein- noch auszuatmen, so viel bürdete er an mir auf, dass ich beinahe zu ersticken drohte.
Am nächsten Tag, nach der Schule ging ich mit Violetta nach Hause, die heute ihren Tag in der Ausbildung hatte. Sie hatte mich regelrecht ausgequetscht, was mit mir los sei. Also blieb mir auch nichts anderes übrig, als es endlich auch ihr zu erzählen. Dass ich Edwin aber immer noch liebte, dass mein Herz ihm noch ganz und gar gehörte, ließ ich aus und würde das auch niemandem offenbaren. Mich würde doch eh keiner verstehen. Ich verstand mich ja selbst nicht.
»Waaas?«, rief sie zu laut auf.
»Oh Maaann, Vi! Mein Schädel brummt«, flehte ich verkrampft.
»Du hast ihn verlassen? Er wollte doch für dich ein Haus bauen!«
»Nicht für mich!«, entgegnete ich. »Er wollte ein Haus … einfach so für … Ach, lass mich doch!«
Sie zog eine Schnute, so nach dem Motto: also doch. »Du liebst ihn doch«, schnurrte sie und traf damit voll ins Schwarze, total in mein Herz, das schmerzte.
Verärgert – auch immer noch darüber, dass sie selber einen gewissen Teil dazu beigetragen hatte, weil sie ihre Klappe bezüglich der Klassenfahrt nicht hatte halten können – sah ich sie streng an. Doch als sie mich mit ihrem unschuldigen Blick bedachte, gab ich nach. Ich liebte sie ja auch, meine beste Freundin.
»Vi, ich fühle mich ohne hin schon abgefuckt genug. Lass mal das Thema!«
»Okay … Hm, kommst du heute noch zu mir?«
»Mal sehen. Ich denke schon.« Ich versuchte sie anzuschmunzeln. »Du wolltest mir doch unbedingt deinen Führerschein zeigen.«
Sie strahlte bis über beide Ohren. »Eben! Und dann müssen wir unbedingt noch etwas zusammen unternehmen! Es ist ja Ewigkeiten her. Aber nicht dieses Wochenende, da kann ich nicht. Was hast du vor?«
»Nichts«, brummte ich schon wieder bedrückt.
Was hatte ich sonst an den Wochenenden der vergangenen drei Jahre gemacht? Ich flippte aus, um Edwin zu sehen, genoss seine göttliche Stimme, schmolz in seinem Schoko dahin, ließ mich von seinen Küssen vernebeln, wärmte mich an seinem kuscheligen Körper auf … Und dann zerschlug ich alles in kleine Stückchen. Jetzt wurde ich langsam vor Kummer und Herzschmerz verrückt. Er wohl auch … sitzt und versteht die Welt nicht mehr. Nein, nicht die Welt – Elli! Man musste nicht dumm sein, um zu begreifen, dass er nicht verstand, warum ich ihn so plötzlich verlassen hatte. Aber lieber würde er mich jetzt dafür hassen, als wenn er mich lieben und an meiner Liebe zweifeln würde.
Ich versuchte, alles wieder zu verdrängen, denn in meinem Herzen kniff es wieder. »Und was findet bei dir an diesem Wochenende statt?«, fragte ich Violetta, um mich abzulenken.
Sie wippte mit den Augenbrauen. »Zu mir kommt ein junger Mann! Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber Elli, seine Stimme … Wir haben schon mehrmals miteinander telefoniert«, schnatterte sie verträumt und mir kam es vor, als hätte ich Stöpsel in den Ohren. Edwins Stimme rauschte in meinem Kopf, wie liebevoll er seine Gefühle mir gegenüber offenbart hatte, und die Szenen, wie wir uns liebten, liefen vor meinen Augen ab.
Zuhause angekommen, versuchte ich mich zusammenzureißen, um nicht zu weinen. Mit Müh und Not erledigte ich die Schulaufgaben, bevor ich zu Violetta gehen wollte. Ich zog mich in meine Sportsachen um, damit ich anschließend noch im Wald joggen gehen konnte. Ich musste mich endlich abreagieren, vielleicht würde mein seelischer Druck dadurch nachlassen.
Violetta empfing mich und ich plumpste auf ihr Sofa.
»Hey, so ein herrliches Wetter, komm auf den Balkon raus«, meinte sie, während sie durch die Wohnung flatterte, und holte eine Flasche aus der Küche. »Ich habe uns Sekt gekauft.« Sie ging zum Balkon.
Ich folgte ihr und setzte mich draußen auf einen Stuhl. »Du weißt doch, dass ich nicht trinke.«
Ich hasste Sekt wie die Pest, eigentlich fast alles Alkoholische, aber besonders das, was prickelte. Um ehrlich zu sein, hatte ich wegen meiner Abneigung schon mal den Gedanken gehabt, ob ich nach meinem Vater kam und es auch nicht vertrug, da es mich ebenfalls entweder außer Gefechte setzen oder ich vor höllischen Kopfschmerzen umkommen würde.
»Nur ein bisschen, für mich … Warte, ich hole uns die Gläser.« Und da flatterte sie wieder unbeschwert davon.
Mann, irgendwie kotzt mich das alles hier an. Derzeit reizte mich einfach so vieles. Bei nichts empfand ich Spaß. Ich wollte laufen und dann so schnell wieder nach Hause, um mich von dieser heilen Welt zu verschließen.
Violetta kam mit den Gläsern zurück, stellte sie am kleinen Tisch ab, während ihr Handy schon in ihrer Hand klingelte. Sie klemmte den Hörer mit der Schulter ans Ohr und antwortete: »Hey, na … Ja, ich habe angerufen … Genau, ich habe die Waschmaschine gekauft und sie muss abgeholt werden. Kannst du mir dabei helfen?« Sie schaute mich gelegentlich an und drehte langsam den Draht an der Sektflasche. »Morgen … Ja, kannst du? Das ist ja super!«, hörte ich sie sagen, während ich meinen Kopf auf die Stuhllehne ablegte und gen Himmel schaute.
Mich riss der Knall aus den Gedanken, als plötzlich der Korken aus der Flasche herausschoss. Vor Schreck kreischten wir beide laut auf. Violetta hielt die Flasche von sich, aus der eine Sektfontäne quoll und auf den Balkonboden plätscherte. Ich sprang hoch auf den Stuhl und Violetta rein in die Wohnung und hielt die strömende Flasche von sich weg, aus der Tür heraus.
Mein Lachen drang nach außen, als ich sah, wie der ganze Boden mit schaumigem Sekt überschwemmt wurde. Violetta schaute kichernd die Flasche an, als diese endlich aufhörte zu sprudeln.
»Tja, ist jetzt nur ganz kleines bisschen übrig geblieben … Ja, wir wollten auf meinen Führerschein anstoßen …«
Lachend überreichte sie mir die Flasche, die ich auf den Tisch stellte, während sie, immer noch in das Handy quatschend, zurück ins Zimmer lief. Sekunden später kam sie wieder und reichte mir die Küchenrolle. Ich riss meterweise ab und warf die Tücher auf den Boden. So viel war doch gar nicht in der Flasche drin gewesen, wie jetzt auf dem Balkon schwamm.
Immer noch über die Situation kichernd, schaute ich zu Violetta hinüber, als ich bemerkte, dass sie mich still beobachtete. Sie hatte einen anderen Gesichtsausdruck und sagte dann ins Handy: »Ja, das war Elli.« Das klang irgendwie merkwürdig. Ich wurde ernst, ehe sie im Zimmer verschwand. Habe ich was falsch gemacht?
Als endlich alles aufgesaugt war, begann ich den Boden aufzuwischen.
Violetta kam ohne Handy zurück. »Mann, das stinkt ja hier wie in einer Brauerei.« Lächelnd nahm sie die Flasche hoch und guckte hinein.
Ich lachte. »Hast du ihn etwa nicht kaltgestellt?«
»Nein … na ja, bin selbst schuld.«
Wir wuschen den Balkon fertig ab und setzten uns hin. Sie verteilte die letzten Tropfen des Sekts auf zwei Gläser und wir stießen an. Ich befeuchtete nur meine Lippen und füllte ihr Glas mit meinen Resten halbvoll auf. Ich erinnerte mich an ihren Gesichtsausdruck von vorhin und fragte sie vorsichtig: »Wer war das am Telefon?«
Sie drehte sich nicht um, schaute vor sich hin nach draußen. »Nick«, antwortete sie trocken.
»Aha.« Mehr wusste ich nicht zu sagen oder zu fragen, oder vielleicht wollte ich das auch nicht. Also blieb ich auch stumm. Nach ein paar Sekunden fing sie dann an.
»Ich habe ihn um Hilfe gebeten, meine Waschmaschine, die ich mir gekauft habe, vom Laden abzuholen.« Ihr Blick war durchdringend, als ob sie entschied, ob sie weiterreden sollte, und sie tat es dann. »Er hat dein Lachen erkannt, Elli. Und hat nach dir gefragt.« Ich erstarrte. Sekunden später schluckte ich, weil ich nervös wurde, denn sie hatte es schon einmal erwähnt, dass er wohl immer noch Gefühle für mich hatte.
»Und was hast du geantwortet?«
»Er fragte mich, wie es dir geht, ich sagte: gut. Dann wollte er wissen, ob du immer noch mit dem Typen von damals zusammen bist …« Sie verstummte.
»Du hast ihm aber nichts von der Trennung erzählt?!«
»Äh … nein.«
Ich schielte sie skeptisch an. Sie konnte eine Lüge schlecht verbergen. »Ich will nicht, dass er sich jetzt denkt, er hätte bei mir freie Fahrt.«
Schuldbewusst sah sie mich an und biss sich auf ihre Lippe. Das ließ mich sofort auf hundertachtzig kommen.
»Maaann! Vi! Wer zieht dich immer an der Zunge!«, äußerte ich mich mit einem russischen Spruch. Erbost sprang ich auf und lief ins Wohnzimmer.
Sie tappte hinter mir her. »Elli, sorry, aber was ist daran so schlimm?«
In dem Moment wusste ich nicht, ob es wirklich schlimm war. Aber ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und schoss aus der Wohnung.
»Elli!«, rief sie mir nach.
»Ist gut!«, brachte ich laut heraus und lief einfach die Treppen runter, als ich sie noch hörte: »Sei mir bitte nicht böse.« Ich war es aber.
Jeder versuchte irgendwie auf mich einzureden und mir seine Meinung aufzudrücken, auch wenn ich es nicht wollte. In mir wütete es und ich lief zum Wald. Genau der Wald, in dem ich immer joggte und den ich von meinem Fenster aus beobachten konnte.
Dort angekommen zog ich die Luft tief ein und schloss dabei meine Augen, um alles auf mich einwirken zu lassen. Die Geräusche, die Gerüche nach Feuchtigkeit, Moss und Kiefern brachten die Erinnerungen an Edwin zurück, in denen ich mich so gerne aufhielt. Ich wollte nicht aufhören, an ihn zu denken, ich wollte ihn nicht loslassen. Die Zeit mit ihm war so wunderschön, dass ich sie einfach nicht aus meinem Gedächtnis löschen wollte. Ich hatte das Gefühl, wenn ich das täte, würde ich unsere gemeinsame Zeit hassen, doch das tat ich nicht. Ich liebte sie. Ich liebte ihn. Das sollte auch so bleiben – nur in meiner heilen Welt im Herzen, wo seine Liebe fest verankert war und verborgen lag.
Zuhause verspürte ich starke Kopfschmerzen. Eine Migräne, die ich in den letzten Tagen häufiger hatte. Vermutlich von den vielen schlaflosen Nächten, während derer ich mich in mein Kissen ausgeheult hatte. Ich nahm mir eine Kopfschmerztablette und ging unter die Dusche.
Nach dem Abtrocknen stellte ich mich auf die Waage. Toll… lieber nicht draufstellen. Manche Leute wollten die Waage nicht sehen, weil sie zu dick waren, und bei mir war es umgekehrt. Dreiundvierzig Kilo, bei einem Meter und achtundfünfzig. Immer noch, egal wie groß ich war, ich hatte nach wie vor Untergewicht.
Ich zog mich gleich in mein Nachthemd um und legte mich hin, bevor meine Eltern von einem Besuch nach Hause kamen. Sie schauten nur in mein Zimmer und dachten sich wohl, dass ich schlief, als ich mich gleichmäßig atmend nur so stellte. Die halbe Nacht wälzte ich mich hin und her und versuchte einzuschlafen. Wie geht es wohl Edwin? Ob Edwin sich auch so quält? Was für eine blöde Frage! Echt blöde!
In Sporthose und bauchfreiem Top kam ich in der Sporthalle an. Neugierig betrachte ich sofort die Gegenspieler. Mich begrüßten meine Mitschüler, die zum Anfeuern da waren, und die, die selbst spielten.
»Hast du die gesehen?« Kathrin kam zu mir gelaufen.
Ich legte meine Tasche auf der Bank ab. »Ja. Verdammt, gegen die sind wir geradezu kleinwüchsig«, sagte ich, während ich mich umschaute, und blieb mit meinem Blick an meinem Klassenkameraden hängen. »Außer dir natürlich, Nico.« Ich lächelte ihn an.
Er blähte seine Brust auf. »Ja, bin halt ein ganzer Mann.«
»Was bist du, eins achtzig?«, wollte ich wissen und er nickte stolz. Na ja, Lina war auch um die eins siebzig, all die anderen waren eher so wie ich: kleinwüchsig.
»Macht nichts. Wir schaffen das!«, ermutigte uns Lorenz, weil wir ihn zu unserem Mannschaftskapitän gewählt hatten, und fuhr dann strenger fort. »Wir machen es so, wie wir es geplant haben.«
»Mann, habe ich Schiss. Ich kann doch gar nicht aufschlagen«, jammerte Kathrin und Lorenz rollte genervt mit den Augen, weil wir das schon zum hundertsten Mal hörten.
»Deswegen habe ich uns auch so aufgestellt, dass wir euch immer helfen können, wenn was schiefgeht«, erklärte er Kathrin. »Du stehst auf der Vorderposition vor Elli, und wenn du aufschlägst, dann ist auch Ricardo neben dir. Elli, du bist die Erste beim Aufschlag, also bist du auch Position eins, Nico ist sechs, Lina vier …«
»Ich bin also auf Position drei?«, hakte Ricardo nach und Lorenz nickte.
»Ja und ich fünf … Wenn wir rotieren, dann können wir euch immer helfen.« Mit »wir« meinte er mich, sich und Ricardo.
Wir beobachteten noch eine kurze Weile die Spieler, bis wir dann an der Reihe waren. Die Gegner waren nervös, das konnte man sehen und wir nickten uns gegenseitig zu, so nach dem Motto: Die schaffen wir locker.
Ich machte den Aufschlag und erwartete selbst nicht, dass der Ball sofort einen Punkt bringen würde, als dieser auf dem Boden aufschlug. Ricardo und Lorenz brüllten lauthals vor Freude, während ich mit offenem Mund dastand. Die Gegner hatten noch voll gepennt, und dass das Spiel so einfach sein würde, damit hatten wir auch nicht gerechnet. Wir hatten in dieser Partie gesiegt und begannen ein Spiel nach dem anderen zu gewinnen, hin und wieder verloren wir auch.
Die Sporthalle leerte sich allmählich. Die Mannschaften, die ausgeschieden waren, gingen schon, während wir bereits im Viertelfinale standen. Wir saßen auf einer Bank und warteten auf unser nächstes Spiel.
»Mann, lieber hätte ich Zwerg ins Team geholt«, schnaubte Lorenz, als Kathrin mit Lina aufs Klo ging.
»Als ob Zwerg größer ist«, gluckste Ricardo und wir belächelten es.
»Zwerg« war der Spitzname eines Jungen aus unserer Klasse, der gerade mal eins fünfundvierzig groß war. Neben ihm fühlte ich mich dann nicht mehr so klein.
»Dafür kann Zwerg Bälle schmettern!«, sagte Lorenz und ich nickte.
»Ja, klein, aber Kraft hat er!« Ich beobachtete unsere Gegner. »Wir hätten auch Tanja nehmen können.«
»Spinnst du? Das ist eine Schlaftablette«, entrüstete sich Ricardo amüsiert. Ich kniff die Augen zusammen, damit er nicht übertreiben sollte.
»Bis sie die Hände hochhebt, kann ich schon zweimal aufschlagen«, meinte Lorenz, der auch die Gegner beim Spielen anstarrte.
»Es wäre sowieso nicht gegangen. Es mussten ja nach den Regeln drei Mädels und drei Jungs aufgestellt werden. Vier Jungs und zwei Mädchen hätten sie nicht erlaubt«, meinte ich und nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche.
Wir saßen ein paar Minuten so da und beobachteten die laufende Partie. »Scheiße!«, zischte Ricardo.
»Die sind echt gut.« Lorenz stierte die Gegner mit den Augen an, als auch schon Lina und Kathrin vor uns standen und seinen letzten Satz mitbekamen.
»Spielen wir jetzt gegen die?!« Lina zeigte auf die Mannschaft und wir nickten allesamt.
»Heiliger Kuhmist«, rief Kathrin, als sie sah, wie die Gegner aufschlugen. »Die knallen ja die Bälle nur so rein!«
»Dann hoffen wir einfach, dass sie uns nicht von der Fläche abknallen.« Ich rieb an meinen geröteten Händen und Fingerknöcheln, weil ich immer so stark auf den Ball haute. Anscheinend wollte ich einfach irgendeinen Schmerz spüren und nicht den, der in mir drin war und den ich mit aller Kraft zu ignorieren versucht hatte.
Das Spiel hatte angefangen, und die Gegner begannen sofort uns die Bälle nur so reinzuschlagen. Wir drohten das Spiel zu verlieren. Bei uns streuten die Fehler von Berührungen des Netzes bis hin zu seitlich rausfliegenden Bällen.
Ein Mädel der Gegenmannschaft war die Stärkste von denen und warf uns drehende Bälle herein. Ricardo baggerte so einen von ihr und spielte ihn mir von unten zu. Mit verzerrtem Gesicht schrie er beim Abschlag vor Schmerzen auf: »Oh, fuck you!« Sein Ball war jedoch zu hoch für mich, hätte durchgehen können, aber auch das Netz berühren. Ich sprang hoch und schlug ihn mit voller Wucht über das Netz. Der Ball landete auf dem Boden und ich richtete mich verdutzt auf. Das Mädel in der fünften Position war zu schwach, um den Schuss aufzufangen, obwohl er so vorhersehbar war. Auch schon zuvor hatten wir die meisten unserer Punkte nur dank ihr gewonnen.
Ich drehte mich rasch zu Ricardo um. »Sie ist die Schwachstelle!«, sagte ich leise und er nickte. Ich sah zu Lorenz neben mir, der mir auch zunickte. Jetzt hatten wir vielleicht doch noch eine Chance aufzuholen.
Die Wucht der gegnerischen Bälle spürte ich schon in den Handgelenken und am Daumenknöchel. Aber wegen dieses schwachen Mädels hatten wir sehr gut aufgeholt. Das Spiel ging langsam zu Ende, es stand vierzehn zu vierzehn. Doch die Gegenmannschaft durchschaute uns natürlich und verteidigte in den letzten Minuten das Mädel umso mehr.
Mit ganzer Kraft machte ich einen Aufschlag in ihre Richtung und merkte sofort, dass ich Bockmist gebaut hatte. Während der Ball flog, verkrampfte ich mich. Schlag ihn ab! Berühre ihn!, flehte ich sie innerlich an. Das Mädel wollte es auch schon tun, doch ein Junge vor ihr schrie: »Nicht!« Und sie ließ abrupt die Hände fallen.
»Mist!«, schaffte ich noch zu zischen, und der Ball schlug auf der Aus-Linie ein. Wir hatten verloren und schieden somit aus.
»Neeein!!!« Ricardo drehte sich zu mir um und fasste sich in die Haare. Ich kniff meine Augen zu und ließ meinen Kopf in den Nacken fallen.
»Elli!«, rief Lorenz empört.
Ich ließ meinen Kopf wieder herumrucken. »Entschuldigung!«, presste ich die Lippen zusammen und schmunzelte dann angezogen.
Wir gingen alle zu unseren Sachen, während die andere Mannschaft hinter uns ausgelassen und laut jubelte.
»Ach kommt schon, der vierte Platz ist auch gut«, freute sich Kathrin wahrscheinlich mehr darüber, dass das Spiel endlich vorbei war.
Lorenz drückte mich an der Schulter. »Macht nichts.«
»Trotzdem haben wir echt gut gespielt«, sagte Ricardo und umarmte mich von der anderen Seite.
Lorenz nickte zufrieden. »Das haben wir! Wir können stolz auf uns sein.«
Sie ließen mich nach meinem Nicken los, als wir schon bei den Bänken und unseren Taschen ankamen.
»Alter Falter, hat die blöde Kuh reingeschmettert«, brachte Ricardo mit großen Augen hervor und streckte die Hände nach vorn. »Guckt euch das an!« Wir schauten seine Hände an, dann unsere, die auch gerötet waren und zitterten. Sie fühlten sich echt heiß an und die Daumenknöchel schmerzten brennend.
»Ja, von ihren Bällen konnte man sich echt die Finger brechen.« Mit bebenden Händen nahm ich gleich ein paar ordentliche Schlucke aus meiner Wasserflasche.
»Kommst du noch mit uns in die Stadt?«, schlug mir Lorenz vor und ich schüttelte nachdenklich den Kopf. Mein Gemüt rief mich bereits in mein stilles Kämmerlein. Da ich alles in mir den ganzen Tag über so sehr unterdrückte, musste ich mich wieder entleeren.
»Ja, genau, lasst uns doch ein Eis essen«, meinte Ricardo, worauf sich Kathrin wie ein Kind freute. »Elli, komm schon.«
»Nein, Jungs … Ihr wohnt da alle in der Nähe und ich muss dann von der Stadt den ganzen Weg wieder zurückpilgern … Echt, keine Lust«, tat ich es ab und machte dabei eine unzufriedene Miene. Ohne lange zu fackeln, warf ich mir meine Sporttasche über die Schulter und verabschiedete mich schnell.
Zuhause nach der Dusche nahm ich mir einen Kühlbeutel und legte ihn auf meine Fingerknöchel. Das Adrenalin und der Schmerz beim Spiel hatten mich von meinen innerlichen Qualen abgelenkt, doch jetzt musste ich mich wieder davon befreien, – auch wenn das Weinen nur für kurze Zeit half.
Später am Abend trieb mich die Sehnsucht in den Wahnsinn. Ich wollte bei Edwin sein, mich an seine Brust kuscheln und so auch mit ihm zusammen einschlafen. Es war einfach unvorstellbar, wie ich ihn vermisste und wie sehr ich ihn liebte. Wie sollte ich jetzt ohne ihn leben?
Mein Handy klingelte, was mich leicht zusammenzucken ließ. Es war aber Violetta. Ich entspannte mich und antwortete.
»Hi! So, meine Liebe, nun hörst du auf, Rotz und Wasser zu heulen, komm schnell zu mir.«
»Wieso?«, hakte ich irritiert nach.
»Ich muss mit dir etwas besprechen!« Nach meiner verwunderten Stille fügte sie dann noch hinzu: »Los! Ich warte auf dich.«
»Okay.« Ich drückte auf aus und blieb weiter auf meinem Sofa sitzen. Soll ich gehen, oder soll ich nicht? Ob ich nun hier in der Leere hockte oder irgendwo anders, wo mir ebenso alles leer erschien, spielte keine Rolle. Es fiel mir aber schwer, unter Menschen zu sein, denn dort musste ich mich anstrengen und so tun, als ob es mir gutginge. Ich hasste es, Schwäche zu zeigen, und versuchte meinen Schmerz hinter einer lächelnden Maske zu verstecken.
Ich machte mich fertig und blickte nach draußen. Es war windig und seit Tagen verregnet. Eigentlich sah es nicht nach Sommer aus, sondern eher nach einem tristen Herbsttag. Das passte zu dem Zustand in mir – mein innerliches Wetter war genauso wie das draußen, keine Spur von Sommer. Würde ich überhaupt jemals wieder den Frühling in mir verspüren können, ganz zu schweigen vom Sommer mit seinen angenehmen Sonnenstrahlen, die mich endlich erwärmen würden?! Kopfschüttelnd tat ich meine Gedanken ab.
Ich zog mein Lederjäckchen an, das schon etwas gelitten hatte und an manchen Stellen leicht abgescheuert war. Aber ich konnte mich einfach noch nicht davon trennen.
Als ich auf dem Weg zu Violetta die Hauptstraße entlangging, bemerkte ich ein Motorrad aus ihrer Straße herauskommen, der dann am Straßenrand stehenblieb. Das sah danach aus, als ob jemand auf mich wartete. Wer ist das? Was will er denn?
Trotzdem ging ich weiter auf ihn zu und erkannte ihn allmählich. Mit jedem Schritt, den ich näherkam, lächelte Nick mich immer mehr an, bevor er dann vom Motorrad abstieg. Das zwang mich vor ihm stehen zu bleiben, denn er versperrte mir den Weg. Sein tiefer Blick hing auf meinem.
Vor mir stand kein Junge mehr, sondern ein junger Mann, der nun mehr als einen Kopf größer war als ich. Er war maskuliner geworden und wirkte erwachsener. Seine dunkelblonden Haare, deren Spitzen sich etwas wellten, weil sie länger waren, als ich es in Erinnerung hatte, fielen ihm leicht ins Gesicht. Sein Lächeln steckte mich, wie auch damals schon, wie von selbst an.
»Hi Elli«, begrüßte er mich. Seine Stimme war tiefer und rauer geworden, jedoch genauso sanft geblieben.
»Hi … Wie geht’s?« Ich schmunzelte, um mein Leid zu verstecken.
»Gut. Und dir?«
»Alles gut.« Ich presste meine Lippen zusammen. In letzter Zeit hatte ich Schwierigkeiten, mit jemandem ein Gesprächsthema zu finden, es war überhaupt schwierig, mit anderen zu reden.
»Hast du Zeit?«, fragte er und ärgerte nervös das Lenkrad seines neuen Motorrads.
»Nicht wirklich … Ich gehe zu Vi, sie hat etwas und wollte mich sprechen.«
»Ich glaube, sie wird es verstehen.« Das kam so sicher aus ihm heraus, dass ich stockte. Ausatmend wandte ich meinen Blick ab. Diese Begegnung kam mir plötzlich nicht mehr wie ein Zufall vor.
»Ich habe Violetta versprochen, dass ich komme«, versuchte ich ihn abzutun, doch er wich nicht zur Seite.
»Ich kann dich hinfahren.« Seine blauen Augen funkelten und das Lächeln war noch großzügiger geworden.
Schmunzelnd kniff ich meine Augen zusammen. »Das Haus ist dort!«, erwiderte ich und zeigte mit der Nase auf das Gebäude vor uns, obwohl er wusste, wo sie wohnte.
»Ich weiß. Ich wohne nämlich dort.« Er deutete auf das Nachbarhaus. Leicht verwirrt blinzelte ich, denn das wusste ich gar nicht. »Also, was sagst du?« Zögernd sah ich weg. »Außerdem habe ich dir ja mal versprochen, dass ich dich fahren werde, wenn ich ein richtiges Motorrad habe.«
Nun erstarrte ich völlig. Er hat das nicht vergessen?!
Ich überlegte, doch war schon Feuer und Flamme, das Adrenalin auf diesem hammermäßigen Ding zu verspüren. »Na gut«, gab ich nervös auf.
Triumphierend lächelnd setzte er sich sofort auf das Motorrad. Noch leicht unbeholfen hievte ich mich hinter ihn und hielt mich hinten an der Ablage fest.
»Halt dich lieber an mir fest.« Er wandte sich über die Schulter zu mir um, schaltete die Gänge und drehte etwas am rechten Spiegel.
»Nein, es ist gut so«, erwiderte ich sofort.
Er startete den Motor, gab einen Stoß nach vorn und bremste sofort scharf ab. Weil das so unerwartet kam, piepste ich kurz auf und beim Bremsen haute es mich an seinen Rücken.
Nick lachte auf. »Ich sagte doch, halt dich lieber an mir fest!«
»Hey, komm, das hast du aber mit Absicht gemacht!«, entgegnete ich kichernd. Er zuckte mit der Schulter und ich bemerkte sein Grinsen im rechten Spiegel. Und auch den Spiegel hast du mit Absicht so gedreht, damit du mich anschauen kannst!
Mit einem Augenrollen wegen seines neckischen Blicks fasste ich dann nach seiner Jacke.
»Halt dich doch an mir fest.« Er schob seine Jacke zur Seite. »Ich beiße nicht!«
Ich fing seinen Blick im Spiegel auf und machte einen ernsteren Gesichtsausdruck. »Ich aber!« Das kam bei ihm allerdings nicht so an, wie ich es beabsichtigt hatte. Er war amüsiert, ehe er dann sachte losfuhr.
Der Wind wehte mir die Haare ins Gesicht und ließ mich leicht frösteln. Ich igelte mich ein, und ohne es zu wollen, schmiegte ich mich nach und nach an seinen Rücken, als er auch schneller fuhr. Ich schloss die Augen, denn irgendwie beruhigte mich dieser Kick gerade. Womöglich war es auch das Gefühl seiner Wärme an meiner Brust, in der es so sehr vor Sehnsucht nach Nähe pochte. Das zauberte plötzlich für eine Weile die schönen Momente in meinen Sinn, als ich mich damals an Edwins Brust geschmiegt hatte. Meine Augen begannen zu brennen, weswegen ich sie öffnete, denn ich wollte jetzt nicht weinen. Dabei sah ich, dass wir die Hauptstraße wieder zurückfuhren.
Nick hielt genau vor Violettas Haus und ich sprang herunter, als er den Motor abstellte. »Und?«, wollte er wissen und lächelte mich dann erwartungsvoll an.
Ich schaute zu ihm hoch und nickte nur lächelnd, während er abstieg und neben mir stehen blieb. Sekundenlang sah er mir in die Augen, weswegen ich leicht nervös wurde, und versuchte, irgendwelche Worte zu finden. Seine wasserblauen Augen wurden matt. Den Blick kannte ich nur zu gut … Ich wollte einen Schritt nach hinten machen, aber kam nicht weiter, denn dort befand sich ein Fahrradständer. Verdammt. … Nick, bitte nicht. Ich begann innerlich zu zittern, während er einen Schritt auf mich zutrat. Sein Gesicht war meinem bereits so nah, dass ich seinen Atem spüren konnte. Was macht er bloß? Er war schon viel zu nah!
»Ähm, ich muss gehen«, nuschelte ich und wandte mich ab, um zu verschwinden.
»Warte bitte«, sagte er und umarmte mich an der Taille.
Komisch, aber ich widersetzte mich nicht. Warum eigentlich nicht? Keine Ahnung. Vielleicht war es tatsächlich das Verlangen nach Wärme. Oder waren es die Tränen, der Kummer und die Sehnsucht, die mir die letzten Kräfte raubten, um mich dagegen zu wehren?
»Elli, ich habe so lange darauf gewartet, dich endlich zu sehen.« Er schaute mir tief in die Augen und presste mich leicht zu sich. Ich versuchte, ihn mit Desinteresse anzuschauen, verspürte aber innerlich eine leichte Panik.
»Du … hast mich doch … mehrere Male gesehen.«
»Ja, aber da warst du vergeben.« Mir fiel die Kinnlade runter. Vi! Ich bringe sie um! »Elli, ich wollte dich die ganze Zeit zurückhaben.« Wie bitte? Ich war sprachlos, mein Atem ging unregelmäßig. Irgendwie verstand ich ihn, aber irgendwie auch nicht. Nein, ich weigerte mich bloß, seine Offenbarung anzunehmen. »Ich konnte dich nicht vergessen«, sagte er an meinem Gesicht, sodass ich seinen Atem bereits an meinen Lippen spürte.
Jetzt blieb mir die Luft weg, oder war es deswegen, weil er mich so rasch mit einem Kuss überwältigte. Er glitt mit der Zunge über meine Lippen und drang in meinen Mund. In meinem Kopf knallte es gewaltig. Nicht deswegen, weil in mir ein Feuer entfacht wurde. Nein. Wie auch damals schon löste sein Kuss nichts in mir aus. Vielmehr war es die Explosion der Erinnerungen an die heißen Küsse mit Edwin. Mein Herz wurde schwer und pumpte wie bekloppt.
Mit voller Kraft stieß ich Nick von mir. Wir stockten beide. Er schaute mich verliebt an und ich ihn entsetzt. Ich drehte mich rasch um, lief ins Haus und preschte in die erste Etage hoch. Japsend und völlig konfus donnerte ich unaufhörlich mit der Faust gegen Violettas Tür. Als sie diese endlich aufmachte, kassierte sie fast einen Schlag von mir auf die Stirn und duckte sich reflexartig mit zusammengekniffenen Augen. Ich lief wie eine Irre hinein und kleisterte mich an die Wand.
Violetta sah mich irritiert und mit großen Augen an. »Was ist denn los mit dir? Du bist weiß wie die Wand … Ach nein, so langsam wirst du irgendwie gelb im Gesicht«, scherzte sie kichernd. Vielleicht wusste sie wirklich nichts davon, wie ich es angenommen hatte.
»Vi, … da war«, schnaufte ich wegen zu weniger Luft oder in Panik. »Nick … Er hat mich geküsst!«, brachte ich schockiert heraus und sie sah mich verdutzt an. »Er sagte, dass er mich nicht vergessen konnte«, winselte ich das letzte Wort.
»Ist doch geil!«, rief sie erfreuet und ging in ihr Wohnzimmer, ohne wirklich überrascht zu sein.
Ich streifte rasch meine Schuhe mit den Füßen ab und lief hinter ihr her. »Geil? Was ist daran bitte schön geil?«, quiekte ich und blieb ihr gegenüber stehen, während sie es sich auf ihrem Sofa bequem machte und mich so anguckte, als ob sie meine Tirade schon erwartet hätte. »Du warst es! Du hast mich zu dir gerufen, um uns aufeinandertreffen zu lassen!« Meine Stimme war teils aufgebracht, teils leidend.
»Ach Elli, komm … Das ist sogar besser so.«
»Waaas?«, empörte ich mich nun richtig.
»So wirst du schneller von Edwin loskommen«, meinte sie und klopfte auf das Sofa, damit ich mich setzte.
»Vi, das ist Unsinn!«, erwiderte ich und ließ mich neben sie fallen.
»Na ja, wirklich, für dich schon. Du bist ja bei uns so ein braves und süßes Mädchen, das immer alles richtig macht!«, bemerkte sie irgendwie stichelnd.
Ich drehte meinen Kopf zu ihr und erinnerte mich daran, die gleichen Worte schon von meiner Mutter gehört zu haben. »Siehst du das wirklich so?«, hakte ich etwas ruhiger nach.
»Jap! Du musst dich entspannen, Elli! Lass dich fallen, lass Edwin los und genieß die Liebe, die dir geschenkt wird.«
Ich wollte aber keine andere Liebe haben. Ich wollte die Liebe, die ich bei Edwin gespürt hatte … bevor er diese Eifersuchtsdramen startete.
Da ich auf Violettas Aussage nicht reagierte, fuhr sie fort. »Lass uns doch nächsten Samstag zur russischen Disco düsen. Da kannst du dich auch entspannen.«
»Mal sehen …, wenn die Eltern es mir erlauben«, krächzte ich mit meiner miesen Stimmung. Ob ich mich dabei wirklich entspannen würde, war auch fraglich.
»Oh mein Gott!«, stöhnte sie. »Sag ich doch: brav.«
Augenrollend wandte ich mich ab. Wenigstens damit hatte sie nicht so ganz unrecht, vielleicht würde mich ein Discobesuch doch etwas ablenken.
»Weißt du was? Übernachte doch nach der Disco auch bei mir«, schlug sie freudig vor. »Es ist schon so lange her, dass wir die halbe Nacht rumgealbert haben.«
Immer mehr schloss ich mich in meinem Zimmer ein, bis ich nach und nach eins mit der Stille wurde. In ihr konnte ich über mein Verhalten, über meine Fehler nachdenken, abwägen, was falsch und richtig war, was man besser machen könnte und was man lieber gar nicht hätte tun sollen. Sie ließ mich in mich hineinblicken, um neuen Mut, Kraft und Hoffnung zu schöpfen, die mich freier durchatmen ließen. Die Stille wurde allmählich zu meinem besten Freund. Ich sah in ihr meine Geborgenheit, ich fühlte mich wohl, sie beruhigte mich. Sie war mein sicherer Hafen. Sie gehörte mir, nur mir allein, und ich teilte mein Leid mit ihr. Doch irgendwann begann sie ihrerseits Besitz von mir zu ergreifen, sodass ich, ohne es selbst zu merken, langsam in ihr unterging.
Juni 2001
Fast vier Wochen waren vergangen, nachdem ich Edwin ein für alle Mal gesagt hatte, dass es zwischen uns aus war, und mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Im Herzen schmerzte die Wunde, meine Seele erstickte mich mit der Sehnsucht nach ihm und mein Gewissen nagte an mir. All das vernebelte meine Sinne. Seit Wochen saß ich an meinem liebgewonnenen Platz auf dem Sofa, starrte den Kiefernwald vor dem Fenster an und scheuerte seinen Ring in meiner Hand. Die Stille hatte mich bereits in ihren Sog gezogen und ich suhlte mich immer mehr in meinen Phantasien, dort wo ich mit Edwin zusammen sein durfte. Da waren wir glücklich und liebten uns ohne Grenzen, ohne Schmerz, Zweifel oder Ängste. Nichtsdestotrotz bedrückte es mich immer mehr, denn so konnte ich ihn nicht loslassen, nicht vergessen. Die erste große Liebe konnte man eh nicht vergessen und so eine, wie wir sie hatten, erst recht nicht.
Dennoch verstand ich, dass es mich brechen könnte, wenn ich nicht dringend etwas dagegen unternahm, und war dann doch etwas froh, als der Samstag gekommen war. Der geplante Discobesuch und die Übernachtung bei Violetta sollten stattfinden. Zustand? Glaube, schon psychotisch. Oder schon depressiv? Ich versuchte, alles anzunehmen, was und wie es kam. Bloß durfte ich dabei nicht vergessen, meine schöne und immer lächelnde Maske anzulegen. Momentan hatte ich das Gefühl, dass mein Leben mir entglitt und ich von Tag zu Tag mehr verdarb. Violetta hatte recht: Ich brauchte eine Ablenkung und bereute deswegen nicht, diesen ihren Vorschlag angenommen zu haben.
Ich schminkte mich seit langer Zeit wieder etwas und parfümierte mich. Dann kleidete ich mich recht schlicht, in eine dunkle Jeans und eine weiße Nadelstreifenbluse, warf mir mein durchgescheuertes Lederjäckchen um und zog meine neuen cremefarbenen Sneakers an. Handy, Schlüssel, Labello … hab alles.
Papa überließ mir heute seinen Audi, was meine Mutter unzufrieden stimmte. Sie wollte mich nicht zur Disco sowie bei Violetta übernachten lassen, aus Prinzip, aus Trotz, dass ich ihrem Wunsch nicht nachkam und mich nicht mit Edwin versöhnen wollte. Ja, das Thema war noch sehr aktuell. Es war eher mein Vater, der mich in die Disco gehen ließ, weshalb sie seinetwegen nun auch noch schmollte.
Nachdem ich Violetta abgeholt hatte, fuhren wir los. Wir bogen auf die mir gut vertraute Landstraße ein. Wie oft war ich hier mit ihm durchgefahren. Jetzt fuhr ich selbst diese Strecke entlang und der Kiefernwald kroch geradeheraus hartnäckig in mein Unterbewusstsein. Zu fest klammerte ich mich am Lenkrad fest und versuchte, nicht durchzudrehen, weswegen mein Herz immer schneller schlug. Es war so grausam, wenn man sich nach jemandem sehnte und sich zusammenreißen und es unterdrücken musste.
Endlich kam der Kreisel, an dem ich in die andere Richtung abbog und nicht in Edwins Stadt weiterfuhr. Ich entspannte mich und atmete immer freier durch, weil auch die Landschaft drum herum sich änderte und mich mit ihren weiten Feldern somit nicht mehr an Edwin erinnerte.
»Hast du Nick gesehen?«, durchbrach Violetta die Stille.
»Nein, wieso?«
»Nur so.«
»Ehrlich gesagt ist das auch gut so, dass ich ihn nicht sehe«, brummte ich.
»Na was ist denn los, Elli?«, fragte sie, als sie meinen angespannten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Ach nichts!«, zischte ich. »Will ich nicht … All das!«
»Was genau?«
»Nick! Diese Liebeleien! Irgendwelche Gefühle zu haben … oder sie von jemandem zu spüren!«, erwiderte ich verärgert.
»Ich glaube aber, dass alles gut ist. Es ist genau das, was du brauchst. Dich mit jemandem einzulassen und die Vergangenheit zu begraben.«
»Oh mein Gott, Vi, ich bitte dich! Ich bin ohnehin schon ein nervliches Wrack«, gab ich gereizt zurück.
»Mann, na und? Was ist daran so schlimm, dass er dich liebt?«
»Er liebt mich noch?!«, fragte ich irritiert und sah sie während des Fahrens immerzu an.
Sie presste schuldbewusst die Lippen zusammen. Das tat sie meistens, wenn sie ertappt wurde. »Als ob du das nicht wüsstest!« Augenrollend wandte ich mich wieder ab. Natürlich wusste ich das, ich wollte es nur nicht wahrhaben. »Klar liebt er dich noch!«
»Vi, bitte nur nicht das! Ich will einfach nicht, dass mich jemand liebt!«, würgte ich hervor. »Außerdem will ich Nick die Wahrheit sagen!«
»Welche Wahrheit?«
»Dass ich Edwin liebe.«