Brendels Fantasie - Günther Freitag - E-Book

Brendels Fantasie E-Book

Günther Freitag

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Beschreibung

»Fast beneide ich diesen Höller! Ja, er ist krank, ja, er ist verrückt, aber welche Leidenschaft treibt ihn! Nur wer brennt, lebt.« Elke Heidenreich

Weil er bald sterben wird, will Höller endlich seinen größten Traum verwirklichen. Also lässt er sein Leben an der Seite einer Staranwältin hinter sich, verkauft seine Fabrik und bricht in die Toskana auf. Hier soll Alfred Brendel für ihn die endgültige Interpretation von Schuberts »Wandererfantasie« spielen. Der merkwürdige Fremde, der zuweilen mit einem Handtuch um seinen schmerzenden Kopf gewickelt Gemeindesäle besichtigt, sich unter den Hinkenden und Zahnlosen im Altenheim von Castelnuovo Saaldiener aussucht und in dem Provinznest eine Konzerthalle errichten will, stößt bei den Einheimischen auf Befremden. Doch anstatt dem Tod wenigstens in Gedanken zu entkommen, begegnet Höller ihm auf Schritt und Tritt – in Form skurriler Gestalten und bizarrer Begebenheiten. Schließlich muss er erkennen – es gibt kein Entrinnen, weder vor dem Tod noch vor dem eigenen Leben ...

Die meisterhafte Schilderung einer Obsession - subtil, komisch und stilistisch meisterhaft erzählt.

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Seitenzahl: 246

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Inhaltsverzeichnis
 
 
Copyright
Der Tod kam ihm vor wie ein Puppenspieler, der rasch einen Herzog braucht.
RAINER MARIA RILKE
OBWOHL NACH DER Pause seine Lieblingssonate auf dem Programm steht, verlässt Höller den Palazzo Papesse und geht die schmale Gasse hügelabwärts zur Piazza del Campo. Nur wenige Menschen sind mit ihm unterwegs an dem feuchtkalten Herbstabend, die meisten von ihnen mit hochgestellten Krägen und kunstvoll um den Hals drapierten Schals, wie es die Mode seit Kurzem diktiert. Und, das erstaunt ihn immer wieder aufs Neue, in diesem Land, das so viel auf Äußerlichkeiten hält, befolgen auch Menschen jenseits der sechzig diese Diktate. Es muss zahllose Varianten geben, in denen die neuerdings bunt gestreiften Schals um den Hals gelegt werden, wobei jedoch bei den meisten ihr ursprünglicher Zweck, den Träger zu wärmen, verloren gegangen und bloßem Dekor gewichen ist. Höller erinnert sich an seinen Versuch vor ein paar Tagen, den Schal in ähnlicher Weise zu binden, welchen er aber sofort abgebrochen hat, nachdem er sein Spiegelbild zufällig im Foyer der kleinen Pension, in der er seit einigen Wochen lebt, gesehen hat.
Vor einem verschlossenen Laden, dessen Auslage vollgestopft ist mit ekelhaft geschmacklosen Keramiken, raucht er eine Zigarette und stellt sich vor, wie sich in der Reisezeit Besucher aus aller Welt durch die schmale Gasse zwängen, von einem Erstaunen über die Piazza zum nächsten über den Dom eilend, und die Läden stürmen. Keramiken mit den Symbolen der Kontraden, kitschige Aquarelle, Wildschweinwürste und gestreckten Trüffel raffen sie mit derselben Begeisterung zusammen wie Armanijacken, Furlataschen und Guccischmuck, wonach sie mit all dem Plunder in der Pasticceria Nannini einfallen, die sie sich nicht entgehen lassen, weil doch die Tochter Sängerin und der Sohn Autorennfahrer ist, an einem solchen Ort dürften die Süßigkeiten schon einmal mehr kosten, verleibe man sich mit diesen doch mehr oder weniger auch die Nähe von zwei Weltberühmtheiten ein, wozu sich nicht alle Tage die Gelegenheit bietet. Dass an der Hauswand die Gedenktafel für den bedeutendsten Dichter der Stadt verwittert, fällt den wenigsten auf. Und jenen, denen die Tafel nicht entgangen ist, sagt der Name nichts. Es lohne sich auch nicht, sich diesen zu merken, werden sie im Weitergehen denken, denn würde sie auf eine Berühmtheit hinweisen, würde sie sich wohl kaum in einem derart bedauernswerten Zustand befinden …
Höller wirft die Zigarette durch ein Kanalgitter und geht weiter. Ärgert sich darüber, dass er seine Zeit mit der sinnlosen Vorstellung von Touristenhorden vergeudet, die sich durch alle Städte der Welt wälzen und überall neben ihrem Geld die gleiche Verwüstung hinterlassen. Ihm bleibt zu wenig Zeit, als dass er diese mit Schaldrapierungen und Kitschläden verschwenden dürfte.
Auf den steilen Stufen zur Piazza ist er in seinen Gedanken wieder bei dem Klavierabend im Palazzo Papesse angelangt. Sitzt mit Sophie in der zweiten Reihe auf einem Platz, von dem aus er die Hände des Pianisten, dessen Namen er schon vergessen hat, über die Tastatur fliegen sieht. Ein junger Italiener, nicht unbegabt, technisch versiert, dynamisch in seinen Läufen und klar in seinem Anschlag. Ein junger Mann mit der Figur eines Athleten, einer langen schwarzen Mähne, die er in seinem Nacken zu einem buschigen Zopf gebunden hat. Eine gefällige Erscheinung, welche gewiss die meisten weiblichen Konzertbesucher beeindruckt und deren Begleiter für einen kurzen Augenblick verunsichert …
Höller lässt sich im Café Palio den caffè doppio ins Freie servieren. Ob er bei diesem Wetter tatsächlich im Freien sitzen möchte, fragt der Kellner und kehrt kopfschüttelnd ins Innere zurück. Schon wieder hat er sich durch Nebensächlichkeiten ablenken lassen. Er hat das Konzert ja nicht wegen des Pianisten besucht, sondern allein wegen des Saals im Palazzo. Schließlich geht es darum, den idealen Platz für die Fantasie zu finden. Nachdem seine Wahl auf Castelnuovo gefallen ist, hat dieser Konzertbesuch nur dazu gedient, ihn in seiner Entscheidung zu bestärken. Denn davon ist Höller überzeugt: Für jedes Kunstwerk existiert der ideale Ort, an dem es präsentiert werden kann. Sich den David an einem anderen Platz als der Akademie in Florenz vorzustellen wäre der gleiche Unfug, wie den Palio nicht auf der Piazza del Campo zu veranstalten. Und die Wandererfantasie muss ihre endgültige Interpretation in Castelnuovo erfahren. Eine Aufführung, nach der sie nirgendwo mehr gespielt werden könnte.
Ob der zweite Teil schon begonnen hat? Sophies müder Blick, als er ihr seinen Entschluss mitgeteilt hat, auf die beiden Impromptus und die Sonate zu verzichten. Weshalb er sie dann aus der Pension gelockt und hierher geschleppt habe, wo er doch wisse, dass sie sich für Klaviermusik nicht mit dem gleichen Fanatismus wie er begeistere und die kalte Feuchtigkeit ihren angegriffenen Bronchien schade? Eine Frage, auf die er eine Antwort schuldig blieb, schon aus dem Grund, weil es keine gab. Zumindest keine, die Sophie hätte verstehen können. Und nach all den Ehejahren, in denen sie sich immer weiter voneinander entfernt hatten, genügte ihr auch sein Schweigen. Sie versuchte ihn nicht zu überreden, doch zu bleiben, fragte auch kein zweites Mal nach seinem Grund, sagte nur, er möge im Café Palio auf ihren Anruf warten, sie werde ihn nach dem Konzert mit einem Taxi abholen.
Höller genießt den Blick über das Oval der menschenverlassenen Piazza, der Lärm aus dem La Mangia stört ihn nicht, weder die Stimmen noch die gedämpfte Musik. Von Zeit zu Zeit kommen Menschen aus dem Inneren des Restaurants ins Freie, um eine Zigarette zu rauchen. Dann stehen sie in einer Gruppe vor dem Eingang, lachen miteinander, und Höller beneidet sie für einen kurzen Augenblick um das Gemeinsame, das sie verbindet. Aber während er auf seinen zweiten caffè doppio wartet, verklingt dieses Gefühl, weil es an diesem Abend nicht mehr stimmt. Nicht mehr in sein Leben stimmt, in dem es keinen Raum mehr gibt für Dinge, die nicht mit der Fantasie und ihrer endgültigen Interpretation zu tun haben. Wie leicht sein Leben mit einem Schlag geworden ist, nachdem er alle kleinen Ziele aus seinem Blickfeld verloren hat, bloß noch ein einziges geblieben ist. Und Höller bedauert die Menschen vor dem Restaurant, die gewiss ihr Leben zwischen Ansprüchen, Wünschen, Hoffnungen und Enttäuschungen zerreißen, sodass davon nur Bruchstücke übrig bleiben, die sie während einer Feier versuchen zusammenzufügen. Doch am nächsten Morgen werden sie unter Trümmern aufwachen, und dasselbe Spiel beginnt von Neuem. Der Kellner kommt an seinen Tisch, und die lachenden Menschen vor dem La Mangia sind im Restaurant verschwunden.
Ob er Signor Höller sei? Die Signora warte in einem Taxi auf der Straße hinter der Piazza auf ihn.
 
 
ALS DAS TAXI auf die Tangenziale einbiegt und der Fahrer den Wagen beschleunigt, fasst Sophie nach Höllers Hand. Eine Weile sieht sie ihn schweigend an, dann flüstert sie, es sei noch nichts entschieden, er könne seine Pläne überdenken und einen Irrtum rechtzeitig erkennen, um einen schwerwiegenden Fehler zu vermeiden, der sich nicht mehr korrigieren ließe. Höller schweigt, und Sophie gibt seine Hand frei. Er müsse doch an die Zukunft der Kinder denken. Auch wenn er sich in den letzten Jahren immer weniger für seine Kinder interessiert habe, seien es doch auch seine Kinder, für die er Verantwortung trage. Er könne nicht leben, als wäre er allein auf der Welt, frei von allen Verpflichtungen …
Höller schweigt, und Sophie sagt, sie werde am nächsten Morgen zurückfliegen, in ein paar Tagen beginne jener Prozess, den die Medien zum Prozess des Jahres erklärt hätten und in welchem sie einen hohen Politiker verteidige, der unter Korruptionsverdacht geraten sei. Diese sinnlose Reise, deren einziger Zweck es sei, den idealen Ort für ein Schubertkonzert zu finden, habe sie wertvolle Vorbereitungszeit gekostet. Nun müsse sie sich wieder in die Akten einlesen, Tag und Nacht arbeiten, um den Fall nicht schon am ersten Verhandlungstag zu verlieren. Und nach einer längeren Pause: Vielleicht könnte sie seine Beweggründe für diese absurde Suche verstehen, würde er mit ihr sprechen. Doch er schweige seit Monaten, weiche ihr aus, auch dass er jedes Interesse an seiner Arbeit verloren habe, sei ihr nicht entgangen. Zuerst habe sie gedacht, er sei überarbeitet, suche Erholung, die er in der Musik finden könne, wonach er sich wieder mit voller Kraft um den Betrieb kümmern werde. Wochenlang kein Wort, bis er ihr in einem Nebensatz mitgeteilt habe, er werde den Betrieb an die Russen verkaufen. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Verhandlungen bereits kurz vor ihrem Abschluss gestanden seien.
NACHDEM SIE IN Castelnuovo angekommen sind, will Sophie nicht sofort in die Pension. Er könne ja schon vorgehen, wenn er müde sei. Sie müsse noch ein paar Schritte in der frischen Luft laufen, um ihren Kopf freizubekommen für den Prozess, in welchem es um mehr gehe als bloß um Sieg oder Niederlage. Dieser Prozess könnte, gelänge es ihr, den Minister vor einer Verurteilung zu bewahren, ihre Kanzlei zu einer der ersten im Land machen. Ein für den Politiker günstiger Ausgang würde mit dem Ansehen auch den Kreis zahlungskräftiger Klienten erweitern. Sie würde neue Anwälte beschäftigen, neben den Hauptgebieten der Strafverteidigung und Scheidungsangelegenheiten auch daran denken, Wirtschaftsfälle zu betreuen.
Als Sophie die Tür des Pensionszimmers öffnet, liegt Höller mit geschlossenen Augen im Bett.
Schläfst du? Sophie wirft ihren Mantel über die Lehne des Fauteuils, stellt die Schuhe vor das Bett und geht ins Bad. Durch einen Türspalt sieht Höller, wie sie sich auszieht, das Haar mit einem Band zusammenknotet und unter die Dusche tritt. Weiße Haut sieht er wie durch Nebelschlieren, immer bloß Ausschnitte, niemals den ganzen Körper. Unter der Bettdecke beginnt er sein Glied zu reiben. Zaghaft zuerst, dann kräftiger, aber das lächerliche Stück Fleisch zwischen seinen Beinen richtet sich nicht auf. Trotz der größten Erregung, gewiss eine Reaktion auf die Schmerzmittel, denkt Höller.
Du schläfst doch nicht! Sophie steht nackt vor dem Bett. Nur wenig Licht fällt in den Raum. Höller sieht auf ihrer Haut Wassertropfen glitzern, das nasse Haar hat sie in den Nacken gekämmt, noch immer hält er sein schlaffes Glied. Sophie löscht das Licht im Bad und legt sich neben ihn. Sie werde die Pension früh verlassen, um in Florenz die erste Maschine zu erreichen. Aber sie vertraue ihm, sagt Sophie vor dem Einschlafen, sie vertraue auf seinen Menschenverstand und auf sein Verantwortungsgefühl. Auch dass er sie während der Prozesstage schwer erreichen könne, sagt sie, er möge doch in der Kanzlei eine Nachricht hinterlassen, wenn er zur Vernunft gelangt sei.
 
 
HöLLER STEHT AM Fenster im Salon der kleinen Pension und sieht auf die Piazza. Was für ein Nebel!
Keine Seltenheit in dieser Jahreszeit, sagt die dicke Pensionswirtin, die Herbstnebel sind am hartnäckigsten. Der pensionierte Professor ist über dem Corriere eingenickt.
Soll ich eine Platte spielen?, fragt die Wirtin.
Höller nickt, ohne sich vom Fenster abzuwenden.
Schubert?
Gewiss, Signora Carmela, Schubert!
Umständlich reinigt die Frau die Schallplatte, auch den Tonabnehmer. Ein helles Knistern. Zu den Anfangsakkorden der Wandererfantasie wacht der Professor auf. Sie werde ein besseres Gerät anschaffen, sagt die Frau, eines wie es in der Bar auf der Piazza stehe. Ohne störende Nebengeräusche.
Don Cesare kommt aus der Bar und wankt auf die Kirche zu.
Am Nachmittag liest er die Messe?, wundert sich Höller.
Wo denken Sie hin?, lacht der Professor. Er wird in die Sakristei gehen, um seinen Rausch auszuschlafen. Seinen Nachmittagsrausch.
Don Cesare ist tatsächlich betrunken?
Vollkommen, sagt der Professor und liest wieder im Corriere.
Aber er ist ein guter Priester, sagt Signora Carmela. Der beste, der jemals in Castelnuovo die Messe gelesen hat.
Trotz der Gerüchte!, wirft der Professor ein.
Gerüchte? Höller sieht den Professor fragend an. Böswilligkeiten! Unhaltbares Geschwätz! Von Kommunisten und Sozialisten in die Welt gesetzt! Mit einem vernichtenden Blick bringt die Wirtin den Mann zum Schweigen.
Gerüchte eben, sagt dieser und vergräbt sich in den Corriere. Später, als Signora Carmela in der Küche verschwunden ist, kommt der Professor wieder auf Don Cesare zu sprechen, sagt, Höller habe ja gehört, dass es in diesem Haus nicht erwünscht ist, über den Priester zu reden. Also werde er von ihm nicht hören, dass es heiße, Don Cesare mache sich an die Dorfjugend heran, an die Ministranten und an die Mädchen aus dem Kirchenchor. Er werde ihm auch nicht erzählen, dass der Priester mit einem nackten Ministranten auf seinen Schenkeln in der Sakristei angetroffen worden sei. Wenn Sie diese Dinge hören wollen, womöglich mit allen Einzelheiten, dann müssen Sie zu den Kommunisten ins Parteilokal der Rifondazione gehen!
 
 
IM BAD ENTDECKT Höller Dinge, die Sophie vergessen hat. Ihr Duschgel, das sie auf alle Reisen mitnimmt, eine Haarbürste und einen Flakon. Er öffnet ihn und riecht ein paar Sekunden mit geschlossenen Augen den vertrauten Duft. Als er sich Sophie vorzustellen beginnt, öffnet er seine Augen wieder und wirft alles in den kleinen Abfalleimer unter dem Waschbecken.
Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.
 
 
NEHMEN SIE DOCH einen Schirm!, ruft ihm die Wirtin nach, als Höller das Haus verlässt. Kommen Sie in den Regen, holen Sie sich eine Lungenentzündung.
Er hört nicht auf sie und überquert mit der Fantasie in seinem Kopf die Piazza. Vor dem Lebensmittelladen schleppt ein hinkender Alter Kartoffelsäcke. Jeder Schritt bereitet ihm Schmerzen, sieht Höller und denkt, das wenigstens bleibt ihm erspart. Vor der Schwäche und den Krankheiten des Alters muss er sich nicht fürchten.
In der Bar setzt er sich an einen Tisch mit alten Männern, die ihn aus den Augenwinkeln beobachten. Als er eine Runde Grappa bestellt, stecken sie ihre Köpfe zusammen, tuscheln und zögern. Dann nimmt einer die Einladung an, während die Übrigen wie im Takt zustimmend nicken.
Auf Ihr Wohl! Sie seien aus der Fattoria, erfährt Höller.
Landarbeiter?
Wo denken Sie hin? In unserem Alter. Die Fattoria produziere längst nichts mehr, sei von ihrem Besitzer zu einem Altenheim umgebaut worden.
Höller bestellt eine zweite Runde. Schweigend trinken die Männer. Dann fragt ihr Sprecher, ob er sich um einen Platz in der Fattoria bewerben wolle. Das sei im Augenblick nicht möglich, es gebe kein freies Bett. Aber Giuseppe verlasse sein Zimmer seit Monaten nicht mehr, werde wohl bald sterben. Nach diesem Satz zuckt Höller zusammen und bestellt eine nächste Runde, obwohl die meisten ihre Gläser noch nicht geleert haben. Nach Giuseppes Tod könne er sich um dessen Bett bewerben. Auf ihre Unterstützung könne er zählen. Die Männer trinken und nicken ihm zu. Sie müssten sich nun auf den Heimweg machen, er könne sie aber immer, wenn es das Wetter zulasse, am Nachmittag in der Bar treffen. Sie würden ihm dann über Giuseppes Zustand berichten.
AUF DEM KLEINEN Postamt lässt sich Höller Briefpapier geben. Während er an einem Stehpult schreibt, beobachtet ihn der Beamte von seinem Schalter aus.
Es ist doch möglich, von hier aus einen Eilbrief nach England zu schicken?
Gewiss!, sagt der Beamte und nennt den Preis.
Verehrter Meister, schreibt Höller, endlich habe ich den idealen Aufführungsort für die Fantasie gefunden. Wenige Kilometer von Siena entfernt in einer Landschaft, die mit den Klängen und Rhythmen eine Einheit bilden wird. In welche Richtung ich auch blicke, die perfekte Harmonie … Gewaltige Vorbereitungsarbeiten lägen noch vor ihm. Es existiere kein geeigneter Saal, der Gemeindesaal (verkommene Mussoliniarchitektur!) sei ungeeignet, müsse erst nach musikalischen Gesichtspunkten umgestaltet werden. Die Landschaft sei ideal, doch fehle es am Nebensächlichsten. Nicht einmal geeignete Saaldiener gebe es im Ort … Doch werde er, wenn er seine Zusage in Händen halte, diese Unzulänglichkeiten in der kürzesten Zeit bereinigen. Ob er seine vorangegangenen Briefe erhalten habe, schreibt Höller, und ob es möglich sei, dass diese ihren Weg zu ihm nicht gefunden hätten. Die Postverhältnisse in diesem Land seien schließlich nicht die besten. Am Geld, versichert Höller abschließend, wird die Fantasie nicht scheitern, denn nach dem Verkauf meines Betriebs werde ich über erhebliche Mittel verfügen.
Es kommt nicht oft vor, dass von diesem Postamt ein Brief ins Ausland geschickt wird, sagt der Beamte. Noch dazu per Luftpost nach England. Signor Brendel ist ein Verwandter?
Er nickt, und der Mann klebt Briefmarken auf das Kuvert.
HÖLLER ÜBERQUERTDIE Piazza. In seinem Kopf klingt die Wandererfantasie, Salzburger Aufnahme, November 1971, und übertönt den dumpfen Schmerz. Hinter der Kirche fällt der Hügel, auf dem der Stadtkern liegt, plötzlich schroff ab. Eine niedrige Mauer zieht sich bis zum Gemeindesaal. An ihr geht Höller im Rhythmus der Fantasie entlang. Ein paar Kinder beobachten ihn und laufen später, seinen Gang imitierend, über die Piazza.
Signora Carmela erwartet ihn an der Tür, fragt, ob Höller Kaffee wünsche, es würde bloß ein paar Minuten dauern. Dann beklagt sie sich darüber, dass er nicht auf ihre Warnungen gehört hat, sie habe ihm doch gesagt, er müsse einen Schirm …
Ist ein Brief aus England angekommen?
Nein, kein englischer Brief, kein einziger Brief an diesem Morgen, sagt sie und geht in die Küche.
Höller hängt seine feuchte Jacke über den Heizkörper und setzt sich dem schlafenden Professor gegenüber an einen Tisch, von dem aus er die Piazza beobachten kann.
Italien ist eine Utopie!, ruft der Professor im Aufwachen. Eine Utopie, die schon als Idee zum Scheitern verurteilt gewesen sei, weil die Politiker korrupte Gauner seien, welche ihre Verbrechernatur dadurch zu verheimlichen versuchten, dass sie seriöse Politiker imitierten. Er wirft den Corriere zu Boden und redet in seinem üblichen Tonfall weiter. Wörter richteten nichts aus gegen das Scheitern. Er habe sich hierher zurückgezogen, um nicht zum Komplizen zu werden.
Keine Politik in meiner Pension!, versucht die Wirtin den Mann zu beruhigen. Denken Sie an Ihr Herz! Keine Aufregungen, keine Politik!
Die Politiker in diesem Land erinnerten ihn an den Sohn eines Kollegen aus dem Lyzeum, flüstert er Höller nach einer kurzen Pause zu, der einzige Unterschied bestehe darin, dass es mit dem Jungen ein schreckliches Ende genommen habe, während die Politiker immer grinsend alle Angriffe abwehrten.
Der zweijährige Sohn eines Professors für Mathematik und Physik war zum Imitator geworden, ohne dass ein Familienmitglied ihn auf diese Idee gebracht hatte. Noch bevor er laufen konnte, imitierte er alles, was in seinem Gesichtskreis auftauchte. Stimmen, Gesten, Tonfälle, Geräusche, Tiere, nichts war vor seiner Nachahmung sicher. Sogar Gegenstände versuchte er nachzuahmen.
Die Eltern fürchteten, der Junge werde zum Sonderling, und versuchten ihn von seiner unerklärbaren Sucht abzulenken. Sie kauften Spielsachen, lasen ihm stundenlang aus Büchern vor, aber der gewünschte Erfolg stellte sich nicht ein. Schließlich resignierten sie und meinten, auf die Eigenart des Kindes angesprochen, in dem Jungen stecke ein Künstler.
Kamen Besuche, drängte sich der Junge mit seinen Imitationen in den Mittelpunkt, und die meisten jener Gäste, die häufiger in die Wohnung des Kollegen kamen, überlegten sich vor ihrem Besuch eine neue Aufgabe für den Künstler.
Der Junge imitierte Schlangen, Bären, Hühner, Präsidenten, Autos, Bäume, Elektroherde und vieles mehr. Konnte er eine der Aufgaben nicht auf Anhieb lösen, sperrte er sich in seinem Zimmer so lange ein, bis er sich mit seiner Darstellung vor die Gäste wagte.
Ein Mathematiker aus Viterbo, der mit dem Vater des Imitators eine knifflige mathematische Frage zu besprechen hatte und den Quälgeist für eine Weile aus dem Raum schaffen wollte, kündigte diesem sofort nach seinem Eintreten an, dass er ihm dieses Mal eine schwierige Aufgabe stellen werde. Der Junge möge versuchen, einen Steinadler darzustellen.
Ein Kinderspiel, lachte der Nachahmungskünstler und stieg auf einen Stuhl vor dem geöffneten Fenster. Bevor die beiden Männer es hätten verhindern können, breitete der Junge die Arme aus und stürzte sich aus dem Fenster. Die Wohnung des Kollegen lag im Hochparterre, und so brach sich der Junge bloß einen Arm. Als sich die beiden Mathematiker aber kurz darauf zu dem Kind beugten, sahen sie, dass es tot war. Der Schock nach der Verletzung habe das Kind getötet, urteilte der Pathologe, aber der Vater meinte, es sei die Enttäuschung darüber gewesen, als Imitator kläglich versagt zu haben.
 
 
WIEDER DIESER DUMPFE Schmerz an der rechten Schläfe. Der Druck, an den sich Höller während der letzten Monate beinahe schon gewöhnt hat, wird von einem Pochen und Hämmern übertönt, obwohl er am Morgen die Dosierung des Schmerzmittels erhöht hat. In Mineralwasser löst er eine weitere Tablette auf, um ihre Wirkung zu beschleunigen. Und dann beginnen die Schmerzen vom Kopf aus in den übrigen Körper zu wandern, sickern in Hals und Schultern, pressen seinen Brustkorb zusammen, später, kurz bevor er sich auf das Bett legt, schneiden sie in seinen Darm; Höller zieht seine Beine, auf der Seite liegend, an den Bauch und wartet schwer atmend darauf, dass die Tablette zu wirken beginnt und er einschlafen wird.
Die Piazza ist gefüllt mit alten Männern. Aneinandergedrängt stehen sie und glotzen zum Kirchenportal, in dem Don Cesare erscheint. Nur mit größter Mühe können zwei nackte Ministranten den betrunkenen Priester stützen. Weiß leuchten ihre dürren Körper neben dem Schwarz des Priesters. Kniet nieder!, befiehlt er, und die Männer befolgen schwer atmend seinen Befehl. Krücken und Gehstöcke knallen auf das Pflaster. Ein kurzatmiges Stöhnen liegt über der Piazza. Kein Kopf, an dem nicht eine Deformation zu erkennen ist. Eierköpfe,
Verlagsgruppe Random House
 
 
1. Auflage
© der Originalausgabe 2009 by Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
 
eISBN : 978-3-641-03679-9
 
Leseprobe
 

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