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Ganz Brooklyn ist aus dem Häuschen: Baseball-Star Jake Thomas, der hier aufgewachsen ist, hat einen Besuch angekündigt. Nur einer freut sich nicht: sein alter Kumpel Ryan Rossetti. Jake hat alles, wovon er und Ryan geträumt haben, als sie in ihrer Jugend zusammen Baseball spielten: den Ruhm, das Geld, jede Menge Frauen dabei ist er seit der Highschool mit der schönen Christina zusammen. Ryan dagegen musste nach einer Verletzung seine Sportkarriere aufgeben und hält sich mit Malerarbeiten über Wasser.
Was Jake aber nicht weiß: Ryan liebt Christina, und Christina liebt ihn. An diesem Wochenende will sie endlich mit Jake Schluss machen. Doch der hat andere Pläne: Die Bekanntgabe seiner Verlobung wäre die perfekte Schlagzeile, um einen drohenden Sex-Skandal abzuwenden.
Wird Ryan diesmal Jake ausstechen? Als die Rivalen auch noch zwischen die Fronten einer Gang-Fehde geraten, brennt so manche Sicherung durch."
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Seitenzahl: 510
Jason Starr
Brooklyn Brothers
Roman
Aus dem Amerikanischen von Ulla Kösters
Diogenes
Für P.B.B.H. und L.B.
Am Tag, als Jake Thomas nach Brooklyn zurückkam, spannten seine Eltern (die noch immer in Canarsie lebten, nur drei Häuser neben den Rossettis) ein riesiges Banner quer über die Straße, von Baum zu Baum:
WILLKOMMEN DAHEIM, JAKE! UNSER HELD!
Auf dem Weg zur Arbeit musste Ryan Rossetti unter diesem Banner hindurchfahren. Normalerweise hätte ihn das nicht sonderlich gestört, aber bereits seit mehr als einer Woche grassierte im gesamten Viertel das ›J.T.-Fieber‹: Auf einmal lief jeder mit einem ›Thomas 24‹-Trikot oder einer Pirates-Baseballcap herum. Hunderte Autofahrer kurvten stolz mit dem ›Brooklyn liebt Jake‹-Aufkleber durch die Gegend, den das Autohaus an der Ralph Avenue an seine Kunden verteilte. Einige Geschäfte hatten ihre Schaufenster mit Plakaten dekoriert, die Jake in Lebensgröße zeigten, und Pete, der Herrenfriseur in der Avenue N, rasierte jeden kostenlos, der eine Jake-Thomas-Baseballkarte vorzeigen konnte. Pizzerien, Restaurants, Bars, Feinkostläden und selbst ein Nagelstudio warben mit Jake-Thomas-Sonderangeboten. Der Canarsie Courier titelte: ›Brooklyns Sohn kehrt heim.‹ Wohin Ryan auch schaute, aus allen {8}Zeitungsauslagen grinste ihm Jake mit strahlend weißen Zähnen entgegen.
Ryan drehte den CD-Spieler im Impala voll auf und sang lauthals zu Nellys Hot in Herre mit. Kurz darauf parkte er in zweiter Reihe vor dem Deli in der Flatlands Avenue, um sich wie gewohnt ein Brötchen mit Schinken und Ei und einen schwarzen Kaffee mit vier Stückchen Zucker zu holen. André, der noch in die Highschool ging, jobbte dort an der Kasse. »Und? Jake Thomas schon eingelaufen?«, fragte er Ryan.
»Keine Ahnung.« Ryan schüttelte den Kopf und suchte in seiner Hosentasche nach Geld, dabei hatte er längst einen Fünfer auf die Theke gelegt.
»Haste schon gehört? Die schmeißen ’ne Straßenparty für ihn.«
»Ach ja?« Ryan tat, als wüsste er von nichts, dabei bereitete Jakes Mutter dieses Fest seit Wochen vor, und seine eigene Mutter hatte gestern die halbe Nacht damit zugebracht, Unmengen ihrer berühmten Lasagne zu kochen.
»Jep, die Einundachtzigste wird gesperrt, Essen gibt’s für umme und außerdem Musik, Disco, das volle Programm.«
»Ja, ja«, sagte Ryan, »hab so was läuten hören.«
»Ich geh hin, auf jeden Fall«, erklärte André. »Will den Champ der National League mal ganz aus der Nähe sehen, ihm die Hand schütteln und mich mit ihm zusammen ablichten lassen. He Mann, was meinste? Schreibt der mir ’n Autogramm auf ’nen Baseballschläger, wenn ich einen mitbring?«
»Warum nicht?« Ryan steckte das Wechselgeld ein und verließ den Laden. Kurz darauf bog er in Mill Basin in die {9}Auffahrt eines Hauses im Withman Drive ein. Er ließ die Musik an und machte sich über sein Frühstück her. Als er aufgegessen hatte, blieb er noch einen Augenblick sitzen. Er war fest davon überzeugt, dass es Unglück brachte, wenn er den CD-Spieler oder das Radio mitten in einem Lied abschaltete. Darum wartete er die letzte Strophe des Mobb-Deep-Songs ab und zog dann zeitgleich mit der letzten Note den Schlüssel aus dem Zündschloss.
Carlos und Franky legten im Erdgeschoss schon die Abdeckplanen aus, als Ryan ins Haus kam. Er ging erst einmal ins Bad und wechselte die Straßenkleidung – ein ärmelloses Basketball-Trikot über einem schwarzen Kapuzenpulli, Baggy-Jeans von Pepe, eine Baseballcap der San Antonio Spurs, die er seitlich über einem schwarzen Durag trug, und nicht mehr ganz neue, aber blitzsaubere Nikes Zoom LeBron II – gegen weiße Malerklamotten und alte, farbverkleckste Turnschuhe. Dann gesellte er sich zu den anderen im Wohnzimmer und half Carlos und Franky beim Ausbessern der Wände.
Sie arbeiteten nun schon den zweiten Tag an diesem Auftrag, und es war eine ziemliche Plackerei. Das Haus war zwar nicht sonderlich groß, mit den drei Schlafzimmern und den beiden Bädern. Aber die ehemaligen Eigentümer hatten wohl seit Ewigkeiten nicht mehr renoviert, überall blätterte die Farbe von den Wänden, und sie mussten viele Unebenheiten glattschleifen. Ryan und die anderen hatten gestern den ganzen Tag damit zugebracht, Farbe von den Wänden zu kratzen und Löcher zuzuspachteln, und trotzdem hatten sie nur die Hälfte der Zimmer im Erdgeschoss {10}geschafft. Im ersten Stock sah es nicht ganz so schlimm aus, vielleicht konnten sie also noch heute den Voranstrich auftragen.
Ryan machte sich mit dem Spachtel an die Arbeit. »Jake schon eingelaufen?«, fragte Carlos.
Carlos war vierundzwanzig, genauso alt wie Ryan. Er hatte sich einen schmalen Schnurrbart und ein kleines Bartrechteck am Kinn stehenlassen. Die ganze Woche schon hatte er Ryan wegen Jake gelöchert, obwohl Ryan nicht groß auf seine Fragen einging.
»Keine Ahnung«, sagte Ryan, ohne Carlos anzusehen.
»Aber heute kommt er doch, oder?«
»Schätze schon«, grummelte Ryan.
»Was?«
»Ich glaube schon«, sagte Ryan nun lauter.
»Wenn ich morgen ’nen Baseball mitbringe, kannste mir dann ein Autogramm von J.T. besorgen?«
»Sonst noch ’n Wunsch?«, mischte sich da Franky ein, ein großer, kräftiger Typ, der fünf Jahre älter war als Carlos und Ryan.
»Ist nicht für mich, Mann«, sagte Carlos. »Für meinen kleinen Cousin. Der fährt voll auf Baseball ab. Ich hab ihm erzählt, dass ich mit einem Kumpel von Jake zusammenarbeite. Jetzt will er die ganze Zeit, dass ich ein Treffen organisiere.«
»Heute gibt’s ’ne Straßenparty für ihn bei mir um die Ecke«, sagte Ryan. »Komm doch einfach vorbei und hol dir das Autogramm selbst.«
»Nee, ich kenn Jake doch gar nicht. Null Bock, da hinzugehen und mich hinten anzustellen: ›Könnte ich wohl bitte {11}ein Autogramm haben?‹ Komm schon, Ryan, tu mir den Gefallen. Für meinen kleinen Cousin. Der ist gerade mal acht.«
»Ryan kann doch nicht jedem ein Autogramm besorgen«, warf Franky ein. »Bestimmt haben ihn schon tausend Leute gefragt, stimmt’s, Ry?«
»Schon gut«, sagte Ryan, der gerade mit einem Spachtel die Wand malträtierte. »Bring den Ball, dann frag ich Jake.«
»Voll cool, Mann, danke«, sagte Carlos und dann, an Franky gewandt: »Siehste? Ist ja keine große Sache.«
Schweigend arbeiteten sie weiter. Carlos’ Radio, das in der Ecke stand, spielte die Top forty – gerade lief Avril Lavignes neuester Hit.
»Von wo kommt er jetzt eigentlich?«
»Wer?«, fragte Ryan, obwohl er genau wusste, dass Franky von Jake sprach.
»J.T.«
»Ach so, von Pittsburgh, schätze ich.«
»Hat er dort eine Wohnung oder so?«
»Ich glaub, er hat ein Haus gemietet«, nuschelte Ryan.
»Was?«
»Er hat ein Haus gemietet«, wiederholte Ryan lauter.
»Bestimmt so ’ne richtige Villa. Der Mann scheffelt garantiert mehrere Millionen im Jahr, und wenn demnächst sein Vertrag ausläuft, kassiert er noch mal richtig ab. Die Pirates haben es dieses Jahr gründlich vergeigt, aber Jake war sensationell. Was war noch mal sein Schlagdurchschnitt? 35,3 %?«
»35,1«, korrigierte Carlos.
»Dann eben 35,1. Ich finde, das hört sich verdammt nach {12}DiMaggio an. Jake hat um die fünfundzwanzig Home Runs hingelegt und hundert Runs ins Ziel geschlagen.«
»Zweiundzwanzig, es waren zweiundzwanzig«, sagte Carlos.
»Dann eben zweiundzwanzig Home Runs«, sagte Franky. »Und wie viele waren es im letzten Jahr? Zwanzig?«
»Siebzehn.«
»Na, die Kurve zeigt nach oben. Der Junge ist sauschnell und hat ’nen Arm aus Stahl. Haste den Wurf gesehen, mit dem er den einen Läufer, der vom ersten Base vorrücken wollte, beim dritten erwischt hat? Sie haben’s letzte Woche auf ESPN gezeigt.«
»Jep«, sagte Carlos, »hab ich gesehen, das war gegen die Chicago Cubs.«
»Der Ball kam wie aus der Kanone geschossen. Ich schwöre, der flog die ganze Strecke höchstens eins fuffzig über dem Boden, wie an der Schnur gezogen. Wenn Jake wollte, könnte er auch als Pitcher spielen.« Er wandte sich zu Ryan um. »He, Ry, war J.T. in eurer Highschool-Zeit auch mal Pitcher?«
»Hin und wieder.«
»Wer war besser im Werfen? Du oder er?«
»Ich«, antwortete Ryan, ohne eine Sekunde zu zögern.
»Haste mal als Pitcher gegen ihn gespielt?«
»Klar, im Highschool-Team und in der Jugendliga.«
»Und? Haste Strikes gegen ihn gelandet, ihn mal vom Schlagmal gefegt?«
»Manchmal.«
»Und er? Hat er dir auch mal den Ball um die Ohren geschlagen?«
{13}»Ist vorgekommen.«
»Was meint ihr, wird J.T. in die Hall of Fame aufgenommen?«
»Wenn er so weitermacht, kann es nicht mehr lange dauern«, sagte Carlos.
»Guck dir doch seinen Schlagdurchschnitt an«, meinte Franky. »Das sind Hall-of-Fame-Zahlen, das musst du zugeben. Was hat er in der letzten Saison gemacht? 35,1? Voll krass, Mann.«
Carlos und Franky schwärmten weiter von Jake. Ryan versuchte, die Stimmen auszublenden, er dachte an Christina. Sie hatte wunderschön ausgesehen, gestern Abend auf dem Rücksitz seines Autos, als sich das Licht der Laterne in ihren Augen spiegelte. Aber als er sie zu Hause absetzen wollte, war sie in Tränen ausgebrochen. Er beschloss, sie kurz anzurufen, um zu hören, ob es ihr wieder besserging.
Franky riss ihn aus seinen Gedanken: »He, Ry, was meinste, wann wird J.T. endlich mal für ein New Yorker Team spielen?«
»Woher soll ich das wissen?« Ryan hatte die Nase voll von diesem Thema.
»Keine Ahnung, vielleicht hat er dir ja mal was erzählt oder so.«
»Wir sprechen uns in letzter Zeit nicht allzu oft.«
»Trotzdem. Er muss doch mal was angedeutet haben. Schließlich ist er in Brooklyn groß geworden, da träumt doch jeder davon, einmal für die Yankees oder die Mets zu spielen. Und in gut einem Jahr läuft sein Vertrag aus …«
»Gib mal den Füllspachtel rüber«, sagte Ryan.
Er warf seinen leeren Gipsbecher beiseite und nahm den {14}neuen, den Franky ihm reichte. Carlos erzählte Franky, wie die Autowerkstatt versucht hatte, ihm dreihundert Dollar für einen Ölwechsel und einen neuen Auspufftopf abzuknöpfen. ›Gott sei Dank haben sie Jake jetzt endlich durch‹, dachte Ryan, doch nachdem Carlos gesagt hatte, dass er das Auto sowieso verscherbeln wolle, wahrscheinlich über eine Kleinanzeige in Buy-Lines, fing Franky wieder an: »Das wär echt ’n Ding, ein Junge aus dem Viertel, der’s in ein New Yorker Team schafft. Ich wette, Jake ist Brooklyns bester Spieler aller Zeiten.«
»Und was ist mit Sammy Koufax?«, warf Carlos ein.
»Sandy Koufax, du Schwachkopf. Und der war Pitcher. Wir reden hier von einem Schlagmann. Hat es in Brooklyn je einen besseren gegeben als Jake Thomas?«
»Ich kenn keinen«, sagte Carlos.
»Siehste, das mein ich«, stellte Franky fest, »genau das.«
Ryan ertrug es keine Sekunde länger. Er legte den Spachtel samt Spachtelmasse auf den Boden und lief zur Haustür.
»Wo willste denn jetzt schon wieder hin?«, rief Franky ihm hinterher.
»Ich brauch ’ne Pause.«
»Aber du bist doch gerade erst gekommen.«
Ryan ging aus dem Haus und fischte eine Packung Camel aus dem Handschuhfach seines Autos. Als er sich, am Wagen gelehnt, eine Zigarette anzündete, sah er Tims Kleinlaster die Straße entlangkommen.
Tim O’Hara, der Besitzer von ›Pay-Less Painting‹, hatte mit seinen gerade mal fünfunddreißig Jahren einen recht gutgehenden Laden aufgebaut, vier Malertrupps à drei Mann, die in ganz Brooklyn für ihn arbeiteten. Erst kürzlich hatte {15}er sich ein hübsches Häuschen gekauft, drei Schlafzimmer, Garage, in der Nähe vom Marine Park. Früher hatte Tim selbst mit angepackt, jetzt holte er nur noch die Aufträge herein und verteilte die Arbeit an die Jungs, die für zehn Dollar die Stunde schufteten. Tim war in Ordnung, Ryan kam gut mit ihm klar, dennoch wollte Ryan irgendwann sein eigenes Geschäft aufziehen. Warum sollte er nicht auch Anzeigen schalten, Kostenvoranschläge machen und genauso erfolgreich sein wie sein Boss? Er brauchte nur etwas Startkapital. Zweitausend Dollar hatte er bereits auf der hohen Kante, aber es wären mindestens fünf nötig, um die Kosten in der Anfangsphase zu decken. Außerdem sparte er, um sich eine eigene Wohnung leisten und Christina endlich einen Ring kaufen zu können. Da würde er wohl noch ein paar Jahre für Tim arbeiten müssen.
Tim parkte den Kleinlaster in zweiter Reihe und kam zu Ryan herüber. Er war ungefähr so groß wie Ryan, gut eins siebzig, sein rotbraunes Haar lichtete sich schon an den Schläfen.
»Du solltest echt aufhören mit den Dingern.«
»Man lebt nur einmal«, sagte Ryan.
»Willste etwa mit vierzig den Löffel abgeben?«
Ryan nahm einen langen Zug und stieß den Rauch ganz langsam durch die Nase aus.
»Wie läuft’s denn so?«, wollte Tim wissen.
»Gut.« Dann begriff Ryan erst, dass Tim den Auftrag gemeint hatte. »Wir kommen klar.«
»Werdet ihr hier in drei Tagen fertig?«
»Könnte knapp werden. Es gibt an den Wänden viel auszubessern, besonders im Erdgeschoss.«
{16}»Ich hab ’nen neuen Auftrag für euch, ein dreistöckiges Haus in Midwood – ’ne Menge Arbeit, schätze mal vier bis fünf Tage. Würdet ihr es hier in vier Tagen schaffen?«
»Keine Ahnung«, sagte Ryan. »Red doch mal mit den Jungs.«
Tim ging ins Haus, und Ryan rauchte die Zigarette fertig. Es war ein schöner Herbsttag, sonnig, so um die fünfzehn Grad.
Ein paar Minuten später ging auch Ryan wieder ins Haus. Tim war im Wohnzimmer und sagte gerade: »Ihr macht einen ausgezeichneten Job, Jungs. Ehrlich. Ihr seid meine beste Truppe. Ich komme gerade von der anderen Baustelle in Sheepshead Bay. Jimmy, Rob und Benny – das ist der kleine Neue –, die drei sind schon seit einer Woche dort zugange und haben erst heute mit dem zweiten Anstrich angefangen. Dabei ist das Haus nicht besonders groß, zwei Schlafzimmer, ein Bad. Und ob ihr es glaubt oder nicht, Benny hat es tatsächlich geschafft, sich gestern beim Malen in einen Schrank einzusperren. Die Tür hat geklebt.«
»Das is ’n Witz, oder?«, fragte Franky.
»Ich schwör’s beim Grab meiner Großmutter«, sagte Tim. »Jimmy hat’s erzählt. Als er aus der Mittagspause zurückkam, hörte er den Jungen schreien: ›Ich will hier raus! Hilfe, holt mich hier raus!‹«
Franky und Carlos lachten schallend. Ryan fand die Geschichte auch lustig, aber ihm war nicht nach Lachen zumute, darum begann er wieder zu spachteln.
»Sie mussten mit dem Schaber an den Schrank ran, um ihn rauszuholen«, erzählte Tim.
»Was für ein Idiot«, sagte Franky.
{17}»Nee, Benny ist schon okay«, meinte Tim. »Ist nur nicht besonders helle im Oberstübchen.«
»Ach komm, sich in ’nen Schrank einzumalen! Da muss man schon dumm wie Brot sein«, fand Franky.
»Er hat Glück gehabt, dass die anderen ihn überhaupt noch gehört haben. Wenn es schon fünf gewesen wäre, wäre er die ganze Nacht dort festgesessen.«
»Stell dir vor«, sagte Franky, »die Jungs tauchen am nächsten Morgen auf und dieser Blödmann schreit sich noch immer die Seele aus dem Leib. Zum Schießen!«
Franky hatte ein lautes, ansteckendes Lachen, so dass Carlos und Tim einfielen. Selbst Ryan musste lächeln.
»Aber im Ernst«, sagte Tim. »Wie ich schon gesagt hab, ihr Jungs seid meine beste Truppe, keine Frage. Ihr leistet gute Arbeit, und ich kann mich immer darauf verlassen, dass ihr die Jobs termingerecht abschließt.«
»Kriegen wir etwa ’ne Prämie?«, fragte Carlos sogleich.
»Ja, wie wär’s mit ’ner Prämie dafür, dass wir uns nicht in Schränke einmalen?«, schlug Franky vor.
Franky und Carlos lachten wieder.
»Ich mach euch einen Vorschlag«, sagte Tim, »ihr Jungs macht die Arbeit hier in vier Tagen fertig und übernehmt den neuen Auftrag in Midwood, und ich zahle jedem von euch fünfzig Dollar bar auf die Kralle.«
»Hört sich gut an!«, rief Carlos.
»’nen Fuffi extra? Cool«, meinte Franky.
»Aber keine Pfuscherei«, sagte Tim. »Nicht vergessen, bei uns zählt Qualität. Ich arbeite lieber zehn Aufträge ordentlich ab, als bei zwölf zu schludern. Ihr wisst schon, was ich meine.«
{18}»Keine Sorge. Wir arbeiten sauber und schaffen es trotzdem in vier Tagen«, erklärte Carlos.
»Und was sagst du dazu, Ry?«
»Was?« Ryan war ganz auf das Ausspachteln konzentriert.
»Schafft ihr den Job hier in vier Tagen?«
»Klar, warum nicht?«
»Dann habt ihr noch einiges vor, Jungs.« Tim war schon fast bei der Tür, als er plötzlich stehenblieb. »Meine Güte, das hätte ich fast vergessen. He Ry, ist dein Kumpel Jake Thomas schon in der Stadt?«
Ryan biss die Zähne zusammen und zählte bis drei. »Keine Ahnung, Tim.«
»Ryan kann die Frage nicht mehr hören«, sagte Franky.
»Red kein Scheiß«, blaffte Ryan ihn an. »Ich hab kein Problem damit, ich weiß einfach nur nicht, ob er schon da ist oder nicht, das ist alles. Wer bin ich denn? Seine Mutter?«
»Heute sind wir aber gereizt«, sagte Franky. »Du hörst dich an wie meine Freundin, wenn sie ihre Tage hat. Justine, ist es wieder so weit?«
Carlos lachte.
»Ich will dich nicht nerven oder so, aber wenn ich dir morgen eine Baseball-Sammelkarte mitbringe, könntest du mir dann ein Autogramm von ihm besorgen?«, fragte Tim.
»Klar. Ich mein, ich werd ihn fragen.«
»Scheiße, Mann«, sagte Franky. »Unser Ryan hier hat langsam ’ne ganze Menge Autogrammwünsche zu erfüllen.«
»He, wenn’s zu viel ist, dann …«
»Ist kein Problem«, sagte Ryan zu Tim. »Bring mir die Karte, und ich geb sie Jake.«
{19}»Cool«, bedankte sich Tim. »Immer hübsch weiter so, Jungs. Ich bin stolz auf euch.«
»Kommt schon, Leute, bewegt euch, zurück an die Arbeit, ich will diese fünfzig Eier«, trieb Carlos die anderen an, als Tim gegangen war.
»Mach dir keinen Kopf«, sagte Franky. »Wenn wir bis heute Mittag die Wände ausgebessert haben, schaffen wir den Voranstrich bis zum Feierabend. Morgen streichen wir dann alles ein erstes Mal, und den zweiten Anstrich machen wir übermorgen. Dann haben wir noch einen ganzen Tag in Reserve.«
»Ich fang jetzt nicht an rumzupfuschen«, erklärte Ryan.
»Niemand hat gesagt, dass du pfuschen sollst, wir arbeiten einfach nur zügig, das ist alles«, sagte Carlos.
»Was ist los mit dir, Ryan? Nicht scharf auf die Kohle?«, wollte Franky wissen.
»Wir reden hier von fünfzig Dollar. Kein Grund, gleich aus dem Häuschen zu geraten.«
»Und wenn ich dir einen Fünfzig-Dollar-Schein gebe, würdest du ihn gleich entzweireißen, oder wie?«
»Das hab ich nicht gesagt. Ihr habt Tim doch gehört. Die Qualität zählt. Wegen fünfzig lausiger Dollar knall ich doch jetzt nicht wie ein Bescheuerter die Farbe auf die Wände.«
»Was ist denn los mit dir?«, fragte Franky. »Den ganzen Tag – nein, die ganze Woche schon benimmst du dich, als hätt dir jemand seinen Schwanz in den Arsch gerammt.«
Ryan ließ den Spachtel fallen und baute sich vor Franky auf. Er wollte nicht wirklich Streit, aber es ging ums Prinzip.
{20}»He, Mann, ganz cool, immer hübsch langsam«, sagte Carlos. »Vielleicht hat Ryan ja recht. Wir gehen’s locker an, ja? Wir machen heute die Wand fertig und den Voranstrich. Wenn wir nicht rumalbern und trödeln, kriegen wir das Haus problemlos in vier Tagen geschafft. Beruhigen wir uns also alle wieder und machen unseren Job, okay?«
Einen kurzen Augenblick lang starrten Ryan und Franky sich noch an, dann wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Usher sang gerade Yeah, als Ryan die Trittleiter hinaufkletterte, um den großen Riss in der Decke auszubessern. Da ging sein Pager los. ›Chrissy Praxis‹ blinkte auf dem Display. Ryan kletterte die Leiter wieder runter und ging zur Haustür.
»Schon wieder ’ne Scheiß-Pause?«, rief ihm Franky hinterher.
Ryan ging nach draußen, holte das Handy aus der Hosentasche und wählte Christinas Nummer.
»Ich bin so froh, dass du mich angepiept hast«, sagte Ryan. »Hab vorhin gerade an dich gedacht.«
»Wo bist du?«, fragte Christina. Sie hörte sich an, als hätte sie wieder geweint.
»Auf der Arbeit, wo sonst? Alles in Ordnung mit dir?«
»Ist Jake schon da?«
»Wenn du wüsstest, wie oft ich das heute schon gefragt worden bin!«
»Und? Ist er da?«
»Keine Ahnung.«
»Ich hab Angst.«
»Dafür gibt es keinen Grund. Du kriegst das hin heute Abend – hundertpro. Und vergiss nicht – ich liebe dich.«
{21}»Mist, ich muss Schluss machen. Dr. Hoffmann braucht mich für eine Wurzelbehandlung.«
»He, ich hab dir gerade gesagt, dass ich dich liebe.«
»Ich liebe dich auch.« Christina schwieg ein paar Sekunden. »Ich glaub, ich schaff das nicht.«
Ryan verdrehte die Augen. »Du musst es schaffen, Chrissy, jetzt oder nie.«
»Warum? Ich meine, warum kannst du heute Abend nicht zu mir kommen, und wir verriegeln einfach die Tür, bis er wieder weg ist? Ich sag seinen Eltern, dass ich krank bin, dass ich Grippe hab.«
»Das werden wir nicht tun.«
»Warum nicht? Ich nehm mir morgen frei. Wir können den ganzen Tag in meinem Zimmer bleiben und …«
»Wir müssen das heute Abend klären, wir müssen endlich vorwärtsmachen.«
»Ich weiß, ich weiß, aber …«
»Du willst doch nicht kneifen, oder?«
Einen Augenblick blieb es still in der Leitung. »Komm nach der Arbeit bei mir vorbei«, sagte Christina schließlich. »Ich muss dich vorher sehen.«
»Willst du das jetzt durchziehen oder nicht?«
»Natürlich will ich das.«
»Dann geh heute Abend einfach zu Jake und –«
»Lass uns zusammen gehen.«
»Das ist keine gute Idee.«
»Ich brauch dich an meiner Seite. Komm einfach mit mir dorthin. Danach kannst du wieder gehen.«
»Wieso kannst du nicht –«
»Bitte! Wenn du da bist … ich weiß nicht … dann fühle {22}ich mich sicherer. Du musst ja nicht mit reinkommen. Du kannst draußen warten. Er wird dich nicht einmal sehen.«
Ryan schüttelte den Kopf. Er wusste, er würde nachgeben, ließ aber noch einen Augenblick verstreichen. »Na gut. Aber dann ziehst du das heute Abend so durch, wie wir es besprochen haben, keine Ausflüchte mehr, okay?«
»Ich komme«, sagte Christina zu jemand anderem. »Bis später dann … Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, sagte Ryan, aber da hatte Christina schon aufgelegt.
Ryan blieb auf der Veranda, zündete sich eine Zigarette an und nahm ein paar tiefe Züge. Dann trat er die Kippe aus und kehrte ins Haus zurück.
Auf dem Weg vom Flugsteig in das Terminal der United Airlines in LaGuardia wollte Jake Thomas nicht erkannt werden. Normalerweise störte es ihn nicht, wenn er angesprochen wurde – er gehörte nicht zu den Berühmtheiten, die sich wie Arschlöcher benahmen und mit der Faust auf Fotografen losgingen oder Streit mit Reportern anfingen. Doch heute wollte er einfach nur seine Ruhe, in letzter Zeit war einfach zu viel Scheiße passiert.
Er ließ seine Gucci-Sonnenbrille herunter, und niemand schien von ihm Notiz zu nehmen, nicht einmal die hübsche Blondine, die rechts von ihm im Flieger gesessen war. Bestimmt eine Ausländerin oder so, denn sie hatte offenbar keinen Schimmer, wer er war. Sie hatte ihn nur mit diesem ›Wow, heißer Typ!‹-Blick bedacht, was ihn nicht weiter wunderte. Jake wusste, dass er eine gute Figur machte in dem beigefarbenen Helmut-Lang-Anzug und dem schwarzen Armani-Hemd. Das Jackett hatte er nicht zugemacht, und der offenstehende Hemdkragen lenkte den Blick auf seine Goldkette mit den diamantbesetzten Initialen J.T., eine Spezialanfertigung von Jacob Arabo. Die Louis-Vuitton-Reisetasche, schwarze Ferragamo-Slipper, eine Charriol-Uhr, Neil-Lane-Ringe und ein Zwei-Karäter von Tiffany im linken Ohr vervollständigten sein Outfit.
{24}Als Jake im Terminal an einem Geschenke-Shop vorbeieilte, bemerkte er einen kleinen Jungen, der mit dem Finger auf ihn zeigte. Im Stadion war er zu Kindern immer besonders freundlich, warf ihnen beim Training Bälle zu und unterschrieb vor und nach jedem Spiel so viele Autogrammkarten wie möglich. Auch außerhalb des Stadions und selbst im Hotel wies er die Kleinen nie ab. Jake liebte es, Kinderaugen zum Strahlen zu bringen, doch im Grunde tat er das für sein Image. Im Stadion wusste man nie, wer einen beobachtete. Wenn einer der Journalisten mitbekam, wie er ein Kind abblitzen ließ, stünde das gleich am nächsten Tag in den Zeitungen. Oder das Kind konnte der Sohn, Neffe oder sonst irgendein Verwandter vom Clubmanager sein, und wenn das Gerücht aufkam, dass Jake Thomas ruppig mit kleinen Kindern umging, würden die Werbefuzzis von Nike und Pizza Hut durchdrehen, und dann hätte er ein echtes Problem. Da Jake immer auf ›Mr. Nice Guy‹ machte – sich freundlich nach dem Namen des Kindes erkundigte und sich Zeit nahm, kurz mit den Eltern zu plaudern –, stand er inzwischen in dem Ruf, einer der umgänglichsten Sportler Amerikas zu sein. Sein Wert als Werbeträger war dadurch in die Höhe geschnellt. Auch sein Äußeres war perfekt für die Welt der Werbung. Sein Vater war schwarz, seine Mutter halb Italienerin, halb Irin, so dass er ein relativ hellhäutiger, gemischter Typ war à la Derek Jeter und Tiger Woods. Und sein Lächeln war einfach umwerfend – er hatte sich erst kürzlich die Schneidezähne mit strahlend weißen Keramik-Veneers verblenden lassen, die nun perfekt mit seinem Teint kontrastierten. All dies hatte ihn auf Rang neun der ›Forbes-Liste‹ gebracht, die die beliebtesten 50 Sportler aus {25}aller Welt nach ihrem Marktwert für die Werbebranche aufführte – Rang neun, und das im Team der Pittsburgh Pirates. Wenn er erst einmal für eine der wirklich großen Mannschaften spielte, würde er ganz schnell unter die Top fünf kommen, vielleicht sogar Tiger vom ersten Platz verdrängen.
Der Junge, der um die zehn Jahre alt sein musste, zog am Ärmel seines Vaters. Jake konnte an seinen Lippen ablesen, was er sagte: ›Guck doch mal, da ist Jake Thomas! Jake Thomas!‹
»Hey, sind Sie Jake Thomas?«, fragte der Junge, als die beiden ihn eingeholt hatten.
»Nö«, sagte Jake und ging weiter.
Er brauchte nicht am Gepäckband zu warten, denn er hatte seinen Koffer vorgeschickt, und so ging er geradewegs auf einen gedrungenen, bärtigen Mann zu, der ein Schild mit ›Ryan Rossetti‹ in die Höhe hielt. Seit er den Sprung in die Profiliga geschafft hatte, benutzte Jake Ryans Namen für den Abholservice am Flughafen, aber auch für Reservierungen in Hotels und Restaurants, um Belästigungen zu entgehen. »Mr. Rossetti?«, fragte der Fahrer, der einen starken slawischen Akzent hatte.
»Ja«, sagte Jake. Daraufhin führte der Fahrer ihn zu einem Lincoln Town Car und hielt die Tür auf.
»He, was ist das denn?«
»Was meinen? Ich bring Auto und fahr zu Brooklyn.«
»Ich hab keinen Town Car bestellt. Ich wollte ’ne SUV-Limo!«
»Ja. Aber ich kommen mit diese Auto. Einsteigen bitte. Alles okay.«
{26}Zuerst wollte Jake auf der Limousine bestehen, aber dann sah er, dass ein paar Kids auf ihn aufmerksam geworden waren. Wenn er hier weiter herumstand und auf ein anderes Auto wartete, würde er schon bald von Fans belagert werden.
»Was soll’s«, sagte Jake und stieg ein.
Als der Wagen in Richtung Terminal-Ausfahrt fuhr, holte Jake sein Handy heraus, um seinen Agenten in L.A. anzurufen.
»Offenbar hast du es nicht mehr nötig, mich zurückzurufen«, sagte Jake.
»Ich habe zweimal angerufen«, sagte Stu Fox.
Jake hatte keine Ahnung, ob das stimmte, er hatte seine Mailbox noch nicht abgehört.
»Wo steckst du?«, fragte Stu.
»Auf dem Rücksitz eines Lincoln.«
»Es geht abwärts mit dir, was?«
Jake lachte, obwohl er das nicht lustig fand. »Hat Ken sich schon bei dir gemeldet?«
»Ja. Er gibt nicht nach. Er glaubt, es würde dem Kampfgeist des Teams schaden, wenn er dir erlaubt, nächste Saison deinen Personal Trainer ins Clubhaus mitzubringen.«
»Kampfgeist? Welcher Kampfgeist? Am Ende der Saison hatten wir dreißig Spiele Rückstand auf den Tabellenersten!«
»Ich sag dir doch nur, was er gesagt hat.«
»Hast du ihm gesagt, dass ich gar nicht erst zum Frühjahrstraining im Clubhaus auftauche, wenn ich nicht meinen eigenen Trainer mitbringen darf?«
»Jetzt mach mal halblang, Jake. Seit der Giambi-Sache {27}darf niemand mehr einen Personal Trainer ins Clubhaus bringen.«
»Wenn er nein sagt, dann frag ihn, wer außer Jake Thomas nächstes Jahr die Zuschauer ins Stadion zieht. Frag ihn, welches Gesicht er auf dem nächsten Jahrbuch-Cover bringen will. Frag ihn, wer aus der Mannschaft ins All-Star-Team berufen wird und welcher Spieler es bei den Wahlen zum MVP wahrscheinlich unter die ersten fünf schafft. Vielleicht komme ich ja sogar auf Rang eins. Ohne mich wird das Team nach San Juan oder Monterey verscherbelt, und du glaubst, Ken weiß das nicht?«
»Ich versteh dich ja, aber das ist nicht der richtige Augenblick, um auf Konfrontationskurs zu gehen. Die Saison ist erst seit zwei Wochen vorbei und …«
»Scheiße!«, sagte Jake. Er hatte versucht, die Beine ein wenig auszustrecken, und sich dabei die Füße am Vordersitz gestoßen. »Du müsstest mich hier sehen, wie ’ne Sardine in der Büchse – nächstes Jahr will ich meine eigene Limousine.«
»Das kommt nicht in Frage.«
»Mit Aquarium.«
»Was?«
»Ich will ein Aquarium in meinem Auto und außerdem einen Fernseher und eine gut bestückte Bar. Und wo wir schon dabei sind, ab sofort will ich nur noch richtige Suiten im Hotel, und zwar mit Whirlpool.« Es klopfte in der Leitung. »Meld dich später noch mal«, sagte Jake und nahm das andere Gespräch an.
»Jake? Hier ist Robby.«
»Und? Krieg ich die Titelseite von GQ?«
{28}»Nicht ganz«, sagte Robert Henderson, Jakes PR-Manager. »Dafür habe ich ein paar andere tolle Sachen in der Pipeline. Dave Shaw von TSN will sich nächste Woche mal mit dir zusammensetzen.«
»Weiter.«
»Er hat gesagt, er kommt zu –«
»Weiter.«
»Mike Winter von Sports Illustrated will mit dir reden. Für einen Artikel, an dem er gerade arbeitet.«
»Über mich?«
»Nicht direkt. Das heißt, es sind auch Zitate drin von …«
»Über wen ist der Artikel?«
»Albert Pujols.«
»Weiter.«
»Wir sprechen hier von Sports Illustrated, Jake! Kannst du nicht wenigstens fünf Minuten mit dem Typen reden? Notfalls am Telefon, oder er schickt dir die Fragen per –«
»Weiter.«
»ESPN hat verlauten lassen, dass sie in ein paar Wochen ein Feature über dich machen wollen, aber das steht noch nicht fest.«
»Was ist mit GQ?«
»Sie werden dich auf jeden Fall im nächsten Heft bringen, aber sie haben noch nicht entschieden, wer auf den Titel kommt.«
»Wer ist noch im Rennen?«
»Ben Affleck.«
»Wer?«, schrie Jake ins Telefon. »Willst du mir etwa sagen, dass sie mich hängenlassen für diesen Affenarsch Ben Affleck?«
{29}»Das Cover von GQ ist schwer zu knacken.«
»Komm mir nicht so! Nach dem Jahr, das ich hinter mir habe, müsste ich die Titelseiten von SI,The Sporting News, Details und GQ bekommen, und zwar alle im gleichen Monat. Ich hab ’ne Erfolgsquote von 47 % und 34 Bases erlaufen. Mein Schlagdurchschnitt ist 35,1, und ich hab 106 Punkte ins Ziel geschlagen. Und weißt du eigentlich, welchen Durchschnitt ich mit Läufern in aussichtsreicher Position erzielt habe?«
»Keine Ahnung, 39 %?«
»40,2! Und wie viele SI-Titelseiten hatte ich in meiner gesamten Karriere?«
»Eine.«
»Bingo! Und damals war ich noch ein verdammter Anfänger! Das ist doch die totale Verlade! Wenn ich so eine Fresse wie Randy Johnson hätte, könnt’ ich das ja verstehen, aber Jake Thomas sollte sich die Titelseiten aussuchen können.«
»Ich hab dich auf das Cover von Details gebracht.«
»Scheiß auf Details, ich will GQ. Komm endlich in die Pötte!«
Inzwischen hatte der Wagen den Flughafen hinter sich gelassen und holperte über die zahllosen Schlaglöcher und Spurrillen des Grand Central Parkways. Jake hörte seine Mailbox ab. Er übersprang die Nachrichten von seinem Rechtsanwalt und seinem Steuerberater. Die von Natalie hingegen hörte er sich an. Natalie, eine Französin – oder vielleicht auch Italienerin? –, arbeitete in Los Angeles als Model, und manchmal, wenn er an der Westküste war, verabredete er sich mit ihr. Natalies Stimme klang sexy am {30}Telefon, mit ihrem europäischen Akzent. Sie erzählte ihm, wie sehr sie ihn vermisse, und wollte wissen, wann er mal wieder nach L.A. komme. Die Nachricht von seinem persönlichen Einkaufsberater übersprang er wieder, dann hörte er diejenige von Max Manikowsky ab, der für die Public Relations der Pirates verantwortlich war. Er fragte, ob Jake im Dezember bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung der Kinder- und Jugend-Diabetes-Hilfe mitmachen würde. Jake liebte Wohltätigkeitsveranstaltungen, insbesondere wenn es um die Bekämpfung irgendwelcher Krankheiten ging, und Kiddies in Krankenhäusern zu besuchen war super für sein Image. Er rief diesen Manicocksky zurück und hinterließ ihm auf dem Anrufbeantworter die Nachricht, dass er ihn fest einplanen könne. Dann hörte er noch ein paar Anrufe ab, unter anderem auch den von Cheryl, einer Barkeeperin aus Phönix, und legte schließlich das Handy weg.
»Ich frage«, sagte der Fahrer, »du nicht heißen Ryan Rossetti, oder?«
Jake hob den Kopf und sah die großen schwarzen Augen des Russen im Rückspiegel.
»Ich wissen, wer du bist. Ich hab gehört am Telefon, und ich hab gesehen im Fernsehen. Du spielen Baseball, Pittsburgh Pirates – du sein der von Brooklyn. Du Jake Thomas.«
»Ich heiße Ryan Rossetti.«
»Du machen Witz.« Der Russe lächelte. »Ich hören wie du sagen, du Jake Thomas. Du berühmter Baseballer, richtig?«
»Konzentrier dich aufs Fahren, Wladimir.«
»Ich nix Wladimir.«
{31}»Mir doch egal.«
Der Wagen fuhr weiter auf dem Van Wyck Expressway, und Jake entspannte sich, ließ seine Gedanken zu Patti schweifen, der Stewardess auf dem Flug von Pittsburgh nach New York. Sie war schlank, hatte glattes, langes blondes Haar und sah aus wie ein Cameron-Diaz-Verschnitt. Als das Flugzeug in den Landeanflug ging, hatte sie sich zu Jake hinuntergebeugt, bis ihr Gesicht höchstens einen Zentimeter von seinem entfernt war, und ihm gesagt, dass sie nun ein paar Tage in ihrer Wohnung in der Upper East Side sein würde und er sie jederzeit anrufen könne. Dann steckte sie ihm eine United-Airlines-Visitenkarte zu, auf die sie ihren Vornamen und ihre Nummer geschrieben hatte. Auf dem i von Patti hatte sie ein kleines Herzchen gemalt.
Patti hatte ihm erzählt, dass sie mit ein paar Mädchen zusammenwohnte, und Jake fragte sich, ob ›ein paar‹ wohl drei, vier oder vielleicht sogar fünf bedeutete. Er hoffte auf vier oder mehr. Wenn die so waren wie Patti, dann standen die Chancen für eine heiße Sechser-Nummer gar nicht so schlecht. Jake hatte es noch nie auf einen flotten Sechser gebracht. Sein persönlicher Rekord lag bei vier Mädchen gleichzeitig, doch der zählte nicht so richtig, denn zwei der Mädchen waren Pornodarstellerinnen, und eine war Stripperin beziehungsweise Nutte gewesen.
Jake klappte sein Handy wieder auf, um Patti eine SMS zu schicken. Würde dich gerne sehen, morgen Abend. Vielleicht haben deine Freundinnen Lust, uns Gesellschaft zu leisten? Er wollte die Nachricht vage und höflich halten, gleichzeitig aber Patti seine Absichten deutlich zu verstehen geben. Er holte die Visitenkarte aus der Tasche und tippte bereits {32}die Nummer ein, als ihm plötzlich siedend heiß einfiel, dass ein Treffen mit Patti – zumindest in den nächsten Tagen – leider nicht in Frage kam. Schließlich kam er an diesem Wochenende aus einem ganz bestimmten Grund nach Brooklyn. Er wollte mit Christina, seiner Jugendliebe, endlich den Hochzeitstermin festsetzen.
Jake war schon seit sechs Jahren mit Christina verlobt, aber in letzter Zeit hatten sie sich nur noch selten gesprochen. Seltsam, in jenem Sommer, als sie ein Paar wurden, er war gerade im zweiten Jahr auf der Highschool, hatte er sich nicht vorstellen können, dass er sich jemals für ein anderes Mädchen interessieren würde. Christina war wunderschön, zweifellos das hübscheste Mädchen von Canarsie, vielleicht sogar von ganz Brooklyn, und für ihn stand fest, dass er sie eines Tages zu seiner Frau machen würde. Als die Welt um ihn herum verrücktzuspielen begann, die Talentsucher der großen Mannschaften und die Presse auf ihn aufmerksam wurden, war er sogar noch sicherer, dass Christina die Richtige für ihn war. Sie war sein Fels in der Brandung, hatte ihn schon geliebt, als er ein Niemand war, und würde ihn immer lieben, was auch geschähe. Klar hatte er sich gelegentlich ein Abenteuer gegönnt, wie hätte er widerstehen können? Die Mädchen warfen sich ihm nur so an den Hals, und er war ein junger Kerl. Was war schon dabei, sich ein paar Jahre lang die Hörner abzustoßen, dann Christina zu heiraten und den Rest seines Lebens glücklich und zufrieden mit ihr zu verbringen?
Nach der Highschool hatte er von dem Bonus für den Wechsel in die Profiliga fünfzigtausend Dollar abgezweigt und ihr einen Ring von Harry Winston gekauft, mit einem {33}Zwei-Karat-Brilli. Auf dem Canarsie Pier hatte er um ihre Hand angehalten, aber sie hatten nie ein Datum festgesetzt. Sie wollten noch ein paar Jahre warten, bis sie reifer waren und sich der Rummel um Jake gelegt hatte. Im ersten Jahr in der Minor League sah Jake Christina so oft wie möglich. Als Pittsburgh ihn unter Vertrag nahm, telefonierten sie noch regelmäßig miteinander, sahen sich aber nur noch selten. Es gab andere Mädchen – viele andere Mädchen. Nach den Spielen standen sie Schlange oder tauchten einfach vor seinem Hotelzimmer auf. Er war der neue Stern am Baseballhimmel, ganz am Anfang einer vielversprechenden Karriere, und Jake nahm mit, was er kriegen konnte. Eines Tages würde er Christina heiraten, das stand für ihn nach wie vor fest, aber er dachte immer seltener an sie. Ihm gefiel die Vorstellung, dass sie auf ihn wartete, doch nach ein paar Jahren sah er ein, dass es unfair war, ihr weiter Hoffnungen zu machen. Letzten Sommer schließlich beschloss er, die Verlobung zu lösen, und hätte es inzwischen wohl auch getan, wenn Marianna Fernandez nicht dazwischengefunkt hätte.
Er hatte die vierzehnjährige Mexikanerin in einem Club in San Diego kennengelernt. Wie hätte er ahnen sollen, dass sie noch ein Schulmädchen war? Klar, bei der Zahnspange und dem mädchenhaften Gesicht hätten die Alarmglocken wohl schrillen sollen, aber heutzutage gab es jede Menge Erwachsene mit Zahnspangen, und Marianna sah nun wirklich nicht wie eine Minderjährige aus. Sie besaß die prachtvollen Rundungen einer Latina, trug einen tiefen Ausschnitt, aus dem alles beinahe herauspurzelte, und der Rock legte knapp neunzig Prozent ihres rassigen Hinterteils frei. Jake hatte sie auf mindestens achtzehn geschätzt.
{34}Und schließlich war es ja nicht so, dass er nicht versucht hätte, ihr Alter herauszufinden. Auf seinem Hotelzimmer, bevor es zur Sache ging, hatte er sie gefragt: »Wie alt bist du eigentlich?«, und sie sagte: »Zwanzig.« Nicht achtzehn und auch nicht neunzehn, sondern glatte zwanzig Jahre, und so hatte Jake geglaubt, er wäre auf der sicheren Seite, selbst wenn sie sich ein oder zwei Jahre älter gemacht hatte.
Ein paar Wochen später meldete sich Mariannas Vater bei Stu Fox, Jakes Agenten, und beschuldigte Jake der Unzucht mit einer Minderjährigen. »Wer zum Teufel ist Marianna Fernandez?«, fragte Jake, als Stu ihm die Neuigkeit überbrachte. Stu half seinem Gedächtnis auf die Sprünge.
»Ach die. Und was wollen sie?«
»Fünfzigtausend.«
»Haben sie Anzeige erstattet?«
»Noch nicht, aber sie werden es tun, wenn du nicht blechst.«
Jake dämmerte der Ernst der Lage. Eine Verurteilung wegen Unzucht mit Minderjährigen bedeutete Gefängnis. Und wenn er tatsächlich angeklagt würde, ginge den Werbefuzzis schlagartig der Arsch auf Grundeis; er würde Millionen verlieren. Vielleicht sollte er der Familie des Mädchens das Geld geben. Wahrscheinlich war er damals gesehen worden, als er mit Marianna auf der Tanzfläche geknutscht hatte, und bestimmt waren sie auch einigen Hotelgästen aufgefallen oder von einer der Sicherheitskameras gefilmt worden. Andererseits kam es einem Schuldbekenntnis gleich, wenn er zahlte. Jake setzte alles auf eine Karte und beschloss, die Sache einfach zu ignorieren, in der Hoffnung, dass der Typ einen Rückzieher machte. Seine Strategie schien {35}zunächst aufzugehen. Aber einen Monat später – inzwischen war es August – meldete sich Mr. Fernandez wieder bei Stu. Dieses Mal forderte er hunderttausend Dollar. Das machte Jake die Entscheidung leicht: Er würde auf keinen Fall zahlen. Woher sollte er wissen, dass dieser Fernandez sich mit hunderttausend zufriedengab? Er würde wiederkommen und noch einmal hunderttausend verlangen, oder eine Million. Im nächsten Jahr lief Jakes Vertrag aus, und er hatte vor, sich nicht unter zweihundert Millionen Dollar zu verkaufen. Bei einer so großen Sache konnte er es sich nicht leisten, dass ihn ein schmieriger Erpresser in der Hand hatte.
Also instruierte Jake seinen Agenten, Fernandez weiter zu ignorieren und abzuwarten. Doch dieser verdammte Mexikaner gab einfach keine Ruhe. Er rief wieder und wieder an, verlangte hundert Riesen und drohte, zur Presse und zur Polizei zu gehen. In der letzten Woche der Saison schließlich hatte Jake versucht, einen Deal auszuhandeln. Seine Rechtsanwälte hatten ein entsprechendes Schreiben aufgesetzt, das die Fernandez-Familie im Gegenzug für das Geld unterschreiben sollte, eine eidesstattliche Erklärung, dass er und Marianna niemals Sex hatten. Jake hatte keine Ahnung, ob sich der Fernandez-Clan darauf einlassen würde, aber wenn sie sich weigerten, dann hatte er einen Plan B – Christina heiraten. Die Publicity um die geplante Hochzeit mit seiner ersten großen Liebe würde die Anschuldigungen in den Hintergrund drängen. Und wenn die Ankündigung der Hochzeit nicht reichte, gab es noch immer Plan C. Vor zwei Tagen hatte Jake in Pittsburgh einen Detektiv beauftragt, in Marianna Fernandez’ Leben {36}herumzuschnüffeln und so viel Dreck wie möglich zutage zu fördern. Vielleicht nahm sie Drogen oder war sexsüchtig, oder vielleicht hatte ihr Vater schon andere Männer erpresst. Wenn sie irgendwas fanden, würde Jake einen PR-Mann engagieren, der würde eine riesige Schmierenkampagne starten, die Familie in Verruf bringen, und schon wäre das Problem gelöst.
Irgendwie würde er den Karren schon aus dem Dreck ziehen, da war Jake sicher. Er wollte Christina im nächsten Dezember heiraten und mit ihr nach Hollywood Hills oder Beverly Hills oder irgendwo anders hinziehen, wo die Häuser nicht unter zehn Millionen zu haben waren. Er würde der neue rechte Außenfeldspieler der L.A. Dodgers werden und es wie Shaq machen – ein paar Jahre für einen Verein in L.A. spielen und dann vom Sport zum Film wechseln. Er hatte bereits für Werbeaufnahmen vor der Kamera gestanden, und der nächste Schritt wäre ein Rolle in einem Film. Aber nicht als Witzfigur wie O.J. Simpson in Die nackte Kanone oder Michael Jordan in Space Jam. Nein, ein Jake Thomas gab sich für solchen Mist nicht her. Er würde nur in richtigen Filmen mitspielen.
Ein Gestank nach Abwässern riss Jake aus seinen Gedanken. Er zog sich die Anzugjacke über Mund und Nase. »Wladimir, mach das verdammte Fenster zu, Herrgott noch mal!«
Der Fahrer ließ das Fenster nach oben surren. Doch der Gestank hing bereits im Wagen und machte Jake unmissverständlich klar, dass sie auf dem Weg nach Brooklyn waren. Manchmal konnte er nicht glauben, dass er wirklich von hier stammte, dass er achtzehn Jahre seines Lebens in einem {37}derart trostlosen Dreckloch zugebracht hatte. Canarsie, sein Viertel, war früher eine Deponie gewesen, und genauso sah Jake seine alte Heimat: eine dreckige Müllhalde. Jedes Mal, wenn er zurückkehrte, schien es schlimmer zu werden. Drogendealer und Gangs machten die Gegend unsicher. Dass seine Eltern noch immer hier wohnten, verstand er nicht, die waren wohl nicht ganz bei Trost.
Plötzlich überfiel Jake ein Gefühl der Enge, und seine Hochstimmung verflog. Vielleicht lag es ja daran, dass er auf dem Weg nach Hause war oder dass er auf dem Rücksitz dieser rollenden Sardinenbüchse festsaß, oder an seinen Eltern, die nun schon seit einunddreißig Jahren verheiratet waren und ihm bei jedem Besuch ein wenig langweiliger erschienen als zuvor. Was, wenn es ihm mit Christina genauso ging? Die Vorstellung, eine Familie zu gründen, gefiel Jake: Als Ehemann und Vater in der Öffentlichkeit aufzutreten täte seinem Image gut und würde ihm bestimmt weitere lukrative Werbeverträge einbringen – aber die Vorstellung, für den Rest seines Lebens an eine einzige Frau gekettet zu sein, jagte ihm panische Angst ein. Das hatte nichts mit Christina zu tun, keine andere wäre ihm eine bessere Ehefrau. Sie liebte ihn, verstand ihn, war wunderschön und würde mit Sicherheit ein paar hübsche Babys produzieren. Leider war Christina aber nur eine einzige Person. Wenn er aus ihr zwanzig Christinas klonen und sie quer über das Land verteilen könnte, dann würde er vielleicht damit klarkommen, verheiratet zu sein – vielleicht! Wie sollte er ihr sonst treu bleiben können?
Wladimir Hohlkopfowitsch verließ den Belt Parkway an der Pennsylvania Avenue und fuhr durch das Spring Creek {38}Towers-Viertel. Brooklyn sah immer heruntergekommen aus, aber wenn man eine Weile weg gewesen war, wirkte alles noch viel schlimmer. Die hohen Wohnsilos standen so dicht an dicht, dass kein Sonnenstrahl den Asphalt erreichte, Jugendliche mit Durags standen an Straßenecken zusammen und sicherten ihr Revier. Als der Wagen in die Flatlands Avenue einbog, wurde es nicht besser. Noch mehr Wohnsilos, ausgebrannte und leerstehende Häuser und Müll, überall Müll. Die Straße schien noch enger und in einem noch schlechteren Zustand, als Jake sie in Erinnerung hatte. Eine schimpfende Mutter zog lumpig gekleidete Kinder hinter sich her, ein Obdachloser schlief in einem großen Karton, und Junkies hockten auf Treppenstufen oder Mülleimern und starrten Löcher in die Luft. Rollläden, Hauswände und Bushaltestellen, alles war dreckig und mit Graffiti vollgeschmiert. Als Jake hier aufwuchs, war die Gegend noch ein typisches, von Schwarzen und Weißen gleichermaßen bewohntes Arbeiterviertel. Jetzt lebten hier fast ausschließlich Schwarze, und es hatte nicht den Anschein, als gingen hier viele einer geregelten Arbeit nach. Vielleicht gab es in New York schlimmere Viertel, aber in ein paar Jahren würde das hier ein zweites East New York werden.
Höchste Zeit, dass er seine Eltern aus Brooklyn rausholte. Er würde ihnen eine hübsche Wohnung in der Stadt kaufen und ihnen einfach die Schlüssel schicken. Oder vielleicht sollte er sie nach L.A. verfrachten, an den Strand von Santa Monica oder sonst wo da draußen. Dieses Wochenende würde er das Thema noch nicht zur Sprache bringen. Er hatte sich vorgenommen, es ruhig angehen zu lassen und viel Zeit zu Hause zu verbringen, mit Christina das Datum {39}für die Hochzeit zu besprechen und dann wieder zu verschwinden. Mit ein bisschen Glück würde er nie wieder herkommen müssen.
Als der Wagen in die Einundachtzigste einbog, überfiel Jake wieder diese Platzangst, wahrscheinlich wegen der lückenlosen Reihe potthässlicher Backsteinhäuser, die die Straße säumten, mit hohen Veranden, Vorgärten gab es keine. Er hielt es kaum noch im Auto aus, musste endlich die Knochen strecken. Da entdeckte er die Menschenmenge. Mindestens zweihundert Leute, Tische mit Essen und Getränken, ein riesiges Banner quer über der Straße: WILLKOMMEN DAHEIM, JAKE! UNSER HELD! Der Wagen hielt, und sofort war er von einer Traube Kinder umringt – die meisten trugen ›Thomas 24‹-Shirts und die Baseballcap der Pirates. Lauter Jubel schallte ihm entgegen, als stünde er im entscheidenden Augenblick des siebten und letzten Matchs der World Series.
Jake stieg aus dem Auto und schenkte der Menge sein schönstes Hollywood-Lächeln. Er hätte seine Eltern umbringen können.
Sie kamen mit dem Anstreichen viel schneller voran, als Ryan erwartet hatte, wahrscheinlich weil sie nicht herumalberten wie sonst. Sie redeten kaum miteinander, und wenn niemand redete, dann blieb nichts anderes übrig, als zu arbeiten. Um fünf Uhr hatten sie sämtliche Wände des Hauses verspachtelt und den Voranstrich aufgetragen. Im Esszimmer hatte Carlos sogar den ersten Anstrich geschafft. Ryan säuberte gerade die Pinsel in der Spüle, als Franky hereinkam.
»Ach, Franky, ich wollte mich wegen vorhin entschuldigen«, sagte Ryan.
»Wieso?«
»Na ja, für den Mist, den ich abgelassen hab. Hat nix mit dir zu tun. Ich hab im Moment ’ne Menge Ärger am Hals, privat, verstehste?«
»Schon gut, vergiss es«, sagte Franky lächelnd.
Auf dem Nachhauseweg hörte Ryan auf einem College-Sender ein Rap-Special. Als die Musik von einem Werbetrailer für ein Ja-Rule-Konzert nächsten Monat im Garden unterbrochen wurde, beschloss Ryan, später online zwei Tickets zu kaufen. Christina hasste Rap und konnte sich höchstens für Will Smith und – seit sie 8 Mile gesehen hatte – für Eminem erwärmen. Bestimmt würde sie zuerst {41}rummeckern, aber Ryan war sich sicher, dass er sie überreden konnte. Vielleicht würden sie sich ein ganzes Wochenende gönnen – sich in der City ein Hotelzimmer nehmen, wie sie es hin und wieder schon gemacht hatten. In der Vergangenheit hatte Christina ihrem Vater erzählen müssen, dass sie das Wochenende bei ihrer Freundin Nancy im Village verbrachte, und Ryan hatte seinen Eltern ebenfalls irgendeine Geschichte aufgetischt, und dann hatten sie sich in einem Hotelzimmer in Midtown getroffen. Dieses Mal brauchten sie keine Lügen zu erfinden oder sich Sorgen zu machen, dass sie gesehen wurden. Endlich würden sie als Paar auftreten, in aller Öffentlichkeit Händchen halten und sich küssen und tun können, was ihnen in den Sinn kam. Ryan würde Christina ganz offen zu Hause abholen, sie würden zusammen in die Stadt fahren und den größten Teil des Wochenendes im Bett verbringen, außer Samstag, da würden sie aufs Ja-Rule-Konzert gehen.
Ryan konnte sich für ein Wochenende keinen besseren Plan vorstellen.
Er bog nach rechts in die Flatlands Avenue ab und ließ die South Shore Highschool hinter sich. Wie immer versuchte er, den Sportplatz zu seiner Linken zu ignorieren. Manchmal machte er sogar einen Umweg über die Glenwood Road und dann über die Neunundsiebzigste zurück in die Flatlands Avenue, nur um dem Platz auszuweichen. Es gelang ihm, nicht hinzusehen, aber als der Verkehr stockte, stach ihm der ›Brooklyn liebt Jake‹-Aufkleber am Heck des Wagens vor ihm ins Auge.
»Mist!« Angewidert wandte er sich ab, und sein Blick fiel auf das Spielfeld. Sogleich sah er sich wieder dort auf dem {42}Wurfhügel stehen, an jenem kalten Apriltag, sie spielten gegen Wingate.
Zu Beginn des Spiels hatte sich nur eine Handvoll Zuschauer eingefunden, zwanzig höchstens. Später, als es sich wie ein Lauffeuer herumsprach, dass Ryan Rossetti ein Perfect Game warf, strömten immer mehr Zuschauer herbei, und während der letzten beiden Innings feuerten ihn mehr als hundert Fans an. Jake hatte zwei Wahnsinns-Home-Runs geschlagen und seinem Team damit eine 2:0-Führung verschafft, die Ryan zum Sieg reichen musste. An jenem Tag warf Ryan die Bälle mit solch unglaublicher Präzision, dass er fast jeden Schlagmann vom Home Plate fegte. Im letzten Inning hatte er bereits zwei Gegner ausgeschaltet, nun stand er Wingates gefährlichstem Schlagmann gegenüber. Das Duell zwischen Werfer und Schlagmann stand auf Messers Schneide. Noch ein ungenauer Wurf, und der Schlagmann würde kampflos zum ersten Base kommen und Ryans perfektes Spiel ruinieren. Außerdem könnten die Gegner dann durch einen Home Run des nächsten Batters ausgleichen. Ryan wusste, dass der Schlagmann mit einem Fastball, einem geraden, harten Wurf, rechnete, deswegen entschied er sich für einen angeschnittenen Curveball, der in die äußere Ecke der Zone schoss und die endgültige Niederlage für Wingate markierte.
Wie hatte er es genossen, als sein Team ihn erst jubelnd unter sich begrub und Jake und der Catcher ihn schließlich auf den Schultern über den Platz trugen. Die Daily News schrieb am nächsten Tag in einem kurzen Artikel, dass dies wohl eine der besten Pitcher-Leistungen in der Geschichte des Highschool-Baseballs in Brooklyn gewesen sei. Ryan {43}hatte von 21 Schlagmännern 17 mit Strikeouts vom Platz geworfen, die übrigen vier hatten nur harmlose Schläge zustande gebracht und wurden von Ryans Mitspielern ohne Probleme ausgeworfen.
Damals hatte Ryan geglaubt, dieses Perfect Game sei der Anfang einer großen Karriere. Er war zwar schon immer kleiner und schmächtiger gewesen als die meisten Jungs in seinem Alter, dafür hatte er sich den Arsch aufgerissen, um dort hinzukommen, wo er war. Die meisten Jungs spielten nur im Frühling und im Sommer Baseball und wandten sich nach Ende der Saison anderen Sportarten zu. Ryan war anders. Er spielte Basketball und Rollhockey, um in Form zu bleiben, aber er konzentrierte sich zwölf Monate im Jahr auf Baseball. Wenn er nicht irgendwo spielen konnte und niemanden zum Bällewerfen fand, ging er auf den Baseballplatz im Canarsie Park und schlug ein paar Bälle, oder er ging mit einem Gummiball auf einen Schulhof und warf auf eine bunte Kiste, die er als Zielscheibe an die Wand stellte. Im Winter, wenn die anderen Kinder im Schnee herumtollten oder zu Hause saßen und im Fernsehen Football oder Basketball schauten, schippte er auf einem Parkplatz, einem Schulhof oder in einer Sackgasse den Schnee beiseite und trainierte Zielwerfen. Er verschwendete sein Taschengeld nicht auf Videospiele oder Comic-Hefte, sondern investierte alles in seine Baseballausrüstung und das Schlagtraining auf dem Gateway Batting Range in Flatbush.
Wenn Ryan mal nicht Baseball spielte, dann beschäftigte er sich in Gedanken damit. Manchmal lag er nachts wach, oder er starrte während des Unterrichts aus dem Fenster und träumte davon, wie er bei den World Series im Yankee {44}Stadium pitchte. Er war mitten in einem Perfect Game, und als er den letzten Schlagmann mit einem knallharten Wurf vom Platz gefegt hatte – am liebsten stellte er sich Mark McGwire vor –, stürmte seine Mannschaft begeistert auf ihn zu und trug ihn auf den Schultern vom Platz. Er sammelte Baseballkarten von Ryan Klesko und auch die alten von Ryan Sandberg und Nolan Ryan und überschrieb ›Klesko‹, ›Sandberg‹ und ›Nolan‹ mit ›Rossetti‹. Dann pinnte er die Karten an die Wand über seinem Bett. Jeden Abend, vor dem Einschlafen, betrachtete er sie lange.
In der Joe Torre Little League war Ryan der Superstar seines Teams. Er war ein recht guter Schlagmann, aber als Werfer war er überragend. Mit elf machte er auf dem Wurfhügel eine bessere Figur als die meisten weitaus älteren Highschool-Kids, seine Bewegungsabläufe waren perfekt, jeder Wurf absolut kontrolliert. Ryan wusste, dass seine Größe ein echtes Problem darstellte, wenn er in der Profiliga spielen wollte. Die meisten Pitcher waren mindestens einen Meter achtzig groß, die wirklich erfolgreichen waren eher noch größer. Der größte Mann in Ryans Familie war Onkel Stan mit einem Meter siebenundsiebzig, Ryans Vater kam nur auf einen Meter zweiundsiebzig. Ryans Trainer in der Little League versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er Zweiter Baseman oder Shortstop trainieren müsse, wenn er Baseball tatsächlich zu seinem Beruf machen wolle, denn auf diesen Positionen spielte die Größe nur eine untergeordnete Rolle. Ryan hatte lange darüber nachgedacht. Als er vierzehn Jahre alt war, sah er im Fernsehen zufällig ein Interview mit einer Turnerin, die an den Olympischen Spielen teilnahm. Die junge Frau hatte in ihrer Kindheit {45}irgendeine schlimme Krankheit gehabt, aber sie hatte sie überwunden und ihren Traum Wirklichkeit werden lassen. Sie sagte, sie habe es nur geschafft, weil sie nie aufgegeben hatte. Tief in ihrem Innern hatte sie immer gewusst, was sie wollte, und nichts hatte sie davon abbringen können. Ryan ging es genauso, und deshalb beschloss er, dass er es entweder als Pitcher schaffen oder das Baseballspielen ganz lassen würde.
Während seiner gesamten Schulzeit tat Ryan alles, um größer zu werden. Er machte Yoga, Dehnübungen, Streckübungen, ließ sich kopfüber an den Füßen hängen, schluckte Vitamine und Mineralien und trank Protein-Drinks mit Bierhefe, Bienenpollen und Sojalecithin. Aber mit siebzehn Jahren brachte er es nur auf einen Meter sechsundsiebzig. Die fehlenden Zentimeter schienen die Qualität seiner Würfe kaum zu beeinträchtigen, denn er war noch immer der beste Highschool-Pitcher von New York, wenn nicht sogar der gesamten Ostküste. Zwar waren seine Bälle nicht sonderlich schnell, seine Fastballs erreichten maximal hundertdreißig Stundenkilometer, aber dafür warf er mit einer unglaublichen Präzision. Wenn er warf, schafften pro Spiel höchstens ein oder zwei Schlagmänner einen Walk, einen Freilauf nach missratenen Würfen – eine erstaunliche Leistung für einen Teenager. Er konnte sogar Curveballs werfen. Eigentlich sollte man mit Curveballs erst nach Ende der Wachstumsphase anfangen, weil das Risiko einer Sehnenverletzung sonst sehr hoch ist, aber Ryans Curveballs flogen so genial und kontrolliert, dass er einfach nicht widerstehen konnte, hin und wieder einen zu werfen, wenn er auf dem Wurfhügel stand. Er wartete immer den richtigen Moment ab, zum Beispiel wenn er in einer heiklen {46}Spielsituation dringend den Schlagmann rauswerfen musste. Dann warf er einen Curveball. Der Schlagmann dachte meist, dass der Ball direkt auf seinen Kopf zusteuerte, und duckte sich aus dem Schlagbereich. Dann erschien ein fassungsloser Ausdruck auf seinem Gesicht, wenn der Ball mit seinem enormen Effet die Richtung änderte, auf der Innen- oder Außenseite der Ecke auftraf, und der Unparteiische ihn vom Platz schickte.
Im Frühjahr, kurz vor seinem Highschool-Abschluss, begannen die Talentsucher sich für Ryan zu interessieren. Sie kamen zu jedem Spiel, und es hieß, die Dodgers, Cubs, Indians und Astros hätten ein Auge auf ihn geworfen. Man war ziemlich beeindruckt und hielt ihn für eines der vielversprechendsten Talente im Land. Dennoch war Ryan immer nur ›der andere‹, den die Talentsucher ›auch‹ sehen wollten, wenn sie zu den Spielen des South-Shore-Teams angereist kamen. Der Spieler, auf den sie wirklich scharf waren, war Jake Thomas.
Im Gegensatz zu Ryan, der geschuftet hatte wie ein Irrer, um so weit zu kommen, war Jake ein Naturtalent. Sein Vater, Antowain Thomas, hatte während der Highschool und im College sehr erfolgreich als Verteidiger einer Footballmannschaft gespielt, und Jake hatte dessen athletischen Körperbau geerbt. Er musste weder Muskelaufbautraining noch sonst etwas machen, um sein Spiel zu verbessern. Während Ryan von klein auf nichts als Baseball im Kopf hatte, interessierte sich Jake auch für andere Sportarten, und nach der Schule und am Wochenende beschäftigte er sich mit denselben Dingen wie andere Jungs in seinem Alter, Videospielen, Kino und Mädchen. Jake hatte in der Little League {47}in der gleichen Mannschaft wie Ryan gespielt, und obwohl Jake nie zum Training auftauchte und sich auch nicht sonderlich für die Spiele zu interessieren schien, stellte ihn der Trainer immer wieder auf der entscheidenden Position, als ›Clean-up-Hitter‹, auf, und jedes Mal gelangen Jake Wahnsinns-Home-Runs und knallharte, tieffliegende Geschosse.
Im zweiten Jahr auf der Highschool brachte der Canarsie Courier einen Artikel über Jake und Ryan, nannte sie ›das dynamische Duo‹. Der Spitzname blieb für den Rest der Schulzeit an ihnen kleben. Der Courier und andere Regionalzeitungen betonten gerne, dass sie in derselben Straße aufgewachsen waren, dass sie schon zusammen in der Little League gespielt hatten und es bestimmt in die Major League schaffen würden. Selbst Sports Illustrated brachte einen kurzen Bericht über die beiden hochtalentierten Jungs aus Brooklyn, die es gewiss noch weit bringen würden.
Auch wenn die Zeitungen es so darstellten, als wären Jake und Ryan schon immer die besten Freunde gewesen, als würde ein Traum für sie wahr werden, wenn sie zusammen den Sprung in die Major League schafften, so hatte das mit der Realität recht wenig zu tun. Ryan und Jake waren nie Freunde gewesen. Als Kinder hatten sie ständig zusammen gespielt, weil ihre Mütter beste Freundinnen waren und sie nur drei Häuser voneinander entfernt wohnten, aber sie waren nie sonderlich gut miteinander ausgekommen. Zwischen ihnen hatte es immer eine gewisse Rivalität gegeben, einen Wettstreit bei allem, was sie taten. Ob sie mit Holzstöcken nach Plastikbällen schlugen oder auf dem Nachhauseweg um die Wette rannten – jeder gab alles, um den anderen zu schlagen.
{48}Jake und Ryan waren in der Schulzeit absolute Ausnahmespieler und brachen fast sämtliche Rekorde der Highschool-Liga. Alle waren davon überzeugt, dass Jake auf Platz eins der Rekrutierungslisten stand. Zwar waren die Talentsucher von Ryans Körperbeherrschung, seiner Zähigkeit und seinem Kampfgeist beeindruckt, zögerten aber wegen seiner Größe. Ryan versuchte, sie davon zu überzeugen, dass er noch wachse und in der Minor League mit einem weiteren Wachstumsschub rechne, aber die Talentsucher hatten sich erkundigt und wussten, wie groß seine Familienangehörigen waren. Sie wussten, dass Ryan kaum mehr als einen Meter siebenundsiebzig erreichen würde.
Doch Ryans Knock-out-Bälle erwiesen sich als schlagende Argumente. In seinem Abschlussjahr hatte er eine Erfolgsbilanz von 11:0 Siegen. Dabei hatte er durchschnittlich dreizehn gegnerische Schlagmänner vom Feld geschickt und pro Spiel weniger als zwei Freiläufe gestattet. Ihm waren fünf Zu-null-Erfolge gelungen und das eine Perfect Game. Obwohl er zu klein war, holten die Cleveland Indians ihn schon in der vierten Rekrutierungsrunde. Er hatte erst in der sechsten oder siebten Runde darauf gehofft und war hocherfreut. Jake wurde als bester Nachwuchsspieler des ganzen Landes an erster Stelle rekrutiert. An dem Abend der Rekrutierung feierten Jake und Ryan und die meisten ihrer Teamkollegen die ganze Nacht. Alles sprach dafür, dass das Märchen von den beiden Jungs aus Brooklyn ein märchenhaftes Ende nehmen würde.
Doch dann lief es auf einmal nicht mehr nach Plan, zumindest für Ryan.
Während Jake in der Minor League Triumphe feierte und {49}auf der Überholspur die Majors ansteuerte, kämpfte Ryan sich durch seine erste Saison im Farmteam in Winter Haven. In den ersten beiden Spielen war seine Leistung so miserabel, dass er zum Auswechselwerfer degradiert wurde. Nach ein paar ordentlichen Auftritten wurde er wieder zum Stammwerfer und spielte den Rest des Jahres ziemlich gut. Einmal gelang ihm sogar ein Two-Hit Shutout, ein Zu-null-Sieg, in dem er bloß zwei erfolgreiche Schläge abgab. In der darauffolgenden Saison berief man ihn ins A-Liga-Team der Kinston Indians. Nach einem durchwachsenen Einstieg stabilisierte sich seine Leistung, so dass er zur Nummer zwei des Werfercorps aufstieg. Seine Karriere schien nun endlich ins Rollen zu kommen, und Ryan peilte für die nächste Saison die AA-Liga oder mit ein bisschen Glück sogar die AAA-Liga an, um dann zwei, drei Jahre später in die Majors aufzusteigen. Es passierte im letzten Spiel der Saison, in einem Play-off-Spiel gegen Lynchburg. Das Komische war, dass er es kaum spürte. Er hatte gerade eines der besten Innings seiner Laufbahn in der Minor League geworfen und mit nur neun Würfen drei Gegner eliminiert. Zwar wurde damals nicht gemessen, aber Ryan wusste, dass seine Bälle mindestens hundertfünfzig Stundenkilometer draufhatten, satte zehn über seinem persönlichen Rekord. Als er sich auf dem Wurfhügel auf das nächste Inning vorbereitete, spürte er plötzliches ein leises Plopp. Er wurde ausgewechselt und ins Krankenhaus gebracht. In der Magnetresonanztomographie stellte sich heraus, dass er sich am linken Ellbogen das innere Seitenband gerissen hatte. Möglicherweise war eine falsche Bewegung während des Wurfs die Ursache der Verletzung, erklärte ihm der Arzt, aber wahrscheinlich sei {50}sie das Resultat langjähriger Belastung. Nun hatte er also die Quittung für die Curveballs in der Highschool-Zeit bekommen.
Die Saison war für Ryan gelaufen. Eine Woche nach der Verletzung kam er bereits unter das Messer; die Operation, bei der das gerissene Band durch ein Band vom rechten Unterarm ersetzt wurde, sei sehr gut verlaufen, erklärte ihm der Chirurg, und er sähe – sofern während der Reha keine Komplikationen auftraten – keinen Grund, warum Ryan in der nächsten Saison nicht wieder spielen könne.
Aber schon wenige Wochen nach der OP