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Mordserie im Naturparadies Anne Kirsch hat ihren Job beim Morddezernat verloren und wurde ins Sauerland strafversetzt. Umso ärgerlicher, dass sie nun mit dem strebsamen Anton Hellmann zusammenarbeiten soll, der als ihr Nachfolger gehandelt wird. Auch ihr erster gemeinsamer Fall erregt ihren Unmut. Aus einem Museum in der Nähe des Naturmonuments Bruchhauser Steine wurden zwölf historische Nägel gestohlen. Doch was wie eine Lappalie erscheint, entpuppt sich als Auftakt zu einer Mordserie. Denn schon bald wird der erste Tote mit einem Nagel in der Brust gefunden. Als weitere Opfer auftauchen, beginnt Anne zu ahnen, dass dieser Fall alles in den Schatten stellt, was sie bisher erlebt hat. Um die Mordserie zu stoppen, muss sie ein Verbrechen aufklären, das weit in die Vergangenheit zurückreicht.
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Seitenzahl: 394
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Mordserie im Naturparadies
Anne Kirsch hat ihren Job beim Morddezernat verloren und wurde ins Sauerland strafversetzt. Umso ärgerlicher, dass sie nun mit dem strebsamen Anton Hellmann zusammenarbeiten soll, der als ihr Nachfolger gehandelt wird. Auch ihr erster gemeinsamer Fall erregt ihren Unmut. Aus einem Museum in der Nähe des Naturmonuments Bruchhauser Steine wurden zwölf historische Nägel gestohlen. Doch was wie eine Lappalie erscheint, entpuppt sich als Auftakt zu einer Mordserie. Denn schon bald wird der erste Tote mit einem Nagel in der Brust gefunden. Als weitere Opfer auftauchen, beginnt Anne zu ahnen, dass dieser Fall alles in den Schatten stellt, was sie bisher erlebt hat. Um die Mordserie zu stoppen, muss sie ein Verbrechen aufklären, das weit in die Vergangenheit zurückreicht.
Von Mareike Albracht sind in der „Ein-Fall-für-Anne-
Kirsch“-Reihe erschienen:
Katz und Mord
Dornentod
Erzähl mir vom Tod
Mordskälte
Mareike Albracht wurde 1982 geboren. Sie lebt mit ihrer Familie im Sauerland, schreibt leidenschaftlich gern Kriminalromane, betreibt einen Buchblog und veranstaltet regional Krimi- und Dinnerabende. Sie ist Mitglied der Mörderischen Schwestern.
Im März 1848 – Bruchhausen – Sauerland
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Liebe Leserin, lieber Leser!
Kapitel 1
Schwarzer Rauch um sie herum. Jemand schrie.
Flammen leckten an den Holzbalken des Dienstbotentraktes. Überall war Feuer. Feuer und Rauch. Das Fenster im ersten Stock stand offen, und Hilda sah einen der Knechte hindurchsteigen.
»Hier können wir raus!«, rief sie Minna zu.
Ein Poltern ertönte hinter ihr. Hilda blickte sich um, konnte aber nichts erkennen. Sie rannte zur Treppe zurück und sah, dass Minna gestürzt war. Sie lag vor der untersten Stufe. Um ihre Schultern war ein himmelblaues Schultertuch mit goldener Stickerei geschlungen. Hilda erkannte es sofort. Es gehörte Gräfin Adele. Minna musste es gestohlen haben.
Hilda wollte zu ihr hinuntersteigen, doch die Hitze war zu groß. Das gesamte Erdgeschoss stand in Flammen. Und der Ausgang unten führte nicht ins Freie, sondern ins Renteigebäude. Dort wütete das Feuer umso schlimmer.
»Minna!« schrie Hilda und atmete beißenden Rauch.
Eine Stimme rief nach ihr. Sie kam von draußen. »Hilda, bist du das?« Es war Friedrich.
»Ich bin hier!« Ihr letzter Laut wurde von einem Hustenanfall erstickt.
»Komm zum Fenster, Hilda! Beeil dich!«
Das Atmen fiel ihr schwer. Doch sie konnte Minna nicht zurücklassen. Sie hatte ihr so viel zu verdanken. Minna hatte immer zu ihr gehalten. Minna hatte ihr die Stelle im Schloss besorgt. Hilda stieg die schmalen Stufen hinunter. Hitze brannte auf ihrer Haut. Bei jedem Atemzug schmerzte ihre Brust und ihre Augen tränten.
Sie zerrte an Minnas Arm, aber die andere Dienstmagd rührte sich nicht.
»Das Dach wird bald einstürzen!«, hörte sie jemanden von draußen rufen.
Hilda kauerte sich nieder, legte Minnas Arm um ihren Nacken und versuchte, sich mit ihr hochzustemmen. Vergeblich. Ich will nicht sterben!, dachte sie.
Sie sah ihr kleines Mädchen vor sich. Flora. Nur knapp ein Jahr alt. Hilda konnte sie nicht oft sehen. Das Mädchen lebte bei Friedrichs Mutter in Ellerynchusen. Hilda träumte von dem Tag, an dem Friedrich genug Geld gespart hatte und sie heiraten konnte. Dann würden sie ein kleines Häuschen kaufen und ihre Tochter zu sich nehmen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis Friedrich seine Lehre als Nagelschmied beendet hätte. Er würde genug Geld verdienen, um Flora und sie versorgen zu können.
Der Gedanke daran gab ihr Kraft. Sie stemmte sich in die Höhe und es gelang ihr, Minnas schlaffen Körper anzuheben. Doch die Treppe war steil und die Hitze unerträglich. Ihre Beine drohten nachzugeben. Wenn ich jetzt sterbe, wird Flora mich rasch vergessen, dachte sie.
Wieder rief Friedrich nach ihr. Sie wollte ihm antworten, doch die Worte erstickten in einem Hustenanfall.
Dann war er da. Friedrich hob Minna von ihren Schultern und stieg die Treppe hinauf. Er streckte seine Hand nach Hilda aus. »Komm!«
Sie erschrak, denn sein Ärmel war blutdurchtränkt. Er zog sie nach oben.
»Du zuerst!« Er deutete auf das Fenster.
Die Leiter knarrte beängstigend, doch Hilda gelangte sicher nach unten. Dann kletterte Friedrich mit Minna auf den Schultern herab. Unten angekommen drückte er Hilda fest an sich. Sie atmete die frische Luft und lauschte auf seinen Herz schlag. Mein Friedrich.
Minna hustete und rappelte sich mühsam auf. Ihr feines rotes Haar war angesengt. Sie sah sich angstvoll um und stopfte das blaue Schultertuch unter ihr Mieder. »Wir müssen hier weg! Die Bauern werden uns umbringen!«
»Die wollen nichts von uns«, widersprach Hilda. »Die wollen nur raus aus Hunger und Elend.«
Die Bewohner von Bruchhausen hatten sich mit Fackeln und landwirtschaftlichem Gerät bewaffnet und das Schloss gestürmt. Sie hatten Fenster zerschlagen, die Rentei und die hölzernen Nebengebäude in Brand gesetzt. Sie kämpften gegen Schwerter, doch sie waren in der Überzahl. Die Rufe »Freies Holz!« und »Freie Weide!« übertönten den Lärm des Gefechts.
Hilda spürte, wie sich Friedrich sanft von ihr löste. »Minna hat recht«, sagte er. »Ihr könnt hier nicht bleiben. Geht auf den Berg! Dort seid ihr in Sicherheit.«
Hilda schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei dir!«
»Nein! Du musst mit den andern gehen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas passiert.«
Sie sah, dass eine Gruppe von Mägden den Istenberg hinaufzog. Dort lag eine mittelalterliche Festung, die Schutz für die Nacht bieten würde. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Ich will nicht ohne dich gehen!«
Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. »Ich muss meinen Freunden helfen. Wir treffen uns bei Sonnenaufgang auf dem Feldstein. An unserem geheimen Ort. Geh jetzt, mein Herz!«
Hilda trat aus dem Gemäuer der alten Feste ins Freie. Die Nacht hatte ihren Zenit überschritten, und der Mond stand wie eine blasse Silbermünze am Himmel. Er tauchte die Bruchhauser Steine in gespenstisches Zwielicht. Es waren vier gigantische Felsen: der Bornstein, der Goldstein, der Feldstein und der Ravenstein. Sie hatten Hilda schon immer verzaubert.
Von der Spitze des Istenbergs aus ragten sie in die Höhe und schienen den Himmel zu berühren. Dort zwischen den Wolken waren Friedrich und sie sich das erste Mal begegnet.
An einem Ort jenseits der Welt.
Hilda fröstelte in der kalten Luft. Der Gedanke an Friedrich ließ ihr keine Ruhe. Sie würde oben auf dem Feldstein warten. Dort gab es eine geschützte Stelle, wo sie ein Feuer machen konnte.
Sie wickelte sich ihren Mantel eng um die Schultern und lief zu dem am höchsten gelegenen Felsen. Der Pfad war steil, doch Hilda kannte ihn genau und wusste, wohin sie ihre Füße setzen musste.
Von hier oben konnte sie Schloss Bruchhausen sehen. Die Gebäude brannten nicht länger. Dafür entdeckte Hilda die vielen kleinen Feuer der Belagerer. Sie hatten das Schloss umzingelt, das geduckt im Dunkeln lag wie ein verwundetes Tier. Hildas Blick wanderte in die Ferne. Hinter den Bergen lag Ellerynchusen. Dort schlief Flora in ihrem Bettchen. Hilda vermisste sie schmerzlich. Doch wenigstens war sie in Sicherheit.
Als Hilda weiter hinaufstieg, bemerkte sie den rötlichen Schein eines Feuers an einer Felswand und ihr Herz machte einen Satz. Friedrich war bereits da! Er wartete auf sie. Der Gedanke gab ihr neue Kraft und sie kletterte schneller.
Das Feuer brannte in der kleinen Felsnische, die Friedrich von einer Seite mit Brettern verkleidet hatte. Dies war ihr geheimer Ort.
»Friedrich?« Hilda sah sich um, doch es schien niemand hier zu sein. Auch oben beim Gipfelkreuz war keine Menschenseele zu sehen. Der Mond stand direkt über ihr. Judasmond nannten ihn die alten Frauen im Dorf. Verrätermond.
Hilda hörte ein Geräusch von oben. Vielleicht war Friedrich unterhalb der Kuppe auf der anderen Seite des Berges. Aber warum? Hilda erhob sich und begann den Anstieg zum Gipfel. Von dort würde sie alles überblicken können. Der Wind schnitt unbarmherzig durch ihren Mantel.
»Friedrich?« Ihr Fuß glitt auf dem von Flechten bewachsenen Felsen aus und Hilda verlor fast das Gleichgewicht. Sie sah sich um. Ihr wurde bang zumute.
Warum antwortete Friedrich nicht? Er war doch nicht etwa abgestürzt? Die Felskanten waren tückisch, nicht immer so fest und sicher, wie sie auf den ersten Blick schienen.
Sie hörte ein Geräusch hinter sich. Dort stand jemand.
Aber es war nicht Friedrich. Im Licht des Mondes glitzerte goldene Stickerei auf einem Seidentuch.
»Minna?« Hilda war halb erleichtert und halb enttäuscht. »Was tust du hier?«
Minnas Gesicht war bleich im Mondlicht. Ihr Blick seltsam starr. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Du musst wieder nach unten zu den anderen gehen. Hier oben ist es zu kalt.«
»Und was tust du hier?«
»Ich warte auf meinen Friedrich.«
»Meinen Friedrich!«, äffte Minna sie nach. »Mein, mein, mein. Alles willst du für dich!«
Hilda wurde unruhig. So kannte sie Minna gar nicht.
»Auch du wirst jemanden finden.« Sie streckte den Arm aus, um ihre Freundin zu trösten.
Minnas Stimme wurde kalt. »Das habe ich bereits.« Dann versetzte sie Hilda einen Stoß.
Montag, 30.09. – Jetzt
Der Weg zum Tatort führte Oberkommissarin Anne Kirsch durch eine malerische Dorfkulisse, vorbei an weißgetünchten Häusern mit ebenholzfarbenem Fachwerk. Der Ort hieß Bruchhausen. Er gehörte zum Stadtgebiet Olsberg und zu ihrem neuen Wirkungskreis im östlichen Sauerland.
»Sieh es doch so«, hatte Heiko gesagt. »Du lebst jetzt dort, wo andere Urlaub machen. Im Land der tausend Berge. Wir können jeden Tag wandern, Ausflüge machen, picknicken. Du kannst hier besser joggen gehen als in Dortmund. In Winterberg kannst du Ski fahren und in den zahlreichen Seen schwimmen. Du könntest endlich zur Ruhe kommen.«
Ruhe, dachte Anne und sah aus dem Fenster. Ruhe ist das Letzte, was ich will. Nicht, dass ich nicht gerne mit Heiko wandern gehe. Sie mochte Bewegung und sie hatte nichts gegen die Natur. Aber alles in Maßen.
»Ein schöner Herbsttag!«, bemerkte ihr neuer Kollege Anton Hellmann, der am Steuer saß. »Dieser Kontrast von Licht und Schatten.«
Noch so ein Naturbursche!, dachte Anne mit finsterer Miene. Der wird sich umsehen, wenn er erst in Dortmund wohnt. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich.
Anton Hellmann war ihr neuer Partner bei der Kripo Brilon. Sie kannte den drei Jahre jüngeren Kollegen bereits von früheren Ermittlungen. Im Morddezernat Dortmund hatte sie auch Fälle aus dem Sauerland bearbeitet. Dabei war sie von der Kriminalpolizei vor Ort unterstützt worden und hatte so Anton Hellmann kennengelernt. Da war er der Landpolizist gewesen.
Jetzt waren sie beide Landpolizisten. Aber wenn sich Annes Vermutung bestätigte, würde das nicht mehr lange so sein. Sie fühlte wachsenden Groll.
»Hast du schon eine Wohnung gefunden?«, fragte Hellmann.
»Mein Freund Heiko hat ein Haus in Bontkirchen. Wir wohnen erst mal dort, bis wir etwas Anderes finden.«
»Bontkirchen ist schön. Besonders die Lage zwischen den Bergen und am Diemelsee. Außerdem nahe bei Willingen, mit der Gastronomie und den Einkaufsmöglichkeiten.«
»Ja.« Ihr Ton war schroffer als beabsichtigt.
Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Gefällt es dir dort nicht?«
»Bontkirchen ist gut zum Urlaubmachen.« In Gedanken fügte sie hinzu: Aber das Schöne am Urlaub ist, dass er irgendwann endet.
Ihr lag die Frage auf der Zunge, wann Hellmann seinen neuen Job in Dortmund antreten würde, doch sie schluckte sie herunter. Er sollte nicht merken, wie neidisch sie war. »Was ist mit dir?«, fragte sie stattdessen.
»Ich wohne in Brilon, in der Nähe der Polizeiwache. Jens Baltschukat und ich haben eine WG. Er ist auch ein Kollege. Kennst du ihn?«
Anne schüttelte den Kopf. Sie hatte so oft mit Polizisten anderer Dienststellen zu tun gehabt, dass die meisten Namen und Gesichter nach einiger Zeit verblasst waren.
»Jens arbeitet beim Erkennungsdienst in Meschede. Die machen für uns die Spurensicherung in schwierigen Fällen.«
Da Hellmann nichts mehr hinzufügte, schwieg sie auch und sah aus dem Fenster. Fachwerkhäuser mit üppigen Blumenkästen zogen an ihnen vorbei. Bruchhausen lag in den nördlichen Ausläufern des Rothaargebirges und war ein klassischer Ferienort. Zusammen mit Heiko und seiner Hündin hatte Anne in der Umgebung schon mehrere Wandertouren unternommen.
Vor allem waren sie oft bei den Bruchhauser Steinen gewesen, einem Naturmonument, das weit über das Sauerland hinaus bekannt war. Es handelte sich um vier gigantische Felsen, die vom bewaldeten Istenberg aus in die Höhe ragten wie die klobigen Finger eines Riesen. Auf dem höchstgelegenen Felsen, dem Feldstein, stand ein Gipfelkreuz. Anne war mit Heiko hinaufgestiegen und hatte auf die Täler und Berge herabgeblickt.
Diese letzte Tour war erst wenige Monate her, und doch schien die Erinnerung daran aus einem anderen Leben zu stammen. Es war Annes letzter Urlaub bei Heiko im Sauerland gewesen. Kurz danach hatte sie von ihrer Zwangsversetzung erfahren. Sie war nicht mehr länger die erfolgreiche Mordermittlerin in einer Fernbeziehung.
Sie war nun Landpolizistin.
Beziehungsstatus? Es ist kompliziert.
Hellmann hielt an und Anne sah sich irritiert um. »Ich dachte wir fahren zu einem Museum.«
»Ja genau.« Hellmann deutete auf ein kleines Gebäude am Straßenrand. »Das ist eine historische Nagelschmiede. Sie ist zum Museum umgebaut worden.«
Jetzt bemerkte Anne den Zaun aus eisernen Ziernägeln, der das Gebäude umgab.
»Frau Eisermann hat gestern den Einbruch im Nagelschmiedemuseum angezeigt«, erzählte Hellmann. »Jemand hat die Tür aufgebrochen und zwölf historische Nägel entwendet.«
Anne dachte, dass das Schicksal sie wohl verhöhnen wollte. Das war es also, was sie in den nächsten fünf bis zehn Berufsjahren erwartete. »Zwölf Nägel!«
»Es war ein Einbruch. Vermutlich gibt es erheblichen Sachschaden. Von den psychologischen Auswirkungen bei Frau Eisermann gar nicht zu sprechen.«
»Da ist keiner in ihre Wohnung eingedrungen, sondern in ein Nagelmuseum.« Anne schnaubte. »Wofür braucht man ein Nagelmuseum?«
»Das werden wir gleich erfahren.«
Er zog das Fahrtenbuch des Dienstwagens heraus und trug die gefahrenen Kilometer ein.
»In Dortmund tragen wir die Kilometer erst bei Dienstschluss ein.«
»Ich mache es lieber sofort«, entgegnete Hellmann.
Anne verkniff sich eine Bemerkung und stieg aus. Sie spürte den wachsenden Druck in ihrem Inneren, musste den Kopf freikriegen. Doch die Sauerländer Landluft machte es nicht besser. Ebenso wenig der Anblick der adrett herausgeputzten Häuser.
Endlich stieg Hellmann aus. In der Hand hielt er Notizblock und Stift. Sie gingen zur Haustür.
»Am besten, du lässt mich reden«, sagte er.
»Wieso?«, zischte sie. »Denkst du, ich nehme den Schrottdiebstahl nicht ernst?«
Er runzelte die Stirn. »Es geht um Antiquitäten. Sie sind vielleicht nicht wertvoll, aber Einbruch ist Einbruch.«
»Und du denkst, das übersteigt meine Kompetenzen?«
»Ich denke, du weißt noch nicht, wie wir hier vorgehen.«
Die Tür ging auf und eine Frau in einer mittelalterlichen Robe stand vor ihnen. Graue kurze Locken kräuselten sich unter ihrer Haube. Sie war ungeschminkt und lächelte freundlich. »Sie möchten ins Museum?«
Hellmann zeigte seinen Ausweis. »Wir sind von der Kripo Brilon. Das ist meine Kollegin Frau Kirsch. Mein Name ist Hellmann.«
»Gut, dass Sie kommen! Ich bin Grit.« Sie deutete auf das kleine Namensschild an ihrer Robe, auf dem nur der Vorname stand. »Grit Eisermann.« Sie gab ihnen beiden die Hand und Anne bemühte sich um ein freundliches Gesicht.
»Bei Ihnen ist eingebrochen worden?«, fragte Hellmann.
»Ja. Hier, sehen Sie?« Grit deutete auf die Türzarge und Anne erkannte Spuren eines Stemmeisens. »Jemand hat die Tür aufgebrochen.«
Hellmann kniete sich hin und musterte die Kratzer im Holz. Dann folgten sie Grit in das Museum, das aus zwei großen Räumen bestand. Anne sah alte Möbel und mittelalterliche Gerätschaften. Auf einer gemauerten Esse an der Wand lagen Zangen und Schmiedehämmer. Schwarzweißfotos an den Wänden zeigten Motive von Bruchhausen. Auf einem Regal standen Bücher und Alben. Daneben befand sich ein Tisch mit alten handgeschmiedeten Nägeln.
Das wäre ein Ort für Heiko, dachte Anne. Er könnte hier viel Zeit verbringen und in die Ortsgeschichte abtauchen. Sie selbst ging ungern in Museen. »Wurde noch etwas gestohlen?«, fragte sie. »Außer den Nägeln?«
Grits Lächeln wirkte verlegen. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber die Nägel haben eine große Bedeutung für mich.« Sie zog einen Bildband aus dem Regal, dessen Titel »Nagelschmieden in Bruchhausen« lautete.
Sie schlug eine Seite auf und zeigte ihnen ein Foto, das zwölf große Nägel zeigte. »Hier! Die Nägel heißen Toggenhauer. Sie stammen aus dem neunzehnten Jahrhundert und wurden in unserer Familie über Generationen vererbt. Mein Urahn hat sie mit der Hand geschmiedet. Der Nagelschmied Friedrich Eisermann.«
Anne betrachtete das Foto. Die krummen Nägel lagen auf einem Tisch, also konnte sie die Größe einschätzen. Sie besaßen einen flach gehämmerten Kopf, waren etwa fußlang und so dick wie ihr kleiner Finger. Das Metall war schwarz angelaufen. Das sind meine Ausbildung bei der Kripo und meine zehnjährige Berufserfahrung beim Morddezernat nun wert, dachte Anne. Ein Haufen Schrott.
»Die Nägel haben Friedrich Eisermann zu Wohlstand und Ansehen verholfen«, erzählte Grit. »Bruchhausen war damals ein Dorf der Nagelschmieden. Das Handwerk hat eine lange Tradition bei uns, wurde aber irgendwann von der industriellen Fertigung verdrängt.«
»Wissen Sie, wann der Einbruch stattgefunden hat?«, fragte Hellmann.
Grit seufzte. »Es muss Samstagnacht passiert sein. Mein Cousin Marc hat seinen Geburtstag in der Schützenhalle gefeiert. Er ist fünfzig geworden und hat das halbe Dorf eingeladen, auch alle unsere Nachbarn. Deshalb gibt es keine Zeugen. Der Einbrecher muss gewusst haben, dass das Haus in dieser Zeit unbeobachtet ist.«
Klar, dachte Anne. Ein geplanter Einbruch. Überall stehen Einfamilienhäuser, die nach bürgerlichem Wohlstand aussehen. Aber statt auf Flachbildschirme und Laptops waren die Täter auf alte Nägel aus.
»Bewahren Sie hier Bargeld auf?«, fragte Hellmann.
Grit schüttelte den Kopf. »Der Eintritt ist frei, deshalb gibt es keine Kasse.«
»Vielleicht war jemand auf der Suche nach Geld und hat die Toggenhauer aus Frust mitgehen lassen. Vielleicht hat er die Nägel weggeworfen. Sie sollten draußen die Umgebung und die Mülltonnen absuchen.«
Grit machte ein überraschtes Gesicht. »Glauben Sie das? Daran hab ich noch gar nicht gedacht.«
»Ja«, bekräftigte Hellmann. »Das hab ich schon erlebt.«
Anne schloss die Augen. Die Sinnlosigkeit dessen, was sie hier taten, war wie ein schwarzes Loch, das ihre Lebenskraft aufsaugte. Wie lange würde sie das ertragen?
Ebenso schlimm wie der niederschmetternd banale Job war der Kollege Hellmann, der ihr ins Gesicht lächelte und hinter ihrem Rücken ihren früheren Job stahl. Und er hat nicht mal den Mut, mir die Wahrheit zu sagen.
»Ach, ja?«, sagte sie zu Hellmann. »Du glaubst, ein Einbrecher macht sich die Mühe, hier einzudringen, um diese sehr persönlichen Antiquitäten zu stehlen, und wirft sie dann in die Mülltonne? Das glaube ich kaum! Wo ist der Koffer?«
Er blinzelte. »Welcher Koffer?«
Anne sah ihn an, als sei er begriffsstutzig. »Für die Spurensicherung! Hast du ihn im Auto vergessen?«
Grits Miene hellte sich auf. »Spurensicherung? Werden Sie hier Fingerabdrücke nehmen?«
»Nicht nur Fingerabdrücke«, erwiderte Anne. »Wir werden den Tisch, auf dem die Toggenhauer gelegen haben, mit Folie bekleben. Daran bleiben auch kleinste DNA-Partikel haften. Die Folien schicken wir zum LKA, wo Laboranten die Proben analysieren. Es gibt eine große Datenbank, in der DNA-Spuren von allen geklärten und ungeklärten Verbrechen gesammelt werden. Damit werden wir die Proben vergleichen. Vielleicht ergibt sich so ein Hinweis. Was ist los, Anton? Holst du jetzt den Koffer, oder soll ich gehen?«
Hellmann sah sie an, als sei sie verrückt geworden. »Ich habe hier ein Tatort-Kit.« Er zog ein Etui aus der Tasche. »Damit können wir Fingerabdrücke von der Tür nehmen.«
»Das reicht nicht, Anton! Wir haben es hier nicht mit alten Nägeln, sondern mit Antiquitäten zu tun. Oder nimmst du den Einbruch etwa nicht ernst?«
»Ich?«
Anne wandte sich an Grit. »Wir konzentrieren uns außerdem auf den Ort des Eindringens. Das ist die wichtigste Spurenquelle. Sie haben doch hoffentlich nichts verändert oder gar geputzt?«
»Nein.« Grit sah unsicher von ihr zu Hellmann.
»Mein Kollege holt den Koffer und dann können wir loslegen. Ich mache jetzt Fotos.« Anne zog ihr Smartphone heraus. Sie hörte, wie Hellmann das Museum verließ. Er ging tatsächlich zum Wagen.
»Anhand der Spurenlage können wir auf die Persönlichkeit des Einbrechers schließen«, erklärte sie. »Ich sage Er, weil ein männlicher Einzeltäter statistisch am häufigsten ist. Das heißt nicht, dass wir voreilige Schlüsse ziehen. Genauso gut kann es eine Frau oder eine Tätergruppe gewesen sein. Das wird uns die Spurenlage verraten. Die Spuren erzählen uns auch, welche Bedürfnisse der Täter hatte. Welche Entscheidungen er während der Tat getroffen hat. Zum Beispiel verrät mir der Tatort jetzt schon, dass der Täter zielgerichtet vorgegangen ist. Er hat hier kein Durcheinander veranstaltet. Er hat nichts gesucht. Und er hat nur die Nägel mitgenommen.«
»Die liegen hier immer offen auf dem Tisch«, sagte Grit.
»Ich bin nie auf die Idee gekommen, sie einzuschließen, weil sie nicht im materiellen Sinn wertvoll sind.«
Hellmann kehrte zurück und stellte Anne den Koffer vor die Füße. »Bitte sehr!«
»Danke!« Anne öffnete den Koffer und zog eine Box mit Folienstreifen heraus. »Warum suchst du nicht schon mal nach Fingerabdrücken?«
Hellmann warf ihr einen durchdringenden Blick zu, befolgte ihren Vorschlag aber wortlos. Wie bei ihrer früheren Zusammenarbeit, als er weisungsgebunden gewesen war. Damals hatte er einen guten Eindruck bei ihrem ehemaligen Chef Thorsten Seidel hinterlassen. Er war strebsam und fleißig, hatte ähnlich gute Instinkte wie Anne, war aber weniger stur und weniger eigensinnig. Anne wusste, dass er bei Thorsten auf der Wunschliste ganz oben stand. Bald würden ihre früheren Rollen vertauscht sein.
Sie unterdrückte den Gedanken und konzentrierte sich auf die Arbeit. Es tat gut, wieder die Handgriffe zu tun, die sie während der Ausbildung gelernt, später jedoch nur noch selten angewendet hatte. Meist wurde die Spurensicherung von Spezialisten erledigt. Hier in Brilon gehörten diese Dinge wieder zu ihren Aufgaben – zumindest bei kleineren Delikten. Anne spürte, wie sie innerlich ruhiger wurde. Auch wenn sie keine Mörder mehr jagte, Polizeiarbeit war Polizeiarbeit.
Als sie wieder draußen waren, platzte Hellmann der Kragen. »Sag mal, was ist denn in dich gefahren? Was sollte das mit dem Koffer? Der ist für schweren Raub vorgesehen!«
Anne ignorierte ihn. Sie ging zum Dienstwagen und verstaute den Koffer im Kofferraum. Die Tüten mit den Beweismitteln legte sie dazu. »Ich mache nur meine Arbeit.«
»Unsere Arbeit ist es abzuwägen! Je schwerer die Straftat, desto größer die eingesetzten Mittel.« Er deutete auf die Plastikbeutel. »Weißt du überhaupt, was eine DNA-Analyse kostet?«
»Ich bin Kriminalpolizistin und keine Buchhalterin.«
»Ach, und was bin ich?« Hellmann riss die Tür auf.
Anne setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Keine Sorge, ich nehme es auf meine Kappe. Deine Versetzung ist nicht in Gefahr.«
»Was redest du da?«
Anne spürte die Wut in ihrem Bauch. Es war ein gutes Gefühl. Viel besser als die Schwermut, die sie in den letzten Wochen wie eine bleierne Decke umhüllt hatte. »Ich rede von deiner Versetzung nach Dortmund. Wann willst du mir davon erzählen, dass du meinen früheren Job bekommst? Oder hast du vor, einfach zu verschwinden?«
»Wieso deinen Job?«
»Hauptkommissar Thorsten Seidel hatte ihn dir doch zugesichert, oder nicht? Du bist der Nächste, der aufrückt.«
Hellmann umfasste das Lenkrad und atmete aus. »Du irrst dich, Anne! Ja, ich habe mich nach Dortmund beworben. Vor Jahren schon. Das ist kein Geheimnis. Aber sie haben mich nicht genommen.«
»Was?«
»Deine Stelle wurde intern neu besetzt.«
»Ach!«
»Ja. Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber wir werden in der nächsten Zeit zusammenarbeiten.«
Die Tür zu Heikos Wohnung ließ sich nur halb öffnen, da sie von innen durch Annes Umzugskartons blockiert wurde. Auch ihr Esstisch befand sich in Heikos Wohnungsflur. Darauf stapelten sich die zugehörigen Stühle und weitere Kisten, sowie ein Haufen Jacken, da der Tisch den Zugang zur Garderobe versperrte. Stella, die Hovawart-Mischlings-Hündin mit dem seidig schwarz- braunen Fell, begrüßte Anne schwanzwedelnd. Nach kurzen Streicheleinheiten ver schwand sie in der Küche, aus der ein appetitanregender Duft von geschmortem Fleisch und Zwiebeln drang.
In Dortmund hatte sie hauptsächlich von dem türkischen Imbiss in ihrer Nachbarschaft gelebt. Aber Heiko kochte ausgesprochen gern. Außerdem gab es in Bontkirchen keinen Imbiss.
»Das riecht fantastisch«, sagte sie und gab ihm einen Kuss. Seine Haare und sein T-Shirt waren feucht und er duftete leicht nach Shampoo.
»Es gibt Steak mit Kroketten und Salat.« Heiko zog sie an sich. »Wie war dein erster Tag?«
Anne seufzte. »Okay. Wir hatten einen Einsatz in einem Nagelmuseum, ein gestohlenes E-Bike und einen Ladendieb.«
»Wie ist dein neuer Chef?«
»Eine Chefin. Sie heißt Henriette Nolte und steht kurz vor der Pensionierung. Aber sie hat fuchsrot gefärbte Haare und eine große Bernhardinerhündin, die sie auf Schritt und Tritt begleitet und bei der Arbeit unter ihrem Schreibtisch liegt.«
Heiko lächelte. »Das klingt sympathisch.«
Anne zuckte mit den Achseln. »Sie hat mir einen Vortrag über die Dienstvorschriften gehalten. Dass ich weisungsgebunden bin und dass ich niemals allein tätig werden soll. Ich fürchte, mein Ruf ist mir vorausgeeilt.«
Heiko strich ihr über den Rücken. »Damit hattest du doch gerechnet.«
»Ja. Die Briloner wundern sich natürlich, warum ich die Karriereleiter in umgekehrter Richtung beschreite.«
»Frau Nolte wird dich schätzen lernen. Wie ist dein Kollege? Hellmann?«
»Er ist in Ordnung.«
Sie hatten nicht den besten Start gehabt, aber der Rest des Tages war reibungslos verlaufen. Anne wechselte das Thema. »Wie lief es in der Schule?«
»Die siebte Klasse ist anstrengend. Heute haben einige Schüler ihre Bücher aus dem Fenster geworfen.«
»Oh je! Und wie hast du reagiert?«
»Ich habe so getan, als hätte ich es nicht bemerkt.«
»Keine schlechte Strategie.«
Anne sah draußen im Garten vier Pfähle in der Erde, die heute Morgen noch nicht dagewesen waren.
»Was wird das denn?«
»Ein Hühnerstall. Dann haben wir jeden Morgen frische Eier.«
»Eier gibt es auch im Supermarkt.«
»Aber hier wissen wir, dass es den Hühnern gut geht.« Er deutete auf die andere Seite des Gartens. »Dort könnten wir ein Kräuterbeet anlegen. Oder vielleicht kommt irgendwann ein Sandkasten dorthin. Falls wir den mal brauchen.«
Anne schluckte. »Ich dachte, wir hätten noch nicht entschieden, wo wir wohnen.«
Heiko holte zwei Teller aus dem Schrank. »Naja, schon. Aber ist es nicht Unsinn, eine Wohnung zu mieten, wenn mir dieses Haus gehört?«
»Deine Mutter wohnt oben.«
»Sie hat genug mit ihrem Garten und den Landfrauen zu tun. Sie wird sich nicht in unser Leben einmischen. Und wir haben es nicht weit zur Arbeit.«
»Falls ich bleibe«, erwiderte Anne. »Vielleicht bewerbe ich mich beim LKA in Düsseldorf. Oder ich finde einen Tauschpartner und lasse mich nach Hessen versetzen. Nach Kassel.«
Heiko schwieg.
Oder Thorsten merkt, dass es ein Fehler war, mich rauszuschmeißen, dachte sie. Wir waren mal gute Freunde. Wir könnten es wieder werden.
Heiko hatte ihr den Rücken zugewandt und legte Gabeln und Messer auf den Tisch. Sein Schweigen war deutlich. Anne wusste, dass er sich über ihre Versetzung ins Sauerland gefreut hatte. Seine Lebensplanung war einfach: Zusammenwohnen, Heirat, Kinder und glücklich leben als Selbstversorger.
Aber Anne war nicht der Typ für Heirat und Kinder. Und sie war nicht der Typ fürs Sauerland.
Dienstag, 01.10.
Anton Hellmann schreckte aus dem Schlaf, als sein Handy klingelte. Er richtete sich auf und tastete danach. Es war Anne. Warum rief sie ihn um diese Zeit an? Sollte er wieder den Sündenbock spielen? Wollte sie ihn tyrannisieren?
»Hellmann«, meldete er sich. Sein Hals fühlte sich trocken an. »Was ist los?«
Ihre Stimme klang aufgeregt. »Anton! Du hast mir doch von deinem Mitbewohner erzählt, der beim Erkennungsdienst arbeitet. Ist er da?«
»Mensch, Anne! Hast du eine Ahnung wie spät es ist?«
»Es ist Viertel nach fünf.«
Er stöhnte. »Was soll das?«
»Wir brauchen ihn! Oder ist er nicht gut? Sei bitte ehrlich!«
Jetzt wurde er langsam wütend. »Sag mal …«
»Es ist ernst, Anton! Verdammt ernst! Also?« Ihre Stimme wurde drängend. Vielleicht war doch etwas passiert.
»Ja, er ist gut. Ein Nerd, aber gut. Von seiner Sorte gibt es einige beim Erkennungsdienst. Was ist denn los?«
»Weck ihn auf! Er muss mit uns kommen. Wir haben einen Toten im Wald bei Olsberg. Der PvD sagt, er wurde erhängt …«
Ein Toter? Für einen Moment war Hellmann wie elektrisiert. Dann begann er zu zweifeln. Das konnte nicht sein. Anne machte einen perfiden Scherz.
»Anton! Bist du noch da?«
»Du willst mich verarschen.«
»Nein, es ist mein Ernst!«
»Was soll das überhaupt heißen, er wurde erhängt?«
»So hat es der Polizist vom Dienst gesagt. Es ist wohl eindeutig kein Suizid. Und wir sind die Ersten am Tatort! Wenn du jetzt endlich tust, was ich sage.«
Fast war er versucht, ihr zu glauben. Aber das konnte doch nicht sein! Ein Mord? Hier im Sauerland?
Seine Müdigkeit war verflogen. »Wenn das ein falscher Alarm ist, kannst du dir einen neuen Partner suchen.«
»Es ist kein falscher Alarm! Ich fahre jetzt zur Dienststelle und warte auf euch.«
»Okay! Aber Jens kann ich nicht wecken. Er hat gerade einen Vierundzwanzigstundendienst hinter sich.«
Annes Stimme wurde ungeduldig. »Doch, wir brauchen ihn! Er wird dabei sein wollen. Vertrau mir!«
Hellmann stand auf. »In Ordnung. Ich frage ihn, ob er mitkommen will.« Er ging zu Jens' Zimmer und klopfte. Es kam keine Reaktion. Hellmann öffnete die Tür. »Jens?«
Im Zimmer roch es muffig. Er watete durch einen Haufen Kleidungsstücke. Jens lag in seinem verwaschenen Pyjama auf der großen Matratze auf dem Boden.
»Jens!« Hellmann rüttelte an der Schulter seines Mitbewohners, bis dieser ein unartikuliertes Stöhnen von sich gab.
»Mensch, Anton! Was ist denn los? Haben die Wehen eingesetzt?«
»Haha.« Die Anspielung auf das Gewicht war zu einem Gewohnheitswitz zwischen ihnen geworden. Sie hatten sich in der Polizeischule kennengelernt und waren damals beide besser in Form gewesen. Seit sie zusammenwohnten, hatten sie zu viel Fastfood und Netflix konsumiert. Hellmann versuchte der Entwicklung entgegenzuwirken, indem er einmal die Woche ins Fitnessstudio ging.
»Schwing dich aus dem Bett, Jens! Wir haben einen Toten im Wald. Anne möchte, dass du mitkommst.«
»Ach ja? Und seit wann ist deine neue Kollegin meine verdammte Chefin?«
»Sie sagt, er wurde erhängt. Es scheint eine große Sache zu sein. Mord oder Totschlag.«
Jens zog sich die Bettdecke über den Kopf »Die spinnt! Ihr fehlen die Morde, deshalb fantasiert sie sich welche herbei. Oder sie hat ihn selbst umgelegt.«
»Nein, wirklich. Jetzt komm schon!«
Ein Stöhnen erklang unter der Bettdecke. »Na gut. Aber wenn da kein Erhängter ist, dann wirst du erhängt. Und zwar von mir.«
Auf dem Waldparkplatz parkte ein schlammbespritzter Land Rover Defender. Daneben standen ein Notarztwagen und ein Streifenwagen mit eingeschalteten Scheinwerfern. Eine einzelne Polizistin wartete auf sie.
»Fuck!«, murmelte Jens von der Rückbank. »Ich war sicher, dass du dir das ausgedacht hast, Anne. Aber wenn das hier ein Scherz ist, dann ein verdammt überzeugender.«
»Kein Scherz«, erwiderte sie. »Nicht mit dem Tod.«
Das letzte Wort hallte in Hellmanns Kopf wider, als er ausstieg. Er hatte das Gefühl, in einer Filmszene zu stehen. Der düstere Wald, die Stille, das rotweißgestreifte Flatterband zwischen den Baumstämmen.
Anne trat neben ihn, und zum ersten Mal war er froh über ihre Anwesenheit. Diesen Fall würde sie ernst nehmen.
Sie deutete auf den Land Rover. »Ob der Wagen dem Opfer gehört?«
Die Polizistin kam auf sie zu. »Endlich seid ihr da!« Es war Gabi. Seit letztem Jahr arbeitete sie beim Wach- und Wechseldienst Brilon. Hellmann fand sie attraktiv, aber er wusste, dass sie mit einem Kollegen verlobt war.
»Wieso bist du allein?«, fragte Hellmann. »Habt ihr keine Verstärkung gerufen?«
»Ihr seid die Verstärkung! Ich habe hier auf euch gewartet. Klaus ist mit der Notärztin bei der Leiche.«
Der Kollege Klaus hatte sie also auf einem Parkplatz mitten im Wald allein gelassen. Hellmann spürte einen Ärger, von dem er wusste, dass er unangebracht war. Gabi hatte eine Waffe und konnte sich selbst verteidigen.
»Auf jeden Fall bin ich froh, dass ihr jetzt da seid«, sagte sie. »Es ist ein seltsames Gefühl hier zu stehen, wenn vielleicht ein Mörder in der Nähe ist.«
Anne deutete auf den Streifenwagen. »Wer ist das?«
Erst jetzt bemerkte Hellmann, dass ein Mann mit glattrasiertem Schädel darin saß.
»Das ist Herr Tomka«, erklärte Gabi. »Er hat den Toten gefunden. Ich werde ihn gleich nach Hause fahren. Er war joggen und ist total durchgefroren.«
Joggen?, dachte Hellmann irritiert. Mitten in der Nacht?
»Nicht, ehe wir ihn vernommen haben«, entschied Anne. Sie warf Hellmann einen Seitenblick zu. »Übernimmst du das? Dann gehen Jens und ich zum Fundort.«
»Ja, natürlich.«
Den Toten würde er früh genug sehen. Dieser Typ im Streifenwagen war nun wichtiger.
»Wo ist die Leiche?«, fragte Anne.
»Dort hinter dem Land Rover führt ein kleiner Trampelpfad in den Wald«, erklärte Gabi. »Sie müssen ihm etwa zweihundert Meter folgen. Dann werden Sie die Taschenlampe meines Kollegen sehen.«
Jens hatte Schutzanzüge aus dem Kofferraum geholt und reichte einen Anne, die routiniert hineinschlüpfte. Hellmann bemerkte, dass die Gestalt im Streifenwagen sie beobachtete. Ihr Gesicht war hager und ähnelte einem Totenschädel. Anne und Jens machten sich auf den Weg in den Wald. Ihre weißen Anzüge leuchteten noch eine Weile zwischen den Baumstämmen auf, bevor sie mit der Dunkelheit verschmolzen.
Hellmann wandte sich an Gabi. »Hast du Tomka schon befragt?«
»Nein. Nur zu seinen persönlichen Daten.«
»Gut. Dann geh ich jetzt rein. Kommst du mit?«
Sie schüttelte den Kopf und legte die Hand auf die Pistole an ihrem Gürtel. »Ich bleibe hier draußen.«
Hellmann öffnete die Wagentür und setzte sich zu dem Mann auf die Rückbank. Tomka trug eine Jogginghose und abgewetzte Laufschuhe. Seinen Oberkörper hatte er in eine Rettungsdecke gehüllt.
»Guten Morgen, mein Name ist Hellmann. Wir werden Sie gleich nach Hause fahren. Zuerst aber möchte ich Sie bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten.«
»Nach Hause brauchen Sie mich nicht zu bringen. Ich wohne für die nächsten zwei Wochen in Bruchhausen im Zeltlager.«
Hellmann zog Block und Stift aus der Jackentasche. »Was für ein Lager ist das?«
»Von der Kirchengemeinde Korbach. Wir sind jedes Jahr in den Herbstferien im Sauerland.«
»Und warum sind Sie nachts im Wald unterwegs?«
»Es ist schon Morgen. Ich gehe immer vor dem Wecken laufen. Dann habe ich Zeit dafür.« Mit seinen hohlen Wangen und dem drahtigen Körper sah Tomka tatsächlich aus wie ein Langstreckenläufer.
»Ich stelle es mir riskant vor, in der Dunkelheit durch den Wald zu laufen«, sagte Hellmann. »Haben Sie keine Angst vor Verletzungen?«
»Nein, ich habe eine Stirnlampe.«
Die Rettungsdecke raschelte und Tomka zog ein Stirnband mit einem Scheinwerfer hervor. »Der Weg wirkte zuerst gut gepflegt. Das hat leider nachgelassen, je höher ich kam.«
Hellmann runzelte die Stirn. »Es gibt hier befestigte Wanderwege. Man muss nicht durchs Unterholz laufen.«
»Dann hätte ich mir eine Wanderkarte kaufen sollen.« Tom ka zuckte mit den Schultern.
»Sie waren also rein zufällig hier.«
»Ja. Ich lief durch den Wald. Plötzlich hing vor mir ein toter Mann. Seine Füße schwebten nur knapp über dem Boden.« Er schauderte.
»Haben Sie ihn erkannt?«
»Nein. Wie gesagt, ich bin nicht von hier.«
»Sie laufen nachts einen unbekannten Weg entlang und treffen zufällig auf einen Toten.«
Hellmann bemühte sich nicht, seine Skepsis zu verbergen. »Habe ich das richtig verstanden?«
Tomka rieb sich über die Glatze. »Oben im Wald soll eine kleine Jagdhütte liegen. Die wollte ich mir ansehen.«
»Eine Jagdhütte?«
»Ich wollte wissen, ob sie als Ausflugsziel für die Kinder taugt. Deshalb bin ich hierhergelaufen.«
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Nein.«
»Alles klar, Herr Tomka. Meine Kollegin fährt Sie gleich ins Tal. Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir noch Fragen haben.«
Hellmann stieg aus und trat zu Gabi. »Ein komischer Typ. Ich verstehe nicht, wie man um fünf Uhr morgens joggen gehen kann.«
»Und noch dazu hier im Wald.« In ihren Wangen bildeten sich feine Grübchen.
»Angeblich hat er eine Jagdhütte gesucht. Weißt du, ob es hier oben eine Jagdhütte gibt?«
Gabi zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Und? Wie kommst du mit deiner neuen Kollegin aus?«
»Gut.«
»Ich hab gehört, dass man sie beim K 11 rausgeschmissen hat, weil sie ständig Regeln missachtet und zu riskanten Alleingängen neigt.«
Hellmann zögerte. Er gab nichts auf Gerüchte. Vielleicht würde Anne ihm irgendwann selbst erzählen, was geschehen war. »Bisher kommen wir gut miteinander aus.«
»Du solltest ein Auge auf sie haben. Gerade bei diesem Fall.«
Da ist was dran, dachte er. Aber das würde er vor Gabi nicht zugeben. »Sie hat Erfahrung mit Todesermittlungen. Darüber bin ich froh. Es kann nämlich dauern, bis die Kripo aus Dortmund hier ist.«
»Aber sieh zu, dass sie den Fall nicht im Alleingang löst.« Gabi lächelte und deutete auf den Pfad, wo Jens und Anne verschwunden waren. Hellmann fühlte sich hin und her gerissen. Gabi hatte recht, er sollte zur Leiche gehen. Andererseits wollte er die junge Kollegin nicht allein lassen. »Und du?«
»Ich warte noch auf den Erkennungsdienst. Danach fahre ich Tomka.«
»Dann bleibe ich so lange …«
»Ich komme klar. Jetzt geh schon!«
Hellmann zögerte. Der Himmel hatte die Farbe von Staub bekommen. Bald würde es dämmern. »Wenn du meinst.«
Der Tote hing nur eine Handbreit über dem Boden und Anne musste dem Polizist vom Dienst recht geben: Es sah nicht nach Selbstmord aus und das lag an den vor dem Körper gefesselten Händen.
Sie war noch nie so früh an einem Tatort gewesen. Normalerweise kam die Mordbereitschaft erst an, wenn die Spurensicherung schon ihre Arbeit begonnen und die Schutzpolizei den Tatort gesichert hatte. Das hier war eine ganz andere Situation. Nun waren sie zu viert und der dunkle Wald um sie herum voller Geräusche. Der ältere Polizist schien erleichtert, dass sie gekommen waren. Er nahm das Absperrband und verschwand aus dem Dunstkreis der Leiche. Die Notärztin füllte den Totenschein aus. Jens Baltschukat hatte eine Kamera mit einem dicken Objektiv hervorgeholt und machte Fotos.
Anne hatte sich während der Autofahrt Gedanken gemacht, was dieser Fall für sie bedeutete. Ob er eine zweite Chance war. Sie hatte eine Stunde Zeit, bis die Mordbereitschaft aus Dortmund eintreffen würde.
Jetzt spürte sie, wie ihr Herzschlag sich beruhigte und ihr Kopf leer wurde. Die Person Anne Kirsch zog sich zurück und die Ermittlerin übernahm. Die ersten Augenblicke an einem Leichenfundort waren entscheidend. Nie wieder würden die Eindrücke so frisch sein.
Nur jetzt konnte sie Spuren wahrnehmen, die sich später verflüchtigen würden. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Toten.
Er war etwa Mitte fünfzig, trug Kleidung in Grün- und Brauntönen und sein Gesicht war wettergegerbt. Vielleicht ein Förster, dachte sie. Auf jeden Fall jemand, der einen Großteil des Tages im Freien verbringt. Das angegraute Haar und der Bart waren mit einer Rasiermaschine auf fünf Millimeter gestutzt worden. Die zusammengeschnürten Hände schwielig und sonnengebräunt. Leider waren seine Fingernägel kurzgeschnitten. Dort würden sie kaum DNA des Täters finden.
Wie ist er gestorben? Sein Gesicht sah nicht aus, als sei er erstickt. Weder war es aufgedunsen noch blau angelaufen, und Anne entdeckte keine Einblutungen in den geöffneten Augen.
»In seiner Hosentasche war kein Portemonnaie«, sagte die Ärztin. »Können Sie ihn runterholen und die Fesseln entfernen? Dann können wir in der Jacke nachsehen.«
Anne zögerte. Ein Tatort durfte nicht verändert werden, solange die Spurensicherung nicht das Okay dazu gab. Andererseits hatten sie jemanden vom Erkennungsdienst hier. »Was meinst du?«, fragte sie Jens Baltschukat.
Jens zuckte mit den Schultern. »Hier ist so oder so alles zertrampelt. Wir legen ihn auf eine Plane. Dann kann ich mir auch den Körper besser ansehen. Halt!«
Er zückte eine Pinzette und zupfte etwas von der Jacke des Toten. »Sieh mal hier!«
Anne betrachtete das lange Haar, das zwischen den Zangen der Pinzette hing. »Das ist blond, oder?«
»Ich denke, ja.« Er grinste. »Auf jeden Fall stammt es nicht vom Opfer. Er verstaute das Haar in einem Beutel.
Dann breiteten sie die Plane auf dem Boden aus und Anne sägte das Seil, an dem der Tote hing, mit einem Messer durch. Mit vereinten Kräften legten sie den Körper, der starr wie eine Schaufensterpuppe war, auf der Plane ab.
»Was ist das denn?« Jens hockte sich neben die Plane und betrachtete den Hals des Toten. »Sieh mal hier!« Er rutschte zur Seite, um Anne Platz zu machen.
Sie beugte sich vor. Oberhalb der Schlinge befanden sich zwei kleine punktförmige Wundmale. »Die sehen wie Brandwunden aus. Könnte das ein Taser gewesen sein?«
»Ich denke, ja. Wahrscheinlich wurde er zuerst durch einen Stromschlag außer Gefecht gesetzt. Dann konnte der Täter ihn in aller Ruhe fesseln und aufhängen.« Jens trennte behutsam die Fesseln an den Unterarmen auf. Als die offenstehende Jacke auseinanderklaffte, kam ein ockerfarbenes Shirt zum Vorschein.
Anne sog überrascht die Luft ein. In der Brust des Toten steckte ein flachgehämmerter rostiger Metallkopf, der ihr bekannt vorkam. »Oh Gott!«
Zu dritt starrten sie auf das Metallstück.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte die Ärztin. »Was ist das?«
»Es sieht aus wie ein alter Nagel«, meinte Jens.
Anne nickte. »Es ist ein handgeschmiedeter Nagel.« Sie dachte an das Foto von den Toggenhauern. »Ein sehr langer Nagel. Wahrscheinlich hat er das Herz durchbohrt.«
Ist es einer der Nägel aus dem Nagelmuseum? Hat jemand die Nägel gestohlen, um einen Mord zu begehen? Nein, das ist verrückt! Oder?
»Da wollte jemand sichergehen, dass der Mann auch wirklich stirbt«, meinte die Ärztin. »Elektroschock, Erhängen und ein Nagel in der Brust!«
»Können Sie feststellen, ob der Nagel vor oder nach Todeseintritt eingeschlagen wurde?«, fragte Anne.
»Jens, schneid mal das T-Shirt auf, damit wir die Wundränder sehen können!«
Die Ärztin machte eine abwehrende Geste. »Nein, ich bin keine Pathologin. Ich könnte höchstens raten. Sie sollten die Obduktion abwarten.«
Warten ist keine gute Idee, dache Anne.
Sie entdeckte eine Ausbuchtung in der Jackeninnentasche. »Hier ist das Portemonnaie.« Sie zog es heraus und öffnete es. Im Fach für die Geldscheine steckten zwei Fünfziger. »Offenbar war es kein Raubmord.«
Sie verglich das Foto auf dem Personalausweis mit dem Gesicht des Toten. Auf dem Ausweis sah er ein paar Jahre jünger aus und trug das Haar länger. Doch es war derselbe Mann.
»Thomas Lindberg«, las Anne vor. »Geboren am 02. Mai 1967. Er wohnt in der Straße Auf'm Feld in Bruchhausen.«
Die Notärztin notierte die Personalien. »Dann bin ich jetzt fertig. Ich habe Todesursache unbekannt angekreuzt.« Sie reichte Anne den Totenschein. »Viel Glück mit dem Fall. Ich hoffe, Sie können diese schreckliche Tat aufklären.«
»Das hoffe ich auch.«
Mehr als Sie ahnen, fügte Anne in Gedanken hinzu. Sie bemerkte, wie sich eine einzelne weißgekleidete Gestalt näherte. Zwischen den dunklen Baumstämmen wirkte sie wie ein Geist. Es war Hellmann.
»Ihr habt den Toten abgenommen.« Seine Stimme klang erleichtert.
»Ja, und wir haben etwas entdeckt.« Anne zeigte ihm die Tasermale und den Nagel in der Brust des Toten.
»Er wurde geschockt, erhängt und erstochen«, sagte Jens.
Hellmans Gesicht wurde blass. »Dieser Nagel …« Er sah Anne an. »Glaubst du, er stammt aus dem Museum?«
»Es sieht danach aus.« Anne überlegte. »Wir müssen uns das Umfeld des Opfers vornehmen. Jemand hat sich sehr große Mühe mit diesem Mord gemacht, ihn regelrecht inszeniert. Das hier ist etwas Persönliches.«
Die Dunkelheit war einem nebeligen Zwielicht gewichen, durch die sich eine Gruppe Menschen in Tatortanzügen bewegte. Sie glichen einer Kolonie weißer Ameisen. Zwei von ihnen näherten sich Anne.
Die eine maß an die zwei Meter, die andere war kleiner. Sie bewegten sich mit einer Sicherheit, die verriet, dass ein Leichenfund im Wald für sie nichts Ungewöhnliches war. Beide hatten ihre Kapuzen zurückgeschlagen. Der größere Mann ähnelte dem Schauspieler Tom Hanks. Die kleinere Gestalt war eine Frau, die durch ihre herben Gesichtszüge und die millimeterkurzen Haare maskulin wirkte.
Es waren Hauptkommissar Thorsten Seidel, Annes ehemaliger Chef, und ihre ehemalige Kollegin Olivia Esterhazy vom Morddezernat. Beide mussten gewusst haben, dass Anne hier sein würde. Sie wirkten nicht erfreut darüber.
»Hallo, Anne«, begrüßte Thorsten sie. »Wie ich sehe, hast du die Lage bereits im Griff. Was ist mit dem Land Rover auf dem Parkplatz?«
Er hielt sich nicht mit Small Talk auf, und Anne war es recht. »Den habe ich überprüft. Er ist auf das Mordopfer zugelassen. Der Mann heißt Thomas Lindberg, ist zweiundfünfzig Jahre alt und wohnt in Bruchhausen. Ich habe schon ein wenig recherchiert. Er betreibt eine Internetseite, auf der er geführte Wanderungen und Campingtouren im Sauerland anbietet. Er ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Ein Jogger hat ihn in den frühen Morgenstunden gefunden. Lindberg hing erhängt an einem Baum. Er hat Male am Hals, die von einem Taser stammen könnten, und in seiner Brust steckt ein alter, rostiger Nagel.«
»Habt ihr die Personalien von dem Jogger?«
»Ja, und mein Kollege Anton Hellmann hat ihn bereits vernommen.«
Anne sah, dass Thorstens Brauen sich zusammenzogen.
»Gut«, sagte er. »Seht zu, dass ihr die Berichte fertig kriegt und mailt sie mir so schnell wie möglich.«
Anne suchte in seinen Augen vergeblich nach einem Funken der alten Verbundenheit. Seine Miene war nicht abweisend, aber auch nicht freundlich.
»Unser Mann vom Erkennungsdienst hat ein langes blondes Haar an der Jacke des Toten gefunden«, berichtete sie. »Es scheint mir jedoch unwahrscheinlich, dass eine Frau diese Tat verübt hat. Der Mann war gefesselt, als er aufgehängt wurde, und wahrscheinlich schon tot oder bewusstlos. Der Täter muss kräftig gewesen sein. Vielleicht ein Mann mit langen blonden Haaren. Das würde den Kreis der Verdächtigen stark eingrenzen.«
»Mit den Hypothesen warten wir, bis wir alle Daten haben«, entgegnete Olivia Esterhazy. »Aber du kannst uns natürlich Vorschläge schicken. Am besten per Mail.«
Thorsten nickte. »Wir sind dankbar für Anregungen. Das war alles für heute. Wir übernehmen ab hier.«
Sie ließen Anne stehen und gingen auf Hellmann zu.
Anne fühlte sich, als hätte sie jemand mit einem Eimer kaltem Wasser übergossen. Wir übernehmen ab hier. So einfach war das.
Sie beobachtete, wie Thorsten Hellmann die Hand schüttelte. Ihr neuer Kollege lächelte breit. »Mir geht es gut, danke!«, hörte sie ihn sagen. Hellmann gegenüber war Thorsten eine höfliche Frage über die Lippen gekommen. Wie es Anne ging, interessierte ihn anscheinend weniger. Dabei waren sie mal befreundet gewesen. Das hatte Anne zumindest gedacht.
Thorsten hatte sie protegiert und gefördert, wie er jetzt Hellmann förderte. Und der junge Kollege ist dankbar. Er ist strebsam und hält sich ebenso penibel an Vorschriften wie Thorsten. Er würde niemals Anweisungen missachten und riskante Alleingänge starten. Aber wir werden sehen, wer die Ergebnisse liefert. Du bist vielleicht fertig mit mir, Thorsten. Aber ich bin noch nicht fertig mit diesem Fall!
An der Adresse des Mordopfers befand sich eine Gastwirtschaft mit dem Namen Zur Linde. Anne inspizierte die Klingelschilder neben der Tür und las zweimal den Nachnamen Lindberg. Offenbar befanden sich über der Gastwirtschaft zwei Wohnungen. Sie sah sich um.
Hellmann saß noch im Dienstwagen und füllte das Fahrtenbuch aus. Ungeduldig kehrte Anne zum Auto zurück. Sie klopfte an die Scheibe.
Er sah sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an und ließ die Scheibe herunterfahren. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Wir sollten es nicht tun.«
»Warum nicht?«
»Es wird Ärger geben. Hauptkommissar Seidel hat gesagt, wir sollen auf die Wache fahren und Berichte schreiben.«
»Er ist aber nicht dein Vorgesetzter. Das ist Henriette Nolte.«
»Frau Nolte wird wollen, dass wir den Anweisungen der Kripo Dortmund Folge leisten.«
»Das weißt du nicht. Deshalb schlage ich vor, wir fragen gar nicht erst.«
Sie konnte sehen, dass er mit sich rang. Auch er wollte den Fall weiterverfolgen.
»Wie lange ist es her, dass Thorsten Seidel dir die Stelle im Morddezernat zugesichert hat?«, fragte sie ihn.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ein paar Jahre.«
»Aber du bist immer noch hier. Auf dem Land.«
»Es gab Kollegen, die vor mir dran waren.«
»Oder die qualifizierter waren. Du musst Thorsten zeigen, was du kannst. Wenn du bereits an Mordfällen gearbeitet hast, ist es nur noch ein kleiner Schritt bis Dortmund.«
Sie sah, dass ihre Worte Wirkung zeigten. Hellmann zauderte noch einen Moment, dann stieg er aus.