Bruchstücke - Maria Milisavljević - E-Book

Bruchstücke E-Book

Maria Milisavljević

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Beschreibung

Was passiert, wenn deutsche Dramatik auf kanadisches Theater trifft? Eine Menge. Weil Maria Milisavljević ihre preisgekrönten Theaterstücke für nordamerikanische Bühnen völlig neu überschreibt. Aus einem entstehen zwei. In Bruchstücke sind diese beeindruckenden Variationen erstmals zweisprachig abgedruckt: Brandung / Abyss, Beben / Noise, geteilt / about a woman. Ein einzigartiger dramatischer Einblick in zwei völlig unterschiedliche Theaterlandschaften. »Grenzausreizung der Sprache von Milisavljevic besteht darin, dass sie sich traut, wuchtige, poetische Worte neben Alltagssprache zu stellen, weder Kitsch, Pathos, Rätsel noch deren Brechung scheut.« nachtkritik.de Abgedruckt in Bruchstücke sind: Brandung / Abyss Beben / Noise geteilt / about a woman.

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Seitenzahl: 416

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Maria Milisavljević

Bruchstücke

bruised. not broken

Herausgegeben von Friederike Emmerling und Stefanie von Lieven

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Andrea Vilter, an Afterword by Richard Rose und fünf Fragen an die Autorin

Inhalt

Fünf Fragen an die AutorinBrandungPersonenSzene 1Gestern, vorgestern, seit drei TagenGestern, vorgestern, seit vier TagenGestern, vorgestern, seit fünf TagenGestern, vorgestern, seit sechs TagenGestern, vorgestern, seit sieben TagenGestern, vorgestern, seit acht TagenGestern, vorgestern, seit neun TagenGestern, vorgestern, seit zehn TagenGestern, vorgestern, seit elf TagenGestern, vorgestern, seit zwölf TagenGestern, vorgestern, seit 13 TagenGestern, vorgestern, seit 14 TagenGestern, vorgestern, seit 15 TagenGestern, vorgestern, seit 16 TagenGestern, vorgestern, seit 17 TagenGestern, vorgestern, seit 18 TagenGestern, vorgestern, seit 19 TagenGestern, vorgestern, seit 20 TagenGestern, vorgestern, seit 21 TagenGestern, vorgestern, seit 22 TagenGestern, vorgestern, seit 23 TagenGestern, vorgestern, seit 26 TagenGestern, vorgestern, seit 30 TagenGestern, vorgestern, seit 31 TagenGestern, vorgestern, seit 32 TagenGestern, vorgestern, seit 34 TagenGestern, vorgestern, seit 35 TagenGestern, vorgestern, seit 36 TagenGestern, vorgestern, seit 37 TagenGestern, vorgestern, seit 38 TagenGestern, vorgestern, seit 39 TagenGestern, vorgestern, seit 40 TagenGestern, vorgestern, seit 41 TagenDie letzte GeschichteAbyssPersonaeScene 1Three daysFour daysIt’s been seven days. A whole week.Eight daysTwo days later. Ten days.Eleven daysTwelve daysIt’s been two weeks15 Days. Half a monthSixteen daysSeventeen daysEighteen daysTwenty days. Almost three weeksThree weeksThree weeks and a dayOn the 26th dayThe next dayA new dayThree days after they pulled Karla out of the riverFour days after they pulled Karla out of the waterFive days after they pulled Karla out of the wavesThe last storyBebenDie PersonenIch schlafe nicht mehrNoisePersonaeI don't sleep anymoreGeteiltPersonalVorspiel im/wegen/ist NichtsNichtiges vorm Spiel/Spiel vor dem NichtsWenn ich schlafe, dann tut es so komisch, dann pocht es so komisch, dass es mich fast zerreißt, aber nur fast, denn ich hab es ja noch, das TräumenI.II.III.Und mein Kopf dröhnt, es bebt schon, in mir drinnen, aber ich halt das zusammen, das alles, das Leben, dich, vor allem, dich.I.II.III.Zwischenspiel um/wegen/ist NichtsIch hab schon drüber nachgedacht, ja, das sag ich dir, aber ich werd mir keine Meinung bilden, eine Meinung bild ich mir nicht, nur Urteile.I.SADHIPSTERGIRL Spiel? Das war kein Spiel. Weder spielerisch noch lustig noch sonst. Sie meinen Flaschendrehen. Wahrheit oder Pflicht. Nein. Es war nicht Wahrheit oder Pflicht.II.III.Einspruch (nicht Zuspruch)Nur weil ich nicht schreie, heißt das nicht, das ich nicht könnte, zurück und an und raus, von mir aus auch mit.I.II.III. (the happy ever after)Ich weiß schon, ja ich weiß, was war, kommt nicht mehr zurück. Und warum soll mir das jetzt bitte nicht das Herz brechenI.II.Zwischenspiel No. 2 um/wegen/ist Alles und Allem.Wenn das Zwischenspiel zur Handlung wird. Oh, oh. Here we go:I.II.III.Ich hab jetzt alle Selbsthilfebücher gelesen, nein, hab ich natürlich nicht, denn ich wusste auch so schon immer alles besser, deswegen hier mein Rat. Darauf hast du doch gewartet, oderI.II.III.Nachspiel im/wegen/ist NichtsJedes Ende ist auch ein Anfang. Hast du selber gesagt. Das ist doch dein Credo, oderI.Letztes WortAbout a WomanWHO etc.I love you»ÜBER DIESE GESCHICHTE HABE ICH DIE MACHT!«WORDS LIKE WATERQuellenhinweise und Erstaufführungsdaten
»WIR SEHEN UNS ALS THEATERMACHER*INNEN. NICHT NUR AM SCHREIBTISCH.«

Maria Milisavljević im Gespräch mit Friederike Emmerling

Liebe Maria, du schreibst viele deiner Theaterstücke auf Deutsch und überträgst sie dann ins Englische. Sie unterscheiden sich aber nicht nur in der Sprache, sondern auch in der Form. Warum?

 

Das stimmt. Sie unterscheiden sich auch im Bezug auf den kulturellen Kontext, Referenzen und in der Gestaltung der Figuren. Manchmal, wie im Fall von geteilt/about a woman, auch sehr stark in der Form. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber immer darauf gerichtet, dass der Text im jeweiligen Theaterkontext mit seiner Aussage die größtmögliche Wirkung erzielt. Vlado, als Beispiel, redet in Brandung eher wenig, zitiert ein oder zweimal ein Gedicht. In Abyss erklärt er sich viel mehr, das Gedicht wird zu einem wiederkehrenden Thema, das seinen Gefühlszustand spiegelt. Das liegt zum einen daran, dass im kanadischen sozialen Kontext − in dem Abyss zwei Jahre entwickelt wurde − zu viel Schweigen unhöflich und komisch wirkt. Die Schauspieler*innen brauchten mehr Text, um die gleiche Figur, mit den gleichen Gefühlen, Gedanken und Intentionen, spielen und durchdringen zu können. Bei Beben/Noise sind es die Popkultur und politischen Referenzen, die, dem Verständnis und der Komik halber, lokal angepasst werden mussten. Bei geteilt/about a woman waren es das kanadische Workshoppen (mit Schauspieler*innen) und das deutsche Lektorat des Urtextes, welche zu zwei formal sehr unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben. about a woman löst die Konflikte über Dialoge, geteilt verhandelt sie vielmehr in der Form, was wiederum in einem kanadischen Theaterkontext, wo das Publikum viel mehr in naturalistischen Formaten zuhause ist, ich weiß nicht, verwirrend oder ungewohnt und daher nicht so gut durchlebbar wäre.

 

Du hast einige Jahre in Kanada am Tarragon Theatre in Toronto gearbeitet und warst da auch Playwright in Residence. Wie hast du die Auseinandersetzung mit Neuer Dramatik in Kanada empfunden? Gibt es Unterschiede zu Deutschland?

 

Es gibt tatsächlich sehr große Unterschiede. Kanadisches Theater steht in anglophoner Tradition. Daher ist die Rolle der Dramatiker*in sehr wichtig, und der Text, wie eine Regisseurin mal zu mir sagte, »die wichtigste Person im Raum«. Neue Dramatik wird sehr hochgehalten und macht − außer in Stratford beim Shakespeare Festival und in Niagara-On-The-Lake beim Shaw Festival − gut und gerne 70 bis 90 Prozent der Spielpläne aus. Die meisten Theater und Companies begreifen sich als Autor*innentheater. Sie greifen neue Stoffe auf, diese werden in Workshops entwickelt, von Anfang an mit Autor*innen, Regie und Spieler*innen. So wächst der Text im Team, ohne dabei die Rolle und das Können der Autor*in in Frage zu stellen, sondern viel mehr als Unterstützung. Ich wurde im Laufe von Stückentwicklungen oft gefragt, ob ich noch einen Workshop brauche, wann und mit wem. Habe also auch immer mit gecastet.

So entstehen Spielzeiten mit relativ wenig Klassikern, einigen Wiederaufnahmen und Nachspielen, und sehr vielen, neuen Stoffen. Diese sind auch nicht immer heutig, können auch historisch angelegt sein. Neue Dramatik darf sehr viel in Kanada − außer postdramatisch oder Textfläche sein (Lacht).

 

In Deutschland kann von so einer Quote bei weitem nicht die Rede sein. Woher kommt die breitflächige Akzeptanz neuer Dramatik in Kanada? Was könnte Deutschland konkret von Kanada lernen?

 

Der Fokus auf Autor*innen und damit die Akzeptanz neuer Texte ist historisch begründet, wenn auch oft auf unterschiedlichste Weise erklärt: Mit Shakespeare als dem Urvater der Englischen Dramatik, Shaws Stücken zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der Orientierung des englischen Theaters Richtung Frankreich in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und um Theatermacher wie Michel Saint-Denis und George Devine am Old Vic und später am Royal Court oder dem Workshop Joan Littlewoods in den 1950ern.

Egal, was nun stimmt, was man in der anglophonen Tradition eben immer noch spürt, ist die klare Abwesenheit eines regiegetriebenen Theaters. Es steht immer der Text an erster Stelle. Ich sage hier auch bewusst der Text, denn Produktionsrealitäten decken sich nicht zwingend mit dem gern hochgehaltenen Anspruch, dass die Autor*innen immer das letzte Wort haben. Denn auch in England, Kanada und den U.S. A. ist klar, die Produktion muss gut werden. Und Egos, auch Dramatiker*innenegos, können da im Weg stehen. Auch wenn es rechtlich möglich wäre, eine Produktion über eine gestrichene Zeile zu kippen, macht niemand das. Warum auch?

Genau das ist mir auch wichtig, wenn es darum geht, was Deutschland von Kanada lernen kann. Es geht ja nicht darum, einfach nur die Personen innerhalb von Macht- und Hierarchiestrukturen zu vertauschen. Es geht darum, eine produktive Zusammenarbeit zu entwickeln, in der jede Stimme Gehör hat. Das ist es, was ich mir aus Dramatiker*innensicht wünsche: Theaterautor*innen als Teil der Regieteams und/oder Ensembles, als Teil des Theaterbetriebs. Ich wünsche mir aber eben auch starke Regiehandschriften. Die sind in der anglophonen Tradition leider eher rar.

 

Du setzt dich stark für die Belange deutscher Dramatiker*innen ein. 2020 hast du mit anderen zusammen das theaterautor*innennetzwerk gegründet. Was willst du verändern?

 

In den letzten Jahren haben viele von uns festgestellt, dass eine erhebliche Anzahl von Theatermacher*innen gar nicht so recht weiß, was wir als Autor*innen so machen, wie wir das machen, was wir können, was wir leisten und beitragen wollen. Das hat nichts mit Desinteresse zu tun, sondern mit nicht etablierten Kommunikationsstrukturen. Regisseur*innen oder Dramaturg*innen und auch Spieler*innen, die sich neuen Stoffen widmen oder Ideen und Konzepte schmieden, kommen oft nicht auf die Idee, dass Autor*innen an Bord durchaus Sinn ergeben, und wenn sie es tun, dann wissen sie oft nicht, wen wie ansprechen.

Das hört sich fast zu einfach an, ist aber das, was wir in Gesprächen mit anderen Gewerken gemeinsam festgestellt haben. Es zeigte sich: Dramaturgien haben Lust auf neue Texte, aber oft nicht die Zeit zu suchen. Regieteams haben das Bedürfnis danach, dass jemand schreibt »der*die es kann«, aber nicht die Zeit und Ressourcen, diese Position von Anfang an mitzudenken.

Wir als theaterautor*innen-netzwerk haben es uns als höchste Priorität gesetzt, den Austausch und das Vernetzen zwischen den Gewerken zu fördern. Gemeinsam mit dem Verband (VTheA) arbeiten wir an Sichtbarkeit, Solidarität und Fairness. Da zählen dann Aspekte wie Transparenz, Arbeitsbedingungen und Strukturveränderungen mit rein − im Bezug auf den Betrieb, aber auch auf Preisgelder- und Stipendienvergaben. Wir vom netzwerk sind jedoch an der Stelle radikaler, dass wir Autor*innen in Regieteams und an den Häusern als feste Positionen sehen. Wir sehen uns als Theatermacher*innen. Nicht nur am Schreibtisch.

 

Wenn du irgendwann einmal ein eigenes Theater gründen würdest, wie müsste es heißen?

 

Das Eleonore Kalkowska Theater mit Christa Winsloe Salon, Ilse Langner Lounge, usw.

 

Liebe Maria, vielen Dank für das Gespräch.

Brandung

Um meine Geschichte zu erzählen, muß ich weit

vorn anfangen. Ich müßte, wäre es mir möglich,

noch viel weiter zurückgehen, bis in die allerersten

Jahre meiner Kindheit und noch über sie hinaus in die

Ferne meiner Herkunft.

(Hermann Hesse – Demian)

Personal

ICH

ER

SIE

 

nicht älter als 35 Jahre

 

 

ER

What’s so funny?

ICH

Nothing.

ER

What’s so funny?

ICH

Absolut gar nichts.

Vlados Augenringe, Halbmonde unter den blauen Augen, sind seit gestern, vorgestern

ER

seit zwei Tagen

ICH

tiefe Furchen, grau-lila schimmernd. Also keine Farbe, weil weder grau noch lila Farben. Violett wäre ein Veilchen, aber das wäre falsch. Die Wucht der Schlaflosigkeit nicht fremder Fäuste ist schuld an der Färbung.

Ich lächle.

ER

What’s so funny?

ICH

Nichts.

Ich hatte mal ein Kaninchen, das nannte ich Grey. Grey war farblos. Seine Augen schimmerten.

An einem Samstag um 10.00 war ich in der Schule, und Grey wurde geschlachtet.

SIE

So ist das mit Deutschen Riesen.

ICH

Ich kam aus der Schule.

SIE

Ich hab dir den Schwanz verwahrt.

ICH

Spannend jetzt, was bleibt vom Deutschen Riesen

SIE

der Schwanz

ICH

war oben schwarz und unten weiß … aufgespaltene Farblosigkeit.

Martina hat ihn an ein Lederband gebunden. Nett von ihr.

Danke.

SIE

Bitte.

ICH

Und Vlado, der ist über Nacht geschrumpft. Das macht er seit gestern, vorgestern

ER

seit zwei Tagen.

ICH

Vielleicht hat er ein Ziel.

Du wirkst irgendwie kleiner.

ER

Red keinen Scheiß.

ICH

Ich denke an Karla.

SIE

Zum Selbermachen Teil I

Man braucht:

1 Schlüsselbund

Vorhängeschloss aufschließen, Riegel zur Seite, dicken Schlüsselbund hängen lassen am Schloss, Schloss mit Schlüsseln dran an den eigens dafür angebrachten Haken oberhalb des Türchens hängen, Tür öffnen, ins Dunkel greifen, Fell fühlen, Ohren ertasten, die Ohren fest greifen, am langen Arm festhalten, wegen der Krallen und dem Zappeln, herausnehmen, auf den Boden drücken.

ICH

Vlado erträgt keine Musik mehr, seit gestern, vorgestern

ER

seit zwei Tagen.

ICH

Wortlos geht er zum Radio, CD-Player,

ER

whatever

ICH

und switched den Scheiß aus.

Ich weiß, dass er denkt:

ER

Ich switch the shit aus.

ICH

Er denkt, redet zweisprachig. Deutsch

ER

Englisch.

ICH

Vlado, warum nicht Kroatisch?

Martina hatte auch ein Kaninchen. Das nannte sie Blacky. Die macht keine halben Sachen, die Martina:

SIE

Blackys Schwanz war ganz schwarz.

ICH

Nicht so gespalten, unentschieden.

Den Samstag hielt ich beide in der Hand, ganz weich und hielt mir beide an die Wangen, links und rechts, fast wie kuscheln.

SIE

Tolles Spielzeug!

ICH

Die Kinder in der Stadt würden töten für so ein weiches kuscheliges Spielzeug.

SIE

Wir auch.

Gestern, vorgestern, seit drei Tagen

ICH

Ich stehe auf, Vlado zuckt nicht, ist geschrumpft, seit gestern, vorgestern

ER

seit drei Tagen

ICH

gehe in mein Zimmer. Martinas Nummer ist auf der drei, gleich hinter Vlado (Mitbewohner, Bestfreund, alte Seele, Karlas Liebster

ER

und so.)

ICH

und vor Karla.

Es tutete einmal, als Martina abnimmt.

Sie ist nervös seit gestern, vorgestern.

SIE

Hallo.

ICH

Hast du zufällig schon die Zeitung von heute gelesen?

SIE

Nein. Du?

ICH

Nein.

SIE

Wie geht’s Vlado?

ER

Gar nicht.

ICH

Martina kommt gleich vorbei.

Schritt über die Schwelle in die Küche.

Vlado. Immer noch hinter der Zeitungswand.

Martina kommt gleich vorbei.

Schritt über die Schwelle in die Küche.

Vlado ist fort, einzelne Zeitungsseiten, flatternd im Raum, riesige Vögel, druckschwarz, der Boden ein Lügenmorast, ich rutsche aus über Glibber, Gallert. Wie zertretene Augen.

SIE

An einem Samstag um 10.00:

ICH

Martina hält mir ihre zue Hand hin. Quietscht ein:

SIE

Hallo!

ICH

Öffnet dazu die Hand, darin ein Auge. Ein kleines Auge. Es guckt mich an.

ER

Kaninchenauge sei wachsam.

SIE

Ich zeig das Papa.

ICH

Und sie rennt weiter.

Es ist Zeit, die Heute-Zeitung von unten zu holen, doch ich fühle keinen Boden unter den Füßen.

ER

Vlado: Blaue Augen, schwarze Locken, schulterlang, Drei-Tage-Bart, braune Lederstiefel (zwei Paar: eins neu, eins alt)

SIE

Martina: mal braune, mal grüne Augen, braune Wuschelhaare, knallroter Nagellack, Wanderschuhe (Klasse C).

Hab ich die hier stehen lassen?

ICH

Ich: graue Augen, aschblondes Langhaar, rote Wangen (Was das soll?) –

SIE

Karla: grüne Augen, rote Mähne, Sommersprossen (Klischee), pinke Pantoffeln –

ICH

Die räum ich besser mal in den Schrank.

SIE

– momentan in roten Gummistiefeln.

ICH

Und ein Paar Socken von Jo, liegen seit neuestem da.

ER

Jo: braune Augen, Pony ins Gesicht, Grübchen in den Wangen, draußen nicht auf Socken, sondern in gelben Chucks.

ICH

… hat seit drei Tagen nicht angerufen.

Vorbei an den Schuhen, rein ins Treppenhaus. Fünf Stufen zum Briefkasten. Fünf Stufen: oben, die oberste Stufe für Goran, Goran das ist Vlados Papa, drunter Birgit (drunter! Aber das findet Vlado nicht lustig).

ER

Ist auch nicht lustig.

ICH

Dann Milena und Dejan, die Zwillinge und die letzte, Martina. Ich soll auch wen haben, sagt Vlado. Und er hat den Steinstufen Namen gegeben, damit er an seine Familie denkt – seinen Papa, dessen neue Frau und die Kinder.

Goran

Birgit

Milena

Dejan

Martina

Der Briefkasten.

Die Zeitung.

Karla?

SIE

Zum Selbermachen Teil II

Man braucht:

1 Holzknüppel (Durchmesser mindestens 2 cm)

Fest auf den Boden drücken, Knie auflegen, dass die Beine nicht auskommen, dann schnell Handwechsel, den schon bereitgelegten Knüppel fassen, weit ausholen, heftig an den oberen Nackenwirbeln aufprallen lassen, den Schlag ggf. wiederholen.

ICH

Karla: grüne Augen, rote Mähne, Sommersprossen (Klischee), aber nicht zu finden … in der Zeitung.

Das Klingelläuten hallt aus der Wohnung ins Treppenhaus. Ich strecke den Arm aus und öffne Martina die Tür.

Nichts. Sie sieht mich an: braune Augen, rote Ränder.

Nichts. Kein Wort.

SIE

Ich weiß.

ICH

Wie kann das sein?

SIE

Weiß nicht, vielleicht morgen.

Gestern, vorgestern, seit vier Tagen

SIE

VERMISST. Karla Zuckowski, 24.

Zuletzt gesehen vor der Edekafiliale in der … am … gestern, vorgestern, vor vier Tagen. Karla trug eine blaue Jeans, einen dunkelgrünen Parka mit Kapuze und rote Gummistiefel, als sie verschwand. Bei sich hatte sie eine gelbe Einkaufstasche mit der Aufschrift:

ER

Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen überall hin.

ICH

Bevor Vlado versuchen kann zu weinen – was sich bei ihm anhört wie Hustensaft verschlucken und zu viel Brause in die Nase bekommen haben.

In der Zeitung stand wieder nichts.

SIE

Scheiße.

ICH

Vielleicht morgen.

SIE

Glaub ich nicht. Is auch egal. Müssen wir’s halt selber machen. Hier ist der Plan.

ICH

Keine halben Sachen.

SIE

Du hast weiter versucht, sie zu erreichen?

ER

Nichts.

ICH

Der gewünschte… antwortet nicht.

SIE

Also, ich hab jetzt ihre gesamten Freunde im Netz durch, und hier sind erst mal 500 Kopien, überall in der Stadt verteilen.

ICH

Vlado kriegt Kopfweh, das sieht man daran, dass er so gerade dasitzt. Martina, denkt, »allzeit bereit«, der.

ER

Aber nur Kopfweh.

SIE

Du rufst Jo an. Er soll ’ne Homepage machen. Meinste, das macht er? Ich schick dir die Bilder und –

ICH

Ich bekomme Kopfweh, muss grade sitzen.

SIE

Hast du Kopfweh?

ICH

Martina kennt mich. Und Vlado wäre jetzt lieber am Meer.

ER

Rauschen im Kopf.

ICH

Kopfweh, Gedanken.

SIE

Du rufst Jo an.

ICH

Ich nicke und sitze neben Vlado am Meer.

ER

Beautiful, isn’t it?

ICH

Vlado, warum nicht Kroatisch?

ER

Does it matter?

ICH

Wir sitzen auf Stein, hinter uns die Böschung, drüber das Haus von Vlados Großeltern, vor uns die Wellen, weit draußen die sinkende Sonne. Der rote Schimmer. Es riecht nach Fisch in gebratenem Knoblauch. »Ja, wunderschön«, sagt Karla, und der Wind spielt in ihren Haaren. Der rote Schimmer. Vlado hält ihre Hand.

Ich sehe es rot in Vlados Augen aufblitzen. Hinter uns der Berg dreckiges Geschirr und der Geruch von angebrannten Fischstäbchen.

SIE

– es geht um Leben und Tod.

ICH

Und Vlado wird die Stadt absuchen: all die Straßen, all die Gassen, runter zum Fluss.

ER

Wir werden sie finden.

ICH

Ich drücke ihn an mich, zu viel Brause in der Nase.

SIE

Das war mal etwas Gutes.

ICH

Als Martina und ich noch klein waren. Gestern, vorgestern

ER

vor vier Tagen.

ICH

Ich drücke ihn an mich. Vlados Herz schlägt den Rhythmus des meinen. Im Moment etwas lauter.

Gestern, vorgestern, seit fünf Tagen

SIE

Zum Selbermachen Teil III

Man braucht:

1 Strick

Sobald es ruhig ist, nimmt man den Strick.

ICH

Nein, noch nicht. Ich ruf erst Jo an.

SIE

Leben und Tod.

ICH

Wir werden sie finden.

ER

Jo.

ICH

Jo?

ER

Ja.

ICH

Hey.

ER

Hi.

ICH

Hier ist –

ER

Ich weiß.

ICH

Er grinst. An Jos Stimme hört man, wenn er grinst, und mich freut das.

Jo, ich brauche deine Hilfe.

ER

Dann komm doch vorbei –

ICH

Sind ja nur zwei Straßen.

ER

– wenn du magst.

ICH

Mhm… ja.

Ich mag.

Bis gleich.

Ich hab das Gefühl, Jo tut gut. Jetzt, morgen, übermorgen, vielleicht in fünf Tagen.

SIE

Wer weiß.

ICH

Vlado ist einen Kopf größer als ich. Immer wenn ich von ihm erzähle, glauben alle, er sei so groß wie ich. Nein, Vlado ist einen Kopf größer als ich, und seine Zähne sind strahlend weiß. Hat mal jemand, ein Mädchen mit glänzendem Lipgloss, gesagt:

SIE

Vlado. Der Name sagt alles.

ICH

Was?

SIE

Zum Beispiel unschöne Zähne.

ICH

Vlado ist Deutscher.

ER

Sind wir das nicht alle?

ICH

Wir alle.

SIE

Neuerdings.

ICH

Ich ziehe mich heute schwarz an. Ich mache das so, weil sich das richtig anfühlt, nicht von wegen Symbol. Habe das schon vor sechs Tagen gemacht.

SIE

Farbe?

ICH

Ich hab die roten Wangen.

SIE

Was das soll?

ICH

Martina sah als Kind aus wie ein wunderschöner Junge, dann wuchsen ihr Schillerlocken, und sie wurde an Fasching Prinzessin. Ich Clown, rote Herzen auf den roten Wangen: Rote Wangenherzen.

SIE

Herzwangen.

ICH

Ich hatte bei der Geburt ganz lange Haare.

SIE

Am ganzen Körper.

ICH

Schön weich, kuschelig, reiben an den Wangen.

SIE

(Die Kinder in der Stadt …)

ICH

Und Opa freut sich. Der Arzt hat gesagt: »Der Papa Spanier.« »Nein, der Opa Jugoslawe.« Damals Jugoslawe, später wird Opa sagen

ER

Serbe

ICH

das macht ihn stolzer, trauriger.

Martina ist 1 cm größer als ich, aber ich war zuerst da.

ER

Goran

Birgit

Milena

Dejan

Martina

ICH

Die Absätze von Vlados Stiefeln knallen auf dem Asphalt. Ich gehe auf die Straße und höre sie in der Ferne; in den Straßen

ER

in den Gassen

SIE

unten am Fluss.

ICH

Etwas lauter als meine.

Neun Ecken zu Jo und ich muss ihm sagen, dass eine Freundin vermisst wird, vor ihm verbergen, wie sehr unsere Herzen flattern, zerrissen, Fetzen im luftleeren Raum, die von oben herabblicken wollen, die Luft anhalten, um keine Minute zu verlieren, in den Straßen, den Gassen, unten am Fluss. Den Strich durch die Rechnung machen die Grübchen. Jo ist neu, er ist noch echt. Er lächelt. Ich könnte heulen und mache es einfach mal.

Jo, erwartete Reaktion:

ER

Oh.

ICH

Suchender Blick, die Tränen umgehend.

ER

Was ist denn los? Ähh, ähh. Zögerndes »Komm rein«. Peinliches Schweigen.

ICH

Jo, tatsächliche Reaktion:

ER

(Reaktionsphase 1 Sek.)

ICH

Feste Umarmung. Kuss auf die Haare (Jo ist größer als ich) und er wartet, bis ich sage

Es geht wieder

ER

streicht mir mit den Fingerrücken über die Wange, Wangenherzen und nimmt meine Hand.

ICH

Wir gehen in die Wohnung. Schweigend.

ER

Ich mach dir ’nen Tee.

ICH

Tee ist gut.

SIE

Vlado trinkt nur Kaffee, schwarz, russisch, das heißt Rest in der Tasse oder spucken.

ICH

Und Jo, der hat »Seele«-Tee.

ER

Das is ’n ayurvedischer Tee. Schmeckt aber ganz gut.

ICH

Entschuldigt sich.

SIE

Was das soll?

ICH

»Seele«-Tee! Hätt ich den mal gehabt, gestern, vorgestern, vor fünf Tagen

… ist Karla verschwunden. Schnell nur zum Edeka, weil wir nicht genug Käse für die Pizza.

Allwöchentliche Kochsession und kein Käse.

ER

Draußen der strömende Regen.

ICH

Und Karla sagt:

Ich liebe den Regen.

Malt ein Kugelschreiberherz auf ihre neuen roten Gummistiefel, Kuss für Vlado und Zwinkern, schnappt die Tasche, halbe Umdrehung, Anflug einer Pirouette. Auf in die Fluten. Und Vlado denkt: Tauchen, und sagt:

ER

Blöde Tasche. Dummer Spruch. Not funny.

ICH

Aber er lächelt, und wir haben noch 20 Minuten Zeit, denken wir, dann kommt Karla mit Käse.

ER

Tauchen.

ICH

Wir schweben im blauen Nichts. Ich höre meinen Atem. Vlado macht eine Handbewegung, und ich folge ihm, nach unten. Eine Wand Goldschimmerfische durchbrochen, runter ins Riff. Es ist ganz still, vor mir Vlado, dahinter die Weite. Rein ins Riff.

ER

Hinsetzen.

ICH

Die Sonnenstrahlen fallen durch blaues Glitzern. Wir sitzen in der Stille, im Licht. Und hier ist Vlado bei sich, in seinem Element, wortlos im blauen Licht, und ich mit ihm. Und danach schwimmen wir noch bis zur Kante, starren runter ins Schwarze, unter uns der Abgrund und steigen dann auf, lassen uns noch eine Weile treiben, auf den Wellen und atmen wieder dieselbe Luft.

In einer einfachen Geschichte würde Vlado rauchen, überhaupt rauchen. Aber das tut er nicht, dazu ist er zu klar, manchmal durchscheinend gar, der Vlado. Martina sagt

SIE

-sichtig

ICH

Durch-

SIE

-sichtig

ICH

wie unsichtbar, nichtig, gar nicht da

und merkt gar nicht, dass er doch scheint.

Zurück in der Küche. Jo sieht mich ernst an. Er hat allen Grund dazu.

ER

Und sie ist einfach nicht wiedergekommen?

ICH

Nach 40 Minuten das erste Mal auf ihrem Handy angerufen.

Vlado und ich vergessen manchmal die Zeit

und wundern uns dann.

Diesmal, weil Martina klingelte und sagte

SIE

Entschuldigung

ICH

Und Karla:

SIE

Der gewünschte …

ICH

antwortet nicht. Beginn der Suche: Gestern, vorgestern, vor fünf Tagen.

Jo versteht:

ER

Und keine Spur.

SIE

Zum Selbermachen Teil III (2. Versuch)

Man braucht:

1 Strick

Wenn es ruhig ist, nimmt man den Strick. Man bindet ihn fest an den Hinterläufen, dann an einen Ast. Kopf nach unten. Beine gespreizt.

ICH

Jo schaut ernst, tippt Striche, Klammern und Zeichen und schickt Hilflosigkeit in die Welt. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und trinke Tee.

Gestern, vorgestern, seit sechs Tagen

ICH

Die Absätze von Vlados Stiefel knallen auf dem Asphalt, höre sie in der Ferne

ER

in den Straßen

ICH

den Gassen

ER

unten am Fluss.

ICH

Martinas Hände kleben Zettel, knallrotlackierte Nägel. Der Lack bröckelt. 500 in die Scheiben der Stadt, an die Laternen der Nacht, an die Bäume

SIE

unten am Fluss.

ICH

Und dank Jo gibt’s jetzt auch das Forum, und so können wir schlafen, dank Jo im Sitzen.

Mein Herz, das schlägt ruhiger. Ich trete auf die Straße. Jo sagt, er kommt morgen vorbei. Er sagt, er ist da. Mein Herz, das schlägt ruhiger. Vlado überholt. Ich packe ihn am Arm, sage

Warte!

und

Siehst du nicht deine Freunde?

Er zuckt zusammen.

Und ich folge ihm heim.

ER

Martina

Dejan

Milena

Birgit

Goran

SIE

Schlafen im Sitzen und essen im Stehen.

ER

Über Nacht kommt das Eis.

Gestern, vorgestern, seit sieben Tagen

ER

Vlados Augenringe. Halbmonde unter blauen Augen sind seit gestern, vorgestern, vorvorgestern, seit sieben Tagen tiefe Furchen, wenn man will

ICH

schimmernd, scheinend

SIE

durchscheinend.

ICH

Er löst sich auf.

SIE

Was das soll?

ICH

Ich packe ihn am Arm.

Mein Großer.

ER

Brauche jetzt mehr.

ICH

Ich mache uns Kaffee, russisch, Rest in der Tasse. Klingeln an der Tür.

Das ist Jo.

Vlados Blick, Kribbeln im Nacken.

SIE

Was das jetzt soll?

ER

Wird das jetzt ernst? The two of you.

ICH

Ich zucke zusammen, Schultern. Dieser Blick.

Was das soll?

ER

Ich hab was gefragt.

ICH

Ich weiß.

ER

Warum so laut?

ICH

Jo tut gut.

ER

Zum Selbermachen Teil IV

Man braucht:

1 Messer

ICH

Ich war schon wütend auf Vlado, da kannte ich ihn noch nicht. Genauso, wie ich schon wütend auf mich selbst war, bevor ich das erste Mal in einen Spiegel sah.

Vor der Tür grinst Jo Grübchen, sagt aber nichts und ich mache den Schritt nach vorn. Kurzer Kuss auf den Mund. Kalte Lippen. Über Nacht kam das Eis.

Mit Jo an der Hand. In die Küche.

ER

Vlados Blick.

ICH

Lass das!

ER

Vlado nimmt die Zeitung.

SIE

Wir haben zu tun.

ICH

Vlado liest Zeitung.

ER

Es steht wieder nichts drin.

SIE

Martina liest die Nachrichten im Forum

ICH

und ich mache Jo einen Tee. Er sieht den Rest in Vlados Tasse, weiß nicht, dass sich unter dem Kaffee in meiner das gleiche Häufchen verbirgt und würde sich gern mit mir darüber austauschen. Ich sehe es in seinem Blick. Er weiß nicht, dass wir im gleichen Glashaus sitzen, Vlado und ich, immer schon. Blaues Glitzern von oben. Das muss er bald lernen.

Martina jetzt mit ’ner Liste.

SIE

48 Nachrichten. Das ist nicht schlecht.

ICH

Das ist sehr viel.

SIE

Wir haben Leute in München, Göttingen, Berlin, Köln, Frankfurt, Leipzig und Erfurt und Dresden, die Zettel aushängen. Ich hab die gepostet. Aber vielleicht, Jo, kannst du ’ne Download-Datei auf die Homepage setzen.

ICH

Jo nickt ergebenst und legt unauffällig seine Hand auf mein Bein.

SIE

Alle sagen, sie halten die Augen auf und leiten das Foto weiter.

ICH

Martina zittert, und wer bis hierhin gedacht hat, dramatischer Aufbau, Exposition, steigende Handlung, Klimax, der weiß jetzt: pure Angst vor der Katastrophe. Martina

SIE

auch Martina

ICH

hat Angst, nicht nur vor Karlas leerem Zimmer in ihrer Wohnung, sondern vor Leere, die bleibt.

Stille. Im luftleeren Raum, kein Atem, nur Zeit zu verlieren.

Und Martina geht in die Knie.

ER

Zum Selbermachen Teil IV (2. Versuch)

Man braucht:

1 Messer

Ansetzen, drücken.

ICH

Jo hebt Martina auf, und ich starre.

SIE

Babykaninchenherzen rasen, wenn man das Tier auf den Arm nimmt, nur zum Kuscheln, aber das weiß es ja nicht. Und das Herzchen rast, man denkt, es platzt, und will die Angst wegstreicheln, aber die wächst, kann die Hand doch an den Ohren packen, Tierchen auf den Boden drücken, Handwechsel …

ICH

Und so dauert es, bis das Tierchen vertraut, sich vorwagt aus der Tiefe des Ställchens, vor ans Gitter mit strahlenden Augen und dann der große Tag. Treue, vertrauende Blicke des Tiers, das mittlerweile liebt, dann der Griff an die Ohren …

SIE

Zum Selbermachen Teil IV a.

ICH

Ich habe Angst.

SIE

Tiere müssen vertrauen lernen, der Mensch wird vertrauend geboren. Er lernt das Verlieren.

ICH

Und Martinas Telefon klingelt, und Karlas Mama sagt:

SIE

Martina?

ICH

Nein, die Schwester, hallo.

ER

Gestern, vorgestern, schon sieben Tage.

ICH

Ab heute nehmen sie dich ernst. Denkst du. Und Karlas Mama sagt, dass sie und ihr Mann heut auf der Polizei, wegen der Anzeige »Vermisst«. Weil ja sieben Tage um, und die Polizei sagt:

ER

Junges Mädchen, erst mal warten, die machen so Sachen.

SIE

Karla macht nicht so Sachen, oder?

ICH

Fragt sie mich?

Nein.

Was sollen sie machen?

SIE

Was sollen wir machen?

ICH

Sie schluchzt.

Haben ein Hotel

SIE

in der Innenstadt

ICH

sie und ihr Mann.

SIE

Wo ist denn Martina?

ICH

Ich sage nicht »Zusammenbruch«.

Sie schläft.

Ob sie uns treffen könnten, und damit meint sie wohl Martina und Vlado.

SIE

Ihre Freunde.

ICH

Sie meint auch mich.

Ich werde mit beiden reden, wenn Martina aufwacht und Vlado ganz da – und sie zögert kurz.

SIE

Vlado?

ICH

Karlas Freund.

SIE

Ja, schön.

ICH

Gar nicht schön. Gar nicht.

Jo sieht mich an.

Das war ihre Mutter.

ER

Die armen Eltern.

ICH

Jo ist nett. Aber Jo, hör zu, Mann, keiner ist arm, hier ist keiner arm. Klar? Noch nicht, okay? Ich mein und gar nicht. Alles wird gut, krieg das in dein ponybedecktes Hirn rein. Oder ist das so schwer zu kapieren? Jo hat das nicht verdient, dass ich das laut ausspreche.

ER

Martina ist wach.

ICH

Ich weiß doch, hör das an ihrem Atem. Ach Jo, so viel zu lernen. Ich setze mich zu Martina ans Bett und sehe sie weinen. Martina dreht sich von mir weg. Was soll sie auch sagen. Würd da auch nichts sagen.

Gestern, vorgestern, seit acht Tagen

ICH

Vlado löst sich jetzt auf, zwischen den Häusern, lauscht. Das Eis. Vlado hört, wie es kracht, von ganz tief unten, zu ihm herauf. Urgewalt, die Vlado hört. Hört sie in der Stille. Taucht in sie ein, schaut dann suchend nach oben? Nein. Das Eis lässt ihn nicht.

Und ich traf ihn, da stieg er grade hinab. Ich sah ihn von weitem, durch die Menge kommend, mir entgegen. Die Stimmung war dunkel, aber der Tag noch jung, und als die Regenwolken ziehen, fällt Licht in die Menge, auf ihn. Neben mir meine Mutter, da war sie noch da, auf dem Weg nach Hause. Und die Menge wird farbig, und die Gesichter leuchten, und eines scheint durch, und er kommt auf mich zu, sieht mir kurz in die Augen, geht an mir vorbei, steigt die Stufen hinunter, underground. Ich geh noch um die Ecke, sag dann: Mama, nimm schon den Bus. Und: Ich komme dann nach. Und gehe zurück, zurück an die Stufen, doch er ist schon verschwunden, doch ich weiß, ich muss warten, und ich zähle bis acht. Die hinter mir schubsen, als es scheint am Fuße der Stufen und er zurückgelaufen kommt, schaut dann suchend nach oben. Treffen uns in der Mitte, und er sagt:

ER

Hallo, old friend.

Gestern, vorgestern, seit neun Tagen

ICH

Vlado

ER

in den Straßen

ICH

in den Gassen

ER

unten am Fluss.

ICH

Und Martina soll jetzt schlafen. Zum ersten Mal seit gestern

SIE

vorgestern.

ICH

Ich nehme den Platz am Computer. Jo den neben mir, und wir lesen gemeinsam die Zeichen.

Die Polizei nimmt’s nicht ernst:

SIE

Junge Mädchen, erst mal warten. Die machen so Sachen.

ER

Macht Karla so Sachen?

SIE

Nein.

ICH

Bin ich deine Freundin?

Jo, sag schon, was meinst du? Jo grinst.

ER

O ja: O ja! Das bist du.

ICH

So einfach war’s noch nie, und er liest leise Zeichen, streichelt mir manchmal den Rücken und küsst mir das Haar.

SIE

Zum Selbermachen IV (letzter Versuch)

Man braucht:

1 Messer

1 Eimer

Das Messer an die Kehle. Fest drücken, rüberziehen. Das Blut läuft in den Eimer. Ausbluten lassen. Denn das Blut verwest zuerst.

ICH

Davor der Moment:

SIE

Mit der Zange das Schwänzchen.

ICH

Martina!

SIE

Warte noch, das Schwänzchen!

ICH

Martina wecke ich, als die Nudeln schon fertig, Vlado aus der Kälte heimgekehrt, Tomatensoße blubbert, und das kann nicht so weitergehen, das Leben.

Wir schlafen im Sitzen und essen im Stehen. Vlado in braunen Lederstiefeln, Jo auf Socken.

SIE

Karla wollte nicht weg.

ICH

Martina fletscht die Zähne. Angst oder müdes Gesicht. Reibt sich die Wangen, struwwelt die Haare. Ich kratze den Rest der Soße und lecke am Löffel. Vlado streckt seine Hand aus, Spucke am Daumen und wischt mir Rot aus dem Mundwinkel. Ich Clown, rote Herzchenwangen. Vlado lächelt. Jo ist verblüfft.

ER

What’s so funny?

ICH

Gar nichts, rein gar nichts.

Jo muss das noch lernen.

Das Vlado-Ding.

ER

Hallo, old friend.

ICH

Und Vlado denkt tauchen und ich, ich komm mit.

SIE

Wach sein!

Siehst du nicht? Deine Freunde?

ICH

Ich zucke zusammen.

SIE

Wach sein! Der Ablauf ist so: Karlas Mama und Papa im Café gleich um drei.

ICH

Vlado, ich und Martina

SIE

und Jo bleibt am Rechner.

ICH

Es bleiben uns noch dreißig Minuten, bis wir Karlas Eltern sehen, denken wir und vergessen die Zeit.

Ich will nur kurz ruhen, und Vlado legt sich neben mich, drückt sich seitlich an mich und verwächst. Seine Gedanken kreisen, platschen in den Fluss, triefen unter Laternen und jaulen in Gassen. Ich blicke zur Seite, in Vlados Augen, blaues Glitzern

ER

tief unten ein Schrei

ICH

und nehme seine Hand in meine.

ER

Schließe die Augen.

ICH

Es bleiben uns nur noch dreißig Minuten, bis wir Karlas Eltern sehen, denken wir

ER

und vergessen die Zeit.

SIE

Wach sein!

ICH

Jo schaut verblüfft. Ich öffne die Augen und lächle beide nieder.

SIE

Trampel!

ICH

Aber ich kann das nicht ändern. Soll mich

SIE

bei Jo entschuldigen.

ICH

Der steht da und schaut, und Vlado bleibt liegen, mit zuen Augen.

ER

So what.

Ich war zuerst da.

ICH

So ist es, ich kann das nicht ändern.

Karlas Eltern sitzen an der hintersten Wand des Cafés. Ich habe kein Mitleid mit denen, die hinten an der Wand kleben. Habe Mitleid mit den Mutigen, die vertrauen lernen, vorne am Gitter.

SIE

Tiere lernen vertrauen, Menschen lernen verlieren.

ICH

Vlado sieht mich an, und ich weiß, er hat die Eltern noch nie gesehen. In all den Jahren. Was das soll?

Die Mutter flüstert

SIE

Vlado,

nehme ich an.

ER

Ja, hallo, freut mich.

ICH

Glockenreines Deutsch in den Ohren der Mutter. Sie ist nicht erstaunt, oder? Bitte, sag, dass sie nicht erstaunt ist. Vlado lächelt, und der Vater drückt uns fest die Hand. Er hat Karlas offenes Lächeln. Er ähnelt Karla, ich bin froh, dass Karla ihrer Mutter nicht ähnelt. Aber in der Generation vor ihr niemand so ganz wie sie.

ER

Überhaupt niemand wie sie.

ICH

Vlado wusste das schon eine Weile. Ich hatte wohl nie darüber nachgedacht.

Die Eltern suchen Wissen. Martina sagt:

SIE

All die Aktionen

ICH

Vlado sitzt grade. Sie könnten denken:

SIE

Die Manieren.

ER

Aber Rauschen im Kopf.

ICH

Tauch jetzt nicht unter. Wir atmen dieselbe Luft, und in dieser hängt Angst.

Gestern, vorgestern, seit zehn Tagen

ER

Gibt’s irgendwas Neues?

ICH

Nein nichts.

Jo drückt mich an sich, mit ganz schöner Wucht.

ER

Wo sind denn die anderen?

ICH

Hat er mich vermisst?

Zur Polizei.

Er küsst mir die Stirn.

Hat er mich etwa vermisst?

Was ist bloß geschehen? Und warum grade jetzt?

SIE

Unangebracht

ICH

findet das Vlado. Ich weiß, dass er’s denkt.

ER

Unangebracht.

ICH

Der Feind des verklärten Grinsens. Vielleicht daher: böse Blicke. Denn Vlado verliert jetzt, und ich bin am Gewinnen. So fühlt es sich an, und es fühlt sich so falsch an. Stimmt nicht. Bedarf keiner Stimme.

Gelbe Chucks und Grübchen. Jo. Ich hab mich verliebt. Und Jo beginnt leis zu summen.

SIE

Zum Selbermachen Teil V

Man braucht:

1 Messer

1 Wanne

1 Schaufel

Warten. Ausbluten lassen, abhängen. Erst um die Hinterläufe, von da zum Geschlecht, mit dem Messer. Nicht ins Fleisch schneiden. Das Fell abziehen, wo nötig mit dem Messer nachhelfen, manchmal an der Rose, besonders an den Vorderläufen und am Kopf. Das Fell abziehen. Schnitt in den Bauch und die Gedärme purzeln. Man kann das Fell bearbeiten. Besser: Ein kleines Loch graben für Fell und Gedärme. Das Loch muss auch nicht gleich sein. Gefahr: Vögel holen die Augen, hängen sie an die Äste der Bäume, wo sie schimmern, so schön, von hinten Perlmutter. Wie Weihnachten

ICH

oder Martina:

SIE

Kaninchenauge, mal wachsam.

Siehst du nicht?

ER

Deine Freunde.

ICH

Mein Herz zuckt zusammen.

SIE

Siehst du nicht?

ICH

Wo immer du bist.

Jo geht, bevor Vlado kommt, und ich fühle mich einsam. Als Mama noch da war, hab ich mich nie einsam gefühlt. Ich denke an früher. Martina und mich. Und Opa sagt

ER

Sante ma unsere Mädchen

ICH

Das war so ’ne Sache. Opas Deutsch. Und Oma verdreht die Augen, und Opa lacht, erzählt: Er hat noch den König gesehen, lacht, denn er hat wirklich den König gesehen.

ER

Hatte ma alle die Hand gegeben.

ICH

Oma sagt:

SIE

Königstreu und sonst nichts.

Gestern, vorgestern, seit elf Tagen

SIE

Ich könnt mich so aufregen. Echt.

ICH

Die Polizei, wie immer, keine Zeit, weil dein Freund und Helfer immer viel zu viel zu tun. Karlas Eltern hatten einen Namen auf einem Zettel, aber auch der eigentlich grad nicht zu sprechen. Und Karlas Mutter hat wohl angefangen zu weinen, und der Vater hat versucht, sie zu beruhigen, aber letztendlich geschrien. Für sein Kind.

SIE Sie wollen noch warten.

ICH

Warum nicht suchen?

SIE

Machen mal Meldung.

Das macht mich so wütend.

Ich könnt da so schrein.

Gestern, vorgestern, seit zwölf Tagen

ICH

Vlado kennt Geschichten. Bunte Geschichten

ER

alte Geschichten

SIE

manchmal wahre Geschichten.

ER

Ein Schrei durch die Brandung!

Und brennt der Himmel, so sieht man’s gut:

 

Ein Wrack auf der Sandbank! Noch wiegt es die Flut!

Gleich holt sich’s der Abgrund.

 

Nis Randers lugt – und ohne Hast

Spricht er: »Da hängt noch ein Mann im Mast!

Wir müssen ihn holen.«

Da fasst ihn die Mutter: »Du steigst mir nicht ein!

Dich will ich behalten, du bliebst mir allein,

Ich will’s, deine Mutter!

 

Dein Vater ging unter und Momme, mein Sohn;

Drei Jahre verschollen ist Uwe schon.

Mein Uwe, mein Uwe!«

 

Nis tritt auf die Brücke. Die Mutter ihm nach!

Er weist nach dem Wrack und spricht gemach:

»Und seine Mutter?«

 

Nun springt er ins Boot

ICH

Und ich sehe es glitzern. In Vlados Augen. Sehe es brennen. Wie Feuer.

ER

Wir werden sie finden.

ICH

Ich hab das Gefühl, Vlado weiß. Etwas. Was? Er wird es nicht sagen.

ER

Boot oben. Boot unten, ein Höllentanz!

Nun muss es zerschmettern! – Nein: Es blieb ganz! –

Wie lange? wie lange?

ICH

Vlado, tauch jetzt nicht unter. Atme. Warte.

ER

Und brennt der Himmel, so sieht man’s gut:

Ein Wrack auf der Sandbank! Noch wiegt es die Flut!

Gleich holt sich’s der Abgrund.

ICH

Und Vlado hört sie wieder

ER

die Schreie.

Gestern, vorgestern, seit 13 Tagen

ICH

Was ist mit der Zeitung?

SIE

Ich hab’s nicht mehr geschafft. Es irgendwie auch nicht

gewollt.

ER

Wer weiß, was die schreiben. Was die draus machen.

ICH

Vielleicht sollten wir das klären, indem wir anrufen.

SIE

Wir oder ich?

ICH

Du.

SIE

Und ich will jetzt schlafen.

Hier auf dem Sofa.

ICH

Da sitz ich drauf.

Leg dich in mein Bett, da schläfst du besser.

SIE

Ja.

ICH

Ich weiß, sie ist sauer, fühlt, sie macht alles alleine, sagt nur nichts wegen Vlado, weil sie weiß, wie er rennt und sich reißt. Und sie geht in mein Zimmer und schließt laut die Tür. Ich hoffe auf einen Blick von Vlado, der sich jetzt an den Tisch setzt, sagt, er kann da nichts machen, dass er

ER

so richtig enttäuscht

ICH

ist; und ich seh ihn still an. Martina reißt an Beinen

ER

rüttelt an Leuten

ICH

und er rennt ohne Pausen.

ER

– Prioritäten, die muss man halt setzen.

ICH

Und er setzt seine auch

ER

hätte mir gewünscht, dass du –

ICH

hat sich

ER

halt getäuscht.

ICH

Ganz einfach in mir.

Mein Herz schlägt wie seines, das hör ich bis hier.

Siehst du nicht deine Freunde?

Und er zuckt nur die Schultern.

ER

Du hängst dauernd mit Jo rum. Dich scheint das gar nicht zu kümmern.

ICH

Ich am Gewinnen. Er am Verlieren. So darf ich nicht denken.

Das ist jetzt nicht fair.

ER

Frag mal deine Schwester, wie die das sieht. Die sagt das

Gleiche.

ICH

Als ob ich das nicht wüsste. Und Vlado ist wütend, irgendwas stimmt nicht. Irgendetwas ist neu.

ER

Vögelst hier rum, und wir haben die Scheiße am Hals.

SIE

Ein Schrei durch die Brandung!

ICH

Vlado finden manchmal diese Worte. Solche Worte. Vielleicht findet er sie. Einer, der findet.

Und Vlado denkt tauchen, doch ich komme nicht mit.

Ich weine.

Wenn ich als Kind mal geweint hab, dann immer nur draußen: Ich bin gelaufen, auf die Wiesen und weit an den Bach, um zu sitzen und zu schauen, wie sich Tränen mischen in das Wasser, um fortgetragen zu werden ins Meer. Ich habe mir gewünscht, da säß einer im Wasser und würd’s wissen, würd sie sehen, die Tränen, oder sie würden zu Regen, um bei einem zu fallen, der auch weint, wie ich. Einer wie ich. Ganz weit draußen.

Und ich denke an Vlado, wie er sitzt, da am Meer, und kann ihm nicht glauben.

Und ich denke an Vlado, wie er rennt im Regen.

Ich versteh jetzt nichts mehr. Er hat recht, ja, ich war glücklich die Tage, trotz Karla, ich versteh seinen Ärger. Prioritäten setzt man anders. Ich meine wie Vlado. Das mach ich. Würd gern reden… nur mit Karla. Die Wände sind rot, hinter dem Schleier aus Tränen, die in den Abfluss rinnen, und ich hab das verdient, dass es sticht in den Augen.

SIE

Du denkst nur an dich.

ICH

Ich schau in den Spiegel und reiß mich zusammen. Martina an Leuten, ich nur an mir. Für heut muss das reichen. Morgen werd ich wie sie, und die Welt wird mich lieben, die Welt, vielleicht auch nur meine. Hauptsache Vlado. Sollte denken: Hauptsache Karla. Halbherzig, unentschieden, nicht wissen, wohin. So war das schon immer. Ich möchte gern wissen, ich möchte gern finden, im Spiegel, nur ich, mich.

SIE

Siehst sie nicht, die anderen.

ICH

Ich zucke zusammen, denn ich hör es leis schluchzen, denn ich soll ihn nicht hören. Und ich weiß, sie brennen wieder. Die Feuer. Keine neuen, die alten, altbekannt. Vlado hört sie wieder

ER

die Schreie.

Gestern, vorgestern, seit 14 Tagen

ER

What do you want?

ICH

Für dich da sein.

ER

Ich will dich nicht hier haben. Du riechst nach dem anderen.

ICH

Rück rüber! Ich halt dich, erzähl leis Geschichten, und wir warten.

ER

Auf den Morgen.

ICH

Und das, wo die Nächte doch so lang sind

ER

wenn Nächte doch so kalt sind.

ICH

Vlado ist älter als ich. Zwei Jahre, drei Monate, sieben Tage und ein paar Atemzüge. Manchmal fühlt es sich an, als wäre er jünger, dann wieder Jahrhunderte weiter.

ER

Old friends

ICH

alte Herzen

SIE

lernen verlieren.

ER

Nein.

ICH

Und Vlado riecht nach Heimat, und Vlado ist warm.

ER

Danke.

ICH

Und wir schlafen dann ein.

ER

Das Rauschen der Wellen.

ICH

Alles schimmert golden, bevor die Sonne ins Meer sinkt. Und Karla sagt: »Ich liebe Vlado.« Und ich sage: »Ich auch.« Und deswegen liebe ich Karla und auch, weil sie versteht und sich freut, dass ich da bin.

ER

Meine Frauen.

ICH

Karla nimmt meine Hand, malt dann drei Herzen auf ihre Flipflops.

SIE

Zum Selbermachen Teil VI

Man braucht:

1 Zange

1 Wanne

Die Pfötchen abzwicken, dadurch das Tier abnehmen. In die Wanne legen, ruhen lassen, eventuell zerteilen. Kühlen.

Gestern, vorgestern, seit 15 Tagen

SIE

Verlogener Lokalzeitungs-Morast!!!

ICH

Vlados Augen öffnen sich langsam, und er sieht in meine.

ER

Du

ICH

Du

SIE

Wo ist meine Schwester?

Vlado, wo ist meine Schwester?

ER

Im Bett.

ICH

Noch in den Klamotten von gestern.

SIE

Ihr habt echt ’nen Rad ab.

ICH

Und knallt Vlados Tür, auf den Küchentisch die Zeitung und kocht fluchend Kaffee. Wir folgen ihr leise.

SIE

Da. Schaut euch das an.

ICH

Karlas Gesicht macht den Titel.

ER

Was geschah mit der schönen Karla?

SIE

Studentin verschwindet auf Weg zu Party.

ICH

Auf Weg zu Party.

SIE

Studentin verläuft sich, weil eh immer am Feiern und gern mal bekifft und besoffen im Dunkel

Scheiß Bullen.

ICH

Ich denke »Klischee«, und meine Mundwinkel zucken.

ER

What’s so funny?

ICH

Gar nichts. Scheiße. Gar nichts.

SIE

Die machen nichts.

ER

Junge Mädchen, die machen so Sachen.

SIE

Karla nicht!

ICH

Mama sagte: »Ich mach Urlaub. Ich fahr zwei Wochen weg.« Und das kann sie gern machen. Martina fragt: »Wohin?«, und Mama sagt: »Nach Schweden.« »Warum nicht in den Süden?« »Ich will mal was Neues.« Kocht frischen Pfefferminztee aus dem Garten

SIE

und summt ein Lied von Peter Alexander.

ICH

Vlado geht wortlos zum Rechner.

SIE

Jetzt hängt alles an uns.

ICH

Zwei Wochen später packt Mama ihre Koffer. Zwei große Koffer. Sagt noch Worte wie »stolz auf euch«, »sehr«, »immer wissen«, »lieb«. Ruft an, wenn sie da ist. Lässt zur Sicherheit noch eine Telefonnummer da. Und sagt zu Papa nichts, und der sagt auch nichts und geht dann raus.

SIE

Mama steigt in das Taxi, und Papa setzt sich auf sein Fahrrad und fährt raus in den Garten

ICH

fährt in den Garten und schlachtet ein Kaninchen, und das soll heißen: »Schrubbt den Spieß. Heut wird gefeiert.«

SIE

Mama ruft nicht an am Abend, und wir hätten’s auch nicht gehört. Sitzen ums Feuer und schauen aufs Fleisch, wie es sich dreht, und auf Papa, der im Stillen jubiliert.

ICH

Komm bitte wieder!

Gestern, vorgestern, seit 16 Tagen

ER

Gesehn in München.

ICH

Gesehn in Brüssel.

ER

Auf ’ner Party in Berlin.

ICH

Getäuscht. Sorry.

Plötzlich steht Vlado.

ER

Listen.

Wegen der Tasche. Gelb und der Spruch. Seit ’ner Weile läuft ’n Penner damit rum. Gesehen im Russenviertel. Sammelt Pfandgut darin.

SIE

Bei den Flachbauten.

ICH

Der Mann mit der Tasche, zwischen den Häusern. Wir überlegen uns seine Geschichte.

SIE

Zum Mitmachen Teil I

Kaninchen essen. Kaninchen am Spieß

Man braucht:

1 Spieß samt Aufhängung und Drehvorrichtung (im Idealfall mit Elektroantrieb)

15 Kilo Kohlen

ICH

Diese Arbeit geht nur zu zweit!

SIE

Eine der am Spieß befestigten Fixierungen (Stacheln, die das Tier von hinten und von vorn in Position halten) lösen und abziehen. Den Spieß zwischen den Hinterbeinen durch die Geschlechtsöffnungen durch die Bauchhöhle vor bis durch den Mund. Fixieren: Die Vorder- und Hinterläufe zusammenbinden, die Stacheln der Fixierung je in die Vorder- und Hinterbacken rammen. Vorn tief in den Kopf. Hinten tief in den Hintern. Fixierungen gut verschrauben. Spieß in die Vorrichtung einhängen. Gleichmäßig (wichtig!) drehen. Garzeit ca. 2 Std. Vorsicht: nur über der Glut, nie über offenem Feuer.

ICH

Im Garten der Geruch von gebratenem Knoblauch

SIE

und Mama wird auch morgen nicht anrufen.

ICH

Draußen die bittere Kälte. Der Wind pfeift durch die Straßen und beißt an unseren Ohren. Das Russenviertel, die Plattenbauten.

SIE

Wir sollten überlegen, wie wir vorgehen.

ICH

Martina spitzt den Mund an, wie die Lehrerin, die nicht sagt:

SIE

Bitte, ich will was hören. Aber mal ’ne richtig gute Antwort.

ICH

Und Vlado hat einen Plan, nickt »warten«, greift kurz in die Tasche, nimmt das Handy, Kurzwahl 4, ruft seinen Vater an, Goran, und fragt den Papa nach einer Nummer und bekommt zwei Namen: einen Mann und eine Straße.

ER

Got it. Ivan hat mal mit Goran zusammengearbeitet, ist jetzt in Rente. Arbeitet zumindest nicht mehr. Schon daheim war seine Oma das Gedächtnis des Dorfes.

ICH

Manche Dinge bleiben in der Familie.

ER

Ivan jetzt das Gedächtnis des Viertels.

ICH

Nichts, das Ivan nicht weiß.

SIE

Ist der umgänglich?

ICH

Typische Martina-Frage.

ER

Wenn er gesoffen hat.

SIE

Meinst du, er hat gesoffen? Ist ja noch früh.

ER

Wenn er nicht noch schläft.

ICH

Opa hat nie getrunken und wenn, dann nur Schnaps aus Tassen. Papa trinkt Bier und das nur aus Flaschen. Und die leeren Flaschen stellt er in die Spülmaschine. Spült sie, denn er kann den Geruch nicht leiden, von schalem Bier. Sagt, im Leben hat ihm schon genug gestunken. Das letzte Mal geredet mit Papa hab ich vor zwei Jahren, kurz nach dem Brief von Mama.

SIE

Gott, ist das trostlos hier.

ER

Ein bisschen wie zu Hause.

ICH

Aber Vlado ist Deutscher.

SIE

Sind wir doch alle …

ICH

Die Kälte ist unerträglich, alles grau, in dem Wind. Wenn Karlas Tasche hier wandert … Kann Karla hier sein? In Hinterzimmern oder Katakomben. Die Gesichter hier ernst, nicht verkniffen. Die Kälte ist doch kein Feind hier, pfeift fröhlich »Heimat«.

ER

This is it.

ICH

Drückt auf »Abramowitsch«. Und der Mann ist schon wach und hat auch schon gesoffen.

SIE

Gut.

ICH

Ich hatte heimlich gehofft, Ivan sähe aus wie Opa, aber er ist klein und dick mit verquollener Nase und freut sich, stellt drei Tassen auf den Tisch – Schnaps nur aus Tassen – und erzählt von gutem und schlechtem Wodka. Ich dachte, Russen haben Besseres zu tun, nur 14-jährige reden so: guter und schlechter Wodka.

Ivan trinkt Fusel, ohne Etikett, aus dem Hinterzimmer oder den Katakomben und stellt viele Fragen.

SIE

Goran? Und das Leben?