Bullerbü ist überall - Isabel Köller - E-Book

Bullerbü ist überall E-Book

Isabel Köller

4,5

Beschreibung

Wer denkt nicht gern an die glücklichen Kinder in Astrid Lindgrens Bullerbü, die nach Herzenslust spielen, die Natur entdecken und dabei immer wissen, dass ihre Eltern für sie da sind? Isabel Köller zeigt, wie man auch heute für seine Kinder eine glückliche Bullerbü-Welt schafft und sie dadurch zu selbstständigen, kreativen und glücklichen Menschen werden.

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www.campus.de

Köller, Isabel

Bullerbü ist überall

Das Geheimnis von Kinderglück und stressfreiem Familienleben

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2008. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40382-3

|9|Einleitung: Auf der Suche nach Bullerbü

Wenn unser Kind geboren wird, überrennen uns die Glücksgefühle. Wir halten unser neugeborenes Baby zärtlich im Arm, bewundern es und schwören uns beim Anblick dieses kleinen Wichtes, dass wir nur das Beste für ihn wollen. Unser Kind soll es einmal gut haben. Wir wünschen ihm eine heile und glückliche Welt – eine Welt, wie in Astrid Lindgrens Die Kinder aus Bullerbü.

Die Kindheit als Wiege des Lebensglücks

Über die Frage, was denn nun das Beste für unser Kind sein mag, kommen wir schneller ins Grübeln, als wir es je für möglich hielten. Nur in diesem einzigartigen Augenblick der Geburt sind unsere Wünsche für unser Kind noch ohne jede Erwartung. Zu diesem Zeitpunkt beschränken wir uns meist darauf, unserem Kind zu wünschen, dass es einmal glücklich werden soll. Erst später im Laufe seiner Entwicklung packen wir noch ein paar Anliegen und Hoffnungen obendrauf. Ja, und irgendwann kommt der Tag, da ärgern wir uns, denn unser Kind will nicht so, wie wir es gerne hätten. Wir möchten ihm nur helfen, den rechten Weg zum Erfolg zu finden. Doch unser Kind bockt. Das begreifen wir nicht, weil wir es doch wirklich gut mit ihm meinen. Wir glauben über genügend Lebenserfahrung zu verfügen, um zu wissen, was für unser |10|Kind gut und nicht so gut ist. Wir möchten vermeiden, dass unser Kind Fehler macht, die es später bereuen könnte. Unsere Ambitionen sind zu seinem Besten – das ist jedenfalls unsere feste Überzeugung. Doch dieses Buch wird zeigen, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt ist, als eben dieser elterliche Glauben.

Ich denke, fast alle Eltern wollen tief in ihrem Herzen, dass ihr Kind sein Leben später einmal genießen kann. Ein erfülltes Leben, Glück und Zufriedenheit – das sind unsere größten Wünsche für unsere Kinder. Kann man so etwas denn anerziehen? Ja, das ist möglich, auch wenn Sie es kaum glauben mögen. »Jeder ist seines Glückes Schmied!« Dieses wunderbare und wahre Sprichwort gilt für Eltern und Kinder gleichermaßen. Egal, wo Sie gerade in Ihrem Leben stehen, egal, welche Entwicklungsphase Ihr Kind gerade durchmacht, Sie werden in diesem Buch Ideen und Anregungen für Ihre ganz persönliche Situation finden. Denn anders als die meisten Pädagogen vertrete ich die Meinung, dass im Rahmen einer Erziehung alles veränderbar und erneuerbar ist – man muss es nur wollen. Nicht wieder gutzumachende Fehler gibt es nicht.

Unser Hauptziel sollte es dabei sein, unsere Kinder so zu erziehen, dass sie in ihrem Leben einen Sinn sehen. Ohne Lebenssinn gibt es kein Lebensglück. Das Problem dabei ist, dass die meisten Eltern heute gar nicht wissen, wie sie ihren Kindern bei dieser Suche helfen können, weil sie dieses Geheimnis des Lebens für sich selbst noch gar nicht gelüftet haben.

Ich erinnere mich noch sehr genau an einen Hinweis unserer Kindergärtnerin, den sie eher beiläufig einmal auf einem Elternabend gab:

»Nur die Kinder werden zukünftig eine Chance haben, die gelernt haben, in rastlosen Zeiten anzuhalten, um wieder Kraft für ihre Seele zu schöpfen. Das werden die Kinder sein, die in ihrer Kindheit gelernt haben, sich von innen treiben zu lassen, statt von außen getrieben zu werden. Das werden die Kinder sein, die umsorgt und behütet vor der Welt da draußen in Ruhe zu |11|glücklichen und erfolgreichen Erwachsenen heranreifen dürfen. Die besten Voraussetzungen, um in dem zukünftigen, unvorhersehbaren globalen Dasein überleben zu können, werden sein: Intelligenz, Bedachtsamkeit, Durchsetzungskraft, Einfallsreichtum und die Fähigkeit, glücklich zu sein. Wenn ein Kind im Laufe seiner Kindheit mit diesen Komponenten ausgerüstet wird, dann wird es mit Freude die Welt da draußen erobern. Sie als Eltern und wir als Erzieher tragen die Verantwortung, unseren Kindern im Rahmen einer glücklichen und geborgenen Kindheit beizubringen, wie ihnen das Leben zukünftig spielerisch und zugleich erfolgreich gelingen kann.«

Der Sinn der Kindheit lässt sich folglich als das Entstehen und Festhalten von zukünftigem Lebensglück definieren. Kinderglück ist also nicht nur die Basis des Lebens und die Basis für eine lebenslange seelische Stabilität, sondern auch der Garant für den Lebenserfolg.

In einer Zeit, in der die Medien voll sind von dem pädagogischen und bildungspolitischen Bestreben, Kinder fit für eine globale Leistungsgesellschaft zu machen, in der Schlagworte wie PISA, Turboabitur oder Bildungsmisere den Eltern weismachen wollen, dass einzig und allein eine exzellente Bildung zu einer gelungenen Lebensgestaltung führt, bietet dieser Denkansatz nicht nur eine angenehm andere Lösung. Er fasst auch noch die entscheidenden Komponenten, die das Leben in seiner ganzen Größe ausmachen, zusammen. Nicht die Schulbildung, sondern Glück und Erfolg, persönliches Wachstum und gelebtes Sein, waren wohl schon immer und werden auch zukünftig die ausschlaggebenden Faktoren im Leben unserer Kinder sein.

Die Kindheit ist also die Wiege des Glückes. Was müssen wir Eltern nun unseren Kindern in dieser so wichtigen Zeit mitgeben, damit sie glücklich werden? Was haben erfolgreiche Menschen als Kinder gelernt, um ihren Lebensweg so aufstrebend zu beschreiten? Was genau ist Kinderglück eigentlich?

Ich habe versucht, in diesem Buch die Zutaten zusammenzutragen|12|, welche aus einem glücklichen Kind einen Erwachsenen werden lassen, der sein eigenes Profil hat, der starke innere Überzeugungen hat, der in der Welt etwas bewegen will und der sein Leben mit Lust und Freude lebt.

Eine Bilderbuchkindheit – Die Kinder aus Bullerbü

Wer von uns Eltern erinnert sich nicht an seine eigene Kindheit und die Gefühle, die in uns aufstiegen, als wir zum ersten Mal die Bücher Astrid Lindgrens lasen? Wir haben Die Kinder aus Bullerbü, Ferien auf Saltkrokan oder Michel aus Lönneberga gelesen, die eine oder andere Verfilmung gesehen und diese Bücher wiederum unseren eigenen Kindern vorgelesen. Unsere Erinnerungen daran verblassten zwar mit der Zeit, doch das, was uns wohl zeitlebens im Gedächtnis geblieben ist, ist eine unendlich glückliche Bilderbuchkindheit in Südschweden: saubere Natur, rote Holzhäuser, blaue Seen, endlos grüne Wälder und viele blonde Kinder in bunten Baumwollkleidchen, die spielen, lachen und den ganzen Sommer barfuß laufen. Aufrecht erhalten werden unsere Vorstellungen auch Jahr für Jahr durch ein uns allen bekanntes schwedisches Möbelhaus, das uns pünktlich zur warmen Jahreszeit mit seinem Katalog genau an jene Bilder der Unbeschwertheit des Seins erinnert. Dann wiederum im Winter, wenn die pure Kinderidylle im grauen Alltag zwischen Noten, Zeugnissen und Terminhast unterzugehen droht, flattert das Weihnachtsprospekt jenes Möbelhauses herein, das uns ins Gedächtnis ruft, dass es noch weiße Weihnacht mit Rentieren, geschmücktem Tannenbaum, dampfendem Festtagsschmaus, Kerzenschein und so etwas wie Glück gibt. Unmerklich steigt in uns dann die scheinbar tiefsitzende Sehnsucht der Menschen nach Ruhe und heiler Welt auf, welche Astrid Lindgren so zwanglos in dem Buch Die Kinder aus Bullerbü beschrieb |13|und damit uns Eltern eine mögliche Antwort an die Hand gab, wie Kinderglück aussehen könnte.

Bullerbü ist ein Dorf in Schweden, winzig klein und doch weltbekannt. Dieser Ort, dessen reales Vorbild Svedstorp heißt, ist für sehr viele Menschen ein Symbol für Frieden, Liebe und Freiheit. Denn Bullerbü scheint ein einzigartiges Idyll auf dieser Welt zu sein, wo die Werte hochgehalten werden, die uns bereits verloren scheinen.

Sechs Kinder wohnen in Bullerbü: Lasse, Bosse und Lisa auf dem Mittelhof, Britta und Inga auf dem Nordhof und Ole auf dem Südhof. Seine kleine Schwester Kerstin wohnt auch dort. Sie zählt jedoch noch nicht, da sie noch nicht spielen kann – das finden zumindest die Kinder. Und spielen, das tun die Bullerbü-Kinder eigentlich immer. Lisa ist ein Mädchen, »das hört man übrigens auch am Namen«, und erzählt uns die Geschichten der Kinder aus Bullerbü.

Das Leben der drei Familien, zu denen sie gehören, ist bestimmt von Gerechtigkeit, Gleichheit und Kontinuität. Bullerbü ist ein Dorf, in dem die Welt in Ordnung zu sein scheint, und so können sich die Kinder auf ihr Leben konzentrieren. Leben bedeutet in Bullerbü zunächst einmal spielen, aber daneben auch ganz selbstverständlich, den Erwachsenen zur Hand zu gehen. Das Leben in Bullerbü kennt keine nennenswerten Probleme, »und wenn Lasse bei der Einschulung noch nicht still sitzen kann, dann wird er nicht zum Therapeuten geschickt, sondern die Lehrerin sagt: ›Lasse geh spielen. Komm nächstes Jahr wieder.‹« Niemand regt sich darüber auf, wie Elisabeth von Thadden in der Zeit anmerkte.

Astrid Lindgren gelang es, in ihrem Werk eine Welt zu malen, die uns beim Lesen zur Ruhe kommen lässt, die sogar uns Erwachsenen zu träumen erlaubt und die so starke Gefühle in uns weckt, dass wir uns beim nächsten Sommerurlaub am liebsten auf ihre Spuren in Schweden begeben würden. Doch was ist es, das Menschen |14|in aller Welt bei der Lektüre derart in den Bann zieht? Ist es die stete Suche nach einem tieferen Sinn im Leben? Oder ist es die Sehnsucht nach einer heilen Welt, wie auch immer sie in unseren Augen aussehen mag?

Die Kinder von Bullerbü fangen mit den Erwachsenen Krebse oder sie streifen alleine durch die Natur mit ihren tiefblauen Seen und Wiesen, auf denen Glockenblumen blühen. Sie pflücken Kirschen von den Bäumen oder spielen »Nicht-den-Boden-berühren«, sie schlafen im knisternden Heu und kuscheln sich in der Kutsche in eine Wolldecke, während am kalten Winterhimmel die Sterne funkeln. So erzählt Astrid Lindgren über sich selbst:

»Ich war wohl selbst ein Bullerbü-Kind, das kann man nicht anders sagen. Natürlich nicht ganz und gar, wie es in den Büchern steht – Schriftsteller lügen natürlich auch ein bisschen, sonst würde es ja nicht gehen – , aber (...) wir waren eine Gruppe von Kindern, die haben gespielt und gespielt. (...)

Eins kann ich sagen, es hat wahnsinnigen Spaß gemacht auf dem Hof zu wohnen. Es gab so viele Tiere und viele nette Menschen, mit denen man reden konnte. So viele Mägde und Knechte und Häusler. Und dann gab es so viele Plätze, wo man spielen konnte, in der Scheune und im Stall und im Schafstall und im Tischlerschuppen und in dem Sägespänehaufen bei der Sägemühle. Im Sägespänehaufen haben wir viele Gänge und Höhlen gebaut, das war ein richtiges unterirdisches System. Vieles in Bullerbü entspricht also der Wirklichkeit. Ich bin auf Pferden geritten und auf Dächer und Bäume geklettert, wir sind geklettert, dass es ein Wunder ist, dass wir nicht dabei umgekommen sind, denn wir haben ein lebensgefährliches Leben geführt, ohne uns dessen bewusst zu sein. Im großen Ganzen gesehen wie die Kinder in den Bullerbü-Büchern.«

Was macht Kindheitsglück aus?

Bullerbü, Michels Katthult, Maditas Birkenlund oder Pippis Villa Kunterbunt sind Orte, die so viel Lebendigkeit ausstrahlen, dass |15|sie auch unsere Kinder in den Bann ziehen. Die unberührte Natur, die malerischen Dörfer, die Einfachheit des Lebens zeigen eine für die Kinderseele überschaubare Welt. Astrid Lindgren nimmt uns in ihren Büchern mit auf eine Reise in ihre Kindheit und zeigt uns die Plätze, an denen nicht nur ihre weltberühmten Kinderbuchfiguren spielen, lachen und die Natur entdecken, sondern wo auch sie selbst als kleines Mädchen gelebt hat. Doch Kindheitsglück liegt nicht in der Schönheit der Natur verborgen. Vielmehr sind es die Eltern, die – so sehr sie in Lindgrens Büchern auch im Hintergrund stehen – das Glücksfundament legen. Doch wie gelingt ihnen das?

Eltern, die sich lieben

Bullerbü ist der Inbegriff des Kinderglücks, welches wir uns für unsere Kinder wünschen. Ja, fast beneiden wir Astrid Lindgren, wenn sie über ihre Eltern schreibt:

»Kind von Samuel August und Hanna zu sein, war schön. Warum war es so schön? Darüber habe ich nachgedacht. Und ich glaube, ich weiß den Grund. Zweierlei machte unsere Kindheit zu dem, was sie gewesen ist: Geborgenheit und Freiheit. Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns aber im Übrigen frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen.

Dass wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache von der Welt. Schon mit sechs Jahren mussten wir beim Rübenverziehen und Rupfen der Brennnesseln für die Hühner helfen.«

Beim Lesen solcher Sätze wird uns warm ums Herz. Es scheint sie also doch zu geben, die Liebe zwischen zwei erwachsenen Menschen, die ein Leben lang hält und die optimale Geborgenheit für Kinder schafft. Bei der heutigen Scheidungsquote können wir das kaum glauben. Astrid Lindgrens Mutter Hanna war neun Jahre  |16|alt, als Samuel August sie zum ersten Mal sah: »Ihn ergriff eine heftige Liebe zu ihr und diese Liebe währte ein Leben lang.« Davon profitierten die vier Kinder. Bei sich innig liebenden Eltern fühlt man sich als Kind gut aufgehoben, das leuchtet uns allen ein. Sie bilden das Fundament, auf dem die Familie aufgebaut ist. Astrid Lindgrens Eltern müssen wohl vorbildliche Eltern gewesen sein. Ihren Vater beschreibt Astrid Lindgren als kinderlieb, ihre Mutter als diejenige, die die Kinder erzog.

»Hannas Art der Kindererziehung war recht unbekümmert. Dass man zu gehorchen hatte, war selbstverständlich, aber sie stellte nie unnötige und unerfüllbare Forderungen. Kam man zu spät zu den Mahlzeiten, musste man sich selber etwas aus der Speisekammer holen, ohne Vorhaltungen. Sie schalt uns nicht wegen zerrissener Kleidung oder beschmutzter Sachen und sie zeterte nie.«

War die eigene Kindheit schön, sorgt der Blick zurück natürlich dafür, die Erinnerungen mit Sentimentalität und einem ordentlichen Schuss Nostalgie zu vermischen. Doch das ändert nichts an der Tatsache: Wer eine glückliche Kindheit erfahren durfte, profitiert zeitlebens von dem Vertrauen, das die Eltern in den ersten Lebensjahren legten. Wer es schafft, dieses Urvertrauen in seinem Kind anzusiedeln, der hat ihm etwas sehr Wertvolles geschenkt, worauf es sein ganzes Leben lang zurückgreifen kann: Das Vertrauen in sich selbst.

Eltern, die selbstständige Entwicklung zulassen

Viele Kinder in Astrid Lindgrens Büchern wachsen so idyllisch auf. Egal, ob in der Krachmacherstraße oder auf Saltkrokan, überall gibt es selbstständige und freie Kinder auf der einen und verständnisvolle Idealeltern auf der anderen Seite. »Das Beste an den Bullerbü-Büchern |17|ist, dass die Eltern da so lieb sind«, schrieb ein Kind einmal in einem Brief an Astrid Lindgren. Doch wenn man genau hinschaut, zeichnet die Eltern von Bullerbü wohl am allermeisten aus, dass sie so wenig Einfluss auf das Leben der Kinder nehmen. Eltern-sein in Bullerbü bedeutet, so gut wie gar nicht in Erscheinung zu treten und eine Nebenrolle einzunehmen. Die Hauptrollen in diesem schwedischen Dorfleben sind mit den Kindern besetzt. Doch nicht nur aus Astrid Lindgrens Büchern kennen wir die glücklichen Kinder. Auch in unserer eigenen Kindheit gab es diejenigen, denen alles scheinbar mühelos zu gelingen schien. Jahre später stoßen wir dann beim Abiturtreffen wieder auf sie, und es erstaunt uns nicht zu hören, dass jenes Glückkind von damals auf der Sonnenseite des Lebens steht und bereits mit seinem eigenen Unternehmen erfolgreich Produkte in alle Welt exportiert. Oder denken wir an die Kinder, die immer den Hauptgewinn auf der Kirmes zogen, die jeden Schatz auf dem Kindergeburtstag fanden und das großartige Talent besaßen, mit einer unglaublichen Leichtigkeit und Fröhlichkeit aufzutreten. Damals wie heute beobachte ich, dass diese Kinder, ähnlich wie Astrid Lindgren, wiederum von Eltern stammen, die ebenfalls mit einer bewundernswerten Gelassenheit durchs Leben schritten. Ihr Blickwinkel zum Alltag war oftmals ein anderer. »Immer mehr haben müssen« spielte in ihrem Leben keine Rolle, stattdessen warben sie für eine sinngebende Lebensführung. Schulstress kannten die Glückskinder von damals nicht, entweder weil sie völlig problemlos an sehr gute Noten kamen oder weil ihre durch und durch schlechten Noten von ihren Eltern und auch von anderen nie mit der Wertigkeit ihrer Person in Verbindung gebracht wurden. In den Augen ihrer Eltern waren die Glückskinder von damals, so wie sie waren, vollkommen in Ordnung.

Beispiel

Eines dieser Glückskinder aus meiner eigenen Schulzeit will ich hier erwähnen. Mit Ach und Krach bestand die junge Dame das Abitur. Während wir |18|uns daraufhin ins Studium stürzten, ging sie als Au-pair-Mädchen nach Frankreich. Sie wollte sich erst einmal orientieren und Sprachen lernen. Eile hatte sie nicht. Für viele Jahre verschwand sie dann aus unser aller Leben. An unserem zehnjährigen Abiturtreffen meldete sie sich auf beeindruckende Weise zurück. Ihre Orientierungszeit hatte sich gelohnt. Sie war nach einem Wirtschaftsstudium in Paris in Rekordzeit in das Topmanagement einer französischen Bank aufgestiegen. Sie, die als Kind so gerne Unmengen an Streichen ausheckte und für jeden Spaß zu haben war, trug Verantwortung für schwindelerregende Millionenbeträge und war noch keine 30 Jahre alt. Burnout oder Stress? Fehlanzeige. Ihre Gelassenheit, ihr fröhliches Naturell und diese Lebensleichtigkeit hatte sie sich bewahrt. Die Lebensbasis, die ihre Eltern ihr geschaffen hatten, hatte Früchte getragen.

Wir Eltern träumen natürlich von folgsamen Kindern, erstklassigen Schülern, von Nachwuchs, der uns reine Freude bereitet. Eben wie es die Kinder aus Bullerbü sind. Wir sehnen uns nach einem friedlichen Familienleben ohne Stress. Kein Jammern, Nörgeln, Rumbrüllen, Schlagen oder Schimpfen. Wir wollen uns keine Sorgen machen müssen, uns von unseren Sprösslingen nicht provozieren lassen, und wir wollen auch nicht ständig die Geduld verlieren. Wir wünschen uns Frieden, Harmonie, Zufriedenheit und innerer Ruhe. Eben Zustände, wie sie in Bullerbü vorherrschen. Wir möchten ein verantwortungsbewusstes Kind haben, das mit Freude seinen Verpflichtungen nachgeht. Eben wie es die kleine Lisa aus Bullerbü ist, die, ebenso wie Annika oder Mia-Maria, zu den konventionellen Mädchenfiguren in den Lindgren-Büchern gehört.

Doch heimlich, tief in unserem Inneren, wünschen wir uns auch ein Kind wie Pippi, das sich mit lautem Trara an die Spitze einer Freiheitsbewegung der Kinder stellt und zu einer fröhlichen Revolte gegen die Autoritäten der Erwachsenenwelt aufruft. Bereits in unseren eigenen Kindertagen zog uns diese Figur magisch an. Wir bewundern Pippi, die eigenständig denkt und handelt und so viel Neugierde |19|und Lebenslust ausstrahlt. Schon sind sie da, die Zweifel, die zwiespältigen Gefühle, das Schwanken zwischen den verschiedenen Ansprüchen, die es mit der Kindererziehung zu kanalisieren gilt.

Als Astrid Lindgren im Alter von 40 Jahren in die Figur der Lisa aus Bullerbü schlüpfte und vom Leben in dem kleinen schwedischen Dorf erzählte, wurde sie offenbar von einem starken, alles dominierenden Gefühl getragen: Das Leben ist schön und macht Spaß! Diese Botschaft zieht sich durch das ganze Buch, fast wie eine Beschwörung, doch an das Gute im Menschen zu glauben. Kleine Streitereien und andere Unannehmlichkeiten, die es natürlich auch in Bullerbü ab und an gibt, lösen sich bei Astrid Lindgren zuversichtlich in Nichts auf.

Das Bullerbü-Rezept für eine heile Welt

Die Kinder aus Bullerbü entstand im Jahr 1947, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach den Gräueln und unglaublichen Schrecken des Krieges bot dieses Buch das Gegenteil, ein wohltuend heiles Weltbild. Astrid Lindgren beschwor in dieser schwierigen Zeit, in der das ganze Ausmaß menschlicher Zerstörungskraft ans Tageslicht kam, in ihrem Buch den Glauben und die Hoffnung an die Existenz einer heilen Welt. Sie rührte an die tiefe Sehnsucht der Menschen nach einem Leben, in dem das Gute überwiegt.

Für den Teig: die Sehnsucht nach Glück

Es wird heute viel über den Werteverfall gesprochen, doch zeigt etwa ein Blick auf den Bücher- und Zeitschriftenmarkt, dass das 21. Jahrhundert eine Trendwende eingeläutet hat. Wir Menschen haben nach einer Phase des Macht- und Profitstrebens den höchsten |20|Lebensstandard erreicht. Wir sind in unseren Breiten wohl so reich wie nie zuvor, aber auch häufig ausgebrannt und unglücklich. Ideelle Werte, geistige und seelische Aspekte scheinen wieder an Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die Sehnsucht der Menschen nach Ausgeglichenheit, nach Liebe und nach Lebenssinn ist heute so groß wie nie zuvor.

Doch gerade weil wir in einer Zeit leben, in der alles zu haben und erreichbar ist, scheinen wir von diesem Angebot so erschlagen zu sein, dass wir gar nicht mehr wissen, was wir wirklich wollen – weder für uns noch für unsere Kinder. Das macht uns Eltern unsicher und wir probieren das eine oder andere aus. Doch richtig mutig sind nur die wenigsten, denn zu tief steckt die Angst, wir könnten bei unseren Kindern zu viel falsch machen und damit ihr Leben negativ beeinflussen. Einerseits spüren wir, dass unsere oftmals unentschlossene Haltung im Umgang mit unseren Kindern uns und die Familie nicht an das ersehnte Ziel von Glück und Zufriedenheit bringt. Andererseits lehnen wir aber auch einen erneuten Lobgesang auf Härte und Disziplin konsequent ab. Das kann nicht der richtige Weg sein. Brave Kinder verändern nichts. Was bringt es, ein nettes Kind zu haben, das nur funktioniert, das gegenüber Nachbarn, Lehrern und zukünftigen Arbeitgebern einen guten Eindruck hinterlässt, das aber beim ersten starken Lebenssturm umfällt?

Wir Eltern von heute wollen Kinder, die verändern und aktiv Einfluss nehmen. Wir wollen Kinder mit starken inneren Überzeugungen, Kinder, die mutig sind und ihre Meinung vertreten.

Für die Füllung: von Selbstwertgefühl bis Eigenverantwortlichkeit

Ein Bullerbü-Kind ist ein Kind mit hohem Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Es hat gelernt, seine Bedürfnisse und die der anderen |21|zu achten. Es ist frei von Angst, frei von Schuldgefühlen und lässt sich nicht in Stresssituationen drängen. Es steht Unbekanntem aufgeschlossen gegenüber, und es gelingt ihm, aus Niederlagen zu lernen. Es vermag Entscheidungen aktiv zu treffen, da es selbstbestimmt lebt. Es ist konfliktfähig und besitzt eine Disziplin, die tief aus seinem Inneren kommt. Ein Bullerbü-Kind weiß, warum es lebt, welchen Sinn das Leben hat und welche Ziele es für sich verfolgt. Dennoch lebt ein solches Kind im Hier und Jetzt und kann das Leben in seiner Ganzheit genießen. Es hat gelernt, seine Fähigkeiten voll auszuschöpfen. Einem Bullerbü-Kind ist klar, dass Leben nicht Schicksal bedeutet, sondern dass es selbst für sein Glück verantwortlich ist.

So, wie wir unsere Kinder heute erziehen, werden sie die zukünftige Gesellschaft, in der wir alle leben werden, beeinflussen. Mit jedem Kind, das heute geboren wird, haben wir Eltern die große Chance, auf das Morgen nachdrücklich einzuwirken. Oftmals sind wir uns dieser Macht, die wir in den Händen halten, gar nicht bewusst. Eine Gesellschaft, die innovativ ihre Zukunft plant, weiß, wie wertvoll es ist, Zeit und Engagement in die Kindererziehung zu stecken. Sind die Kinder von einst zu Erwachsenen geworden, dann sind sie in der Lage, das Gemeinwohl aktiv zu gestalten und zu einem Gewinn für alle beizutragen.

|22|Die Bullerbü-Formel: Schenkt den Kindern Liebe

Astrid Lindgrens Engagement für Kinder lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen:

»Schenkt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann kommen die Manieren von alleine.«

Liebe ist die Sprache des Lebens. Astrid Lindgren hätte gesagt, Liebe ist die Sprache der Erziehung. Kinder suchen nach der Wahrheit, nach der Güte und nach der Schönheit im Leben, und alle drei sind gegründet auf der bedingungslosen Liebe.

Eine Erziehung in Liebe erzeugt ein Kind, das mit sich selbst im Reinen ist, weil es geachtet wird. Dieses Kind wird den Eltern das zurückgeben, was es von ihnen selbst gelernt hat: Achtung und Respekt vor einer Person. Ein Elternhaus, das gelernt hat, mit den Bedürfnissen von Kindern und Eltern ausgewogen umzugehen, kann sich eines ruhigen und bereichernden Lebens erfreuen. Es ist die bedingungslose Liebe der Eltern, die einem Kind so viel Vertrauen in dieses Leben schenkt, dass es geschützt und gleichzeitig gewappnet ist gegen die Unwägbarkeiten, die das tägliche Leben einfach mit sich bringt.

Als Astrid Lindgren den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen bekam, sagte sie in ihrer Dankesrede:

»(...) in keinem Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen |23|und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun. (...) Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung ein Leben lang.«

Was die bedingungslose Liebe behindert

Sind wir Eltern nicht fest davon überzeugt, wir würden unsere Kinder lieben? Natürlich, doch selten ist diese Liebe wirklich bedingungslos. Zu viele Stolpersteine haben sich in unser Unterbewusstsein eingeschlichen und bestimmen unser Handeln gegenüber unseren Kindern.

Die elterliche Erwartungshaltung

Ein Kind um seiner selbst Willen zu lieben, ohne im Hinterkopf bereits die nächsten Schritte in seinem Leben zu kalkulieren, ist heute nicht einfach. Viele Eltern nehmen, oftmals ohne es zu bemerken, eine berechnende Haltung gegenüber der Erziehung ein. Aus dem Wunschkind soll »etwas« werden. Was auch immer »etwas« sein mag, insgeheim wünschen sich alle Eltern, dass das Kind zu einem fleißigen Schüler heranreift, ein gutes Abitur ablegt und dann vielleicht studiert. Viele wünschen sich gar, dass ihr Kind mehr im Leben erreicht, als sie selbst erreicht haben. Verkündet das Kind, aus dem »etwas« werden sollte, uns dann, dass es fortan in der Toskana leben werde, um dort Tongefäße auf einer Töpferscheibe herzustellen, sind wir enttäuscht. Unsere Erwartungen und  |24|Hoffnungen wurden nicht erfüllt. Wir schauen nach links und rechts, auf die Müllers und Meyers, die Betriebswirte, Ärzte und Rechtsanwälte hervorgebracht haben, und schämen uns in Anbetracht der Berufswahl unseres Kindes. Wir glauben versagt zu haben. Zu Weihnachten kommt unser Kind nach Hause. Wir bemerken sogar die Ruhe und die Zufriedenheit, mit der es sein Leben gestaltet, vielleicht beneiden wir es auch um die gewählte Freiheit, aber das zugeben, nein, das können wir nur sehr schwer. Kehrt unser Kind umgekehrt Weihnachten nach Hause zurück und verkündet uns, dass es nun seine Zelte in der Toskana abbrechen wird, um fortan in Singapur eine Ausbildung zum Qigong-Meister zu machen, brechen wir innerlich fast zusammen, weil es immer noch nichts »Anständiges« für sich gefunden hat. Ein Mensch auf der Suche nach seinem ureigenen Glück, das ist uns einfach fremd.

Wir Eltern unterliegen starken äußeren Einflüssen und Wertvorstellungen. Dem kann sich wohl niemand von uns entziehen. Nur wenigen Eltern gelingt es, den Wunsch zu unterdrücken, ihr Kind von klein auf zu einem guten Geldverdiener erziehen zu wollen. Dieses Ziel haben wir, wenn wir von Erziehung sprechen, meist immer vor Augen. Beruf, Geld, materielle Sicherheit – um dies zu erreichen, braucht man gute Schulnoten, einen guten Schulabschluss, eine gute Berufsausbildung, ein Studium. Ein paar Zutaten, und dann werden die Dinge schon ihren Lauf nehmen.

Diese Erwartungshaltungen gilt es zu bekämpfen. Denn sie sorgen nur dafür, dass Ihr Kind sich selbst fremd wird. Fehlt ihm jedoch seine Authentizität, kann es sein persönliches Glück nicht leben.

Der ewige Vergleich

Hinter dieser Einstellung zum Leben steckt unser Glaube, dass die erreichte Leistung und die Identität eines Menschen eine Einheit |25|bilden. Wenn wir einmal genauer hinschauen, dann haben wir in unserer Kultur alles in einen Wettbewerb verwandelt. Fast alles funktioniert auf der Basis des Vergleichs. Das fängt bereits bei den Kleinen an. Eltern vergleichen gerne untereinander: »Mein Kind ist schon trocken, mein Kind kann schon laufen, mein Kind kann schon lesen, mein Kind kann schon Englisch«. So prüfen sie ihr Kind fast intuitiv, um sich zu vergewissern, dass mit ihm auch wirklich alles in Ordnung ist. Weiter zieht sich dieses Abwägen über die Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt, wo das Kind genau katalogisiert und überprüft wird, und endet in dem uns wohl bekannten Prüfungs- und Bewertungssystem der Schule. »Du bist besser, ich bin schlechter« oder umgekehrt – so lautet das Motto. Jedes Kind vergleicht sich mit jedem. Schließlich machen Erwachsene es ihnen vor: »Der besitzt ein größeres Haus als wir, die können sich schönere Urlaubsreisen leisten, die fahren ein schickeres Auto.« Kinder lernen schnell, dass ihr Wert, ihre Persönlichkeit, gar ihr Selbstwertgefühl von dem abhängen, was sie an Leistung und Besitz vorweisen können. Die Liebe der anderen Menschen zu ihnen äußert sich in Abhängigkeiten. Die Oma, die sich mit Stolz zu erzählen wünscht, was der Enkel alles kann und leistet, die Mutter, die gerne vorweisen möchte, dass ihre Erziehungsbemühungen gelingen, der Vater, der beim Fußball auf das Tor des Sohnes hofft und ihm zujubeln will. Unsere Kinder lernen rasend schnell und passen sich unseren Wünschen an, denn jedes Kind will seinen Eltern von Natur aus gefallen. Sie begreifen zügig folgende Formel: Wer etwas kann, der wird auch geliebt und bekommt viel Zuwendung. Wer wiederum versagt, dem wird auch die Zuwendung entzogen. Die Eltern sind enttäuscht und ziehen sich von ihrem Kind zurück. Meist sind dies Prozesse, die nicht bewusst ablaufen. Wir Eltern machen sie uns nur viel zu selten klar.

Auch ich als Mutter möchte mich da keineswegs ausnehmen. |26|Ich hatte ruhige Babys und richtige Schreikinder. Schnell ist man verführt, das ruhige, pflegleichte Baby als liebes Baby zu loben und das Schreibaby als unruhiges, anstrengendes Menschenkind zu tadeln. Auch wenn unser Verstand uns immer wieder ermahnt, dies nicht zu tun, fällt es uns sehr schwer, uns aus diesem Verhaltensmuster zu befreien.

Immer schnellere Entwicklung

Doch wir vergleichen nicht nur. Unsere Generation treibt es sogar so weit, dass wir die Kinder antreiben, sich möglichst schnell zu entwickeln. Schnell laufen, schnell sauber werden, schnell lesen können – das sind wichtige Meilensteine. Während die alten Hochkulturen noch lehrten, dass die Kraft in der Ruhe liege, vermitteln wir unseren Kindern: Wer seine Kindheit im Lauftempo hinter sich lässt, ist besonders fit für den globalen Wettbewerb, denn der hat gelernt, Schritt zu halten.

Kinder, die sich langsam entwickeln, gelten schnell als lahm und uninteressant. Sie werden als Kinder wahrgenommen, die nicht richtig gefördert und »auf die Spur gebracht« werden. Wir glauben, dass sie im späteren Konkurrenzkampf nicht mithalten können.

Beispiel

Als Mutter einer fröhlichen Kinderschar kann ich ein wunderbares Beispiel dafür bringen, dass der Gedanke, ein sich schnell entwickelndes Kind wäre ein »tolles« Kind, mit großer Vorsicht zu genießen ist. Unser Sohn Simon galt in meinen Augen lange als Sorgenkind. Er schrie als Baby viel, er war unruhig und anstrengend. Auch seine Entwicklung entsprach nicht der Norm, sondern war in jeder Hinsicht langsam. Am auffälligsten erwies sich aber seine Sprache. Im Alter von vier Jahren brachte er noch kein einziges Wort hervor. Nichts. Er war stumm. Unsere bis dahin sehr geduldige  |27|Kinderärztin wurde nun auch unruhig und empfahl mir einen älteren, sehr erfahrenen Ohrenarzt. Er untersuchte Simon, fand aber nichts. Doch er beobachtete ihn lange und bat mich schließlich, noch ein wenig Geduld aufzubringen. Eine Sprachtherapie sei für dieses Kind das falsche Signal in die falsche Richtung, da wäre er sich sicher. »Der geht seinen eigenen Weg«, so seine Worte, die mir bis heute in den Ohren nachhallen. Fast zur gleichen Zeit zog mein damaliger Lebensgefährte und heutiger Ehemann zu uns. Von Anfang an verband die beiden eine innige Liebe. Simon ist etwas ganz Besonderes, sagte Michael zu mir. Ich bekam ein richtig schlechtes Gewissen. Über Jahre hatte ich dieses Kind nur durch meine Möglichkeitsbrille gesehen und ihn mit meinen anderen Kindern verglichen. Ich hatte ihn sogar als schwierig empfunden.

Heute ist Simon acht Jahre alt und er ist etwas Besonderes. Er spricht inzwischen wie ein Gelehrter. Als er sich dazu entschied zu sprechen, stimmte von Anfang an alles: Grammatik, Satzbau und Vokabular. Die Gespräche, die er führt, zeugen von einer Tiefe und einem Erkenntnisschatz, einer Weisheit und Reife, die seine Geschwister nicht erreichen. Seine Gedanken haben eine ganz eigene Qualität und weisen auf eine enorme Weitsicht und Lebenskraft hin. Er geht immer noch seinen ureigenen Weg. Er ist nicht langsam, sondern lebt viel intensiver. Er nimmt sich Zeit, die Dinge zu beobachten und in ihrer ganzen Bandbreite zu erfassen. Heute habe ich die Geduld und auch die Einsicht, dass nur dieser Weg ihn zu seinem Ziel führen wird.

Was die bedingungslose Liebe ausmacht

Es ist schwer, sich aus den Klauen von Erwartungshaltung, Vergleichsmaschinerie und Wettbewerb zu befreien. Doch es gibt Faktoren, an denen wir Eltern uns orientieren können, um diese Mechanismen zu bekämpfen.

|28|Wohltuende Ruhe

Pestalozzi lehrte uns: »Der Mensch bildet sich nur von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz menschlich.« Daher muss die wichtigste Fähigkeit eines jeden Pädagogen sein, jedes Kind als Individuum wahrzunehmen, es zu lieben und auf seine Bedürfnisse einzugehen. Nach Pestalozzi ist dies alles nur möglich, wenn eine Grundstimmung der Ruhe existiert. Daraus entsteht beim Kind ein Zustand des »inneren Beruhigtseins«,

einerseits durch die Befriedigung seiner Bedürfnisse (nicht zu verwechseln mit der Erfüllung seiner Wünsche) und

andererseits durch die Ausstrahlung liebender Gelassenheit durch die Erzieher.

Pestalozzi, wie auch viele andere großartige Pädagogen und Erziehungswissenschaftler, wurde nicht müde, den Segen dieser inneren Ruhe für die Entwicklung eines jeden Kindes zu betonen. So schrieb er in seinem letzten großen Werk Schwanengesang (1826):

»Das Wesen der Menschlichkeit entfaltet sich nur in der Ruhe. Ohne sie verliert die Liebe alle Kraft ihrer Wahrheit und ihres Segens. Die Unruhe ist in ihrem Wesen das Kind sinnlicher Leiden oder sinnlicher Gelüste; sie ist entweder das Kind der bösen Not oder der noch böseren Selbstsucht; in allen Fällen aber ist sie die Mutter der Lieblosigkeit, des Unglaubens und aller Folgen, die ihrer Natur nach aus Lieblosigkeit und Unglauben entspringen.«

Das gute Vorbild

In dieser Atmosphäre des Beruhigtseins und der Annahme durch die Mitmenschen wächst nach Pestalozzis Überzeugung in der Seele des Kindes eine »sittliche Gemütsstimmung«. Heute bezeichnen wir dies als Empathie. Das Kind ist bereit, mit anderen zu teilen|29|, anderen zu helfen und etwas ihnen zuliebe zu tun. Dadurch entfalten sich seine »Herzenskräfte«. Das Kind lernt, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen und dessen Gefühle zu begreifen und zu empfinden. Dies lässt sich nach Pestalozzis Erkenntnis niemals durch Druck, Nötigung oder Zwang erreichen, sondern nur durch das Vorleben dieser Eigenschaften durch den Erzieher selbst. »Liebe in einem Kind« lässt sich nur durch die »Liebe zum Kind« wecken. Vertrauen wiederum entsteht nur dadurch, dass der Erzieher dem Kind vertraut.

Ehrfurcht vor dem Leben, religiöser Glaube oder Spiritualität, Wohlwollen gegenüber allen Lebewesen, dies alles wird sich in unserem Kind nur verwurzeln, wenn es diese Haltungen im Erwachsenen, also in uns, spürt. Darum wird die Lebenshaltung der Eltern für die ethische Entwicklung eines Kindes zum Schicksal. Was in der Seele von Eltern und Lehrern lebt, bringt Vergleichbares in der Seele des Kindes zum schwingen.

Das Spiel im Flow

Hinter unserem Wettbewerbs- und Vergleichsdenken steht der Glaube, dass wir in einer Welt leben, in der viele Dinge knapp und nicht für uns alle zugänglich sind. Deswegen laufen wir mit den anderen Menschen täglich um die Wette, um ihnen das wegzuschnappen, was diese sonst an unserer Stelle erlangen könnten. Wir glauben, der Sieg warte nur auf einige wenige von uns. Das treibt uns an, und wir wiederum treiben unsere Kinder an.

Längst hat die Wissenschaft bewiesen, dass der Mensch gerade auf diese Weise weder zu Höchstleistungen noch wirklich zum Ziel gelangt. Denn im Wettkampf ist nur ein Teil unserer Aufmerksamkeit tatsächlich auf die gestellte Aufgabe gerichtet. Ein anderer Teil konzentriert sich auf die Verteidigung des eigenen »Ichs«. Dabei  |30|handelt es sich um einen Urmechanismus, der dem Menschen innewohnt. Dieser Mechanismus war zu Zeiten des Überlebens in freier Wildbahn unerlässlich. Gefahr bedeutet Angst. Angst bewirkt die Ausschüttung von Adrenalin, das den Körper in Kampfbereitschaft versetzt. Je größer die Angst, desto mehr Kraft muss für die Verteidigung aufgewendet werden. Wenn wir an Gefahren der Größenordnung von wütenden Mammuts denken, ist dieser Mechanismus des Körpers auch wirklich sinnvoll.

Heute führt er allerdings zu einer Spaltung der Aufmerksamkeit und trennt uns von den Höchstleistungen, zu denen einige Menschen tatsächlich fähig sind. Sportler berichten immer wieder im Angesicht eines grandios gewonnenen Wettkampfs, dass es in dessen Verlauf einen Moment des totalen Vergessens gab. Sie spürten nur noch ihre 100-prozentige Aufmerksamkeit, Entschlossenheit und ihre geballte Energie, die wie ein Antriebsmotor wirkte. In diesem Augenblick existierten weder Konkurrenten noch Zuschauer, nur noch sie selbst. Die Wissenschaft nennt diesen Zustand »Flow«. An späterer Stelle werde ich darauf eingehen, wie dieser Zustand entsteht.