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Bürgerwehren in Deutschland E-Book

Nina Marie Bust-Bartels

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Beschreibung

Von scheinbar unpolitischen Nachbarschaftswachen bis zu organisierten rechtsextremen Patrouillen - immer häufiger inszenieren sich Bürger*innen als alternative Ordnungsmacht. Nina Marie Bust-Bartels hat Bürgerwehren auf ihren Streifzügen begleitet und liefert Einblicke in die politischen Motivationen der Mitglieder. Mit ihrer Studie an der Schnittstelle von Soziologie, Ethnologie und Politikwissenschaft zeigt sie, warum vor allem Männer das staatliche Gewaltmonopol infrage stellen. Darüber hinaus untersucht sie erstmals Bürgerwehren als Strategie rechtsextremer Akteure, die durch die Kontrolle des öffentlichen Raumes politische Macht gewinnen wollen.

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Nina Marie Bust-Bartels (Dr. phil.), geb. 1985, ist Politikwissenschaftlerin und freie Journalistin. Ihre Studie über Bürgerwehren wurde von der »Marburg University Research Academy« gefördert. Sie arbeitet u.a. für das Deutschlandradio und ist Mitgründerin des Podcast-Labels »Pola.Berlin«.

Nina Marie Bust-Bartels

Bürgerwehren in Deutschland

Zwischen Nachbarschaftshilfe und rechtsextremer Raumergreifung

Dissertation an der Philipps-Universität Marburg Gutachter*innen: Prof. Dr. Ursula Birsl und Prof. Dr. Thorsten Bonacker

Gefördert durch die Marburg University Research Academy

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-No- Derivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unterhttps://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Jele Mensen Print-ISBN 978-3-8376-5713-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5713-9 EPUB-ISBN 978-3-7328-5713-5https://doi.org/10.14361/9783839457139

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Vorwort

Einleitung

I. Grundlagen

1.Zum Stand der Forschung

1.1Was sind Bürgerwehren?

1.1.1Historische Bürgerwehren: Zum Wandel des Begriffs »Bürgerwehr«

1.1.2Zeitgenössische Bürgerwehren in Deutschland – Eine Definition

1.1.3Bürgerwehrähnliche Phänomene in anderen Ländern

1.2Bürgerwehren als interdisziplinärer Forschungsgegenstand

1.2.1Zum Stand der Zivilen Sicherheitsforschung

1.2.2Eine staatstheoretische Einordnung des Phänomens Bürgerwehren

1.2.3Bürgerwehren als vergeschlechtlichtes Phänomen

1.2.4Bürgerwehren als staatstheoretisch relevantes Phänomen der zivilen Sicherheitsforschung

2.Sicherheit als sozialer Prozess: Zum theoretischen Analyserahmen der Studie

2.1Theorien der Versicherheitlichung: Die »New European Security Theory«

2.1.1Securitization as performative action: Der konstruktivistische Ansatz der Kopenhagener Schule

2.1.2Security as Emancipation: Der normative Ansatz der Waliser Schule

2.1.3The Authority to Speak Security: Der institutionalistische Ansatz der Pariser Schule

2.2Bürgerwehren als Akteure im Versicherheitlichungsprozess

2.3Die Vergeschlechtlichung des Versicherheitsprozesses

2.3.1Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten

2.3.2Fragile Männlichkeiten als Motor für Versicherheitlichungsprozesse

II. Methodik

3.Auswahl des Empirischen Materials

3.1Bürgerwehren in Deutschland: Erfassung eines flüchtigen Phänomens

3.2Zuschnitt des Feldes: Dem Phänomen in seiner Diversität gerecht werden

3.3Kriterien einer Typologisierung der Bürgerwehren in Deutschland

4.Zur forschungspraktischen Herangehensweise

4.1Dissolving the a priori breach between theory and method: Zum Forschungsansatz der Ethnographie

4.1.1Methodischer Zuschnitt Feldforschung: Ein Zugang zur Sozialität der Situation

4.1.2Forschungsethik: Zur Vereinbarkeit von Forschungsinteressen und ethischen Standards zum Schutz der involvierten Individuen

4.2Empirisches Material: »Daten [sind] in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon.«

4.2.1»Das ›Gesagte‹ […] dem vergänglichen Augenblick entreißen.« – Dichte Beschreibung nach Clifford Geertz

4.2.2Der Leitfaden für die Interviews mit den Bürgerwehren

4.2.3Zum Vorgehen bei der Analyse des Datenmaterials

4.3Zusammenfassung der Methodik

III. Bürgerwehren in Deutschland

5.Drei Typen zeitgenössischer Bürgerwehren in Deutschland

5.1Institutionalisierte Bürgerwehren

5.2Autonome Bürgerwehren

5.3Aktivistische Bürgerwehren

IV. Einzelfallstudien

6.Bürgerwehr Typ I: Die »Bürgerstreife Harzberg«

6.1Rahmenbedingungen

6.1.1Feldzugang

6.1.2Sozialstruktur und polizeiliche Kriminalstatistik des Ortes

6.1.3Soziale Position der Gründer der »Bürgerstreife Harzberg«

6.1.4Institutionelle Einbindung der Bürgerwehr

6.2Analyse der Bürgerwehr in Harzberg

6.2.1Legitimationsdiskurse der »Bürgerstreife Harzberg«

6.2.2Motivation der Mitglieder für die Gründung der »Bürgerstreife Harzberg«

6.2.3Auswirkungen der »Bürgerstreife Harzberg« auf das lokale Umfeld

7.Bürgerwehr Typ II: Die »Bürgerstreife Weißensee«

7.1Rahmenbedingungen

7.1.1Feldzugang

7.1.2Sozialstruktur und polizeiliche Kriminalstatistik des Ortes

7.1.3Soziale Position der Gründer

7.1.4Institutionelle Einbindung der Bürgerwehr

7.2Analyse der »Bürgerstreife Weißensee«

7.2.1Legitimationsdiskurse der »Bürgerstreife Weißensee«

7.2.2Motivation der Mitglieder für die Gründung der Bürgerwehr

7.2.3Auswirkungen der »Bürgerstreife Weißensee« auf das lokale Umfeld

8.Bürgerwehr Typ III: Die SchutzzonenStreife der NPD

8.1Rahmenbedingungen

8.1.1Feldzugang

8.1.2Sozialstruktur und polizeiliche Kriminalstatistik des Ortes

8.1.3Soziale Position der Gründer

8.1.4Institutionelle Einbindung der Bürgerwehr

8.2Analyse der Schutzzonen-Streife in Berlin Mitte

8.2.1Legitimationsdiskurse der Schutzzonen-Streife Berlin Mitte

8.2.2Motivation der Mitglieder für die Teilnahme an der Schutzzonen-Streife

8.2.3Auswirkungen der Schutzzonen-Patrouille auf das lokale Umfeld

8.3Die »Schutzzonen-Streife« in Hofburg

8.4Die Schutzzonen-Kampagne der NPD als Versicherheitlichungsprozess

9.Zwischenfazit

V. Auswertung

10.Wenn Rechte nach dem Rechten sehen

10.1Bürgerwehren als Echoraum der Unsicherheit

10.2Bürgerwehren als Strategie rechtsextremer Akteure zur Erzielung von Raum- und Normalitätsgewinnen

10.3Bürgerwehren als Echoraum vergeschlechtlichter Mikroversicherheitlichungen

11.Conclusio

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Es ist dunkel, als Maik E. mit seinen Leuten die Patrouille beginnt. Er trägt eine Fliegerjacke, sein Haar ist raspelkurz. Maik E. ist zuvor nicht politisch aktiv gewesen. Doch als in Rostock von einem Exhibitionisten berichtet wird, will er handeln. Auf Facebook treten seiner Gruppe »Bürgerwehr Rostock« innerhalb weniger Tage hunderte Menschen bei. Die eifrigsten unter ihnen begeben sich auf die Jagd nach dem Exhibitionisten. Der Polizei trauen sie nicht zu, für Sicherheit zu sorgen. Und so patrouillieren sie eigenmächtig durch die Rostocker Nacht, bewaffnet mit Schlagstock und Gaspistole.

Die »Bürgerwehr Rostock« begleitete ich 2014 auf ihren Patrouillen. Diese Erfahrung legte den Grundstein für dieses Buch. Ich fragte mich: Was bringt diese Menschen dazu, das Gewaltmonopol des Staates infrage zu stellen und eigenmächtig auf Verbrecherjagd zu gehen? Wie verändert sich Deutschland, wenn sich Bürger im öffentlichen Raum zum Sicherheitsgaranten aufschwingen und eigene politische Ordnungsvorstellungen durchsetzen wollen?

Seither verfolgte ich, wie Bürgerwehren vermehrt in der medialen Berichterstattung auftauchten. Nach der aufgeheizten Debatte um die sexualisierte Gewalt am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht 2015/16 gab es einen regelrechten Boom an Bürgerwehrgründungen. Die Verortung von Gefahr bei den rassistisch konstruierten »Anderen«, ist eine rechte Strategie, die im Januar 2016 von Teilen der Gesellschaft übernommen wurde. 2017 zog die AfD in den Bundestag ein, und die politische und mediale Debatte verschob sich weiter nach rechts. Pegida demonstrierte in Dresden, und in der »Nein-zum-Heim-Bewegung« radikalisierten sich »besorgte Bürger«. Die Anzahl rechter Gewalttaten stieg und erreichte 2016 wieder das Niveau der frühen 90er Jahre.

Im Zusammenspiel der Diskursverschiebungen und der wachsenden Zahl rassistisch motivierter Gewalt übernehmen Bürgerwehren eine Scharnierfunktion. In ihrem Auftreten kristallisiert sich die rassistische Stimmungslage. Auch wenn auf den Patrouillen nicht unbedingt physische Gewalt angewendet wird, so sind doch aus Worten Taten geworden. Unter dem Deckmantel des nachbarschaftlichen Engagements für Sicherheit vernetzen sich Wutbürger und Rechtsextreme. Bürgerwehren sind Orte der Radikalisierung, mitunter sogar eine gezielte Strategie rechtsextremer Akteure, im öffentlichen Raum Macht auszuüben.

Die Bundesregierung erklärte 2019, bei Bürgerwehren gebe es Potential für rechten Terror. Kurz darauf zeigte sich, wie aus Bürgerwehrstrukturen rechter Terror entstehen kann. Für die rechtsterroristische »Gruppe S« rekrutierte der mutmaßliche Rädelsführer seine Mitstreiter vor allem aus Bürgerwehren. Ihr Ziel: Deutschland mit Anschlägen unter anderem auf Moscheen in einen Bürgerkrieg zu stürzen.

Dieses Buch ist eine Tiefenbohrung. Ich habe mich in die Welt der Bürgerwehren begeben und die Mitglieder auf ihren Patrouillen begleitet. Sie haben mir von ihren Ängsten erzählt und ihre Beweggründe beschrieben. Ich habe ihre politischen Einstellungen untersucht und erfahren, welche Wirkung ihre Patrouillen im öffentlichen Raum entfalten. Dabei wird deutlich, wie divers Bürgerwehrgruppen sind. Ich untersuchte eine Nachbarschaftsinitiative in einem kleinen, gut situierten Ort in Westdeutschland, die ihr Eigentum vor Dieben schützen möchte. Ich begleitete organisierte Rechtsextreme in Sachsen, die mit ihrer Bürgerwehr vorgeben, Frauen vor Geflüchteten zu schützen. Und ich war mit der Schutzzonen-Bewegung der NPD auf Patrouille.

Das Buch wäre nicht entstanden ohne meine Betreuerin Ursula Birsl. In unseren regelmäßigen Diskussionen meiner Manuskripte gab sie stets wertvolle Anregungen und neue Motivation. Meinem Zweitbetreuer Thorsten Bonacker danke ich für seinen kritischen Blick und die theoretischen Impulse. Mein Dank geht außerdem an meine Eltern, die immer an mich geglaubt haben, und an Sam und Ortrun, die mich durch diese Zeit begleitet haben. Und nicht zuletzt danke ich meinen Freund*innen und meinem Bruder Jonas für ihre Unterstützung und dafür, dass sie mein Sicherheitsnetz waren, wenn ich mit den Bürgerwehren auf Patrouille war.

Nina Bust-BartelsBerlin, Februar 2021

Einleitung

Im Herbst 2018 ziehen 15 Rechtsextreme1 durch Chemnitz. Sie bedrohen und beleidigen Passant*innen und fordern die Ausweise von rassifizierten2 Personen. Sie nennen sich Bürgerwehr.3 Im Sommer 2019 fordert der Kreisvorsitzende des Verbands Wohneigentum in der Bayerischen Stadt Selb mehr Polizeipräsenz zum Schutz vor Wohnungseinbrüchen und warnt vor der Gründung einer Bürgerwehr.4 Im Bundestagswahlkampf 2017 begleitet AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel eine Bürgerwehr der AfD auf Patrouille.5 Die Bandbreite ziviler Gruppen, die die Straßen patrouillieren, weil sie für Sicherheit und Ordnung sorgen wollen, ist groß.

Bürgerwehren in Deutschland sind zwar keinesfalls ein neues Phänomen – bereits in den 1990er Jahren entstand diese »neue soziale Sicherheitsbewegung«6 –, doch kam es in der Zeit nach den Ereignissen der Silvesternacht 2015/16 am Kölner Hauptbahnhof und der anschließenden medialen Debatte über Geflüchtete7 zu einem sprunghaften Anstieg an Bürgerwehrgründungen im gesamten Bundesgebiet. Viele der seither gegründeten Bürgerwehren knüpfen an das rassistische Bild des »übergriffigen Fremden«8 an und behaupten (Weiße9 deutsche) Frauen schützen zu müssen.

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass Bürgerwehren zunehmend ein politisches Mittel darstellen, um Forderungen Nachdruck zu verleihen und Kontrolle im öffentlichen Raum auszuüben. So kündigte die Bürgerbewegung Pro Chemnitz die Gründung von Bürgerwehren an, nachdem das Interesse an den von ihr veranstalteten Demonstrationen abflaute.10 Und die NPD startete 2018 eine Kampagne zur Gründung von Bürgerwehren, die mittlerweile an 58 Orten den öffentlichen Raum patrouillieren (Stand Juli 2019).11 Auch medial und politisch bekommt das Phänomen größere Beachtung. Heiko Maas warnte 2016 in seiner Funktion als Bundesjustizminister vor Bürgerwehren12, und auch die Sicherheitsbehörden sind zunehmend alarmiert13.

Dennoch existiert – wohl auch wegen ihres spontanen Auftretens und ihres klandestinen Agierens – wenig Forschung über zeitgenössische Bürgerwehren in Deutschland. Weil Bürgerwehren ein interdisziplinärer Forschungsgegenstand sind, gibt es sowohl in Rechtswissenschaft als auch in Soziologie und Politikwissenschaft einige wenige Überblicksstudien, aber keine qualitative Betrachtung einzelner Bürgerwehren, die sich seit der »Migrationskrise«14 2015/16 gründeten. Außerdem existieren insgesamt nur wenige Erkenntnisse über die persönliche und politische Motivation der Mitglieder, Bürgerwehren zu gründen. Insbesondere besteht daher Bedarf an qualitativen Analysen,15 die sich mit der politischen Programmatik von Bürgerwehren in Deutschland befassen16. Hier setzt die vorliegende Studie an und untersucht in qualitativen Einzelfallstudien drei Bürgerwehren, die sich seit 2016 gegründet haben.

Bürgerwehren sind Akteure der zivilen Sicherheit. Sie gründen sich aufgrund von Unsicherheiten mit dem Ziel, im lokalen Umfeld Sicherheit herzustellen. Ängste sind jedoch keine anthropologischen Konstanten. Die Art und Weise, wie Angst organisiert ist, unterscheidet sich von Gesellschaft zu Gesellschaft17 und auch innerhalb einer Gesellschaft. Die von den Bürgerwehren wahrgenommenen Unsicherheiten sind also nicht gleichzusetzen mit der materiellen Sicherheitslage vor Ort.

Für die Untersuchung wird daher der konstruktivistische Ansatz der Theorie der Versicherheitlichung (Kopenhagener Schule) gewählt. In diesem theoretischen Ansatz ist Sicherheit kein positives Gut, sondern Ergebnis eines sozialen Prozesses, der empirisch beschreibbar ist. Die Theorie der Versicherheitlichung setzt jedoch auf der Makroebene an und findet insbesondere Anwendung im Bereich der internationalen Beziehungen.

Bürgerwehren sind ein Phänomen der Mikroebene. Sie treten in lokalen Kontexten auf, und auch wenn sie in ähnlicher Art und Weise vielerorts auftreten, sind sie doch eingebunden in lokale Strukturen und entstehen aus ihnen heraus. Sie sind jedoch nicht isoliert von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf der Makroebene zu betrachten. Diese Studie zeigt, dass die Betrachtung von lokalen Phänomenen als Mikroversicherheitlichungen, die ihrerseits wieder Auswirkungen auf der in der Theorie bereits angelegten Makroebene haben, sich für die Theorie der Versicherheitlichung als produktiv erweist.

Um Bürgerwehr-Patrouillen als Phänomene der zivilen Sicherheit zu untersuchen, liegt der Studie die Fragestellung zugrunde: Sind Bürgerwehren Akteure im Versicherheitlichungsprozess? Daran anschließend ergibt sich die Unterfragestellung: Welche politischen und persönlichen Motivationen bewegen die Mitglieder, sich einer Bürgerwehr anzuschließen? Um das diverse Phänomen strukturiert zu erfassen und eine repräsentative Fallauswahl treffen zu können, werden die Bürgerwehren in Deutschland in drei Typen unterteilt, von denen daraufhin je eine Bürgerwehr in einer qualitativen Einzelfallstudie untersucht wird. Auch die Wahl einer ethnographischen Methodik spiegelt dabei die analytische Verbindung von Mikro- und Makroebene wider. So werden die ausgewählten Bürgerwehren mittels teilnehmender Beobachtungen dicht beschrieben, denn auch eine »Dichte Beschreibung«18 nach Geertz springt bei der Analyse der Mikroebene immer wieder auf die Makroebene und zurück.

Die Mitglieder der Bürgerwehr treten in erster Linie durch ihre physische Präsenz im öffentlichen Raum an die Öffentlichkeit. Durch den Akt der Patrouille positionieren sie sich im Sicherheitsdiskurs. Ohne dass sie dies verbalisieren müssen, äußern sie so ihre Kritik an der Polizeiarbeit und an den politischen Entscheidungsträger*innen. In Gesprächen mit der lokalen Bevölkerung, durch Äußerungen in Medienberichten oder in sozialen Netzwerken fügen sie der Handlungsebene eine Textebene hinzu. Der Bezug zum gesellschaftlichen Sicherheitsdiskurs ist sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Textebene immer präsent.

Ergänzt wird die teilnehmende Beobachtung der Patrouillen durch Leitfaden-strukturierte Interviews, die einen Zugang zu den Legitimationsdiskursen der Bürgerwehren ermöglichen. Die Untersuchung der Legitimationen, die die Bürgerwehren für ihre Patrouillen anführen, ist notwendig, um die persönlichen und politischen Motive zu beschreiben, die hinter der Gründung stehen.

Bürgerwehren versuchen sich als Sicherheitsakteure zu etablieren und in diesem Feld durch Profilierung Autorität zu erlangen. Autorität jedoch muss erzeugt werden. Sofsky und Paris beschreiben in ihrer Studie »Figurationen sozialer Macht« die »Selbsterzeugung von Autorität«. Zunächst muss hierbei eine Krise akuten Autoritätsbedarf aufdecken: »Ist keine Krise in Sicht, so muß man sie herbeiführen, herbeireden, und sich zugleich als Ausweg offerieren.«19 Die Legitimationsstrategien von Bürgerwehren sind also relevant, um zu untersuchen, wie die Bürgerwehren sich als Akteure der Versicherheitlichung etablieren.

Um Bürgerwehren als Akteure im Versicherheitlichungsprozess zu beschreiben, muss zunächst untersucht werden, welche Unsicherheitswahrnehmungen die einzelnen Bürgerwehren in ihren Legitimationsdiskursen als Begründung für ihre Patrouillen anführen. Dabei stehen Bürgerwehen jedoch in einem Wechselverhältnis mit der lokalen Bevölkerung und wirken mit ihrem Agieren auf die Unsicherheitswahrnehmungen in der Gesellschaft zurück. Die Mitglieder der Bürgerwehren sind mehrheitlich männlich und bieten in ihrem Auftreten im öffentlichen Raum als Bürgerwehr Möglichkeiten für eine Stabilisierung fragiler Männlichkeitsidentitäten. Um diese Dimension abzubilden, untersucht diese Studie, welche Auswirkungen die soziale Kategorie Geschlecht auf den Versicherheitlichungsprozess hat und inwiefern sich eine Berücksichtigung der Vergeschlechtlichung von Versicherheitlichungsprozessen für die Theorie der Versicherheitlichung im Allgemeinen als produktiv erweisen könnte.

Nicht zuletzt kritisieren Bürgerwehren mit dem Akt ihrer Gründung die Effektivität der staatlichen Sicherheitsorgane und stellen das staatliche Gewaltmonopol infrage. Um die Auswirkungen des Versicherheitlichungsprozesses zu fassen, werden politische Ansichten der Bürgerwehren dahingehend untersucht, wie sie ihr Agieren im öffentlichen Raum beeinflussen und welche Strategien der Machtgewinnung durch Raum- und Normalisierungsgewinne20 sich dahinter verbergen.

Zusammenfassend ergeben sich also fünf Untersuchungshypothesen, die der vorliegenden Studie vorangestellt sind und die den Weg zu einer Beantwortung der Fragestellung strukturieren.

•Bürgerwehren entstehen aufgrund von Unsicherheitswahrnehmungen in der Gesellschaft.

•Bürgerwehren verstärken Unsicherheitswahrnehmungen in der Gesellschaft.

•Bürgerwehren sind ein Mechanismus zur Stabilisierung fragiler Identitäten marginalisierter Männlichkeit.

•Bürgerwehren stellen den Staat als Sicherheitsgaranten infrage und untergraben das Gewaltmonopol des Staates.

•Bürgerwehren sind eine Strategie rechtsextremer Akteure zur Erzielung von Raum- und Normalitätsgewinnen.

1Diese Studie verwendet den Begriff Rechtsextremismus, um Menschen zu beschreiben, deren Denken von rassistischen und/oder völkischen Ideologien geprägt ist. Die Bezeichnung extrem weist dabei auf die inhaltlich politische Ausrichtung der Personen hin und soll explizit nicht heißen, dass dieses Denken nur an gesellschaftlichen Rändern vorhanden ist. Vgl. hierzu die Mitte-Studien der FES. Online unter: https://www.fes.de/forum-berlin/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie(Zugriff am 2.1.2021).

2Als rassifizierte Personen werden in dieser Studie Menschen bezeichnet, die aufgrund einer sozialen Zuschreibung einer Gruppe zugeordnet werden, die einer hierarchischen Bewertung ausgesetzt ist. Rassifizierung bezieht sich auf den Prozess, in dem rassistisches Wissen erzeugt wird, sowie auf die Struktur, in der es entsteht. Vgl. hierzu das Glossar des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit. Online unter:https://www.idaev.de/recherchetools/glossar/?no_cache=1(Zugriff am 2.1.2021).

3Vgl. Spiegel Online vom 15.09.2018: »Bürgerwehr«-Mitglieder in Chemnitz verhaftet. Online unter:https://www.spiegel.de/panorama/justiz/chemnitz-sechs-buergerwehr-mitglieder-festgenommen-a-1228311.html(Zugriff am 2.1.2021).

4Vgl. Frankenpost Online vom 30. 09. 2019:https://www.frankenpost.de/region/selb/Kreisvorsitzender-kritisiert-Polizei-scharf;art2457,6929906(Zugriff am 2.1.2021).

5Vgl. Tweet der AfD Schleswig-Holstein vom 28.04.2017https://twitter.com/afd_lv_sh/status/857927223873089536(Zugriff am 2.1.2021).

6Vgl. Hitzler, Ronald (1993): Bürger machen mobil. Über die neue soziale Sicherheits-Bewegung. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 3-4. S. 16-27.

7In dieser Studie werden Menschen, die aus einer Not heraus ihre Heimaten verlassen mussten, als Geflüchtete bezeichnet. Auf eine Verwendung des Begriffs »Flüchtling« wird verzichtet, weil dieser durch seine Endsilbe «-ling » die Passivität der bezeichneten Menschen verstärkt. Zwar lässt sich auch durch eine Verwendung des Begriffs »Geflüchtete« die Stigmatisierung und Fremdbezeichnung nicht umgehen, er stellt jedoch den Versuch dar, die Handlungsmacht bei den geflüchteten Menschen begrifflich abzubilden. Vgl. hierzu: Jöris, Lisa (2015): Wider den Begriff »Flüchtling« – Diskussionspapier. Zu den Hintergründen eines scheinbar neutralen Begriffes. Heinrich Böll Stiftung. Online unter:www.boell-sachsen-anhalt.de/2015/10/wider-den-begriff-fluechtling-diskussionspapier/(Zugriff am 2.1.2021).

8Vgl. hierzu Antonio Amadeu Stiftung (2016): Das Bild des »übergriffigen Fremden«: Warum ist es ein Mythos? S. 4f. Online unter:https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/gender_und_rechtsextremismus.pdf(Zugriff am 2.1.2021).

9Die Bezeichnungen »Schwarz« und »Weiß« werden in dieser Studie großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich bei der Zuordnung nicht um eine biologische Kategorie handelt, die zwischen Hautfarben unterscheidet, sondern um eine soziale.

10Vgl. Häfner, Sandra (2019): Pro Chemnitz kündigt Bürgerstreife für Januar an. In: Freie Presse Online.https://www.freiepresse.de/chemnitz/pro-chemnitz-kuendigt-buergerstreife-fuer-januar-an-artikel10408817(Zugriff am 2.1.2021).

11Siehe:www.schutzzonen.desowie EMail des NPD-Vorsitzenden Frank Franz im Anfang der Studie. (Zugriff am 2.1.2021).

12Vgl. Saarbrücker Zeitung Online: Maas warnt vor Bürgerwehren. Online unterhttps://www.saarbruecker-zeitung.de/nachrichten/politik/inland/maas-warnt-vor-buergerwehren_aid-1652023(Zugriff am 2.1.2021).

13Vgl. Spilker, Alex (2019): Für Fremdenhass und gegen die Demokratie. Staatsschützer in Sorge vor Bürgerwehren. In: Focus Online vom 26.09.2019. Online unter:https://www.focus.de/politik/deutschland/zahl-radikaler-buergerwehren-steigt-fuer-fremdenhass-und-gegen-die-demokratie-staatsschuetzer-in-sorge-vor-buergerwehren_id_11183850.html(Zugriff am 2.1.2021).

14Der Begriff der Migrationskrise ist ein politisch aufgeladener Begriff. Er wird in dieser Studie jedoch verwendet, um die Krisenhaftigkeit des gesellschaftlichen, medialen und politischen Umgangs mit den Migrationsbewegungen 2015/16 zu benennen.

15Vgl. Schmidt-Lux, Thomas (2018): Bürgerwehren als kollektive Akteure im Feld von Sicherheit und Recht. In: ZeFKo 7 Jg. (2018), Heft 1. S. 158.

16Vgl. Quent, Matthias (2016): Bürgerwehren. Hilfssheriffs oder inszenierte Provokation? Studie für die Amadeus Antonio Stiftung. Cottbus: Druckzone. S. 18.

17Vgl. Schiffbauer, Wolfgang (1995): Europäische Ängste – Metaphern und Phantasmen im Diskurs der Neuen Rechten in Europa. In: Kaschuba, Wolfgang (Hg.): Kulturen – Identitäten – Diskurse. Perspektiven europäischer Ethnologie. Berlin: Akademie Verlag. S. 44.

18Vgl. hierzu: Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

19Sofsky, Wolfgang/Paris, Rainer (1991): Figurationen sozialer Macht. Opladen: Leske + Budrich. S. 79.

20Der Ansatz von Machtgewinnen durch Raum- und Normalisierungsgewinne geht zurück auf Wilhelm Heitmeyer. Vgl. hierzu Kapitel 1.2.2.2.

I. Grundlagen

1.Zum Stand der Forschung

1.1Was sind Bürgerwehren?

1.1.1Historische Bürgerwehren: Zum Wandel des Begriffs »Bürgerwehr«

Der Begriff »Bürgerwehr« geht im Deutschen zurück auf die im 18. und 19. Jahrhundert gegründeten militärischen Stadtgarden. Damals galt eine Waffenpflicht der Bürger zur Verteidigung ihrer Stadt, und daraus entstanden vielerorts Verteidigungseinrichtungen, die sich Bürgerwehr nannten.1 Mit der Entwicklung stehender Heere wurden die Bürgerwehren jedoch überflüssig. Heute existieren diese historischen Bürgerwehren nur noch als folkloristische Einrichtungen, ohne wirkliche sicherheitspolitische Bedeutung.2

In Wörterbüchern findet sich bis heute die ursprüngliche Definition als »Gesamtheit der von Bürgern einer Gemeinde gebildeten bewaffneten Einheiten«.3 Die Bedeutung des Begriffs »Bürgerwehr« hat sich jedoch im Vergleich dieser ursprünglichen Bedeutung zu dem, was heute in der gesellschaftlichen Debatte unter Bürgerwehren verstanden wird, stark verändert.4 In der heutigen Bedeutung ist lediglich der Selbstschutz durch Privatpersonen erhalten geblieben.

Im Gegensatz zu den zeitgenössischen Bürgerwehren sind die historischen Bürgerwehren aus dem 19. Jahrhundert wissenschaftlich gut erfasst.5 Insbesondere zur Rolle der Bürgerwehren in der Märzrevolution finden sich zahlreiche Arbeiten.6 Mit dem Übergang ins 20. Jahrhundert verändert sich die Bedeutung des Begriffs »Bürgerwehren«. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es nichtstaatliche Gewaltgruppen, die sich als Bürgerwehren bezeichneten. So waren es Mitglieder der Wilmersdorfer Bürgerwehr, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht festnahmen und sie den Freikorps übergaben, die sie ermordeten.7

Diese faschistischen Gruppen, die sich im frühen 20. Jahrhundert als Bürgerwehren bezeichnen, sind Symptom einer polarisierten politischen Lage, in der der Straßenraum zum Schauplatz politischer Kämpfe wurde. Kommunistische und faschistische Bewegungen konkurrierten um die Vorherrschaft im öffentlichen Raum. Dieser sollte nicht nur visuell mit Plakaten und Flaggen beherrscht werden, sondern auch durch (uniformierte) physische Präsenz. Ab 1933 wurde der Straßenraum von der NSDAP strategisch zur Repräsentation und Visualisierung von Macht verwendet.8

1.1.2Zeitgenössische Bürgerwehren in Deutschland – Eine Definition

In den 1990er Jahren gründeten sich an zahlreichen Orten Bürgerinitiativen, die sich für Sicherheit engagierten. Insbesondere Ronald Hitzler analysierte dieses Phänomen9 und beschreibt diese Bürgerwehren als »neue soziale Sicherheits-Bewegung«.10 Den mentalen Nährboden für diese Gruppierungen stellt nach Hitzler ein in den 1990ern verstärkt von der Politik geäußerter Appell an die Bürger*innen dar, Mitverantwortung für die öffentliche Sicherheit zu übernehmen und »damit eine ›Kultur des Hinsehens‹ wiederzubeleben wider die in modernen Gesellschaften angeblich grassierende ›Unkultur des Wegschauens‹«11

Parallel zu diesen selbstorganisierten Gruppen fand in den 1990er Jahren in einigen Bundesländern eine Einbindung von Bürger*innen in die Polizeiarbeit statt. Unter den Bezeichnungen »Sicherheitspartnerschaften« (Brandenburg), »Sicherheitswacht« (Bayern und Sachsen) und »Freiwilliger Polizeidienst« (Baden-Württemberg und Hessen),12 werden Bürger*innen bis heute von den lokalen Behörden ausgesucht und mit hilfspolizeilichen Aufgaben betraut. Sie werden geschult und bekommen teilweise eine Aufwandsentschädigung für ihre Tätigkeiten.

Auf einer rechtlichen Ebene fußt das Engagement der Bürger*innen auf dem sogenannten Jedermannsrecht, in § 127 der Strafprozessordnung als »Vorläufige Festnahme« festgehalten«, nach dem jede*r Bürger*in, wenn er oder sie ein Verbrechen beobachtet, das Recht hat, einen Verdächtigen so lange festzuhalten, bis die Polizei kommt.

»Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen.«13

Während die Befugnisse der unabhängig vom Staat organisierten Gruppen sowie die der in Sicherheitspartnerschaften eingebundenen Bürger*innen nicht über das Jedermannsrecht hinausgehen, sieht das Konzept der Bayerischen Sicherheitswacht darüber hinaus weitere Handlungsmöglichkeiten vor. Hier haben die Bürger*innen das Recht, Leute anzuhalten, Personalien festzustellen und Platzverweise zu erteilen.14

In den letzten Jahren, insbesondere seit 2016, ist eine neue Gründungswelle von Bürgerwehren zu verzeichnen. Diese Gruppen bezeichnen sich selber bei weitem nicht alle als Bürgerwehren, auch die Bezeichnungen »Bürgerstreife« oder »Bürgerinitiative« sind verbreitet. Sie sind in der Regel nicht in Sicherheitspartnerschaften eingebunden und unterstehen nicht der Polizei. Die Anzahl dieser neuen Bürgerwehren ist schwer zu schätzen. Es existieren keine offiziellen Erhebungen staatlicher Behörden. Thomas Schmidt-Lux geht davon aus, dass es im Frühjahr 2016 zwischen 150 und 200 Bürgerwehren oder bürgerwehrähnliche Gruppen gab.15 Anika Hoffmann erfasst in ihrer statistischen Erhebung Facebook-Gruppen von Bürgerwehren und verzeichnet am 01.12.2016 456 Facebook-Gruppen mit 17.482 Mitgliedern, die unter dem Namen »Bürgerwehr« online abrufbar sind.16 Diese Erhebung bezieht sich jedoch nur auf diejenigen Gruppen, die das Wort »Bürgerwehr« für sich verwenden und in Facebook-Gruppen vernetzt sind. Einige dieser Gruppen existieren als reine Online-Gruppen und treffen sich nicht im öffentlichen Raum, andere agieren im öffentlichen Raum, ohne sich auf Facebook in einer Gruppe mit dem Begriff »Bürgerwehr« im Namen zu vernetzen. Sie verabreden sich beispielsweise über Messengerdienste. Dies trifft auf zwei der in dieser Studie untersuchten Bürgerwehren zu.

Die große Bandbreite der Gruppierungen macht also eine Definition dessen, was in dieser Studie unter Bürgerwehren verstanden werden soll, notwendig. In der Forschungsliteratur existieren unterschiedliche Definitionen zeitgenössischer Bürgerwehren. Thomas Schmidt-Lux beschreibt drei konstante Elemente von Bürgerwehren: »Ihr Charakter als nicht-staatlicher Akteur, der Einsatz oder mindestens die Androhung von Gewalt und schließlich ihr Anspruch auf Gewährleistung von Sicherheit und sozialer Ordnung.«17 Er unterscheidet darüber hinaus verschiedene Typen von Bürgerwehren anhand ihres Verhältnisses zum Staat (vgl. Kapitel 5).

Anika Hofmann beschreibt Bürgerwehren aus einer kriminologischen Perspektive. Ihrer Definition nach sind Bürgerwehren »ein in der Regel auf Zeit angelegter Zusammenschluss privater Personen, die in (selbst)organisierter Form die Über- oder Bewachung eines bestimmten abgegrenzten öffentlichen Raumes durch demonstrative Wachsamkeit zum Zwecke des (präventiven) Schutzes vor sozial unerwünschtem Verhalten anderer Personen für sich beanspruchen oder übernehmen.«18

Diese Definition erfasst das Phänomen zeitgenössischer Bürgerwehren sehr präzise. Jedoch enthält es keine inhaltliche Bestimmung der Motivationen der Mitglieder für das Auftreten als Bürgerwehr. Diese sind jedoch zentral, um Bürgerwehren von anderen Phänomenen privater Selbsthilfe zu unterscheiden.

So stellen beispielsweise auch Antifa-Gruppen das Gewaltmonopol des Staates infrage. Aber die Präsenz lokal agierender Antifa-Gruppen im öffentlichen Raum zielt nicht darauf ab, die eigenen Privilegien zu sichern; vielmehr sollen dieselben Privilegien auch für von Rassismus betroffene Personen gelten – für Personen, die sich in sogenannten »National befreiten Zonen«, in denen rechtsextreme Gruppen den öffentlichen Raum kontrollieren, nicht frei bewegen können.

»Antifa-Praxis (zielt) darauf ab, ähnlich verfassten Akteuren – Angehörigen rechter Straßenkulturen, Neonazis, aber auch Initiativen gegen Flüchtlingsheime – Grenzen zu setzen, ihnen den öffentlichen Raum streitig zu machen und Druck auf sie aufzubauen.«19

Nils Schuhmacher verweist hier auf die Unterscheidung zwischen Militanz und Gewalt. Bei Antifa-Gruppen gehört zwar ein militantes Auftreten, im Sinne einer kämpferischen Grundhaltung, zur Identität. Gegen Personen gerichtete Gewalt stellt aber kein notwendiges Mittel dar und ist kein Identitätsmerkmal.20

In diesem Zusammenhang ist außerdem die Argumentation von Christoph Butterwege relevant. Demnach verkenne eine Gleichsetzung rechts- und linksextremistischer Gruppen, dass die Gefahr für die parlamentarische Demokratie häufiger von den Eliten ausgehe als von den politischen Rändern. Die Gleichsetzung von inhaltlich völlig unterschiedlichen Akteursgruppen ignoriere darüber hinaus die Motive und Interessen ihrer Mitglieder, die jedoch zentral seien für das Verständnis der Gruppen.21

Bürgerwehren stellen das Gewaltmonopol des Staates infrage. Trotzdem stabilisieren sie im Ergebnis die Machtverhältnisse zwischen den sozialen Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Hinter dem Auftreten als Bürgerwehr steht der Versuch, eigene Privilegien zu verteidigen.22 Um eine klare Definition von Bürgerwehren zu erhalten, wird hier daher die Definition von Hoffmann um die Motivationen der Mitglieder für ein Auftreten als Bürgerwehr ergänzt. Daraus ergibt sich nun folgende Definition für Bürgerwehren:23

Eine Bürgerwehr ist ein Zusammenschluss privater Personen, die auf eine wahrgenommene Unsicherheit reagieren und im öffentlichen Raum demonstrativ Präsenz zeigen, um deviates Verhalten anderer Bürger*innen zu sanktionieren und eigene Privilegien zu verteidigen.

Das Verhältnis zum Staat, das in der Definition nach Schmidt-Lux so zentral ist, findet hier nur indirekt Eingang in die Definition. So sind die Mitglieder der Bürgerwehren private Personen, also keine staatlichen Akteure. Darüber hinaus sind wahrgenommene Unsicherheiten als Grundlage für die Gründung von Bürgerwehren Teil der Definition. Bürgerwehren orientieren sich nicht an den materiellen Indikatoren von Sicherheit; eine geringe Polizeipräsenz oder ein Fehlen staatlicher Strukturen reicht nicht für eine qualifizierte Definition aus, wie insbesondere die in dieser Studie untersuchte Bürgerwehr in Berlin Mitte zeigt.

Schließlich klammert diese Definition Sicherheitspartnerschaften und andere Formen polizeilich organisierten Bürgerengagements für Sicherheit aus. Denn diese Gruppen unterstehen in ihrer Funktion als Sicherheitsakteure dem Staat, sie sind an seine Anweisungen gebunden und sind keine Privatpersonen, die sich eigenmächtig für die Sicherheit zusammenschließen.

1.1.3Bürgerwehrähnliche Phänomene in anderen Ländern

Das Phänomen der Bürgerwehren ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Sie lassen sich fast überall finden: In den USA, in Russland und insbesondere auch in Staaten mit schwachem staatlichen Gewaltmonopol, so zum Beispiel gegenwärtig in Mexiko.24 Auch gründen sich in europäischen Staaten als Reaktion auf die jüngsten Migrationsbewegungen verstärkt rechte Bürgerwehren.25

Die internationale Forschungsdebatte bezieht sich entweder auf Vigilantismus in Räumen begrenzter Staatlichkeit oder auf den US-amerikanischen Kontext.26 Einen guten Überblick über Bürgerwehr-ähnliche Bewegungen auf der ganzen Welt gibt der Band »Global Vigilantes«, herausgegeben von David Pratten und Atreyee Sen.27 Die Beiträge des Bandes zeigen eine enorme Bandbreite vigilanter Aktivitäten auf der ganzen Welt. Die jeweiligen sozialen und politischen Hintergründe, die zum Auftreten von Vigilantismus führen, variieren zwischen den einzelnen Ländern ebenso wie die Funktion, die vigilante Gruppen in der lokalen Bevölkerung spielen. Das macht vergleichende Studien der Phänomene in den einzelnen Ländern schwierig, was auch die geringe Anzahl international vergleichender Analysen zu erklären vermag. Ray Abrahams plädiert daher für eine Verbindung der Herangehensweisen.28 Denn Vigilanten agieren mittlerweile über nationale Grenzen hinweg: Die Bürgerwehren an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze beispielsweise wirken mit ihren Aktionen sowohl auf die mexikanische als auch auf die US-amerikanische Gesellschaft und Politik.29 Roxanne Doty analysiert diese Civilian Border Patrols mithilfe der Copenhagen School of Security und beschreibt Grenzpatrouillen durch Bürger*innen als inhärent globales Phänomen:

»Border vigilantes like the Minutemen make it clear that this is not simply a local phenome non, but rather is inextricably linked to the global.«30

1.2Bürgerwehren als interdisziplinärer Forschungsgegenstand

Nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/16 am Kölner Hauptbahnhof und der darauffolgenden medialen Debatte gründeten sich in ganz Deutschland Bürgerwehren. Wie viele genau, ist schwer zu sagen, aber alleine in Niedersachsen gründeten sich 30 Bürgerwehren innerhalb weniger Wochen.31 Die Google-Suchanfragen zu Bürgerwehren schnellten in die Höhe (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Google-Suchanfragen zum Begriff »Bürgerwehren«

Quelle: Googletrends: https://trends.google.de/trends/explore?date=2013-07-01%202020-12-15&geo=DE&q=B %C3 %BCrgerwehren (Zugriff am 16.12.2020)

Trotz der zahlreichen Neugründungen seit 2016 und der medialen Aufmerksamkeit gibt es relativ wenige wissenschaftliche Beiträge zum Thema.32 Da Bürgerwehren ein interdisziplinärer Forschungsgegenstand sind, wird im folgenden Überblick neben politikwissenschaftlichen Quellen auch auf Beiträge aus der Soziologie, Kriminologie und den Kulturwissenschaften Bezug genommen.

Bürgerwehren werden in der Forschungsliteratur auf zwei Arten eingeordnet: Einerseits im Rahmen der zivilen Sicherheitsforschung als community policing, andererseits in staatstheoretischen Debatten als Phänomen des Vigilantismus. Diese beiden Forschungsdebatten werden im Folgenden überblicksartig dargestellt. Anschließend wird dargelegt, wie sie mit Bezug auf den Forschungsgegenstand verschränkt werden können.

1.2.1Zum Stand der Zivilen Sicherheitsforschung

Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis.33 Sicherheitsgefühle sind jedoch kein Ausdruck objektiv vergleichbarer materieller Sicherheitslagen,34 sie sind ein subjektives Abwägen einer Beherrschbarkeit von kalkulierbaren Risiken.35 Diese Wahrnehmung von Risiken und unser Begriff von Sicherheit sind moderne Erscheinungen. Bevor sich Menschen als die Geschicke der Welt beeinflussende Wesen begriffen, war Sicherheit keine Größe, die es zu maximieren galt. Erst in der Moderne wurde Sicherheit zu einem Problem, für das Lösungen gefunden werden mussten. Dem modernen Nationalstaat kommt dabei die Rolle des Sicherheitsgaranten zu:36 Er hat die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Bürger*innen ermöglichen, sich sicher zu fühlen.37 Sicherheit ist zu einem Wert geworden.38 Und die Performanz des Staates wird an seiner Fähigkeit, Sicherheit zu gewährleisten, gemessen. Sicherheit ist zum »Goldstandard des Politischen« geworden.39

Mit zunehmendem technologischem Fortschritt und einer komplexeren Organisation von Gesellschaften veränderten sich die Risiken, sie verloren ihre Kalkulierbarkeit und Beherrschbarkeit. Damit verändern sich auch die Anforderungen an den Staat, Sicherheit zu schaffen. Wolfgang Bonß unterscheidet in Anlehnung an Ulrich Beck40 »alte« von »neuen« Risiken. »Alte« Risiken sind demnach kalkulierbar und in ihren Schadenserwartungen begrenzt, während »neue« Risiken hypothetisch bleiben, nicht vollständig bekannt sind und in ihren Schäden durch Geld nicht zu kompensieren sind. Beispiele für »neue« Risiken sind Kernkraftwerke oder Gentechnologie. Aus der Unkalkulierbarkeit »neuer« Risiken folgt eine Angst vor Gefahr, die die Risikofreudigkeit angesichts »alter« Risiken ersetzt.41 Das Forschungsgebiet »Zivile Sicherheit« bildet diesen Wandel ab.

»Gleich ob man terroristische oder kriminelle Bedrohungen, großtechnische Unfälle oder durch Naturereignisse hervorgerufene Katastrophen adressiert: Im Zeichen ziviler Sicherheit werden all diese Gefährdungen auf ein grundlegendes Problem zurückgeführt – nämlich auf die Verwundbarkeit des modernen Lebens.«42

Weil staatliche Sicherheitsstrategien auf vielschichtige Bedrohungsszenarien reagieren müssen, geht es in komplexen Gesellschaften nicht mehr nur um den Schutz einzelner Bürger*innen, sondern auch um die Sicherung von Versorgungs-, Verkehrs- und Informationsinfrastrukturen.43 Der Wandel der Risiken geht mit einem Wandel des (Un)Sicherheitsbewusstsein der Bürger*innen einher.44 Die zivile Sicherheitsforschung untersucht die Folgen dieses Wandels sowie die staatlichen und gesellschaftlichen Antworten auf neue Sicherheitsherausforderungen.45

Um einen Überblick über den Stand der zivilen Sicherheitsforschung zu geben, wird zunächst der Wandel der (Un)Sicherheitswahrnehmungen von Bürgerinnen und Bürgern beschrieben. Anschließend wird der Stand der Debatte bezüglich der gesellschaftlichen und institutionellen Folgen dieses Wandels dargelegt. Hier sind auf gesellschaftlicher Ebene insbesondere ein Wandel der Sicherheitskultur zu nennen sowie auf institutioneller Ebene eine Privatisierung von Sicherheit. Auch wenn es bisher kaum Studien gibt, die das Phänomen Bürgerwehren im Kontext ziviler Sicherheit analysieren, so ist dieses Forschungsfeld zentral für eine Verortung des Forschungsgegenstandes in der wissenschaftlichen Debatte. Bürgerwehren reagieren auf Unsicherheitsgefühle und lassen sich als Phänomen privater Sicherheit begreifen. Außerdem finden Bürgerwehren als Form des Community Policing am Rande Eingang in die Debatte – diese Studien beziehen sich jedoch auf ältere Beispiele und berücksichtigen nicht die aktuellen Gründungen seit 2016.

1.2.1.1(Un)Sicherheitswahrnehmungen im Wandel

Der Beschreibung von Unsicherheitswahrnehmungen liegt die These zugrunde, dass sich eine gefühlte Sicherheit der Bürger*innen von der tatsächlichen Viktimisierungswahrscheinlichkeit unterscheidet.46 Generell ist eine Unterscheidung zwischen »objektiver« Unsicherheit und gefühlter Unsicherheit irreführend, suggeriert sie doch eine objektive Messbarkeit von Sicherheit.47 Natürlich muss auf den materiellen Gehalt von Unsicherheitswahrnehmungen verwiesen werden, doch bei der Beschreibung von materiellen Grundlagen von (Un)Sicherheitsgefühlen wird auf Daten verwiesen, die ihrerseits durch die Brille kulturell geprägter Bedrohungsvorstellungen betrachtet werden. Ronald Hitzler spricht daher von einer Inszenierung der Inneren Sicherheit, in der Bedrohung und Bedrohungsbewältigung ständig (re)konstruiert werden.48

Im subjektiven Sicherheitsempfinden werden Ängste psychologisch verarbeitet, und das geschieht nicht immer rational. Hirtenlehner zeigt beispielsweise in seinen Studien eine projektile Transformation von sozialen Ängsten, etwa von der Angst vor Arbeitslosigkeit in Kriminalitätsfurcht.49 Und Albert Scherr beschreibt eine Transformation von sozialen Ängsten in eine Angst vor unkontrollierter Einwanderung.50 Wacquant spricht in diesem Zusammenhang mit Bezug auf die USA von einem Übergang vom Sozialstaat zum Strafstaat.51

Die Auswirkungen neuer Bedrohungsszenarien lassen sich exemplarisch am Beispiel des internationalen Terrorismus beschreiben. Die Anschläge vom 11. September 2001 stellen diesbezüglich eine Zäsur dar. Die auch in Europa präsente Bedrohung durch den internationalen Terrorismus hat die Wahrnehmung von Sicherheit grundlegend verändert. So zeigt Baran in seiner Untersuchung des sicherheitspolitischen Diskurses 2001-2009,52 dass das vermeintlich hohe Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung angesichts neuer Bedrohungslagen wie dem internationalen Terrorismus zu einer Verflechtung von innerer und äußerer Sicherheit geführt hat und eine Normalisierung präventiver Sicherheitspolitiken53 ermöglichte.54

Die Auseinanderentwicklung von materiellen Sicherheitslagen und subjektiven Sicherheitsgefühlen am Beispiel des internationalen Terrorismus zeigt: Nicht die Unsicherheit ist größer geworden, sondern die subjektive Viktimisierungsangst.55 Und so beziehen sich einige Maßnahmen der Inneren Sicherheit, wie beispielsweise mehr Polizeipräsenz im öffentlichen Raum, stärker auf die Reduktion von Angst als auf die Vermeidung von Kriminalität selbst.56 Ein Beispiel hierfür ist die Ausrüstung von Polizeikräften mit Maschinenpistolen auf deutschen Weihnachtsmärkten im Anschluss an den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz 2016.

Wie sicher sich die Bevölkerung fühlt, hängt also auch davon ab, wie der Staat Sicherheitskommunikation57 organisiert. Zwar spielt die Angst vor Kriminalverbrechen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ängsten (Krankheit, Arbeitslosigkeit) eine eher untergeordnete Rolle.58 Studien bestätigen jedoch einen Einfluss der Wahrnehmung des Wohnumfelds auf die Kriminalitätsfurcht der Bürger*innen.59 Hier sind es gerade Polizeistreifen, die ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, ohne direkt zur Kriminalitätsreduktion beizutragen. In ihrer kriminologischen Analyse von Bürgerwehren im öffentlichen Raum beschreibt Annika Hoffmann Bürgerwehren als Ausdruck gescheiterter staatlicher Sicherheitskommunikation.60

Christopher Dase allerdings weist darauf hin, dass bei dem allgemein konstatierten Wandel des Sicherheitsempfindens durch neue Bedrohungen diese neuen Risiken gar nicht so neu sind, sondern vielmehr Ausdruck einer gewandelten Wahrnehmung politischer Probleme.61 Dieses Phänomen wird in der Forschungsdebatte als »Wandel der Sicherheitskultur« verhandelt.

1.2.1.2Sicherheitskultur in Deutschland

Sicherheitskultur bezeichnet die kulturelle Praxis, mit der in einer Gesellschaft Sicherheit produziert wird.62 Sicherheitskulturen, die die Abwesenheit von Unsicherheit als zu erstrebendes Ideal proklamieren, führen zu Stillstand und Regression. Anders wird eine Gesellschaft agieren, deren Sicherheitskultur – in dem Wissen, dass absolute Sicherheit nie möglich ist – ein bestimmtes Level an Unsicherheit akzeptiert. Herfried Münkler spricht hier von »Welten der Sicherheit« und »Kulturen des Risikos«.63

In komplexen Gesellschaften mit neuen Bedrohungslagen wird die kulturelle Praxis der Sicherheitsherstellung davon geprägt, dass sich die Bedrohungen nicht mehr in Ursache und Wirkung aufschlüsseln lassen. Stattdessen spricht man in der Sicherheitsforschung von »vernetzten Bedrohungsfeldern«.64 Diese stellen die Sicherheitspolitik von Staaten zunehmend vor Aufgaben, die sie nicht lösen kann,65 und es geraten Gefahren in den Blick, die noch keine sind. Diese präventive Wende lässt Anforderungen entstehen, proaktiv tätig zu werden.66 Zudem führt die »Globalisierung der Staatlichkeit« zu einem Verlust staatlicher Steuerungsfähigkeit, die sich im Sicherheitsdiskurs ablesen lässt. Gegen organisierte Kriminalität oder internationalen Terrorismus können einzelne Staaten kaum alleine etwas ausrichten.67

Christopher Daase beschreibt diesen Wandel der Sicherheitskultur in den letzten 50 Jahren und erkennt eine Denationalisierung des Sicherheitsbegriffs. Gesellschaftliche Gefahrenwahrnehmungen emanzipieren sich von staatlichen Sicherheitsbedürfnissen und fordern eine »proaktive Präventionspolitik und Daseinsvorsorge«68 – beispielsweise durch eine Intensivierung der sozialen Kontrolle im öffentlichen Raum durch Videoüberwachung.69

Dieser Wandel hat zahlreiche Folgen, die in der Forschungsdebatte durchaus kritisch diskutiert werden. Zunächst bringt dieses Setting eine Erweiterung des Sicherheitsbegriffs70 mit sich, der ein größeres Potential in sich birgt, politisierte Themen zu Sicherheitsthemen zu machen und somit außerordentliche Maßnahmen zu rechtfertigen71 (vgl. hierzu auch Kapitel 2). Diese Entwicklung wird in der Literatur kontrovers betrachtet. Einerseits müssen sich mit dem Aufkommen neuer Technologien auch die Befugnisse von Sicherheitsorganen ändern.72 Andererseits entsteht durch die Übertragung von Prinzipien eines erweiterten Sicherheitsbegriffs, der außenpolitischen Sicherheitspolitiken entstammt, auf die Innere Sicherheit die Gefahr, dass diese neuen Instrumente und Feindbilder die bisher im Politikfeld Innere Sicherheit vorherrschenden Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit untergraben.73

Singelstein und Stolle beschreiben in ihrer Kritik der Sicherheitsgesellschaft einen Wandel in der Ausübung von sozialer Kontrolle. Diese werde nicht mehr durch gesellschaftlich geteilte Normen hergestellt, sondern disziplinierend durch die »Verwaltung von Devarianz und einem Management von Risiken.« Die Autoren konstatieren in der Folge einen »Bedeutungsverlust von vormals zentralen gesellschaftlichen Prinzipien wie Demokratie, sozialer Gleichheit, individueller Freiheit und Selbstbestimmung.«74

Diese Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat arbeitet insbesondere der theoretische Ansatz der Versicherheitlichung heraus, der als Analyserahmen für diese Studie dient (vgl. Kapitel 2). So untersuchen Fischer und Masala den Wandel der Sicherheitskultur anhand von Versicherheitlichungssdynamiken im zivilen Luftverkehr.75 Matthias Schulze beschreibt mithilfe der Theorie der Versicherheitlichung die Konstruktion von Bedrohung im sicherheitspolitischen Diskurs in Deutschland.76

1.2.1.3Privatisierung von Sicherheit

Eine weitere Folge des Wandels in der Sicherheitskultur ist eine zunehmende Privatisierung von Sicherheit. In Deutschland sind mehr Menschen im privaten Sicherheitsgewerbe beschäftigt als bei der Polizei.77 Die Ursachen sind vielfältig: Einerseits führt eine »Differenzierung von Sicherheitsleistungen« sowie die oben bereits diskutierte präventive Wende in der Polizeiarbeit dazu, dass eine stärkere fachliche Spezialisierung notwendig geworden ist. Diese neuen Bedürfnisse werden teilweise an private Dienstleister ausgelagert.78 Andererseits sind private Sicherheitsdienste kostengünstiger,79 so werden sie mitunter vom Staat für Großveranstaltungen engagiert.80 Und schließlich ist durch das Entstehen von quasi privatisierten öffentlichen Räumen (Bahnhöfe, Shoppingmalls) eine neue Nachfrage nach privaten Sicherheitsdiensten entstanden.81

Die zunehmende Privatisierung von Sicherheit wird von den Autor*innen kritisch diskutiert. Daase und Deitelhoff beschreiben eine Veränderung der Anreizstruktur zur Herstellung von Sicherheit, wenn Sicherheit zur Ware wird. Eine in der Bevölkerung wahrgenommene Unsicherheit sichere den Unternehmen der Sicherheitsbranche Gewinne.82 Schneiker und Joachim weisen zudem auf die demokratietheoretischen Folgen der Sicherheitsprivatisierung hin. So erfolge die Gewährleistung von Sicherheit hier nicht demokratisch, sondern nur für diejenigen, die dafür bezahlen können.83 Sicherheit als Produkt widerspreche dem Grundgedanken des Rechtsstaats, der durch das Monopol auf legitime physische Gewaltanwendung bestehe.84 Wenn Sicherheit von einem öffentlichen zu einem privaten Gut wird, so gehe die Nicht-Ausschließbarkeit und die Nicht-Rivalität von Sicherheit verloren.85

Schon aufgrund des Begriffs denken wir bei einer Privatisierung von Sicherheit an private Unternehmen, die eine ehemals staatseigene Aufgabe übernehmen. Aber Privatisierung kann auch in einem ganz wörtlichen Sinne bedeuten, dass die Verantwortung für Sicherheit in die Hände von Einzelpersonen gelegt wird. So beschreibt Reinhard Kreissl, analog zum Rückzug des Staates aus der Verantwortung für soziale Sicherheit, den Rückzug des Staates aus der Gewährleistung von privater Sicherheit, beispielsweise bezüglich des Schutzes vor Einbrechern. Vom verantwortungsvollen Individuum werde erwartet, selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Kreissl verweist in diesem Zusammenhang auf Nachbarschaftswachen.86

Die Gründungen von Bürgerwehren lassen sich also als Privatisierung von Sicherheit beschreiben. In einer Gesellschaft, in der die Gewährleistung von Sicherheit ausgelagert wird, erscheint die Selbstorganisation von Bürger*innen als Reaktion auf unklare Zuständigkeitsverhältnisse.87

1.2.1.4Bürgerwehren als Community Policing

Neben Privatisierungstendenzen ist die partizipative Polizeiarbeit eine weitere Reaktion auf neue Unsicherheitswahrnehmungen und den Wandel der Sicherheitskultur. So übernehmen in Krisenzeiten Bürgerinnen und Bürger mitunter staatliche Aufgaben, beispielsweise bei Naturkatastrophen. Soziale Medien erleichtern hier die Mobilisierung und Koordinierung der Freiwilligen.88 Aber auch in der Herstellung alltäglicher Innerer Sicherheit werden zunehmend Bürger*innen eingebunden. In den USA beispielsweise ist unter dem Begriff Community Policing89 die Zusammenarbeit mit lokalen Nachbarschaftswachen verbreitet.90 Community Policing beschreibt eine Strategie der Kriminalitätsprävention auf lokaler Ebene, die auf eine »Aktivierung« von Bürger*innen setzt.91 Van Ooyen beschreibt für den deutschen Kontext Bürgerwehren als Form von Community Policing.92

Diesem Ansatz liegt ein ausgedehnter Polizeibegriff zugrunde, der auf eine gegenseitige soziale Kontrolle von Bürger*innen setzt. Das Konzept beinhaltet, dass der Staat und seine Institutionen hier die Kontrolle haben. Sie bestimmen die Art und Weise der Einbindung von Bürger*innen und setzen Grenzen. Dementsprechend beschreibt van Ooyen nur Bürgerwehren, die unter staatlicher Kontrolle stehen oder direkt von staatlichen Organen initiiert wurden: Hilfspolizist*innen sowie lokale Sicherheitspartnerschaften und die Sicherheitswacht in Bayern. Hubert Beste beschreibt außerdem lokale Präventionsräte, die im Sinne einer aufsuchenden Sozialarbeit Probleme ohne Einschalten der Polizei lösen sollen.93 Beide Autoren beschreiben die Bürgereinbindung kritisch, als »symbolische Politik, die fürsorgliche Betriebsamkeit und politische Verantwortlichkeit vortäuscht.«94 Van Oyen erkennt zwar eine Zunahme des subjektiven Sicherheitsgefühls durch Community Policing, warnt jedoch bei der Einbindung von Bürger*innen in die Polizeiarbeit vor einem »Freund-Feind«-Denken, das den »Anderen« als »Störer« definiert.95 Auch Braun bewertet die Einbindung von Laien in die Polizeiarbeit sehr kritisch. Anstatt durch »Billigpolizisten« bei der staatlichen Polizei Kräfte freiwerden zu lassen, sei eine ungleiche Verteilung von Sicherheit zu befürchten. Außerdem bestehe die Gefahr, dass die Bürger*innen ihre Befugnisse überschritten.96

Ronald Hitzler beschrieb bereits in den 1990er Jahren die Einbindung von Bürger*innen als Hilfspolizisten, um neuen Unsicherheitsgefühlen in der Bevölkerung zu begegnen. Hitzler zufolge ist diese Bürgerbeteiligung an der Herstellung Innerer Sicherheit jedoch kontraproduktiv:

»Die unter Polizeiaufsicht agierenden Bürgerwachten repräsentieren im wesentlichen also wohl den politischen Versuch, das (potentiell anarchistische) Phänomen präventivrepressiver Selbsthilfe in einer Art ›Mitverantwortung‹ des Bürgers für die Ordnungs- und Kontrollinteressen des Staates zu disziplinieren.«97

Hitzler analysiert die in den frühen 1990er Jahren auftretenden Bürgerwehren als neue soziale Sicherheitsbewegung98 und die in einigen Bundesländern entstehenden Sicherheitspartnerschaften bzw. Sicherheitswachten als Reaktion des Staates auf dieses Phänomen. So versuchten Polizei und Staat durch eine Einbindung von Bürger*innen in polizeiliche Sicherheitskonzepte das subjektive Sicherheitsgefühl in der Gesellschaft zu verbessern. Insbesondere, was die Gewährleitung von Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum angeht, bildeten polizeilich organisierte Bürgerstreifen eine kostengünstige Alternative zu einem Ausbau polizeilicher Präsenz.99 Wurtzbacher hingegen plädiert dafür, Staat und Bürger in Bezug auf das Politikfeld Sicherheit nicht als getrennte Seiten wahrzunehmen. Vielmehr werde Sicherheit als soziale Sphäre gesellschaftlich hergestellt. Bürgerschaftliches Engagement für Sicherheit ist nach Wurtzbacher Ausdruck der sozialen Gestaltbarkeit von Sicherheit und auf lokaler Ebene daher eine demokratische Partizipationsmöglichkeit.100

Im Forschungsfeld ziviler Sicherheit werden Bürgerwehren als Form des Community Policing eingeordnet. Das greift jedoch nur für Bürgerwehren, die mit dem Staat zusammenarbeiten. Insbesondere Bürgerwehren, die sich in den letzten Jahren gründeten, kommen aufgrund ihrer politischen Ausrichtung mitunter nicht für den Staat als Sicherheitspartner infrage. Diese Bürgerwehren werden im Kontext des Vigilantismus analysiert. Staatstheoretisch formuliert, stellen sie das Monopol der legitimen Gewaltausübung des Staates infrage.

1.2.2Eine staatstheoretische Einordnung des Phänomens Bürgerwehren

In der Legitimation des modernen Nationalstaats diente Sicherheit den Theoretikern der Neuzeit als zentrales Motiv für die Bürger, staatliche Herrschaft zu akzeptieren.101 Die Fähigkeit des Staates, Sicherheit zu gewährleisten, ist das zentrale Merkmal, mit dem sich der moderne Nationalstaat gegenüber anderen politischen Organisationsformen durchsetzte.102 Sicherheit zu schaffen ist somit eine zentrale Größe, an der die Legitimation staatlicher Herrschaft gemessen wird. Überlegungen, die Legitimität als zentrale Ressource für moderne Nationalstaaten beschreiben, gehen auf Max Weber zurück. Nach Weber sucht jede Herrschaft, »den Glauben an ihre ›Legitimität‹ zu wecken und zu pflegen«.103 Dieser »Legitimitätsglaube« innerhalb der Gesellschaft ist das Fundament der Ordnung im modernen Nationalstaat.

Im modernen Nationalstaat hat der staatliche Verwaltungsapparat das Monopol auf die Ausübung des legitimen physischen Zwangs. Dieses staatliche Gewaltmonopol setzt voraus, dass der Herrschaftsapparat des Staates jegliche Ausübung der gewalttätigen Selbsthilfe zerschlägt.104 Dabei stellt privat ausgeübte Gewalt erst einmal nicht das staatliche Gewaltmonopol infrage. Wird sie zur Anzeige gebracht, wird die Gewaltausübung gemäß geltenden Rechts bestraft und bestätigt somit das staatliche Gewaltmonopol, anstatt es infrage zu stellen.105 Bürgerwehren hingegen proklamieren, das Recht durchsetzen zu wollen, weil der Staat in ihren Augen Lücken aufweist in der Aufrechterhaltung seiner Funktion als singulärer Sicherheitsgarant.

Dennoch unterscheidet sich die Macht, die Bürgerwehren ausüben, von staatlicher Macht. Heinrich Popitz versteht unter Herrschaft institutionalisierte Macht. Im Prozess der Institutionalisierung von Macht vollzieht sich eine Entpersonalisierung von Macht. Die Macht hängt nicht mehr an der Person, die sie ausübt, sondern wird stattdessen an eine soziale Position oder Funktion gekoppelt. Das unterscheidet staatliche Herrschaft von der Machtausübung durch vom Staat unabhängig agierende Akteure.106 Bürgerwehren reißen Macht an sich, ohne sie in legitimer Weise bekommen zu haben. Sie üben Macht aus, um Recht zu setzen.107 Der demokratische Rechtsstaat mit funktionierender Gewaltenteilung hingegen übt Macht aus, um Recht aufrechtzuerhalten.

Das ist jedoch eine idealtypische Beschreibung staatlicher Herrschaft. Gegenwärtig erleben wir eine Verschiebung von zwischenstaatlichen Konflikten hin zu einer »Globalisierung des Politischen« mit transnationalen Konfliktlinien. Das Ideal des Staats als ausübende Institution politischer Herrschaft erodiert.108 Hier zeigt sich, dass die Legitimität staatlicher Ordnung kein ein für alle Mal feststehender Zustand ist, sondern ein andauernder Prozess der Legitimitätsaufrechterhaltung. Bürgerwehren veranschaulichen diese Fragilität moderner sozialer Ordnungen.109

Im staatstheoretischen Diskurs werden Bürgerwehren als Phänomen des Vigilantismus betrachtet. Insbesondere dann, wenn Bürgerwehren (politisch motiviert) Gewalt ausüben, werden sie zudem als terroristische Gruppen und rechtsextreme Organisationsform begriffen. Um den staatstheoretischen Diskurs über Bürgerwehren abzubilden, wird daher nun zunächst der Forschungsstand zum Vigilantismus dargelegt. Anschließend werden Bürgerwehren als rechtsextreme Organisationsform zur strategischen Machtgewinnung durch Präsenz und Kontrolle im öffentlichen Raum diskutiert.

1.2.2.1Bürgerwehren als Phänomen des Vigilantismus

Die wenigen Studien, die es in Deutschland über zeitgenössische Bürgerwehren – die auch jenseits staatlicher Kontrolle agieren – gibt, analysieren das Phänomen als Vigilantismus.110 Insbesondere sind hier die Studien von Thomas Schmidt-Lux und Matthias Quent zu nennen.111 Des Weiteren hat Ronald Hitzler wie oben erwähnt die Einbindung von Bürgern in lokale Polizeiarbeit in den 1990er Jahren untersucht.112

Insgesamt gibt es wenig Forschung über das Phänomen und kaum theoretische Ansätze. Der erste Ansatz, der das Phänomen in den USA theoretisch zu fassen suchte, ist die ›Frontier‹-Theorie von Brown.113 Sie bezieht sich insbesondere auf die Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs und beschreibt Vigilantismus als ein Phänomen, das in Grenzregionen mit wenig staatlicher Kontrollmacht entsteht. Die Theorie erweist sich für die Erklärung spontaner Zusammenrottungen wie Lynchmobs als fruchtbar, kann jedoch nur begrenzt auf andere Regionen übertragen werden.

Eine andere Definition liefert Kowalewski. Er fasst unter Vigilantismus »Aktivitäten zur Unterdrückung von abweichendem Verhalten (Devianz) anderer Bürger seitens Privatpersonen«.114 Dabei kann das als abweichend wahrgenommene Verhalten drei Formen annehmen: kriminelle Devianz, kulturelle Devianz und politische Devianz. Sowohl die Vigilanten als auch die Devianten können individuell oder als Kollektive auftreten.115

Die »Theorie der Gegenbewegung« von Kowalewski erklärt Vigilantismus mit einer Gegenbewegung116 in Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen, die als Bedrohung für die eigene Lebensform empfunden werden und mittels vigilanter Aktivitäten zurückgedrängt werden sollen.117 Die An- oder Abwesenheit staatlicher Kontrolle in der Region, in der die Vigilanten agieren, hat in Kowalewskis Theorie keinen Einfluss auf das Verhalten der Vigilanten. Kowalewski bewertet Vigilantismus also nicht als Gegenbewegung zum Staat – im Gegenteil: Staatliche Akteure tolerieren oder unterstützen vigilante Gruppen mitunter, weil sie ein kostengünstiges Mittel zur Kontrolle von Devianten darstellen.118 Das unterscheidet Kowalewski von Brown, der explizit die Abwesenheit staatlicher Kontrollmacht als Voraussetzung für Vigilantismus beschrieb.

Obwohl die ›Frontier‹-Theorie in der Forschungsdebatte als überholt gilt, greift Schmidt-Lux die Theorie 2012 in seiner Studie über eine Bürgerwehr im deutsch-tschechischen Grenzgebiet wieder auf.119 Die Grenzlage führt nach Schmidt-Lux dazu, dass sich Bürger*innen dort eher als abgehängt wahrnehmen würden. Er plädiert dafür, die ›Frontier‹-Theorie zu modifizieren, sodass mit »Grenzregion« nicht mehr die geografische Nähe einer Region zu den Staatsgrenzen gemeint ist,120 sondern eine von den Vigilanten selbst wahrgenommene Ferne von staatlichen Instanzen.121 Thomas Schmidt-Lux analysiert aber auch die staatliche Seite des Phänomens und untersucht die Legitimationskonflikte, in die staatliche Ordnungen geraten, wenn Bürgerwehren auftreten.122

1.2.2.2Bürgerwehren als rechtsextreme Organisationsform

Matthias Quent beschreibt Bürgerwehren, wenn sie Gewalt anwenden, als Form von Terrorismus123 und beruft sich dabei auf die Terrorismus-Studien von Peter Waldmann. Waldmann beschreibt Terrorismus als Kommunikationsstrategie:

»Dem Terroristen geht es nicht um den eigentlichen Zerstörungseffekt seiner Aktionen. Diese sind nur ein Mittel, eine Art Signal, um einer Vielzahl von Menschen etwas mitzuteilen. Terrorismus, das gilt es festzuhalten, ist primär eine Kommunikationsstrategie.«124

Wie Terroristen richten sich Bürgerwehren meist gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen, nicht so sehr gegen den Staat an sich. Insbesondere die Bürgerwehren, die sich als Reaktion auf die Flüchtlingsbewegungen 2015/16 gründeten, erteilen dem modernen Nationalstaat keine generelle Absage; vielmehr formulierten sie ein Misstrauen in dessen Durchsetzungskraft. Ihr Handeln verteidigt die »alte Ordnung«, auch wenn das staatliche Gewaltmonopol dabei vorübergehend infrage gestellt werden muss.125

Bürgerwehren sind nicht gegen die Mehrheitsgesellschaft gerichtet, sie sind Teil der Zivilgesellschaft und agieren aus ihr heraus. Sie versuchen sich als Sicherheitsakteure zu etablieren und präsentieren sich als engagierte Bürger,126 die einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Aber wie Roland Roth in seinem Aufsatz »Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft«127 zeigt, fördert ein zivilgesellschaftliches Engagement an sich nicht die demokratische Kultur. So lässt sich beispielsweise in den neuen Bundesländern zeigen, dass nach der Wende zwar die Anzahl der Vereine und der engagierten Menschen stieg, das Vertrauen in demokratische Institutionen jedoch gleichzeitig abnahm.128

Vigilantismus richtet sich also gegen einzelne gesellschaftliche Gruppen. Bei der Gewaltausübung seitens vigilanter Gruppen, die mit Machtressourcen ausgestattet sind, gegenüber einem anderen Kollektiv oder Einzelpersonen werden dessen Mitglieder meist stereotyp als mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet betrachtet.129 Den Staat greifen vigilante Gruppen nur deshalb an, weil er vermeintlich in die falschen Hände gefallen ist.130 Ein Beispiel für einen solchen Angriff ist der Mord am hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke.131

In der Legitimationslogik vigilanter Gewalt, die sich gegen bestimmte Gruppen richtet, ist eine Verquickung von Kriminalitätsbekämpfung und Rassismus zu beobachten. So diente beispielsweise der »rape myth«, der Vergewaltigungsmythos, als Legitimation für die Lynchmorde von Weißen an Schwarzen US-Amerikanern. Im Süden US-Amerikas zu Zeiten des Bürgerkriegs argumentierte die Weiße Mehrheitsgesellschaft, der Staat sei zu schwach, die Gesetze durchzusetzen, sodass sie kriminelles Verhalten (der Schwarzen) selber bestrafen müssten.132 Hier zeigt sich, dass auch die Kategorie »Geschlecht« in Untersuchungen vigilanter Gruppen mitunter einen relevanten Einflussfaktor darstellt.(vgl. nächstes Unterkapitel 1.2.2.3).

Insbesondere Matthias Quent verweist auf den Zusammenhang von rechtsextremem Denken und Bürgerwehren. Ihm zufolge kann eine wahrgenommene Illegitimität staatlicher Gewaltausübung zu einer Radikalisierung von Bürgerinnen und Bürgern führen, die auch in Gewaltausbrüchen enden kann.133 Die Analyse von Matthias Quent zeigt, dass nicht wenige Bürgerwehren ein rechtsextremes Weltbild vertreten und mitunter direkt zu Gewalt aufrufen.134

Wolfgang Keller untersucht in seiner Vergleichsstudie den Einfluss rassistischer Denkweisen auf die Wahrnehmung von Unsicherheiten und findet eine starke Korrelation zwischen rassistischen Einstellungen und dem Problematisieren von Kriminalität.135