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Ca-Daan. Ein Gigant mit blonder Mähne und Muskeln wie Stahlseilen. Er wächst auf einem Dschungelplaneten auf, unter der Obhut panthergleicher Raubtiere. Als junger Mann erfährt er, dass er der Sohn eines Königs ist, dazu auserkoren, Frieden und Gerechtigkeit in die Welten seiner Galaxis zu bringen. Die Gegner des Helden sind zahlreich. Ca-Daan kämpft gegen Hexen, Kannibalen, Seeschlangen – und seinen intriganten Halbbruder, Prinz Fra. Lockere SF/Fantasy Unterhaltung, in acht Episoden erzählt, 677 Seiten in der Taschenbuchausgabe, die für ein paar Stündchen märchenhafte Unterhaltung bieten möchte. Der Autor huldigt dabei den Vorbildern ruhmreicher Serienhelden. He-Man, Conan und Tarzan lassen grüßen. Weitere Bücher aus der Reihe: »Patrouillenschiff P-47« (3 E-Books mit je 2 Teilen) »Patrouillenschiff P-47: Auf der Spur der Colloniden«
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Seitenzahl: 743
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Kurt Thomas
Das Gesetz der Galaxis
eISBN 9783948987-76-3
© Kurt Thomas 2022
Lektorat/Korrektorat: Michael Fern
Satz und Cover-Design: José-Javier Rodriguez
Weitere Infos unter www.sonnige-sendung.de
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Der Autor:
Kurt Thomas ist das Pseudonym des Frankfurter Journalisten und Autors Marc Rybicki. Unter dem Künstlernamen Martin Olden veröffentlichte er bereits zahlreiche Krimis.
Mit „Patrouillenschiff P-47“ gibt er sein Debüt im SF-Genre.
Der Speer der Macht
Täuschungsmanöver
In der Gewalt der Maschinen
Tötet die Bestie!
Das große Rennen
Süße Gefahr
Das Grab von Totna
Shonas Schicksal
»Wo ist das Kind?« General Kry hob seine Laserlanze. Rauchschwaden umgaben das scharfkantige Gesicht des Heerführers, hinter dessen Rücken sich die brennenden Ruinen der Siedlung Glen`lo erhoben. Das Geschützfeuer eines Schlachtschiffes, das tausend Fuß über dem Boden schwebte, hatte sämtliche Häuser in Flammen aufgehen lassen. Die Bewohner waren im Schlaf durch den Angriff überrascht worden, unfähig, sich zu wehren. Schreiend rannten sie zwischen den Trümmern ihrer zerstörten Heimat umher und wurden von Krys Soldaten wie Schafe zusammengetrieben. Ein heißer Wind fegte durch das bergige Tal, ließ den blutroten Umhang des Generals flattern und zerrte an seinen schwarzen Haaren, die im Nacken zu einem Zopf geflochten waren. In den Wind mischte sich ein Flüstern, als würde er mit Zungen sprechen. Kry hörte die Stimme seiner Meisterin, der Königin Bellezia. Erfülle meinen Auftrag, und du wirst bekommen, wonach dein Herz begehrt.
»Wo ist das Kind?«, fragte Kry erneut, diesmal in einem noch schärferen Ton. Dunkle, tiefliegende Augen bohrten sich in das Gesicht seines Gegenübers. Es war ein Androide mit der Kennnummer A-64. Ein unwissender Beobachter hätte ihn für einen Menschen gehalten, doch die braune Silikonhaut wies A-64 als eines jener Maschinenwesen aus, die auf dem Planeten Prao im Rang von Dienern und Arbeitssklaven standen. Krause Locken zierten seinen Kopf, ein schwarzer Bart bedeckte Oberlippe und Kinn. Der breitschultrige Körper steckte in einem grauen Overall, bestickt mit goldenen Sternen. Ein Zeichen, dass er Praos Königshaus diente.
»Was hab Ihr mit dem Kleinen vor?«, fragte A-64, dessen Stimme an ein wärmendes Kaminfeuer erinnerte.
»Für eine intelligente Maschine stellst du reichlich dumme Fragen.« General Kry grinste grimmig. »Ich werde den Bastard töten, was sonst?«
»Ihr habt meinen Herrn ermordet und die Frau, die er liebte. Ist Euer Blutdurst noch nicht gestillt? Müsst Ihr Euch auch noch an einem wehrlosen Säugling vergreifen? Wie tief wollt Ihr sinken, General?«, fragte A-64 kopfschüttelnd.
»Tah hatte den Tod verdient«, erwiderte Kry. »Er hat Königin Bellezia verraten. Und sein Sohn ist eine Bedrohung für die Zukunft Praos.«
»König Tah war Euer Freund. Aber Ihr seid blind, das zu erkennen, weil Ihr unter dem Einfluss der Hexe steht, die sich Königin nennt.«
Krys Mundwinkel zuckten. »Zum letzten Mal, wo hast du den Bastard versteckt?« Drohend richtete er die Laserlanze auf A-64.
Der Androide imitierte ein menschliches Lächeln. »Packt Euren Zahnstocher wieder weg. Wie Ihr richtig bemerkt habt, bin ich eine Maschine. Ich kenne keine Angst vor dem Tod wie die Menschen.«
Kry reagierte mit einem überheblichen Blick. »Deine eigene Vernichtung mag dir gleichgültig sein. Doch ich kenne deine schwache Stelle. Deine Programmierung verbietet dir, ein Menschenleben zu gefährden.« Er winkte einen seiner Untergebenen heran. Der Soldat kam im Laufschritt näher, wobei seine silberne Gesichtsmaske und die Körperpanzerung klapperten.
»Wie lautet Euer Befehl, Exzellenz?«
»Bring mir eine Frau aus Glen`lo. Egal welche. Ich töte sie vor den Augen der Maschine. Mal sehen, ob sich dann ein paar Schrauben in ihrem Hirn lockern.«
Der Soldat salutierte und lief los, um den Befehl auszuführen.
A-64`s künstliche Pupillen funkelten. »Ihr seid eine Schande für Eure Spezies.«
Kry lachte. »Aus deinem Mund ist das ein Kompliment, Sklave.«
Im Computerhirn des Maschinenmannes arbeiteten die Prozessoren auf Hochtouren. Einerseits wollte er sein Geheimnis nicht preisgeben. Andererseits war er darauf programmiert, menschliches Leben zu schützen. Was sollte er tun?
A-64 hob die Hände. »Also gut, Ihr habt gewonnen. Ich verrate Euch, wo der Junge ist.«
»Schön, dass du Vernunft annimmst«, nickte Kry. »Wo steckt er?«
Die Antwort fiel knapp aus. »Dort, wo Ihr ihn niemals finden werdet.«
Ohne Vorwarnung drückte Kry den Abzug der Laserlanze und jagte einen neongelben Blitz in das linke Bein seines Widersachers. Funken stoben aus dem klaffenden Brandloch. A-64 stürzte auf die Knie.
»Hochmut kommt vor dem Fall, merk dir das«, grinste der General. Aus dem Kommunikator an seinem Handgelenk drang ein statisches Knistern. Dann ertönte die heisere Stimme eines Mannes.
»Hier spricht Captain Gabor. Unsere Sensoren haben eine Raumfähre geortet, die den Orbit verlässt. An Bord befindet sich ein einzelner Passagier. Ein Knabe, sechs Monate alt, in einer Hyperschlafkammer.«
»Ausgezeichnet, Captain. Ich komme zu Ihnen auf die Mondblitz, und wir nehmen die Verfolgung auf.« Belustigt blickte Kry zu A-64.
»Wo ich ihn niemals finden werde, hast du gesagt? Ha! Falsch gedacht, Blechgehirn. Steh auf, du kommst mit mir! Du darfst zusehen, wie ich Tahs Sohn in tausend Stücke sprenge.«
*
Wie der Körper eines Riesenalligators schob sich der Schlachtkreuzer Mondblitz durch das nachtschwarze All. Das Raumschiff war ein Ungetüm aus Stahl und Kunststoffen, angetrieben von einem Kernreaktor am Heck, der nukleare Energie lieferte. Zu beiden Seiten des Rumpfs ragten Abschussrampen hervor, bestückt mit todbringenden Neutronen-Torpedos. Am Bug befand sich die halbrunde Kommandozentrale, in der General Kry vor dem Hauptschirm stand. Die Hände hinter dem Rücken gefaltet, starrte er auf die kastenförmige Raumfähre, die allmählich in Sichtweite kam.
»Wie weit noch bis zum Ziel?«, fragte Kry.
Ein kahlköpfiger Leutnant an der Sensorenbank betrachtete eine Reihe blinkender Balkendiagramme.
»Der Abstand beträgt viertausend Fuß, verringert sich stetig. Die Nussschale ist viel zu langsam für uns«, fügte der Offizier hämisch hinzu. »Sie hält Kurs Richtung K-308.«
»Das ist ein toter Planet. Da gibt es nichts außer Mondgestein und Kraterlöchern«, sagte Kry. Sein Blick fiel auf A-64, der neben ihm auf der Brücke stand, die Hände mit Elektrohandschellen gefesselt.
»Lass mich raten, du wolltest den kleinen Bastard auf K-308 verstecken, um ihn später heimlich nach Prao zurückzuholen, habe ich recht? Kein übler Plan. Stammt er von dir oder meinem alten Freund Tah?«
A-64 presste die Lippen aufeinander.
»Nun ja, es spielt auch keine Rolle, wer die Idee hatte«, fuhr Kry fort. »Weil ich sie jetzt vereiteln werde. Captain Gabor!Ziel erfassen und Neutronen-Torpedo Nummer Eins schussbereit machen. Feuer auf meinen Befehl.«
»Aye, General.« Gabor, ein hagerer Mann mit einem struppigen Backenbart, drückte einige Knöpfe auf der Armlehne seines Kommandanten-Sessels. »Torpedo klar. Ziel ist im Sucher.«
»Abstand auf zweitausend Fuß gesunken«, meldete der Glatzkopf an der Sensorenkontrolle. »Günstige Gelegenheit für einen Blattschuss.«
»Danke, Soldat. Dessen bin ich mir bewusst«, gab Kry zurück. Unter seinem Umhang ballte er eine Hand zur Faust. Er starrte auf die Fähre, deren Umrisse sich deutlich vor dem Hintergrund der Sterne abzeichneten. Die Augen des Generals glänzten wie im Fieber. »Feuer!«, brüllte er.
Der Torpedo schoss aus der Rampe, fegte auf sein Ziel zu - und verfehlte es um Längen, weil das Shuttle im letzten Moment ein Ausweichmanöver flog.
Kry blies die Wangen auf. »Verflucht! Wie konnte das geschehen?«
Captain Gabor wand sich auf seinem Stuhl wie ein Fisch an einem Angelhaken. »Ich … äh … Ich begreife es auch nicht, Exzellenz«, stammelte er. »Es war nicht meine Schuld, das schwöre ich. Die Fähre hat ganz plötzlich einen Haken geschlagen.«
»Denken Sie, ich bin blind? Ich habe selbst gesehen, dass sie ausgewichen ist«, fauchte Kry. »Aber wie war das möglich? Kein Raumschiff dieser Größenordnung verfügt über einen intelligenten Auto-Piloten. Und das Kind kann die Steuerung wohl nicht übernommen haben. Bleibt nur eine Möglichkeit. Sabotage.« Er sah A-64 in die gutmütigen Augen. »Du hattest deine Finger im Spiel, Maschine.«
»Meine Finger?« Der Androide präsentierte seine gefesselten Hände.
»Wie hätte ich dieses Kunststück fertig bringen sollen?«
Kry ließ sich nicht beirren. »Dein Elektronenhirn hat sich in das Steuerungssystem des Shuttles eingeloggt und die Kontrolle übernommen, gib es zu!«
»Kompliment, General. Ihr habt Euer letztes Quäntchen Verstand doch noch nicht in Bellezias Schlafgemach verloren«, lobte A-64 lächelnd.
»Elender Schraubenkopf! Ich werde dich eigenhändig in eine Schrottpresse stopfen, wenn ich hier fertig bin.« Krys Wutanfall wurde durch eine aufheulende Alarmsirene unterbrochen.
Ein Beben lief durch den Schlachtkreuzer. Kry musste sich an einer Konsole festhalten, um nicht zu stürzen. Ruckartig und mit bleichem Gesicht drehte sich Captain Gabor zu ihm herum. »Vor uns braut sich ein Asteroiden-Sturm zusammen. Wir müssen wenden, sonst geraten wir in seinen Sog.«
»Und die Verfolgung abbrechen? Niemals«, stieß der General hervor.
»Wir müssen!«, beharrte Gabor.
»Nein! Kurs halten.«
»Aber das wäre unser sicherer Untergang.«
»Feigling! Wollen Sie sich meinem Befehl widersetzen?« Krys Hand zuckte zu seiner Strahlenwaffe. Captain Gabors Froschaugen schienen aus den Höhlen zu treten. Er holte Atem für einen letzten Appell an die Vernunft seines Vorgesetzten. Da schrie der Leutnant an der Sensorenkontrolle auf. »Die Nussschale ist vernichtet!«
Kry blinzelte ungläubig. »Was haben Sie gesagt, Mann?«
»Das Schiffchen ist direkt in den Sturm geflogen. Ich habe seine Anzeige nicht länger auf dem Schirm. Es muss pulverisiert worden sein.«
Gabor nickte bestätigend. Jeder Raumschiffkommandant wusste, dass es aus einem Asteroiden-Sturm kein Entkommen gab. »Darf ich ein Wendemanöver einleiten und nach Prao zurückkehren?« In seiner Frage lag ein flehentlicher Unterton, weil er fürchtete, Kry könnte auf die Idee kommen, innerhalb des Sturms nach den Überresten der Fähre zu suchen.
Gabor war erleichtert, als sich der Heerführer einsichtig zeigte.
»Aye, Captain. Bringen Sie die Mondblitz wieder auf Heimatkurs. Das Problem ist erledigt«, sagte Kry kühl, während A-64 den Kopf sinken ließ. Er hatte versagt. Es war ihm nicht gelungen, den jüngsten Sohn seines Herrn zu beschützen. Wäre er imstande gewesen, Trauer zu empfinden, hätte der Androide eine Träne vergossen.
Kry hingegen stiefelte voller Genugtuung in seine Kabine auf dem Oberdeck des Schlachtschiffes. Über die Kommunikationsanlage stellte er eine visuelle Verbindung zu Königin Bellezia her. Wenig später zeigte der Monitor ein Bild aus dem Palast von Prao-Shi, der Hauptstadt des Planeten. Eine jugendliche Frau war zu sehen, deren Schönheit sogar den juwelenbesetzten Doppelthron überstrahlte, auf dem sie ruhte. Schwarze Locken umschmeichelten die Porzellanhaut ihres fein geschnittenen Gesichts. Meeresblaue Augen blitzten verführerisch. Ein einteiliger Anzug aus dunkelblauem Samt betonte eine formvollendete Figur. Zu Füßen der Königin spielte ein dunkelhaariger, drei Jahre junger Knabe. Sanft rollte eine Frage über ihre roten Lippen: »Bringst du mir gute Neuigkeiten, Kry?«
Der Krieger kniete nieder. »Aye, meine Königin. Ich habe Euren Wunsch erfüllt. Tah und seine Geliebte sind tot. Das Kind ebenso.«
»Ausgezeichnet. Tah hätte mich niemals mit dieser dahergelaufenen Bauernmagd betrügen dürfen. Jeder, der Bellezia hintergeht, wird seine angemessen Strafe erhalten. Ihre treuen Diener jedoch werden reich belohnt. Erhebe dich, mein lieber Kry. Du sollst nicht vor deiner zukünftigen Ehefrau knien.«
Langsam, mit klopfendem Herzen, stand der langhaarige Mann auf. Obwohl ihn eine große Entfernung von seiner Angebeteten trennte, glaubte er, ihren süßen Duft riechen zu können. »Das Geschenk Eurer Liebe ist mehr, als ich zu hoffen wagte«, sagte Kry hingerissen. Bellezia lächelte ihm zu. »Gemeinsam errichten wir ein Großreich, das sich über alle Welten der Galaxis erstrecken wird. Wer es wagt, sich uns in den Weg zu stellen, bekommt den Zorn von Totna zu spüren, Göttin der Hexen und der Unterwelt.«
»Ich habe A-64 in meiner Gewalt, Tahs aufsässigen Diener. An ihm sollten wir ein Exempel statuieren, damit die übrigen Maschinen wissen, wo ihr Platz ist.«
»Eine gute Idee, Geliebter.« Bellezia hob den kleinen Jungen vom Boden hoch, setzte ihn auf ihren Schoß und streichelte über seinen Kopf. »Prinz Fra soll eine Weile mit dem Androiden spielen. Danach werden wir seinen hässlichen, braunen Kopf an der Palastmauer aufhängen – zur Abschreckung ungebetener Gäste.« Bellezias schadenfrohes Gelächter klang wie Musik in Krys Ohren.
Nacht lag über dem Dschungel. Die Blätter der uralten Baumriesen sangen im Wind. Grillen zirpten, und ab und an vernahm man das Brüllen eines Raubtieres, das seine Beute erlegt hatte. Es waren die Klänge einer reinen Natur, unberührt von der Hand eines Menschen.
Ci-Saar, ein junges Weibchen vom Rudel der Mar-Jara, schlich auf vier Pfoten durch das Dickicht. Ihr schwarzes Fell glänzte im Mondlicht. Sie war auf der Jagd nach De-Raad, dem Hirsch. Ci-Saar hob die Nase und den Schwanz, um Witterung aufzunehmen. Gleichzeitig durchdrangen ihre gelben Augen die Dunkelheit und suchten nach verdächtigen Bewegungen. Zu ihrem Bedauern sah sie nichts von Belang. Nur Su-Geea, die Schlange, die über den Ast eines Mahagoni-Baums kroch. In der Ferne hörte die Jägerin Donnergrollen, obwohl die Luft nicht nach einem Gewitter roch. Kurz darauf registrierten Ci-Saars sensible Spitzohren ein weitaus merkwürdigeres Geräusch. Eine tiefe, melodiöse Stimme rief sie beim Namen.
»Ci-Saar! Hörst du mich?«
Erschrocken drehte sie sich um die eigene Achse, konnte aber denjenigen, der zu ihr gesprochen hatte, nirgendwo entdecken.
»Hab keine Angst, Ci-Saar. Ich will dir nichts Böses«, versicherte der unsichtbare Fremde.
»Wer bist du?«, fragte Ci-Saar. Der Sprecher war kein Mar-Jara, soviel stand fest. Dennoch kam er ihr auf seltsame Weise vertraut vor. »Zeig dich!«, forderte sie und verengte die Augen zu Schlitzen.
»Das geht nicht«, sagte die Stimme aus dem Dunkeln. »Ich besitze keinen Körper.«
Ci-Saar gab eine Serie schnurrender Töne von sich, die bei ihrer Rasse als Gekicher galten. »Jetzt weiß ich, wer du bist. Gu-Maay, die Eule, die mir einen Streich spielen will.«
»Ich bin keine Eule. Ich bin die Stimme, die du hörst, wenn alle anderen Stimmen schweigen. Freue dich, Ci-Saar. Ich bringe dir eine gute Nachricht. Neues Leben wird zu dir kommen. Du sollst es behüten und großziehen.«
Das Weibchen schnaubte verächtlich und bleckte seine scharfen Reißzähne. »Hör mir mal gut zu, du komischer Kauz ohne Körper. Ich weiß nicht, für wen du dich hältst und woher du deine Weisheiten nimmst. Aber eines ist sicher: Du irrst dich gewaltig. Ich habe noch nicht einmal einen Gefährten in unserem Rudel – wie soll ich da ein Junges bekommen?«
Zwischen den Baumwipfeln sah Ci-Saar ein hellrotes Leuchten. Dann fiel ein graues Ding zischend vom Himmel herab, das einem langen Felsen ähnelte. Mit Getöse stürzte es in den hundert Schritte entfernten See. Der Aufprall riss die Dschungelbewohner aus dem Schlaf. Affen kreischten, und Vogelscharen flatterten von den Bäumen.
Von Neugier gepackt, sprintete Ci-Saar zum See. Der graue Klotz trieb auf der Oberfläche. Durch tiefe Risse an den Seiten drang Wasser ein. Bald würde er untergehen. Ci-Saar blähte ihre Nasenflügel auf. Sie nahm einen fremdartigen Geruch wahr. Es waren schon früher große Steine in den Wald gestürzt, von denen die Alten sagten, es seien Sterne, die sich nicht länger am Himmel halten konnten. Aber dieser Brocken war anders als die anderen. Aus seinem Innern kamen Töne. Zuerst ganz leise, dann lauter werdend. Ein klägliches Weinen und Schreien. Die Mar-Jara beschloss, den Ursprung des Gewinsels zu erforschen. Sie rannte zum Ufer, stieß sich mit den Hinterbeinen ab und sprang elegant auf den treibenden Quader, den sie für einen Felsen hielt. Durch einen Spalt in der Oberseite spähte Ci-Saar hinein. Eingehüllt in ein struppiges Fell, schwamm ein winziges Wesen auf dem eingedrungenen Wasser. Ihr tierischer Verstand konnte nicht wissen, dass das Fell eine Decke war, in die A-64 den Sohn seines Herrn gewickelt hatte, ehe er ihn in die Raumfähre legte, die von dem Asteroiden-Sturm in die Umlaufbahn des Dschungelplaneten befördert worden war.
Der Winzling schrie weiter aus Leibeskräften. Sein Gebrüll und die weiße Haut erinnerten Ci-Saar an den Nachwuchs von Ca-Laff, dem Schimpansen. Wie war das Jungtier in den Stein geraten? Lange überleben konnte es nicht, soviel wusste sie. Es würde ertrinken oder zwischen den Kiefern der Krokodile enden, deren Jagdrevier der See war. Das Junge blickte aus großen, grauen Augen zu ihr auf. Im selben Moment hörte es auf zu weinen. Sein Mündchen verzog sich und sonderte einen glucksenden Laut ab. Ci-Saar schnurrte. In ihr erwachte der mütterliche Instinkt. Rasch kletterte sie durch die Öffnung, nahm das Fellbündel vorsichtig zwischen die Zähne und sprang mit ihm zurück an das sichere Ufer.
Zu ihrem Entsetzen bemerkte sie, dass sich das Kleine nicht mehr bewegte und verstummt war. Hatte sie es versehentlich getötet? Ci-Saar legte das Ohr an seine Brust und lauschte nach einem Lebenszeichen. Wie Regen, der auf Blätter prasselt, vernahm sie den Schlag seines kleinen Herzens. Glücklich leckte Ci-Saars Zunge über den hellen Flaum auf dem Kopf ihres Schützlings. Der Mond schickte einen Silberstreif durch die Baumkronen und umgab die beiden mit seinem Licht. Zum zweiten Mal in dieser Nacht ertönte die körperlose Stimme: »Nimm den Jungen in deine Obhut. Eines Tages wird er stark genug sein, um seinem Volk den Frieden zu bringen.«
»Sag mir endlich, wer du bist und woher du dein Wissen nimmst?«, verlangte Ci-Saar.
»Es gibt eine Zeit für Fragen und eine Zeit für Antworten. Doch nicht jetzt.«
Die Mar-Jara fühlte, wie sich die Präsenz des Sprechers verflüchtigte. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. War es möglich, dass sie das alles bloß träumte und bald erwachen würde? Nein. Der kleine Knabe zu ihren Pfoten, der wieder zu schreien begonnen hatte, war Wirklichkeit. Sie schaute ihn an. Er sah goldig aus, aber auch so winzig und hilflos. Im Dschungel würde er nicht lange überleben. Er brauchte eine Mutter. Er brauchte sie.
»Ich habe keine Ahnung, wer die Stimme war, die deine Zukunft vorausgesagt hat, mein Kleiner. Aber eins steht fest«, schnurrte Ci-Saar. »Wenn du nicht bald etwas zu essen und zu trinken bekommst, wird aus dir überhaupt nichts werden.«
Sie schleppte den Säugling zum Lagerplatz des Rudels. Zwanzig Männchen und Weibchen lagen im hohen Gras und verzehrten das Hirschfleisch, das ihnen Ga-Toog, der Anführer, zugeteilt hatte. Ga-Toog, ein zweihundert Pfund schwerer Koloss, verdaute seine Nahrung auf dem Ast eines Mammutbaums ruhend. Als er Ci-Saar herankommen sah, hob er seinen gewaltigen Kopf. »Wir haben lange auf dich gewartet. Welche Beute bringst du uns?«
Das Weibchen legte das Bündel zwischen ihren Beinen im Gras ab. »Keine Beute. Ein Junges, das ich aus dem See gerettet habe.«
Ein Raunen lief durch die Reihen der Raubtiere. Ga-Toog schwang sich von dem Baumriesen herunter. In seinem schwarzen Fellgesicht blitzten smaragdgrüne Augen auf, während er auf Ci-Saar und das Findelkind zu schlich. Misstrauisch schnupperte er an dem weißen Jungen, zog die Nase kraus und stellte die Haare in seinem Nacken auf.
»Das ist ein Mensch«, knurrte der Rudelführer. Die übrigen Mar-Jara rückten näher und wiederholten flüsternd das Wort Mensch, das ihren Zungen und Ohren unbekannt war.
Ci-Saar blinzelte. Auch sie wusste nicht, wer oder was ein Mensch war.
»Das Wissen über die Menschen wird seit Generationen in meiner Familie weitergeben. Nun teile ich es mit euch«, verkündete Ga-Toog. »Es sind gefährliche Kreaturen. Ihre Intelligenz ist beschränkt, ihre Grausamkeit unermesslich. Sie bringen Krankheiten und Tod. Vor vielen Jahreskreisen verwandelten sie den Dschungel jenseits der Berge im Osten in eine Wüste aus Stein, bevor sie unsere Welt verließen. Dieser da dürfte einer ihrer Nachkommen sein, den sie ausgesetzt haben, um Vernichtung über uns zu bringen.« Er streckte seine rechte Pranke aus. »Gib ihn mir, Ci-Saar. Ich will ihn zerreißen, ehe er wächst und uns alle tötet.«
»Niemals!« Fauchend stellte sie sich Ga-Toog in den Weg. Ihre geduckte Haltung verriet, dass sie zum Angriff bereit war. »Er ist jetzt mein Sohn, und ich verteidige ihn bis aufs Blut, wenn es sein muss.«
Der Oberste der Mar-Jara zeigte ihr die Zähne. »Du wagst es, dich mir zu widersetzen?«
Mo-Assi, einer der Älteren in der Runde, dessen Fell bereits graue Strähnen zierten, trat vor. »Ich bitte dich, Ci-Saar, bewahre den Frieden unseres Rudels. Dieses … Ding ist es nicht wert, dass du seinetwegen kämpfst.«
Sie strafte den Alten mit einem geringschätzigen Blick. »Das Ding, wie du es nennst, ist ein lebendiges Wesen, das atmet und fühlt wie wir. Ich lasse nicht zu, dass ihr es umbringt. Vorher müsst ihr mich töten.«
»Du bist ebenso jung wie töricht«, murrte Mo-Assi.
»Das bin ich nicht. Ich schwöre euch, der Junge wird einmal ein starker Jäger werden und den Mar-Jara Ehre machen«, sagte sie im Brustton der Überzeugung.
Ga-Toog lachte kehlig. »Woher willst du das wissen? Kannst du etwa in die Zukunft sehen?«
Ci-Saar überlegte, ob sie von der Weissagung der Stimme erzählen sollte, die zu ihr gesprochen hatte. Da niemand ihren Worten Glauben schenken würde, entschied sie sich dagegen. »Mein Instinkt verrät es mir – und der hat mich noch nie betrogen.«
Die Umstehenden tuschelten untereinander. Vielleicht hatte Ci-Saar recht. Sie war zwar jung an Jahren, doch als tüchtige Jägerin geachtet, auf deren Gespür man sich verlassen konnte.
Durch Gebrüll verschaffte sich Ga-Toog Gehör. »Instinkt! Soll ich wegen deiner Ahnung unsere Sicherheit gefährden?« Er trat einen Schritt näher.
Ci-Saar fuhr die Krallen aus. »Du gefährdest dein Leben, falls du nicht stehenbleibst.«
Das Rudel hielt den Atem an. Ga-Toog zögerte. Bei einem Kampf könnte ihn die geschickte Ci-Saar schwer verletzen. Und wenn er sie tötete, würde er eine tüchtige Beutemacherin verlieren. War das die Sache wert?
»Ihr sollt sehen, wie großzügig ich sein kann«, sagte Ga-Toog, um seine Stellung als Leittier nicht zu gefährden und wie ein Feigling dazustehen. »Du darfst die Kreatur behalten, sofern du schwörst, dass sie niemals die Hand gegen einen von uns erheben wird.«
Die junge Mutter hob ihre Pfote. »Ich schwöre es.«
Ga-Toog nickte zur Bestätigung. Die Mar-Jara zogen sich auf ihre Ruheplätze zurück. Das Weibchen Pu-Siis trat zu Ci-Saar und betrachtet das Menschenkind. »Er könnte niedlich aussehen, wenn er nicht so schrecklich blass wäre.«
»Ich finde seine weiße Haut schön«, meinte Ci-Saar. Und so gab sie ihrem Ziehsohn den Namen, der in der Sprache der Mar-Jara Weißhaut bedeutete: Ca-Daan.
Ci-Saar behütete das fremde Kind, als sei es ihr eigen Fleisch und Blut. Weder bei Tag noch bei Nacht ließ sie Ca-Daan aus den Augen. Während der Jagd schnallte sie ihn mit Lianenranken auf dem Rücken fest, und wenn sie schlief, ruhte er zwischen ihren Pfoten.
Wie Ci-Saar bald feststellte, wuchs das Menschlein langsamer heran als die anderen Jungtiere. Für gewöhnlich konnte sich ein Sprössling der Mar-Jara schon mit dreizehn Monaten selbst versorgen. Ca-Daan war in diesem Alter noch immer auf die Hilfe seiner Adoptivmutter angewiesen. Es machte ihr nichts aus, für ihn zu jagen und ihm das Fleisch vorzukauen, bis seine Zähne kräftig genug waren. Ihn in kalten Nächten zu wärmen, weil er kein schützendes Fell besaß, abgesehen von den blonden Haaren auf seinem Kopf. Oder seine Wunden zu lecken, wenn er beim Versuch, auf einen Baum zu klettern, abgerutscht war.
Als Ca-Daan die Sprache der Mar-Jara erlernte, eine Anhäufung gutturaler Knurr- und Zischlaute, und sein erstes Wort Mutter lautete, floss Ci-Saars Herz über vor zärtlicher Liebe.
Doch das Rudel brachte ihrem Sohn keinerlei Zuneigung entgegen. Die Weibchen ignorierten ihn wie einen ungebetenen Gast, die Männchen warfen ihm feindselige Blicke zu. Ga-Toog zog jedes Mal die Nase kraus, wenn er den Kleinen zu Gesicht bekam, was zu seiner Freude nicht oft der Fall war, da sich Ci-Saar mit ihrem Jungen meist abseits der Artgenossen aufhielt.
Im vierten Sommer seines Lebens geschah es, dass sich Ca-Daan aus der Umarmung seiner schlafenden Mutter löste und allein in den Dschungel ging, getrieben von natürlicher Neugier und einem Entdeckungsdrang, der jedem Kind angeboren ist. Er lief auf allen vieren, wie es ihm Ci-Saar beigebracht hatte. In der Nacht zuvor war Regen gefallen. Feuchtigkeit lag auf den Pflanzen und in der Luft, die noch kühl genug war, dass Ca-Daan die Wölkchen seines Atems sehen konnte. Staunend schaute er an den gewaltigen Bäumen hinauf, deren Äste sich der Morgensonne entgegen reckten. Der Himmel strahlte in zartem Rot und Blau, und Ca-Daan fragte sich nicht zum ersten Mal, ob jenseits der Wolkendecke auch Mar-Jara lebten. Vielleicht solche, die mit ihm spielen würden, ihn nicht missachteten wie seine Brüder und Schwestern in Ga-Toogs Familie. Auf einem Farn sah er Ba-Laan, den Schmetterling, sitzen. Ca-Daan presste seinen Bauch flach auf den Boden, holte mit den Beinen Schwung und sprang den bunten Kameraden an. Ba-Laan flatterte davon. Der Junge rannte ihm nach, bemühte sich, das flinke Insekt einzufangen, und lachte dabei, weil ihm das Spiel gar so gut gefiel.
Ein tiefes Grollen riss den Knaben aus seiner Unbekümmertheit. Zwei schwarze Schatten schoben sich über ihn und verdeckten die Sonne. Ta-Rooa und Mu-Gaar waren aus den Büschen herausgetreten, Mar-Jara Männchen in Ca-Daans Alter.
»Na, ganz allein unterwegs heute?«, fragte Ta-Rooa, ein listiges Grinsen auf der Schnauze.
»Wo hast du deine Beschützerin gelassen?«, setzte Mu-Gaar nach und begann, den kleinen Menschen zu umkreisen.
»Mutter schläft. Ich wollte den Dschungel einmal ohne sie sehen«, antwortete Ca-Daan arglos.
»Das ist aber gefährlich, weißt du?« Ta-Rooa entblößte seine spitzen Eckzähne. »Einem Knirps wie dir kann allerhand zustoßen in der Wildnis.«
Ca-Daans graue Augen sahen zu dem Raubtier auf. »Ich habe keine Angst«, sagte er ruhig.
»Wir auch nicht«, murrte Mu-Gaar. »Schon gar nicht vor dir.«
Ta-Rooa legte den Kopf schief und beäugte Ca-Daan wie ein Beutestück. »Vor Menschen muss man sich in Acht nehmen, hat Ga-Toog gesagt. Das glaube ich nicht. Du bist schwach. Hilflos. Ein Nichts.«
»Lasst mich in Ruhe.« Ca-Daan wandte sich ab, um den beiden davon zu krabbeln. Ta-Rooa versperrte ihm den Weg, die Zähne gefletscht. »Du gehst nirgendwo mehr hin.«
Mu-Gaar näherte sich von hinten. Furcht überkam den Jungen. Er erkannte, dass die Mar-Jara, die er als seine Geschwister betrachtete, bereit waren, ihn zu töten.
»Schau, wie die Missgeburt zittert«, rief Mu-Gaar.
»Ja«, sagte Ta-Rooa befriedigt. »Seine weiße Haut stinkt vor Angst.« Ein Tatzenhieb riss Ca-Daan den Arm auf. Gleich darauf schnappte Mu-Gaar nach seinem Kopf. In letzter Sekunde duckte sich Ca-Daan. Er presste eine Hand gegen die blutenden Streifen an seinem Oberarm. Tränen traten ihm in die Augen.
»Bitte hört auf!«, flehte er. »Was habe ich euch denn getan?«
»Wir hassen dich, Weißgesicht«, entgegnete Ta-Rooa. »Grund genug, dich zu zerfetzen!« Das Männchen sprang.
Einer inneren Eingebung folgend, schlug Ca-Daan einen Purzelbaum, tauchte unter dem heranfliegenden Angreifer hinweg, landete auf seinen Füßen und richtete sich zu voller Größe auf. Erstmals stand er den Mar-Jara aufrecht wie ein Mensch gegenüber. Ein machtvolles Gefühl durchströmte ihn. Plötzlich war er nicht mehr der Kleine, der zu den großen Tieren aufsehen musste. Er begegnete ihnen auf Augenhöhe. Mit Freude nahm er war, dass die Gegner zauderten. Seine Faust ballte sich. »Versucht nicht noch mal, mir wehzutun«, warnte Ca-Daan und streckte den Arm zum Schlag bereit über den Kopf.
Ein lautes »Nein« aus Ci-Saars Kehle ließ ihn und die Raufbolde zusammenzucken. Die Jägerin rannte in ihre Mitte, schnaubte Ta-Rooa und Mu-Gaar zornig an. »Pfoten weg von meinem Sohn, oder ihr erlebt den neuen Tag nicht mehr. Verschwindet, Stinktiere!«
Sie zogen die Schwänze ein und suchten das Weite. Sich mit Ci-Saar anzulegen, war ihnen zu gewagt. Ca-Daan spürte den strafenden Blick der Mutter auf sich. Aus dem aufrechten Stand fiel er zurück auf Hände und Knie.
»Was hast du dir dabei gedacht, ohne mich in den Dschungel zu gehen?«, schimpfte sie.
Ca-Daan schlug die Augen nieder. »Ich wollte spielen.«
»Für Streifzüge bist du zu jung. Du hast gesehen, was dir zustoßen kann.«
»Pah! Denen hätte ich`s gegeben.« Ca-Daan formte die Hände zu Klauen und ahmte das Fauchen der Mar-Jara nach, wobei er sein lückenhaftes Milchzahngebiss zeigte.
Ci-Saar schüttelte das schwarze Haupt. »Nein! Du darfst sie nicht schlagen. Niemals.«
»Wieso? Die blöden Kerle haben Schläge verdient.«
»Ich habe Ga-Toog versprochen, dass du deine Hand nie gegen ein Mitglied des Rudels erheben wirst.«
Der blonde Bursche stutzte. »Warum? Ich gehöre doch auch zum Rudel.«
»Das stimmt schon«, gab Ci-Saar zu. »Aber für dich gelten andere Regeln. Weil du etwas Besonderes bist.«
Ca-Daan sah seine Hände an. »Ich bin weiß. Darum hassen mich alle.«
»Unsinn! Die Farbe des Fells oder der Haut ist nicht wichtig, sondern nur die Farbe des Herzens, das darunter liegt«, versicherte das Weibchen. »Du bist schön, so wie du bist.«
Ci-Saars Zögling war davon nicht überzeugt. Er riss Gräser aus dem Boden und warf sie wütend in die Luft. »Ich wünschte, ich hätte Fell und Pfoten wie du!«
»Das geht leider nicht. Äußerlich sind wir nun mal verschieden. Denn ich bin eine Mar-Jara, und du bist ein Mensch. Das habe ich dir bereits erklärt. Du bist nicht in meinem Bauch gewachsen, wie der Nachwuchs anderer Mütter. Ich fand dich eines Nachts im Wald und nahm dich zu mir.«
Nachdenklich blinzelte Ca-Daan. »Wo ist meine richtige Mutter?«
»Ich bin deine richtige Mutter, weil ich für dich sorge«, betonte Ci-Saar.
»Ich meine die, die so aussieht wie ich«, hakte der Junge nach.
»Das weiß ich nicht. Die Menschen leben seit vielen, vielen Jahreskreisen nicht mehr in unserer Welt. Dass du zu mir kamst, war ein Geschenk der Natur. Woher du kommst, davon habe ich nicht die leiseste Ahnung. Und es muss dich auch nicht kümmern. Du bist hier, zu meiner Freude, und das genügt.«
Sie erzählte ihm nicht, was ihr die Stimme in der Nacht seiner Ankunft über seine Zukunft prophezeit hatte. Ci-Saar wollte verhindern, dass er mit dem Gedanken aufwuchs, eines Tages der Friedensbringer eines Volkes zu werden, das irgendwo zwischen den Sternen lebte. Das hätte womöglich den Wunsch in ihm geweckt, die Mar-Jara zu verlassen. Die Vorstellung, Ca-Daan zu verlieren, schmerzte Ci-Saar. Dafür liebte sie ihn zu sehr.
»Komm, mein Sohn«, sagte sie und stupste das Kind mit der Nase an. »Legen wir uns noch eine Weile ins Gras. Der Tag ist zum Ausruhen gemacht, die Nacht für die Jagd.«
Ca-Daan drehte den Kopf in die Richtung, in die Ta-Rooa und Mu-Gaar verschwunden waren. »Wenn ich groß bin, zahle ich`s euch heim«, flüsterte er.
Ci-Saars feinem Gehör entging die Drohung nicht. »Hast du nicht verstanden, was ich dir beibringen wollte?«, seufzte sie. »Sei nicht brutal und greife kein Tier zu deinem bloßen Vergnügen an. Das sind die wichtigsten Regeln, ist das klar?«
Ca-Daan nickte einsichtig. Von diesem Tag an vergaß er die Lektion niemals wieder.
Die Mar-Jara maßen den Ablauf der Zeit nach Jahreskreisen. Sie zählten, wie oft der Mond voll wurde, und wenn er sich vierzehn Mal in aller Pracht am Nachthimmel gezeigt hatte, war ein Jahreskreis vollendet.
Als Ca-Daan seinen dreizehnten Jahreskreis im Rudel begann, hatte er sich zu einem klugen Jäger entwickelt, der seiner Ziehmutter in nichts nachstand. An Körperkraft war er einem durchschnittlichen menschlichen Jungen weit überlegen. Er konnte blitzartig einen Baumriesen erklimmen, sich zehn Fuß hinunter fallen lassen und ein Beutetier mit bloßen Händen erlegen. Bei Nacht sah er beinahe so gut wie ein Mar-Jara, und was seine Augen nicht vermochten, glich ein hervorragender Hör- und Witterungssinn aus. Wenn Ca-Daan aufrecht ging, was immer häufiger vorkam, maß er annähernd sechs Fuß. Er genoss es, dass alle Männchen, einschließlich Ga-Toog, zu ihm aufsehen mussten. Die Blicke der Weibchen, die seine muskulöse Statur bewunderten, schmeichelten ihm. Ca-Daans Gesicht trug zwar noch die Spuren der Kindheit, deutete aber gleichzeitig die kernigen Züge eines Mannes an, der ein Leben in freier Natur gewohnt war. Das blonde Haar fiel ihm weit über die Schultern, und er lief nackt umher, bis auf ein altes Stück Hirschleder, das die Hüften umgürtete. Die Sonne des Planeten hatte seine weiße Haut gebräunt, dennoch wurde er den Makel nicht los, kein schwarzes Fell zu besitzen. Außer Ci-Saar und ihrer Freundin Pu-Siis sprach niemand mit ihm, es sei denn in Form von Befehlen, die Ga-Toog brüllend erteilte. Der Menschenhasser führte das Rudel nach wie vor mit eiserner Pranke. Er schien nur auf eine günstige Gelegenheit zu lauern, Ca-Daan die Zähne in den Rücken zu rammen. Allerdings war Ci-Saar auf der Hut. Sie ließ ihren Adoptivsohn nicht aus den Augen, was den Jungen mehr und mehr störte, je älter er wurde. Er empfand diese Fürsorge als übertrieben und peinlich. Es ärgerte ihn, keinen Schritt durch die Wälder gehen zu können, ohne dass ihm Ci-Saars Schatten folgte. Seiner Ansicht nach war er alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, aber für sie würde er wohl ewig ein schutzbedürftiges Kleinkind bleiben. Sicher, die gemeinsamen Jagdausflüge bereiteten ihm Freude, ebenso die Rauf- und Fangspiele, mit denen sie sich die Zeit vertrieben. Doch ein erwachsener Mar-Jara musste dem Schoß der Mutter entkommen – und er fühlte sich wie ein reifer Vertreter seiner Tierfamilie. Ihm blieben nur die Stunden des Tages, in denen Ci-Saar schlummerte, um sich einmal ungesehen fortzustehlen. Dann tobte er durch den Dschungel, rannte ausgelassen mit dem Wind um die Wette und schwang sich an den Händen von Baum zu Baum wie ein Affe. Manchmal blieb er auf einem der dickeren Äste liegen und kostete in der Sonne dösend die Stille und Einsamkeit des Augenblicks aus.
An einem schwülen Tag, als ein Gewitter in der Luft lag, ruhte Ca-Daan wieder einmal im Geäst einer Zeder und betrachtete die grauen Wolkentürme am Himmel. Urplötzlich hörte er ein leises Wimmern. Er setzte sich auf, peilte hinunter und sah ein ihm unbekanntes Tier über den Trampelpfad am Boden humpeln. Es war groß wie ein Büffel, mit einem massigen grauen Körper und vier kurzen Beinen, die in breiten Hufen endeten.
Die Haut wies starke Falten auf und erweckte den Eindruck, als sei das Wesen gepanzert. Fell besaß es nicht, mit Ausnahme einiger Haarbüschel an den Trompetenohren und dem Schwanzende. Aus der Stirn des gewaltigen Schädels ragte ein Horn, das über einem einzigen runden Auge saß. Auf dem Rücken erhoben sich zwei kleine Höcker.
Ca-Daan rätselte, welche Laune der Natur diesen einäugigen Dickhäuter erschaffen hatte. Das Ungetüm humpelte weiter und jammerte wieder. Ungeachtet, ob das mysteriöse Tier gefährlich sein könnte, sprang Ca-Daan von seinem Ast. Es hatte Schmerzen und brauchte Hilfe, das allein zählte.
Der Junge stellte sich auf die Beine, hob die Hand zum Gruß. »Willkommen, Fremder«, sagte er im Dialekt von Go-Ibbi, dem Wasserbüffel vom Roten Fluss. Vielleicht war der Graue mit ihm verwandt. »Keine Angst, ich werde dich nicht töten. Obwohl du mein Rudel für mindestens eine Woche satt machen würdest.«
»Willst du mich verspotten, Affe?«, fragte der Bulle mit rauer Stimme. »Bei meinen Ahnen, geh mir aus dem Weg, oder ich spieße dich auf!« Sein Horn senkte sich zu einer Drohgebärde.
»Ich bin kein Affe. Ich bin ein tapferer Jäger vom Rudel der Mar-Jara«, sagte Ca-Daan und sah ihm ins braun schimmernde Auge. »Du bist schlecht gelaunt, weil dir etwas wehtut. Es ist dein rechtes Vorderbein. Du schonst es und trittst nicht richtig auf. Ich hab`s genau gesehen. Lass mich dir helfen.«
»Geh weg«, raunte das Hornvieh. »Mein Schicksal ist besiegelt. Ich werde in diesem Dschungel sterben.«
»So schnell stirbt man nicht«, beharrte Ca-Daan. »Darf ich mir dein Bein mal ansehen?«
»Nein!« Mürrisch setzte der Dicke einen Huf vor den anderen und blieb stehen, als eine Schmerzwelle durch seinen Leib jagte. »Also gut«, keuchte er. »Vielleicht kann es nicht schaden, wenn du doch einen Blick darauf wirfst. Aber sei vorsichtig!«
»Ich bin ganz sanft, versprochen.« Behutsam tastete Ca-Daan das Bein ab, ohne eine Verletzung zu erkennen. »Heb bitte deinen Huf an. Aha! Da steckt der Übeltäter. Du hast dir im Gestrüpp einen Dorn eingetreten. Warte, ich ziehe ihn heraus.« Mit den Fingerspitzen beförderte er den Stachel aus dem wunden Fleisch. Danach riss er Gräser ab, vermischte sie mit Spucke und verteilte den Brei auf dem Huf. »Dadurch heilt die Schwellung schnell ab. Meine Mutter hat es mir gezeigt.«
Der Graue stimmte ein wohliges Stöhnen an. »Oh, ich spüre schon, wie es heilt.« Er stampfte kräftig auf. »Bei meinen Ahnen! Ich habe meine alte Stärke wieder. Danke, Kleiner. Du hast mich gerettet.«
»Gern geschehen. Mein Name ist Ca-Daan. Wer bist du? Einen wie dich habe ich noch nie in den Wäldern gesehen.«
»Man nennt mich Wi-Yill. Ich wanderte über die Berge im Osten, um Li-Baxx, dem Mörder, zu entkommen. Er hat meine Sippe ausgerottet. Ich bin der Letzte meiner Art.« Kummer überschattete Wi-Yills Blick.
»Von Li-Baxx habe ich gehört. Ein schreckliches Biest.« Ca-Daan legte eine Hand auf die Flanke des traurigen Tieres. Die Haut fühlte sich an wie aufgewühlte Erde. »Ich weiß, wie man sich als Einzelgänger fühlt. Ich bin der einzige Mensch unter den Mar-Jara.«
»Was ist ein Mensch?«, wollte Wi-Yill wissen.
»Tja, genau weiß ich`s auch nicht«, sagte Ca-Daan und kaute auf seiner Unterlippe. »Einer, der so aussieht und sich so benimmt wie ich, schätze ich.«
»Dann müssen alle Menschen gute und freundliche Geschöpfe sein«, schloss der Gehörnte. »Möchtest du ein Stück auf meinem Rücken reiten?«
»Das musst du mich nicht zweimal fragen«, lachte Ca-Daan, froh darüber, dass er einen Freund gefunden hatte. Er schwang sich zwischen Wi-Yills Höcker, die ihm einen guten Sitz und Halt boten. Wi-Yill galoppierte los, in einem atemberaubenden Tempo. Die blonde Mähne des Jungen wehte im Wind und er jauchzte bei dem wilden Ritt. Immer tiefer drangen sie in die Wildnis ein, fernab vom Lagerplatz der Mar-Jara. Der Himmel verfinsterte sich zunehmend. Donner grollte aus der Ferne.
»Brrr! Halt an«, rief Ca-Daan. »Wir sollten besser umkehren, bevor uns das Gewitter erwischt.«
»Gut, ich beeile mich.« Elegant trotz seiner Pfunde vollführte Wi-Yill eine Kehrtwende und legte noch einmal an Geschwindigkeit zu. Aus dem Nichts fuhr ein Blitz vor ihm in die Erde.
Wi-Yill scheute, geblendet vom grellen Licht. Auch sein Reiter kniff die Augen zusammen und erschrak, als ihn eine volltönende Stimme beim Namen rief.
»Ca-Daan! Hörst du mich?«
Er blickte um sich, überrascht und misstrauisch. »Selbst eine taube Ameise könnte dich hören, so laut wie du bist. Aber ich kann dich nicht sehen. Zeig dich!«
»Das ist unmöglich.«
»Wieso? Wer bist du?«
»Sagen wir, ich bin die Stimme, die du hörst, wenn alle anderen Stimmen schweigen. Du hast heute etwas Wertvolles gelernt. Jede Tat hat Folgen – und gute Taten werden mit Freundschaft belohnt. Vergiss das nie.«
Ca-Daan wurde mulmig zumute. Er sah auf die Bäume, die sich im brausenden Wind bewegten. »Wenn ich`s nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass ich einen Sonnenstich habe. Ich rede mit jemandem, der nicht da ist.«
Die Stimme lachte leise. »Ich bin da, wenn auch unsichtbar. Ich existiere seit langer Zeit, viel länger, als du dir vorstellen kannst, Ca-Daan.«
»Woher kennst du meinen Namen?«, fragte er und richtete sich auf Wi-Yills Rücken auf.
»Ich kenne dich seit deiner Geburt«, sagte die Stimme freundlich.
Ca-Daans Augen weiteten sich. »Dann weißt du, wer meine echten Eltern sind? Meine Mutter und mein Vater?«
»Ja, das weiß ich.«
»Sag`s mir!«, forderte er. »Wer sind sie? Wo leben sie? Wie kann ich sie finden?«
Nach einem Moment des Schweigens sprach der körperlose Fremde: »Gehe zum Großen See. Auf seinem Grund wirst du deine Vergangenheit finden – und deine Zukunft.«
»Was soll das bedeuten? Sprich nicht in Rätseln zu mir.« Ca-Daan erhielt keine Antwort. Die Stimme war verstummt. Der Junge verfiel ins Grübeln. Regen setzte ein, tränkte sein Haar und den Lendenschurz.
»Was nun, Freund?«, fragte Wi-Yill, der ungeduldig mit den Hufen scharrte. »Sollen wir hier Wurzeln schlagen?«
Ca-Daan schüttelte den Kopf, sodass die Wassertropfen nach allen Seiten flogen. Er hatte einen Entschluss gefasst. »Wir reiten zum Großen See.«
»Ich halte das für keine gute Idee bei dem Wetter«, gab Wi-Yill zu bedenken.
»Du weißt ja auch, woher du stammst. Ich nicht.«
»Ist das wichtig?«
»Für mich schon. Ich muss herausfinden, was die merkwürdige Stimme gemeint hat. Also los, vorwärts!« Er gab dem Dickhäuter einen leichten Klaps auf den Höcker. »Ich zeige dir den Weg zum See.«
Wi-Yill stieß einen Seufzer aus. »Du scheinst ein Draufgänger zu sein. Bei meinen Ahnen, worauf habe ich mich mit dir eingelassen?« Aller Bedenken zum Trotz, brachte das einäugige Wesen seinen neuen Kameraden so schnell wie möglich ans Ziel. Im tobenden Gewitter, das die Sonne verschluckt hatte, lag der See wie ein schwarzer Abgrund vor Ca-Daan, gelegentlich erhellt durch einen hinab zuckenden Blitz. Windböen peitschten den Regen über die krause Oberfläche. Er wusste, wie riskant es war, unter diesen Bedingungen in das Wasser einzutauchen. Zumal in den Tiefen Ya-Xaas, das Krokodil, mit seiner Brut lauerte. Doch sein Wissensdurst ließ ihn alle Gefahren vergessen. Er bat Wi-Yill, am Ufer zu warten, lief beherzt ins Wasser, atmete tief ein und tauchte. Angetrieben von kräftigen Stößen seiner Arme und Beine, kam der ausgezeichnete Schwimmer gut voran. Seine Augen durchdrangen die Dunkelheit des Seegrunds. Zunächst fand er nichts, das die Mühe gelohnt hätte. Ein aufgeschreckter Fischschwarm kreuzte seinen Weg, Algen streckten sich nach ihm aus und kitzelten ihn an den Beinen. Allmählich begannen Ca-Daans Lungen zu brennen. Die Luft wurde knapp. Gerade, als er die Suche abbrechen wollte, entdeckte er einen grauen Quader, von Schlamm und Schlingpflanzen bedeckt. Bot dieses Ding die Lösung zu dem Rätsel, das ihm die Stimme mit auf den Weg gegeben hatte? Ca-Daan tauchte kurz auf, pumpte Luft in seinen breiten Brustkorb und schwamm wieder hinunter auf den Grund, um das Gebilde zu untersuchen. Durch einen langen Riss an der Seite gelangte er hinein. Er sah eine Fülle von Gegenständen, die für ihn keinerlei Bedeutung hatten. Wie hätte der im Urwald aufgewachsene Bursche ahnen sollen, dass er sich an Bord einer Raumfähre befand?
An zerschlissenen Sitzen entlang hangelte sich Ca-Daan nach vorne zum Cockpit. Er begutachtete die Bordinstrumente, die Monitore, den Steuerhebel. Eine lange, zerbrochene Röhre erregte seine Aufmerksamkeit – die Hyperschlaf-Kammer. Ca-Daan berührte den geborstenen Kunststoffdeckel. Verschwommene Bilder strömten durch sein Bewusstsein.
Feuer. Rauch. Herabstürzende Steine. Eine braunhäutige Gestalt, die ihn packt, mit sich fortträgt und in die Röhre legt. Der Deckel, der sich über ihm schließt. Die Schwärze eines langen Schlafs. Kaltes Wasser, das ihn weckt, auf dem er hilflos treibt, bis er in das Gesicht seiner Retterin sieht. Ci-Saar.
Ca-Daan kniff die Augen zusammen und verscheuchte die Erinnerungsfetzen, die wenig Sinn ergaben. Ci-Saar hatte ihm gesagt, sie habe ihn im Wald gefunden. Vom Großen See war nie die Rede gewesen. Hatte sie gelogen? Aus welchem Grund?
Aus dem inneren Teil der Röhre löste sich ein Objekt, das Ca-Daan nur als gelb funkelnde, faustgroße Scheibe ansah. In Wahrheit war es ein Medaillon aus Gold, mit dem Abbild einer strahlenden Sonne, befestigt an einer Stahlkette. Der Anhänger trieb auf Ca-Daan zu. Er griff danach, wog ihn in der Hand und prüfte die Festigkeit. Das Material ließ sich weder biegen, noch zerreißen. In der Absicht, es nachher in Ruhe zu untersuchen, schlüpfte Ca-Daan mit dem Kopf durch die Schlaufe der Kette und hängte sich das glitzernde Teil um den Hals. Geschwind schwamm er an die Oberfläche, tauchte in der Mitte des Sees auf und kraulte dem Land entgegen.
Hinter ihm schoben sich zwei Reptilienköpfe aus dem Wasser. Fressgierige Augen hefteten sich auf ihre auserkorene Beute.
Von weitem sah Wi-Yill das Unheil drohen. »Vorsicht, Ca-Daan! Krokodile!«, brüllte er über das Tosen des Unwetters hinweg.
Ca-Daan warf einen Blick über die Schulter. Ya-Xaas und dessen Zwillingsbruder näherten sich schneller, als er schwimmen konnte. Der Versuch, sie abzuschütteln, wäre sinnlos. Ihm blieb nur eine Chance, sein Leben zu retten – der Angriff. Ca-Daan schwamm eine Wende und nahm Kurs auf die Verfolger. Wi-Yill packte das blanke Entsetzen. »Hast du den Verstand verloren? Komm zurück, Kleiner!« Der Zögling der Mar-Jara dachte nicht daran. Andere Männchen seines Rudels hatten auch gegen Ya-Xaas gekämpft und überlebt. Er würde es ebenfalls schaffen. Zwei Armlängen trennten ihn noch von den Krokodilen. Sie schwammen parallel zueinander, grinsten ihn aus schiefen Mäulern an. Im Licht der zuckenden Blitze erkannte er ihre scharfen Zahnreihen. Ca-Daan stieß einen Urschrei aus, sprang ein Stück aus dem Wasser und hieb beide Fäuste auf ihre Nasen. Die Schläge zeigten Wirkung. Ya-Xaas` Zwilling zog sich zurück, erschrocken und empört darüber, dass sich das erhoffte Mittagessen zur Wehr gesetzt hatte. Sein Bruder gab nicht so leicht auf. Ya-Xaas schlug den schuppigen Schwanz gegen Ca-Daans Schläfe. Der Treffer ließ ihn benommen zurück. Er konnte nicht verhindern, dass sich das Reptil auf ihn rollte und unter Wasser drückte. In letzter Verzweiflung trat er mit beiden Beinen nach dem Feind. Vergeblich. Schon öffneten sich die Kiefer zum tödlichen Biss.
Aus den Augenwinkeln sah Ca-Daan, wie ein Horn in den Krokodilbauch stieß und das Wasser sich rot färbte. Der gute Wi-Yill hatte ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. An den grauen Koloss geklammert, schwamm Ca-Daan zum Ufer zurück. Unter einer Mangrove suchten die Kameraden Schutz vor den schweren Regenfällen. Ca-Daan bedankte sich bei seinem Retter und strich ihm liebevoll über die faltige Stirn. »Das werde ich dir nie vergessen, mein Großer.«
»War mir ein Vergnügen, diesen schleimigen Schuppenkopf aufs Horn zu nehmen«, brummte Wi-Yill. Seine plumpe Nase schnüffelte an der Scheibe um Ca-Daans Hals. »Was ist das?«
»Wüsste ich selbst gerne.« Er inspizierte das Fundstück von allen Seiten, klopfte mit den Fingerknöcheln dagegen und lutschte daran. »Schmeckt nach gar nichts. Essen könnte man`s sowieso nicht. Daran würde man sich die Zähne ausbeißen.« Eine steile Falte erschien zwischen seinen Augen. »Der Fremde hat gesagt, dass ich im See meine Vergangenheit und Zukunft finde. Hat er damit dieses Ding gemeint? Ich werde nicht schlau daraus.«
Krachend brach ein Mangrovenast ab und landete vor ihnen im durchweichten Gras. Sie blickten auf. Die Baumkrone war von einem unwirklichen, blauvioletten Licht umgeben. Sanft wie ein Windhauch hörten sie die geheimnisvolle Stimme: »Der goldene Schmuck gehörte deiner Mutter. Sie bekam das Medaillon von deinem Vater, als du geboren wurdest, Ca-Daan. Hüte diesen Schatz gut.«
Wi-Yill brummte lautstark. »Bei meinen Ahnen, der Unsichtbare ist schon wieder da!«
Der Junge richtete sich auf. »Wer sind meine Eltern? Sag`s mir! Du weißt es doch.«
Das Licht fiel auf Wi-Yill. »Wahre Freunde helfen dir in der Not. Aber sei gewarnt vor der List falscher Freunde.«
»Und zu welcher Sorte gehörst du?«, blaffte Ca-Daan, der langsam die Geduld verlor.
»Ich werde immer dein Freund sein«, versicherte der Sprecher.
»Dann gib mir Antworten, die ich verstehe. Unter Wasser sah ich plötzlich Bilder von Feuer und Rauch und einem braunen Wesen, das mich packte. Erklär mir das! Woher komme ich? Wer bin ich? Wo sind meine Mutter und mein Vater?«
»Zu gegebener Zeit sollst du alles erfahren«, versprach die Stimme und wurde leiser und leiser. Ihre letzten Worte waren nurmehr ein Flüstern. »Wir hören uns wieder. Achte auf dich.« Schließlich verstummte sie ganz.
Ca-Daan blieb verwirrt im Gras sitzen, das Schmuckstück zwischen den kalten Fingern.
Wie eine Sintflut stürzte der Regen vom Himmel. Ein geradezu dämonischer Wind peitschte den Dschungel. Ca-Daan nahm von der tobenden Natur keine Notiz. Er saß auf Wi-Yill, den Blick stier geradeaus gerichtet, den Kopf voller Fragen und mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch. Sie ritten zum Lager der Mar-Jara. Ci-Saar sollte ihm Rede und Antwort stehen. Was wusste sie wirklich über seine Herkunft?
Die Raubtiere hatten sich unter die Mammutbäume zurückgezogen. Aus ihrer Deckung beobachteten sie, wie Ca-Daan eintraf. Gelbgrüne Augen flammten im trüben Gewitterlicht auf, halb neugierig, halb furchtsam beim Anblick des Menschen und eines unbekannten Monstrums, das er zu ihnen führte. Der Jüngling sprang von Wi-Yill herunter. Ci-Saar rannte ihm entgegen, außer sich vor Sorge. Rudelführer Ga-Toog folgte ihr.
»Ca-Daan, endlich! Wo bist du gewesen?«, kreischte das Weibchen. Ihre Nase wies auf Wi-Yill. »Und wer ist diese abscheuliche Kreatur?«
Ga-Toog blähte seine Brust auf. »Du weißt genau, dass keine Fremden im Lager erlaubt sind. Du bringst uns alle in Gefahr!«
»Wi-Yill ist mein Freund«, stellte Ca-Daan klar. »Er hat mir im Kampf gegen Ya-Xaas geholfen.«
Ci-Saars Augen weiteten sich. »Du warst am Großen See?«
»Ich bin auf den Grund getaucht und habe einen großen Quader gefunden, aus dem du mich gezogen hast, als ich klein war. So ist es gewesen, nicht wahr? Ich erinnerte mich plötzlich daran.« Er musterte sie wie ein Beutestück, das zur Strecke gebracht werden sollte. »Warum hast du behauptet, du hättest mich im Wald entdeckt?«
Ga-Toog, bemüht einen Keil zwischen die beiden zu treiben, spielte den Überraschten. »Was höre ich da, Ci-Saar? Du warst deinem Sohn gegenüber nicht ehrlich? Aber uns hast du doch auch erzählt, dass du ihn im See …«
»Schweig!«, unterbrach sie seine Rede. »Es geht dich nichts an, was ich mit meinem Jungen bespreche!«
Ca-Daan sprach so laut, dass das ganze Rudel ihn verstehen konnte. »Ich denke, es geht jeden etwas an, wieso du mich belogen hast, Ci-Saar.«
Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Noch mehr als sein aggressiver Ton schmerzte Ci-Saar die Tatsache, dass er sie mit Namen angesprochen und nicht wie üblich Mutter genannt hatte. Sie schüttelte Wassertropfen aus ihren Augen.
»Unwichtig, wo ich dich fand. Die Hauptsache ist, dass du ohne mich verloren gewesen wärst. Wie kamst du überhaupt auf die Idee, im Großen See zu tauchen? Du hast dich unnötig in Gefahr begeben, ist dir das klar?«
»Eine Stimme hat mir geraten, dorthin zu gehen und meine Vergangenheit und Zukunft zu finden.«
Als sie das Wort Stimme hörte, scharrte Ci-Saar nervös mit der Pfote. Ca-Daan las ihre Körpersprache.
»Ich sehe, du weißt, von welcher Stimme ich rede. Hat sie auch zu dir gesprochen?«
Ci-Saar schwieg.
»Antworte mir!«, schrie Ca-Daan.
»Ja, ich habe sie gehört«, erwiderte seine Ziehmutter ärgerlich. »In der Nacht, als ich dich zu mir nahm, hat sie mir deine Ankunft vorhergesagt.«
»Was hat sie dir noch über mich verraten?«
»Nichts.«
»Du lügst schon wieder«, schmetterte ihr Ca-Daan an den Kopf. »Wer sind meine wahren Eltern? Sag´s mir! Hast du sie vielleicht getötet, um mich zu bekommen?«
Ci-Saar zitterte, als habe er sie geschlagen. »Traust du mir etwas derart Grausames zu?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. In meiner Erinnerung habe ich Feuer gesehen, wie vor fünf Jahreskreisen als ein Blitz die alte Eiche im immergrünen Wald in Brand gesteckt hat. Außerdem sah ich herabfallende Steine und eine braune Gestalt, die mich trug und auf zwei Beinen lief wie ich. Es muss ein Mensch gewesen sein. Kennst du ihn?«
»Nein«, beteuerte die Mar-Jara. »Ich schwöre dir, mein Sohn, ich weiß nicht, woher du stammst.«
»Und was ist damit?«, fragte Ca-Daan und zeigte ihr den Schmuck, der an seinem Hals hing. »Das gehörte meiner echten Mutter. Hast du es schon einmal gesehen?«
»Nein, noch nie.«
Aus Ca-Daans Augen rannen Zornestränen und vermischten sich mit dem Regen. »Ich glaube dir nicht. Ich werde dir nie wieder glauben.« Er drehte sich um und lief in den Dschungel. Wi-Yill trabte hinter ihm her.
Ci-Saar jaulte auf. Ihr Herz schmerzte, als würde es von einer riesigen Klaue zerdrückt. »Ca-Daan, warte! Komm sofort zurück!«, heulte sie. Die Bitte stieß auf taube Ohren.
Ga-Toogs Pfote berührte ihre Schulter. »Ich verstehe, wie dir zumute ist«, sagte er in geheuchelter Anteilnahme. »Aber mit Strenge erreichst du bei ihm nichts. Der Junge ist in einem schwierigen Alter. Lass ihm Zeit. Er wird sich beruhigen.«
Sie senkte die Schnauze. »Hoffentlich behältst du recht.«
»Bestimmt«, meinte Ga-Toog samtweich. Innerlich jubelte er. Ohne Ci-Saars Hilfe war die stinkige Weißhaut verwundbar – und könnte endlich beseitigt werden.
*
Anderntags, als die Sonne wieder schien, schlich Ga-Toog zu jener Stelle im Urwald, an der Ca-Daan und Wi-Yill lagerten. Im Maul trug er einen Palmzweig. Ca-Daan lag auf dem Rücken und schaute sich den Schmuck seiner Mutter im Glanz des Tageslichts an. Er witterte den Besucher, noch ehe er ihn sah, und sprang auf. »Was willst du, Ga-Toog?«
Der schwarze Jäger kam aus den Büschen. »Ich bringe dir ein Geschenk«, sagte er und legte den Palmzweig im Gras ab.
Ca-Daan wunderte sich. »Du hast mir noch nie ein Geschenk gemacht. Warum jetzt?«
»Weil ich deinen Ärger verstehe. Ci-Saar hätte dich nicht belügen dürfen. Sie weiß nicht, wie man mit Menschen umgehen muss. Ich dagegen kenne deine Art gut.«
»Wirklich? Woher? Bist du schon mal anderen Menschen außer mir begegnet? Bitte erzähl`s mir.«
Ga-Toog freute sich über die kindliche Begeisterung des Burschen. Dadurch ließe er sich leichter beeinflussen.
»Das Wissen wurde von meinen Vorfahren vom Vater zum Sohn weitergegeben. Hinter den Bergen im Osten liegt ein altes Lager der Menschen, eine Wüste aus Steinen.«
»Steine!«, platzte es aus Ca-Daan heraus. »Die habe ich in meiner Erinnerung gesehen. Meinst du, dass noch immer Menschen dort leben?«
»Ich glaube nicht«, sagte Ga-Toog. »Doch du solltest nachsehen, um dich zu vergewissern. Wahrscheinlich findest du Spuren deiner Eltern.«
Wi-Yill richtete sein Auge auf Ca-Daan. »Geh nicht, Freund. Jenseits der Berge lauert Li-Baxx, der Mörder. Du wirst ihm begegnen, und er wird dich töten.«
»Nein, nein«, wehrte Ga-Toog ab. »Darum habe ich dir den Palmzweig mitgebracht. Li-Baxx kann den Geruch nicht ertragen. Damit vertreibst du ihn.«
Ca-Daan hob die Pflanze auf. Verlegen strich er darüber. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal bei dir bedanken würde. Heute tue ich es. Vielen Dank, Ga-Toog. Ich fühle, du meinst es gut mit mir. Viel besser als Ci-Saar.«
»Verurteile sie nicht«, schnurrte das listige Leittier. »Sie hat dich sehr gern – und ich auch. Ich habe es dir noch nie gezeigt, doch tief im Herzen bewundere ich deinen Mut und deine Stärke. Du bist ein würdiges Mitglied meines Rudels.«
Der Jüngling fühlte, wie seine Wangen vor Stolz heiß wurden. »Deine Worte bedeuten mir viel. Selbst wenn ich herausfinde, woher ich stamme, werde ich in die Familie der Mar-Jara zurückkehren.«
»Das wünsche ich mir«, sagte Ga-Toog und dachte das Gegenteil. Grinsend ging er seiner Wege.
Ca-Daan wollte sofort aufbrechen. Wi-Yill hielt ihn zurück. »Bei meinen Ahnen, du machst einen Fehler. Bleib lieber hier, Freund. Li-Baxx frisst dich, egal ob du den Palmwedel in der Hand hältst oder nicht.«
»Ich dachte, du kommst mit mir. Zu zweit kann uns Li-Baxx bestimmt nichts anhaben.«
»Du kennst ihn nicht. Ich setze nie wieder einen Huf in das Revier des Mörders.«
»Auch nicht, wenn ein Freund dich darum bittet?«, fragte Ca-Daan gefühlvoll.
»Selbst dann nicht«, sagte Wi-Yill und legte sich ins Gras.
Ca-Daan zuckte mit den Achseln. »Gut, es ist deine Sache, wenn du überall als Feigling bekannt werden möchtest.«
Empört reckte Wi-Yill das Horn in die Höhe. »Ein Feigling? Ich? Bei meinen Ahnen, niemand würde es wagen, mich so zu nennen.«
»Es wird sich im Dschungel herumsprechen, dass ich dich gebeten habe, mit mir gegen Li-Baxx zu kämpfen und du gekniffen hast. Wenn wir ihm aber begegnen sollten und ihn zusammen erlegen, wird man dich als Helden preisen, der den Mörder besiegte. Meinst du nicht, deine Ahnen wären dann mächtig stolz auf dich?«
Der Dickhäuter biss in einen Pilz auf dem Boden und kaute darauf herum. Wenn er etwas Essbares zwischen den Zähnen hatte, fiel ihm das Nachdenken leichter. »Mhm … was du sagst, klingt überzeugend. Keiner soll behaupten, ich ginge einem Kampf aus dem Weg.« Wi-Yill erhob sich. »Steig auf, Freund. Ich bringe dich über die Berge.«
Ca-Daan lächelte breit, da seine Überredungskunst Früchte getragen hatte, und kletterte auf Wi-Yills Rücken.
Ihr Ritt nahm mehr als einen halben Tag in Anspruch. Bis sie das Gebirge überquert und die von Ga-Toog beschriebene Stelle gefunden hatten, stand die Sonne tief am Horizont. Orangerotes Dämmerlicht schien auf eine Anhäufung übereinander geschichteter Steine, überwuchert von Efeu und hohen Buschgräsern. Viele der Felsen türmten sich so hoch wie die sie umgebenden Baumriesen, waren mit Moos bedeckt und grünlich verfärbt. Ca-Daan kannte die Worte Stadt und Ruinen nicht, andernfalls hätte er gewusst, dass er sich in den Ruinen einer seit ewigen Zeiten verlassenen Stadt der Menschen befand. Mit offenem Mund ging er über eine Treppe, die halb eingestürzt war, und durch einen Torbogen, hinter dem ein weiter runder Platz lag. Der Boden war gepflastert mit verwitterten Sandsteinen. Er kniete sich nieder, berührte den uralten Grund und blickte auf zu den Trümmern eines Hauses. Die leeren, gähnenden Fensteröffnungen waren für ihn nur schwarze Löcher, und doch spürte er bei ihrem Anblick das Vermächtnis verwandter Seelen.
»Hier haben Menschen gelebt, vor ewigen Zeiten«, sagte er ehrfürchtig. »Ob sie so waren wie ich? Wohin sind sie gegangen?«
»Sicher hat Li-Baxx sie gefressen«, vermutete Wi-Yill.
»Das denke ich nicht.« Ca-Daan schritt über den Platz. »Wer so viele Steine aufeinander legen konnte, muss sehr stark gewesen sein und hätte Li-Baxx bezwungen. Trotzdem könnte es sein, dass die Menschen geflohen sind. Aber vor wem oder was? Und zu welchem Ort?«
Wi-Yill schaute zu den länger werdenden Schatten auf dem Mauerwerk. »Wir sollten das Weite suchen. Die Gegend ist mir unheimlich.«
»Noch nicht.« Ca-Daan strich über die Mauer und roch daran. »Bin ich hier geboren worden? Meine Eltern könnten länger geblieben sein als alle anderen. In meinem Kopf habe ich Bilder gesehen von Feuer und Rauch. War es dieser Ort, der in Flammen aufging?« Zerknirscht sah er Wi-Yill an. »Ich denke mir, dass meine Mutter und mein Vater auf der Flucht umgekommen sind und ich der einzige Überlebende bin. Doch wer war der braunhäutige Mensch, der mich in das Ding gelegt hat, das ich im See entdeckt habe?«
»Ein Freund deiner Eltern«, schlug Wi-Yill vor.
»Ein Freund wie du.« Ca-Daan lächelte und kraulte den Grauen hinter den Trötenohren. Einen Wimpernschlag später verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Er hob den Kopf in den Wind und blähte seine Nasenflügel. »Riechst du das? Als ob in der Nähe ein Tier verendet wäre.«
»Das ist der Gestank von Li-Baxx!«, schrie Wi-Yill. »Schnell weg!«
Zu spät. Ein durch Mark und Bein dringendes Gebrüll erfüllte die feuchte Dschungelluft. Aus dem Schatten des Torbogens trat das Biest, das Wi-Yills Stamm ausgerottet hatte. Li-Baxx schritt auf vier Pranken wie die Mar-Jara, war aber bedeutend größer und kräftiger gebaut. Eine feuerrote Mähne umgab sein furchteinflößendes Raubtiergesicht. Der Schädel saß auf einem kurzhaarigen, hellbraunen Körper, zwischen dessen Hinterbeinen ein Skorpionschwanz herausragte. Das Gift seines Stachels hatte Hunderte Opfer zur Strecke gebracht. Li-Baxx brüllte und zeigte drei hintereinander liegende Zahnreihen. Aus bösen, tiefschwarzen Seeschlitzen fixierte er die Eindringlinge, die es gewagt hatten, sein Reich zu betreten.
»Wer seid ihr?«, fragte der Mörder. Seine Stimme klang, als käme sie aus einem Abgrund. »Ich möchte wissen, wen ich zum Abendessen verspeise.«
Ca-Daan warf das lange Haar in den Nacken und straffte die Schultern. »Mein Name ist Ca-Daan. Und ich werde gegen dich kämpfen, wenn es sein muss, gemeinsam mit meinem Freund Wi-Yill.«
»Wi-Yill«, echote Li-Baxx und sein Maul unter den Schnurrbarthaaren grinste. »Ich nahm an, alle von deiner Sorte gefressen zu haben. Nun denn, für einen Dicken wie dich ist immer Platz in meinem Magen. Und du … Ca-Daan? Du trägst den Geruch der Mar-Jara an dir, aber du bist ein Mensch.«
Für einen Moment siegte Ca-Daans Neugier über seine Furcht vor der Bestie. »Was weißt du über die Menschen?«
»Ich mag sie.« Li-Baxx lief von einer Seite des runden Platzes zur anderen, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen, und wedelte dabei mit dem Schwanz. »Ihr Menschen seid mir ähnlich. Töten ist für euch ein Vergnügen.«
Die Behauptung versetzte Ca-Daan in Wut. Sie widersprach allem, was er fühlte. »Das stimmt nicht! Ich bin ein Mensch und töte niemanden zum Vergnügen.«
»Dann weißt du nicht, was du versäumst«, schnurrte Li-Baxx. »Wer tötet hat Macht. Er wird gefürchtet und keiner wagt es, ihn zu verletzen.«
»Du tust mir leid«, sagte Ca-Daan mit aufrichtigem Bedauern. »Aus dir spricht ein Tier, das nie erfahren hat, dass es schöner ist, geliebt zu werden als gefürchtet.« Er dachte an Ci-Saars zärtliche Umarmungen und bereute, sie beschimpft zu haben.
Li-Baxx schmunzelte. »Liebe ist etwas für die Schwachen, die jemanden brauchen, an dem sie sich festhalten können. Leider wirst du keine Gelegenheit mehr haben, das zu lernen, Bürschchen.« Das Ungeheuer nahm Angriffshaltung an.
Ca-Daan riss den Palmzweig aus seinem Lendenschurz. »Verschwinde! Sonst stecke ich dir den Zweig in deine hässliche Nase! Du erträgst den Geruch nicht. Mein Rudelführer Ga-Toog hat`s mir verraten.«
Li-Baxx lachte. In einer Lautstärke, dass kleine Steinchen aus der Mauer rieselten. »Und du hast ihm den Schwindel geglaubt? Der alte Ga-Toog und ich, wir waren Jagdgefährten in unserer Jugend. Er hat dich hereingelegt, Dummkopf, und du bist ihm in die Falle gegangen.« Li-Baxx richtete den Schwanz kerzengerade in die Höhe. Der Giftstachel funkelte im Schein der untergehenden Sonne. »Genug geplaudert! Zeit zum Essen! Zuerst nehme ich mir den Dicken vor – und dann kommst du an die Reihe, Menschlein.«
Das Monstrum sprang. Gleichzeitig schoss Wi-Yill nach vorne. Sein Horn streifte Li-Baxx` Körper, verletzte ihn aber nicht ernsthaft. Ein Prankenschlag in den Nacken ließ Wi-Yill das Bewusstsein verlieren. Li-Baxx senkte seinen Stachel zum tödlichen Stoß.