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Im Wahlkampf springt der polarisierende Politiker Francisco Fraude mit dem Fallschirm über Gran Canaria ab. Felix Faber, deutscher Auswanderer und Journalist auf der Insel, beobachtet den Sprung von seinem Bungalow aus. Es geschieht das Unvorstellbare, vor laufender Kamera schlägt Fraude auf einem Felsen auf und ist tot. Faber beginnt zu recherchieren und kreuzt dabei den Weg der taffen Ermittlerin Ana Montero. Zusammen decken sie nach und nach eine Verschwörung auf.
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Seitenzahl: 266
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Daniel Verano
Canaria Criminal
Felix Fabers zweiter Fall
Fataler Sprung Mit kontroversen Aussagen spaltet der rechtspopulistische Hoffnungsträger Francisco Fraude die Kanaren. Um seine Chancen auf einen Sieg bei den anstehenden Wahlen zu steigern, springt er mit dem Fallschirm über Gran Canaria ab. Das Event wird zu einem Medienspektakel. Doch in der Luft kommt es zu dramatischen Szenen. Der Fallschirm öffnet sich nicht, Fraude schlägt vor den Augen der Canarios auf einen Felsen auf und ist sofort tot. Ein tragischer Unfall? Selbstmord? Oder gar ein hinterhältiges Attentat? Als eine Person aus seinem Umfeld unter Verdacht gerät, beginnt der deutsche Auswanderer und Journalist Felix Faber auf eigene Faust zu ermitteln. Auch die Kommissarin Ana Montero von der Policía Nacional ist an dem Fall dran. Während die Liste der Verdächtigen länger und länger wird, dringen beide tiefer in die dunkle Vergangenheit des Politikers vor …
Daniel Verano ist das Pseudonym von Daniel Wehnhardt. Der Autor wurde 1984 in Fürstenhagen geboren. Nach dem Studium arbeitete er für die evangelische Kirche und unterrichtete Spanisch und Politik an unterschiedlichen Schulen im nord- und osthessischen Raum. Er wohnte selbst eine Zeit lang auf den Kanaren, die er seitdem jährlich besucht – auch zur Recherche für seine zeitgenössischen und zeitgeschichtlichen Spannungsromane, die er inzwischen als hauptberuflicher Autor schreibt. Er lebt und arbeitet in Kassel. Mehr Informationen zum Autor unter: www.danielwehnhardt.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Karte: Rainer Lesniewski – istockphoto.com
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Robert Ruidl / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7730-0
Martín Casado trank einen Schluck Wasser, sah das Lämpchen aufleuchten und beugte sich zu seinem Mikrofon. »Buenos días, Señoras y Señores«, begrüßte er seine Zuhörerschaft. »Was für ein wundervoller Morgen hier in Las Palmas. Es ist halb acht, und ihr hört Radio Canarias.« Obwohl er mit seinem Gast allein war, zeigte er auf ihn. Eine Marotte, die er seit seinen ersten Tagen als Moderator beibehalten hatte. »Bei uns im Studio ist ein Mann, den ich niemandem vorzustellen brauche, denn er ist aktuell in aller Munde. Francisco Fraude, frisch gewählter Parteichef von RAZÓN auf den Kanaren. ¡Bienvenido, Señor! Vielen Dank, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben.«
»Mucho gusto«, antwortete der Angesprochene. Er räusperte sich und streckte seinen Rücken durch. Wach und konzentriert erwiderte er Casados Blick. Aus dem Jackett seines maßgeschneiderten Anzugs lugte ein Einstecktuch hervor.
»Señor Fraude, auf dem Parteitag sind Sie mit einer überwältigenden Mehrheit gewählt worden. Damit haben Sie Ihren Vorgänger spektakulär aus dem Amt gedrängt. Wie haben Sie diese Entscheidung empfunden?«
»Sie haben es treffend beschrieben, das Votum der Delegierten war eindeutig. Die Partei wird Miguel Torres für sein Engagement ewig dankbar sein. Dennoch waren unsere Mitglieder nicht bereit, seinen Kurs mitzutragen, das hat diese Wahl überzeugend belegt.«
»Viele Abgeordnete im kanarischen Parlament haben seinen Kurs als moderat bezeichnet. Sie teilen diese Einschätzung nicht?«
»Nein.«
»Wie würden Sie ihn stattdessen beschreiben?«
»Der Kollege Torres hat ein für ihn traumatisches Erlebnis erlitten.«
»Sie spielen auf den Selbstmord seines Sohnes an?«, fragte Casado.
Fraude nickte. »Dieser Vorfall ist fürchterlich, und dem Kollegen gilt selbstverständlich unser tiefes Mitgefühl.«
»Sie glauben, er habe sich auf seine politische Agenda ausgewirkt?«
»Fakt ist, dass Torres seine Positionen seitdem verändert hat. Diese decken sich jedoch nicht mit der Parteilinie.«
Casado fasste sich an die Nase. »Vale, dann machen wir es konkret: Wie wollen Sie Ihre Partei für die kommenden Parlamentswahlen im nächsten Mai ausrichten?«
Fraude rückte näher an das Mikrofon heran. »Unsere Politik betrifft vor allem drei Bereiche: erstens die Flüchtlings-, zweitens die Energie- und drittens die Sozialpolitik.«
»Wie lauten da Ihre Positionen und Vorschläge?«
»Zunächst müssen wir sicherstellen, dass der Zustrom illegaler Flüchtlinge gestoppt wird. Um das zu erreichen, schlagen wir vor, eine kanarische Spezialeinheit zu schaffen, die vor unseren Inseln patrouilliert. Wir müssen die Schlepperbanden abfangen, bevor diese unsere Strände erreichen.«
Casado biss sich auf die Zunge. Als hielte nur sein journalistisches Ethos ihn davon ab, seinem Gast seine wahre Meinung zu eröffnen.
»Weiter wollen wir die desaströse Energiepolitik der Regierung beenden«, fuhr Fraude fort. »Dieser Irrsinn muss ein Ende haben.«
»Sie meinen …?«
»Den ideologiegetriebenen Ausbau der sogenannten erneuerbaren Energien.«
»Die Kanarischen Inseln haben den Anteil ihrer Stromerzeugung aus Wind-, Solar- und Wasserenergie innerhalb der letzten drei Jahre um dreiundvierzig Prozent gesteigert. Viele Menschen würden das als außerordentliche Leistung bezeichnen. Sie nicht?«
»Zuallererst ist das vor allem eine außerordentliche Plünderung der öffentlichen Kassen. Und die sind – dank der linken Regierungen der vergangenen Jahrzehnte – ohnehin bereits leer.«
»Sie sehen die Hinwendung zu erneuerbaren Energien demzufolge kritisch?«
»Das grüne Wachstum, wie es uns die Öko-Sozialisten verkaufen wollen, ist in Wahrheit ein grünes Schrumpfen. Und zudem nichts weiter als ein unbezahlbares Märchen. Wir werden uns diesem Wahnsinn entgegenstellen.«
»Was ist Ihre Lösung?«
»Zunächst müssen wir anerkennen, dass wir den wachsenden Strombedarf, insbesondere hier auf Gran Canaria, nicht mit dieser Form der Energieerzeugung decken können. Das ist eine naturwissenschaftliche Tatsache. Wenn wir das versuchten, würde dies zulasten unseres wichtigsten Wirtschaftszweigs gehen, des Tourismus. Wir von RAZÓN sind der Auffassung, dass es unverantwortlich ist, unsere größte Einnahmequelle für dieses rein ideologische Projekt zu gefährden.«
»Vale, das sagten Sie bereits«, entfuhr es Casado. Es fiel ihm zunehmend schwerer, sich zu beherrschen. Er rutschte auf seinem Stuhl herum. »Stattdessen plädieren Sie wofür?«
Fraude öffnete sein Jackett, griff in die Innentasche und zückte einen Zettel. »Der Konzern PETROLOL schätzt, dass vor unseren Inseln täglich einhunderttausend Tonnen Erdöl gefördert werden könnten, und das die nächsten zwanzig Jahre lang.« Er verstaute die Notizen wieder in seinem Jackett, knöpfte es zu und zupfte es zurecht. »Einhunderttausend Tonnen«, wiederholte er nachdrücklich, »zwanzig Jahre lang! Damit wären alle Energieprobleme gelöst.«
»Aber was ist mit den Gefahren? Denken Sie doch nur an eine mögliche Katastrophe an unseren Stränden. Würde die Förderung von Erdöl nicht jenen Wirtschaftszweig gefährden, für dessen Schutz Sie plädieren?«
Fraude verzog keine Miene. »Das ist grüne Angstmacherei«, erwiderte er kühl, »und die Canarios wissen das. Sonst stünden wir in den Umfragen nicht dort, wo wir uns gerade befinden.« Ein überhebliches Grinsen huschte über das Gesicht des Parteichefs.
In der neuesten Erhebung hatten dreißig Prozent der Befragten angegeben, bei der nächsten Wahl ihre Stimme für RAZÓN abzugeben. Das hatte für ein Erdbeben im politischen Establishment gesorgt und war der Grund dafür gewesen, dass Radio Canarias die derzeit wichtigste Person der Partei eingeladen hatte.
»Also gut, kommen wir zum letzten Punkt«, wischte Casado dieses Argument beiseite. »Sie erwähnten anfangs die Sozialpolitik. Zweifellos liegt diesbezüglich auf unseren Inseln einiges im Argen.«
»Genau meine Rede. Ich stimme dem voll und ganz zu, Martín.« Fraude war zum Du übergegangen, ohne zu fragen, wie es in Spanien üblich war. »Deshalb müssen wir auch hier der Realität ins Auge sehen. Schluss mit dem Asylmissbrauch und der Einwanderung in die Sozialsysteme.«
»Eine sehr populi-«, Casado schob sich gerade noch einen Riegel vor, »populäre Forderung.«
»Wir dürfen uns nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen! Deshalb muss es fortan heißen: ¡Españoles primero! Sozialleistungen nur noch für unsere Landsleute, für Spanierinnen und Spanier. Konsequentes Abschieben von abgelehnten Asylanten und kriminellen Ausländern.«
Casado fehlten die Worte. Was sollte er darauf erwidern? Am liebsten wäre er diesem Kerl an den Hals gesprungen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dürfte Fraude nicht hier sitzen und diesen sprachlichen Müll absondern. Aber die Programmleitung hatte auf dem Interview bestanden und ihn zudem eindringlich gewarnt, dass er sich beherrschen solle, sonst könne er sich am nächsten Tag einen neuen Sender suchen.
Mit größter Mühe schob der Moderator seine Gedanken beiseite. »Sie haben mir vor der Sendung gesagt, dass Sie unseren Hörerinnen und Hörern zum Schluss des Interviews noch etwas ankündigen möchten.«
»Correcto.« Fraude richtete sich erneut auf. Casado konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass Fraudes Stock im Hintern ihn zu den unruhigen Bewegungen zwang. »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die vor uns liegenden Aufgaben sind so vielfältig wie gewaltig. Was wir brauchen, sind keine ideologischen Zauderer, sondern mutige Pragmatiker. Unsere Inseln und unsere große Nation haben es verdient, von den Besten regiert zu werden. Von Menschen, die bereit sind, jede Last auf sich zu nehmen, wenn das Wohl unserer Inseln und unseres Landes dies erfordert.« Er faltete seine Hände und legte eine Pause ein, um die Spannung zu steigern. »Deshalb kündige ich hiermit Folgendes an: Heute in zwei Wochen werde ich mit einem Flugzeug vom Aeródromo de El Berriel starten und mit dem Fallschirm abspringen – allein. Um zu zeigen, dass ich bereit bin, alles Erdenkliche für unsere Gemeinschaft, für unsere Insel zu tun.«
Das hatte gesessen. Casado blieb die Spucke weg.
Fraude verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Sein Mund formte sich zu einem siegesgewissen Lächeln. Sein Blick sagte wortlos: Dir hab ich’s gezeigt.
Ab jetzt würden im Wahlkampf alle Augen auf ihn gerichtet sein.
*
Ich beende die Übertragung und klappe das Notebook zu.
Francisco Fraude.
Allein dieser Name, ekelhaft. F. F., dieselben Initialen wie die des spanischen Diktators Francisco Franco. Und derselbe Vorname.
Ironie des Schicksals? Wohl eher historischer Sarkasmus, denn ideologisch nehmen beide Franciscos einander nichts. Das, was Fraude soeben in der Sendung abgesondert hat, hätte auch aus dem Mund von Franco höchstpersönlich kommen können.
Gedankenverloren wandert mein Blick zu der Wanduhr über der Tür. Verflucht, ich bin zu spät dran! Ich springe vom Bett und gehe in die Küche. Eigentlich wollte ich vor der Arbeit noch eine Kleinigkeit essen, aber das passt nun nicht mehr. Stattdessen nehme ich die angebrochene Mate aus dem Kühlschrank und kippe den Rest in wenigen Schlucken herunter.
Dann husche ich ins Schlafzimmer. Hole den Blaumann von der Kleiderstange, schlüpfe hinein und betrachte mich zum Abschluss in dem Schrankspiegel.
Ich verlasse meine Wohnung, überquere den Parkplatz vorm Haus und steige in meinen Suzuki. Zur Abwechslung habe ich heute Glück, mein altersmüder Japaner springt bereits beim dritten Anlauf an. An manchen Tagen dauert es eine halbe Ewigkeit, bis er sich meiner erbarmt und endlich zum Leben erwacht.
Ich durchquere den Ort und fahre über die Auffahrt auf die GC-500. Ich folge der Schnellstraße eine Weile, versunken in meinen Gedanken, bis sie schließlich zweispurig den Felsen hinaufklettert und nach einer scharfen Kurve die Küste entlangführt.
Wie immer, wenn ich auf diesem Weg zur Arbeit fahre, lasse ich oben kurz meinen Blick schweifen. Eineinhalb Kilometer weiter liegt die Siedlung Bahía Feliz, sie bildet den nordöstlichsten Teil der Urlaubsregion Maspalomas. Dorthin reisen die Touristen, die es behaglicher mögen, wohingegen die Vergnügungslustigen in den mehrstöckigen Hotelburgen in den südlichen und südwestlichen Gemeinden wie Playa del Inglés, Meloneras und Puerto Rico unterkommen.
Die Straße führt wieder bergab. Ich höre ein anschwellendes Propellergeräusch, rücke an die Frontscheibe und sehe zum Himmel. Über mir fliegt eine Cessna Caravan, sie muss vom Aeródromo in der nahe gelegenen Bucht gestartet sein. Von dort wird Francos Namensvetter bald zu seiner PR-Aktion abheben.
Zwei Wochen später
»So etwas hat das Aeródromo noch nicht erlebt!« Ana Salas schaute mit weit geöffneten Augen in die Kamera. Trotz der zahlreichen Warnungen schien der gigantische Ansturm sie zu überraschen. »Die Gemeindeverwaltung hat alle verfügbaren Sicherheitskräfte hierherbeordert. Aber sehen Sie selbst.«
Die Kamera schwenkte von ihr weg. Der staubige Parkplatz war voller Menschen, viele hielten Plakate und Schilder über ihren Köpfen. »Nie mehr Faschismus!«, »Stoppt Fraude!« und »Nieder mit RAZÓN!« war auf ihnen zu lesen. Andere streckten ihre Fäuste zum Himmel, boxten in die Luft und skandierten sich überlappende Sprechchöre. Die Polizei riegelte die Eingänge zu dem Hauptgebäude ab. Den Beamten stand die Anstrengung ins Gesicht geschrieben, nur mit äußerstem Kraftaufwand hielten sie die von ihnen gebildete Kette zusammen. Als eine Gruppe von Personen über den Zaun zu klettern versuchte, drängten die Sicherheitskräfte sie mit Gummiknüppeln zurück. Einige unter ihnen erhielten Schläge auf Hände und Füße und stürzten daraufhin rücklings ins Geröll.
»Manche versuchen auch gewaltsam auf das Gelände zu kommen«, beschrieb Salas die Lage aus dem Off. Die Kamera schwenkte erneut, sodass sie kurz auf das Erkennungszeichen des Aeródromos fokussierte: ein ausgemustertes Flugzeug der kanarischen Binnenfluglinie Binter, das von der Schnellstraße aus zu sehen war und an dessen Rumpf das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge flackerte.
»Wir nehmen Sie jetzt mit rein«, sagte Salas. »Francisco Fraude bereitet sich dort auf seinen Sprung vor.«
Sie war wieder mitten im Bild. Es wackelte leicht, als der Kameramann sich ihrem sportlichen Gang anschloss. Durch die Schleuse betraten sie das Hauptgebäude, dahinter empfing sie eine andere Welt, in die von den Tumulten kaum etwas durchdrang.
Salas sah sich um und erspähte Fraude durch die Glasfront. Sie winkte den Kameramann weiter, gemeinsam eilten sie die Treppe hinunter und von dort nach draußen aufs Vorfeld. Der Geräuschpegel schwoll wieder an.
»¡Señor Fraude!«, rief Salas und streckte ihren Arm in die Luft.
Mit ernster Miene suchte der Politiker seine Umgebung ab. Als er die Reporterin samt Kameramann erblickte, entspannte sich sein Gesichtsausdruck. Wie unbedeutende Statisten drückte er zwei Angestellte der Fallschirmsprungschule beiseite.
»Señora Salas«, empfing Fraude sie mit gekünstelt wirkender Freundlichkeit. »¡Bienvenido!«
Sie schüttelten sich die Hände. Salas stellte sich neben ihn, sie richteten sich zur Kamera aus. Mit einem Nicken gab sie ihrem Kollegen ein Zeichen.
»Señor Fraude, die Canarios haben diesem Tag zwei Wochen lang entgegengefiebert. Wie fühlen Sie sich?«
»Mir geht es ausgezeichnet. Es ist ein aufregender Tag, und ich freue mich, dass so viele meiner Landsleute hier sind, um mich zu unterstützen.«
»Wie haben Sie sich auf diesen Sprung vorbereitet?«
Fraude drehte sich um und zeigte auf die Angestellten, die ihm eben noch im Weg gestanden hatten. »Ohne diese netten Menschen wäre das nicht möglich gewesen.« Er winkte ihnen kurz zu und wandte sich direkt wieder zur Kamera, sein Lächeln war steif und wirkte aufgesetzt. »Sie haben mich perfekt vorbereitet. Ich habe zahlreiche Übungssprünge absolviert.«
»Was wollen Sie den Menschen mit dieser Aktion zeigen?«
»Nun, Ana«, ging Fraude zum Du über, »die Menschen haben die Nase voll von Politikern, die nur reden und nicht handeln. Die nicht bereit sind, jene Kraftanstrengungen, die sie ihren Bürgern abverlangen, selbst aufzubringen.« Eine Pause sollte seinen Worten Nachhall verschaffen. »Heute möchte ich den Canarios zeigen, dass es auch Politiker gibt, die nicht ihre eigenen, sondern die Interessen unserer Gemeinschaft an oberste Stelle setzen.«
»Seit Ihrer Ankündigung sind Ihre Werte in den Umfragen in den Himmel geschossen. Und nun möchten Sie sich aus demselben im freien Fall auf die Insel herabstürzen. Halten Sie das für ein gut gewähltes Symbol?«
Fraude ließ sich von dieser Frage nicht aus der Reserve locken. »Darum geht es nicht, Ana. Die Canarios sehnen sich nach jemandem, der seine Verantwortung ernst nimmt. Der bereit ist, sich voll und ganz in ihren Dienst zu stellen.«
Salas zeigte auf die andere Seite des Gebäudes. »Auf dem Parkplatz ist die Hölle los. Offensichtlich sieht dieser Teil der Canarios keinen Hoffnungsträger in Ihnen.«
»Ich möchte meine Energie nicht für diese verwirrten Seelen einsetzen.«
»Einige der Demonstranten versuchen über den Zaun zu klettern.«
»Das zeigt doch, wie wenig diese Menschen von unseren Regeln und Gesetzen halten. Glücklicherweise haben wir eine fähige Polizei, die ihnen Einhalt gebietet.«
»Was würden Sie diesen Demonstranten erwidern?«, hakte Salas nach. »Immerhin sehen sie in Ihnen die Verkörperung eines wiedererstarkenden Faschismus.«
»Ich würde Sie ermutigen, weiter von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch zu machen. Von demselben Recht, das auch ich für mich in Anspruch nehme.«
Ein ratterndes Geräusch unterbrach sie. In ihrem Rücken startete der Flugzeugmotor, die Kamera schwenkte hinüber. Die Angestellten trafen letzte Startvorkehrungen, sie entfernten die Bremskeile und untersuchten die Cessna auf sichtbare Schäden.
»Ein kleiner Sprung für mich«, sagte Fraude aus dem Hintergrund, »aber ein riesiger Sprung für unsere Insel.«
*
Felix lehnte sich über das Terrassengeländer und schaute durch sein Fernglas. Zwischen den Palmen der Bungalow-Anlage erkannte er nur Ausschnitte des Flugplatzes. Was er jedoch sah, war die Menschenmenge, die sich vor dem Hauptgebäude versammelt hatte. Obwohl es sich Hunderte Meter Luftlinie entfernt befand, konnte er das Getrommel und die Parolen deutlich hören. Zusammen mit dem Rauschen des Atlantiks, dem Rascheln des Windes in den Palmen und den Jetskis vor der Küste verwoben sich die Klänge zu einer besonderen Geräuschkulisse.
Felix setzte das Fernglas ab und sank auf seine Liege. Bis eben hatte er in der Sonne gelegen und eine gekühlte Tónica geschlürft. Was blieb ihm auch sonst zu tun an seinem ersten Urlaubstag seit Langem. Dann hatte ihn seine Smartwatch daran erinnert, dass der Start des großen Events unmittelbar bevorstand. Diesem hatten die Canarios zwei Wochen lang entgegengefiebert, und heute war es endlich so weit: Pünktlich um dreizehn Uhr dreizehn – was für eine schlecht gewählte Zeit – würde Francisco Fraude mit dem Fallschirm abspringen, ein paar Runden über der Küste drehen und schließlich in den Dünen von Maspalomas landen, wo eine Horde von Journalisten und Polizeibeamten ihn erwartete.
Felix und seine Kollegen von LA VIDA hatten die Radiosendung mitgehört, in der er seinen Sprung angekündigt hatte. Allen war sofort klar gewesen, dass Fraude damit ein PR-Coup gelungen war. Leider hatte er auch zu einem Streit zwischen den Redakteuren geführt. Candela, Guillermo und Felix wollten unbedingt über dieses Ereignis berichten, wohingegen Vega, Lola und Ines das strikt ablehnten. In dieser Pattsituation wäre es auf die Stimme von Gabriel angekommen – wenn ihr Chefredakteur nicht abgetaucht und für niemanden mehr zu erreichen gewesen wäre. Nur auf die Nachrichten seiner Lebensgefährtin antwortete er noch sporadisch.
Ein Motorengeräusch in der Ferne ließ Felix ins Hier und Jetzt zurückkehren. Er stand auf und schaute wieder durch sein Fernglas. Auf dem Vorfeld erspähte er die Tragflächen der Cessna. Bei deren Anblick erinnerte er sich an die Flugstunde, die er sich zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag geleistet hatte. Eineinhalb Stunden waren er und ein Fluglehrer über Kassel und Göttingen gekreist. Bis auf den Start und die Landung hatte Felix die Maschine selbst steuern dürfen.
Am Aeródromo setzte die Cessna sich nun in Bewegung. Während sie weiter über das Vorfeld rollte, testete der Pilot die Start- und Landeklappen und ließ sie anschließend einrasten. Dann schwenkte er auf die Startbahn und ohne anzuhalten gab er vollen Schub.
Sekunden später hoben sie ab, mit einem steilen Anstellwinkel erklomm die einmotorige Maschine den wolkenlosen Himmel. Sie flogen zunächst in nördliche Richtung, um dann nach Süden zu wenden und Kurs auf die Felsklippe zu nehmen. Vor Felix’ Augen schrumpfte das Propellerflugzeug zu einem kleinen weißen Punkt.
Er nutzte die kurze Pause und nippte ein weiteres Mal an seiner Tónica. Dass er dieses Ereignis miterleben durfte, hatte er einzig Candela zu verdanken. Sie hatte nach dem Mord an Sara Martí und dem Suizid von Ferran Torres auf ihn eingeredet, dass er seinen Traum vom Leben im Ausland nicht einfach aufgeben sollte. Er hingegen war bereit gewesen, der Insel den Rücken zu kehren. Die Bitte der Inspectora Ana Montero – die vielmehr einer Drohung gleichkam – hatte ihm gezeigt, dass er von polizeilicher Seite auf Gran Canaria nicht mehr erwünscht war. Er hatte Fehler begangen. Gravierende Fehler. Heute, knapp dreieinhalb Monate später, schämte er sich dafür, sich in die polizeilichen Ermittlungen eingemischt und eigenmächtig Nachforschungen betrieben zu haben, ohne die Gefahren zu sehen. Zurecht hatte Montero ihn zur Schnecke gemacht und ihm mitgeteilt, dass sie ihre unkonventionelle Zusammenarbeit als beendet betrachtete. Für sie war er eine tickende Zeitbombe.
Das Motorengeräusch verstärkte sich. Felix stellte sein Getränk ab, hob wieder das Fernglas vor die Augen und verfolgte die Flugroute der Cessna. Er erkannte sogar Fraude, der Politiker hockte an der Absetzluke. Sein Blaumann flatterte im Wind, und sein Blick war auf den Atlantik gerichtet. Neben ihm saß ein Mann, der seine Kamera direkt auf den Star des Tages draufhielt. Fraudes breites Grinsen war nun sicher in fast jedem Fernsehapparat der Insel zu sehen. Wie viele Übungssprünge hatte er absolviert? Felix hatte es gehört, aber schon wieder vergessen. Ob Fraude trotzdem aufgeregt war? Wenn ja, besaßen das gewaltige Medieninteresse sowie die massiven Proteste vermutlich einen großen Anteil daran. Selbst ein Mann wie Fraude ließ das nicht kalt.
Allmählich stieg die Maschine auf ihre Zielhöhe. Fraude rückte dichter an den Rand der Absetzluke heran und drehte sich zur Kamera. Felix vermutete, dass er den Zuschauern der Live-Übertragung einen letzten medienwirksamen Gruß schicken wollte.
Dann drückte er sich ab und sprang hinaus. Mit ausgebreiteten Armen, als würde er die Insel und ihre Bewohner unter sich umarmen wollen. Eine für gläubige Katholiken wie die Canarios strahlkräftige Haltung.
Der Retter, der vom Himmel fällt.
Die Botschaft, die Fraude mit diesem Sprung senden wollte, war klar. Felix hatte keinen Zweifel, schon bald würden die Zustimmungswerte des Politikers explodieren. Schlitterte Gran Canaria womöglich sehenden Auges auf eine rechtspopulistische Regierung zu?
Felix legte das Fernglas weg, denn Fraude fiel zu schnell, als dass er ihn damit einfangen konnte. Kaum hatte er das Sichtfeld auf ihn ausgerichtet, war der Politiker aus ihm verschwunden. Doch auch ohne Sehhilfe war er gut genug zu erkennen. Immer noch flog er in messianischer Pose auf die Insel herab. Jeden Augenblick würde er an seinem Griff ziehen und im Gleitflug über der Insel kreisen. Die Polizei hatte die Landezone in den Dünen weiträumig abgesperrt, ein weiteres Kamerateam wartete vor Ort.
Plötzlich bemerkte Felix hektische Betriebsamkeit in der Luft. Er kniff die Augen zusammen. Fraude ruderte mit den Armen, strampelte mit den Beinen. Er hatte seine stabile Fluglage verloren, drehte und rollte spiralförmig durch die Luft. Felix begriff sofort. Da oben lief etwas gewaltig schief. Verdammt, was war da los? Wenn er die Bewegungen richtig deutete, zerrte Fraude ununterbrochen an der Reißleine. In kurzen Abständen, hektisch, panisch. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Es musste ihm schnell gelingen, den Schirm auszulösen, sonst würde er –
Dann der Aufprall. Schreie aus den Wohnzimmern einiger Nachbarn, die das Spektakel vor dem Fernseher verfolgt haben mussten. Gefolgt von kurzer, aber umso gespenstischerer Stille. Das Entsetzen war groß. Eben noch war Fraude der mögliche Heilsbringer, und nun war er … Diesen Sturz konnte er nicht überlebt haben.
Fassungslos starrte Felix auf den Felsen.
Verfluchte Scheiße.
Jetzt würde es stürmisch werden auf der Insel.
*
»Wie machst du das?« Ruiz legte sein Besteck ab und sah sie fragend an. »Ich kann mir das nicht erklären.«
Ana verzog irritiert das Gesicht. Sie schluckte das scharf gewürzte Kalbfleisch herunter und spülte mit einem Schluck Cola nach. »Was meinst du?«
Er rollte mit den Augen und zeigte auf ihren Teller. »Na, dass du essen kannst wie ein Scheunendrescher, aber dennoch so aussiehst, als würdest du von einer Handvoll Reis leben.«
Ana lachte. Diese Frage war nicht neu für sie, sie hörte sie regelmäßig. Trotzdem stutzte sie jedes Mal, denn für sie spielte ihre Figur keine Rolle, sie sah aus, wie sie aussah. Zugegeben, die neidischen Blicke von anderen Frauen entgingen ihr nicht, und erst recht nicht die der Männer, aber ihr Äußeres stand nie auf der Liste ihrer Prioritäten.
»Gib’s zu, du trainierst wie eine Verrückte«, schob Ruiz hinterher. In seiner Stimme schwang Hoffnung mit. Darauf, dass dies die Erklärung war, denn mit ihr schien er leben zu können. Auch das war Ana aufgefallen: Die Wahrheit, dass ihre Figur auf ihre Gene zurückzuführen war, hörte niemand gern.
»Hmh-hmh«, brummte sie als Zeichen ihrer vermeintlichen Zustimmung, und Ruiz nickte zufrieden.
Plötzlich brach Hektik aus, Raunen und Gemurmel schwappten durch den Kebab-Laden. Die Inspectores drehten sich um.
Hinterm Tresen starrten drei Männer auf einen Fernseher. Zwei von ihnen bedeckten mit einer Hand ihren Mund, der dritte raufte sich die Haare. Von ihren Plätzen aus konnten Ana und Ruiz den Bildschirm jedoch nicht erkennen, sie sprangen auf und eilten über die Terrasse.
»Was ist los, was ist passiert?«, rief Ana den Männern zu.
Es hatte ihnen offensichtlich die Sprache verschlagen. Sie zeigten wortlos auf den Fernseher über dem Eingang. Die Inspectores schauten nach oben.
Anas Augen weiteten sich. Ein kurzes tonloses Video in Endlosschleife. Aufgenommen aus der Luft, verwackelt und ständig wechselnd zwischen Schärfe und Unschärfe, vermutlich aus einem Flugzeug heraus. Mitten im Bild: etwas, das auf das Meer zuraste. Als die Kamera heranzoomte, erkannte sie, wie ein Mann ungebremst auf einem Felsen aufschlug.
»Madre mía«, flüsterte Ruiz, »ist es das, was ich denke?«
Ana schluckte. »Sieht so aus«, antwortete sie mit brüchiger Stimme. »Fraude …«
Ungläubig starrten sie weiter auf den Bildschirm.
Kurz darauf rauschten sie mit Blaulicht auf dem Dach nach Süden. Auf der Comisaría war nichts los gewesen, weshalb ihr Dienstvorgesetzter ihnen eine längere Mittagspause gestattet hatte. Über die GC-60, die sich in engen Kurven durch die Berge schlängelte, waren sie zum Essen ins zwanzig Kilometer entfernte Dörfchen Arteara gefahren.
Ana linste zu Ruiz herüber, seine Stirn glänzte. »Puta mierda«, fluchte er, »ich kriege hier keinen Empfang.« Verzweifelt wischte er über den Bildschirm seines Diensthandys. Ob Ana ihm sagen sollte, dass ein Touchdisplay nicht besser funktionierte, nur weil man fester darauf herumdrückte?
»No te preocupes«, sagte sie. »Wir fahren jetzt so schnell wie möglich dahin und schauen uns um. Von dort können wir immer noch Verstärkung rufen. Wenn nicht ohnehin schon drei Viertel des kanarischen Polizeiapparats dort sind.«
Ruiz gab auf und verstaute sein Telefon in der Mittelkonsole. Er schluckte, richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn und bekreuzigte sich.
Ana drückte weiter aufs Gas. Mit einhundert statt erlaubten dreißig flogen sie über die Landstraße. Vor den schlecht einsehbaren Kurven bremste sie ab und wich Radfahrern aus, die wie aus dem Nichts auftauchten. Die Gesichtsfarbe ihres Nebenmanns erblasste, er ließ das Fenster herunter und streckte seinen Kopf hinaus.
Über San Fernando gelangten sie nach Maspalomas. Kaum hatten sie das Ortsschild passiert, klingelte Ruiz’ Handy. Er angelte sich das Gerät aus der Mittelkonsole.
»Hidalgo«, kommentierte er beim Blick aufs Display. Er nahm das Gespräch an. »Wir sind schon unterwegs, Jefe.«
Ana erkannte die rauchige Stimme des Ehrenmanns, verstand aber nicht, was er sagte.
Ruiz nickte. »Also haben wir noch keine weiteren Informationen?«
Wieder eine längere Pause, in der ihr Vorgesetzter sprach.
»Vale, dann wissen Montero und ich Bescheid. Wir melden uns gleich.« Er legte auf und stopfte das Diensthandy in seine Hosentasche.
Ana sah zu ihm hinüber. »Und, was will er?«
»Wir sollen den Ersten Angriff übernehmen.« Ruiz stützte sich wieder mit einer Hand aufs Armaturenbrett. »Bisher ist wohl nur eine Handvoll Kollegen vor Ort. Die haben den Absturz mit eigenen Augen gesehen und sind dann zur Klippe gesprintet, um dort alles abzusperren.«
Sie wechselten auf die GC-1. Auf der Autobahn kitzelte Ana das letzte Quäntchen aus ihrem Wagen heraus. Einhundertvierzig, einhundertsechzig, einhundertachtzig, zweihundertzehn. Die Landschaft und die anderen Fahrzeuge flogen unscharf an ihnen vorbei. Ruiz starrte nach vorn, er verstummte.
Fünfzehn Minuten nachdem sie in Arteara losgefahren waren, erreichten sie die Punta Morro Besudo. Im Regelfall hätten sie für diese Strecke eine halbe Stunde gebraucht.
Hupend kämpfte Ana sich einen Weg durch die Menge auf dem Parkplatz am Ende der Straße. Die Menschen drängten sich vor den im Wind flatternden Bändern, die den Durchgang zur Klippe absperrten. Sie steuerte ihren Wagen in eine Lücke zwischen zwei Dienstfahrzeugen der Policía Canaria.
Ruiz sah aus dem Fenster, er schüttelte den Kopf. »Na toll, das stinkt doch schon wieder nach Kompetenzgerangel.«
Ana war froh, dass er seine Sprache wiedergefunden hatte. Aber sie stimmte ihm zu, die sich häufig überschneidenden Zuständigkeiten zwischen den Ermittlungsbehörden waren vielen auf der Insel ein Dorn im Auge – auch ihr.
Sie schlossen den Wagen ab und gingen mit gezückten Dienstausweisen auf die Kolleginnen zu, die lautstark versuchten, die Schaulustigen zu vertreiben.
»Inspectores Ruiz und Montero«, sagte Ana. Prompt hob eine der Frauen das Band an, sodass sie darunter hindurchhuschen konnten.
»Er … liegt … da vorn«, stotterte die Polizistin. Ihre Gefühle drohten sie zu überwältigen, sie wandte sich ab. Mit dem Ärmel ihres Diensthemds wischte sie sich übers Gesicht.
»Zumindest das, was von ihm noch übrig ist«, fügte die andere Kollegin etwas abgeklärter hinzu. Sie zeigte auf eine Stelle wenige Meter entfernt – nicht einsehbar hinter einer Steinmauer.
»Vale, wir schauen es uns an«, sagte Ruiz. Er nickte zu der Menschenmenge herüber. »Haben Sie die im Griff?«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Notfalls verteilen wir Platzverweise.«
Die Inspectores bedankten sich, gingen davon und stellten sich vor die Steinmauer. Schweigend ließen sie das Bild vor ihren Augen auf sich wirken.
Es war nicht die erste Leiche in der letzten Zeit, die Ana zu Gesicht bekam. Diese war jedoch in keiner Weise mit den anderen, wie zum Beispiel der von Sara Martí am Roque Nublo, zu vergleichen, denn das Mädchen war zumindest in einem Stück aufgefunden worden. Für die blutige Masse, die zwischen den Felsspalten festhing, galt das nicht. Der Leichnam war so nicht mehr zu identifizieren. Ana starrte auf einen Klumpen aus Knochen, Haut, Organen und Gehirnmasse. Der Fallschirm war das Einzige, das den Sturz einigermaßen unbeschädigt überstanden hatte.
Ruiz bekreuzigte sich. »Herr, erbarme dich unser«, flüsterte er.
Mit der Kirche hatte Ana abgeschlossen. Trotzdem hätte es in diesem Augenblick keine treffenderen Worte gegeben. Auf welchen Namen auch immer die Macht hörte, die über die Menschen wachte, für Francisco Fraude hatte sie ein brutales Ende auserkoren.
*
Felix brauchte einen Moment, bis er wieder klar denken konnte. Er fischte sein Smartphone aus der Badeshort und öffnete die Kontaktliste. Scrollte bis zum Buchstaben C, tippte auf den obersten Eintrag, und nach dem zweiten Tuten meldete sich Candela. Ihre Stimme vibrierte.
»Ich kann … Madre mía, was ist da … Begreifst du das?« Sie seufzte.
So wie Felix sie kannte, wurde sie in diesem Moment von einer Flut an Emotionen überwältigt. Und das, obwohl sie für Fraude nicht das Geringste übriggehabt hatte.
»Stell dir nur mal vor, was seine Familie und seine Freunde gerade durchmachen«, sagte sie.
»Ich mag es mir gar nicht ausmalen«, erwiderte Felix.
»Wie furchtbar.« Candela schnäuzte ihre Nase. »Wie ist es bei dir? Hast du etwas gesehen?«
»Ich hatte einen Platz in der ersten Reihe.« Sein Blick wanderte hinüber zur Punta Morro Besudo. Der Felsen ragte wie ein Wellenbrecher ins Meer. Ob es dort bald vor Polizei wimmelte? Auf jeden Fall würde das unwegsame Gelände die Ermittler vor Herausforderungen stellen.
»Irgendetwas ist gewaltig schiefgelaufen«, berichtete er. »Fraude hat verzweifelt an dem Griff gezogen, aber …« Er senkte seinen Kopf. »Das Ende kennst du ja.«
»Grauenvoll. Ich meine, ich habe diesen Mann gehasst. Aber das? Das wünsche ich niemandem.«
Dann ein Brummen in der Leitung. Felix nahm sein Handy vom Ohr und schaute aufs Display. Nichts, nur das aktive Gespräch wurde angezeigt. Es konnte auch keine Akkuwarnung gewesen sein, denn das Batteriesymbol stand bei zweiundfünfzig Prozent.
»Oh«, erklärte Candela. Zu der Trauer in ihrer Stimme mischte sich Verwirrung. »Eine Nachricht von Gabriel. Er will, dass ich ihn anrufe.«
»Wenigstens meldet er sich.«
»Ich hab kein gutes Gefühl, Peque.«
Peque – Kleiner. Vor Kurzem hatte sie angefangen, ihn so zu nennen. Dabei verwendeten die Spanier diesen Spitznamen üblicherweise für ihre Kinder. Aber Felix nahm es hin, denn er war froh, dass sie sich nach einer kurzen Funkstille wieder gut verstanden. Und seitdem Candela klargestellt hatte, dass sie mit Gabriel zusammenbleiben würde, wusste er auch, woran er bei ihr war.
Er konzentrierte sich wieder auf ihr Gespräch. »Und was verrät dir dieses Gefühl?«
Candela schnaufte. »Ich weiß nicht. Bevor Gabriel sich zurückgezogen hat, hat er manchmal seltsame Dinge gesagt. Vor allem über diese Aktivisten, denen er sich angeschlossen hat.«
»Davon hast du mir nichts erzählt.«
»Die nennen sich Grupo Canario de Defensa de la Naturaleza, kurz GCDN. Mit ihren Aktionen wollen sie die Politik wachrütteln. Uns bleiben ja nur noch wenige Jahre, um die Klimakatastrophe abzuwenden.«
»Sind das nicht die, die sich an Kreuzungen und Auffahrten festkleben?«
»Ja, genau die. Neulich ist es ihnen sogar gelungen, die Sicherheitsbarrieren am Flughafen Las Palmas zu überwinden und auf die Startbahn zu gelangen.«
»Hm, hm«, brummte Felix. Davon hatte er gelesen. Aber was wollte sie damit andeuten? »Glaubst du, dass die etwas mit dem Absturz von Fraude zu tun haben?«
Candela zögerte. »Schlimm, dass ich das nicht ausschließen kann, oder?«