Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Voltaire: Candide oder ›Die beste aller Welten‹ – Mit 26 Illustrationen nach Federzeichnungen von Paul Klee | Für diese Ausgabe neu editiert, mit aktualisierter Rechtschreibung. Voll verlinkt und mit eBook-Inhaltsverzeichnis | Voltaire, der große Schriftsteller, Denker und Spötter, schickt seinen Helden Candide auf einen Parforceritt durch die Hälfte der damals bekannten Welt – um WAS? festzustellen: Die Welt ist gut? Die Welt ist schlecht? Oder: Jeder muss sehen, dass er in einer schlechten Welt das bestmögliche Leben führt? Wohl Letzteres. | Katastrophen und Leichen pflastern Candides Weg. Voltaire lässt die Scheinheiligen und Frömmelnden untergehen, während andere geschunden, geschändet, oder nur etwas weiser geworden sich bis zum Ende durchschlagen. Das Buch konnte im Jahre 1759 nur anonym erscheinen, zu sehr provozierte es die kirchlichen und staatlichen Autoritäten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 174
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Innentitel
Vorwort des Herausgebers
Candide – Oder die beste aller Welten
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Funfzehntes Kapitel
Sechszehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Impressum
Voltaire, der große Schriftsteller, Denker und Spötter, schickt seinen Helden Candide auf einen Parforceritt durch die Hälfte der damals bekannten Welt – um Was? festzustellen: Die Welt ist gut? Die Welt ist schlecht? Oder: Jeder muss sehen, dass er in einer schlechten Welt das bestmögliche Leben führt? Wohl eher Letzteres.
Voltaire war kein Atheist, aber Gott war für ihn auch nicht DIE über allem stehende Autorität. »Wir grüßen uns«, sagte er, »aber wir reden nicht weiter miteinander.« Von dieser anti-klerikalen, anti-missionarischen Haltung ist auch das Werk Candide durchzogen. Frömmelei, Untertanengeist und Bigotterie werden im Buch sofort bestraft. So begleiten Katastrophen und pflastern Leichen Candides Weg durch die Welt; Voltaire lässt die Frömmelnden untergehen, während andere geschunden, geschändet, oder nur etwas weiser geworden, wie Candide selbst, sich bis zum Ende durchschlagen – bis zum berühmten Schlusssatz: »Man muss seinen Garten bestellen.« Was man vielleicht übersetzen kann mit: Jeder soll auf seinem Gebiet etwas zu leisten versuchen.
Das Buch konnte im Jahre 1759 nur anonym erscheinen, zu sehr löckte es wider den Stachel der kirchlichen und staatlichen Autoritäten. Kaum erschienen, wurde es verbrannt. Kaum verbrannt, wurde es umso zahlreicher neu gedruckt. Und man glaubt es kaum: Bis 1965, als der ›Index‹[1] der Katholischen Kirche offiziell abgeschafft wurde, blieb das Werk darauf gelistet.
Redaktion eClassica
Über den Autor
Voltaire (1694–1778) (eigentlich François-Marie Arouet) war einer der meistgelesenen und einflussreichsten Autoren der französischen und europäischen Aufklärung. Als Sohn eines gutgestellten Pariser Notars war er ein echtes Großstadtkind, dem alle Möglichkeiten der damaligen Zeit offen standen – und er machte das Maximale daraus. Er war enorm belesen, weit gereist, und seine Schriften hatten dank intellektueller Brillanz schon nach kurzem eine Durchschlagskraft, wie die keines anderen Zeitgenossen. Als Lyriker, Dramatiker und Epiker schrieb Voltaire in erster Linie für ein Publikum gebildeter Franzosen; als Erzähler und Philosoph für die gesamte europäische Oberschicht seiner Zeit – denn diese beherrschten meist die französische Sprache und konnten französische Werke im Original lesen. Viele seiner Werke erlebten in rascher Folge mehrere Auflagen und wurden häufig auch umgehend in andere europäische Sprachen übersetzt. Obwohl aus dem Establishment stammend, setzte sich Voltaire immer für die Unterdrückten und Entrechteten ein. Ein korruptes Staatswesen war ihm genauso zuwider wie die ebenso korrupte Kirche, und er schrieb dagegen an. Mehrmals steckte man ihn ins Gefängnis – um ihn kurz darauf wieder hochleben zu lassen. Im Alter durch seine Literatur reich geworden, kaufte sich Voltaire das Schweizer Schloss Ferney, dessen Grund an drei Länder grenzt, und ihm jeweils die Flucht in das eine oder andere ermöglichen konnte; je nachdem, wo er gerade verfolgt wurde.
Über den Illustrator
Ernst Paul Klee (1879–1940) gehört zu den bedeutendsten bildenden Künstlern der Klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts und stand mit der Künstlergruppe ›Der Blaue Reiter‹ in engem Kontakt. Sein vielseitiges Werk wird vorwiegend dem Expressionismus, Konstruktivismus und Surrealismus zugeordnet. Ab 1931 war Klee Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ging er ins Exil nach Bern, wo ein umfangreiches Spätwerk entstand.
Im Januar 1911 hatte Paul Klee in München Alfred Kubin kennengelernt, der ihn in dem Vorhaben bestärkte, Voltaires Candide zu illustrieren. Zu diesem Zeitpunkt nahm Klees grafisches Werk einen großen Raum ein, und seine Neigung zum Sarkastischen und Skurrilen war deutlich erkennbar. Im März 1912 schloss er die Illustrationen zu Candide ab. 1920 erschien das Werk unter dem Titel »Kandide oder die Beste Welt. Eine Erzählung von Voltaire mit 26 Illustrationen in Lichtdrucken nach Federzeichnungen von Paul Klee« im Verlag Kurt Wolff, München.
________
Anmerkungen:
[1] Der Index Librorum Prohibitorum, das »Verzeichnis der verbotenen Bücher«, kurz auch »Römischer Index«, wurde 1965, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, abgeschafft.
Verwendete Quellen (u.a.):
•›Voltaire: Candide‹ von Robert Minder, in: ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher, Suhrkamp 1980;
• Der große Brockhaus Literatur, Leipzig, Mannheim, 2007;
• Websites: u.a. Wikipedia
Im Schlosse des Freiherrn v. Thundertentronckh in Westfalen lebte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein junger Bursche, der von Natur die Sanftmut selbst war. Seine Gesichtszüge waren der Spiegel seiner Seele. Er besaß eine ziemlich richtige Urteilskraft und ein Gemüt ohne Arg und Falsch; aus diesem Grunde vermutlich nannte man ihn Candide. Die älteren Bedienten des Hauses hatten ihn in starkem Verdacht, der Sohn einer Schwester des Freiherrn und eines braven, ehrenwerten Edelmannes aus der Nachbarschaft zu sein, zur Vermählung mit welchem sich das Fräulein nicht hatte entschließen können, weil er nun einundsiebzig Ahnen aufzuweisen vermochte, und die Wurzel seines Stammbaums durch den zerstörenden Zahn der Zeit verloren gegangen war.
Der Freiherr war einer der ansehnlichsten Landedelleute Westfalens, denn sein Schloss war mit Torweg und Fenstern versehen, ja den großen Saal zierte sogar eine Tapete. Alle Hunde seines Viehhofes machten im Notfall eine Meute aus; die Stallknechte waren seine Bereiter, der Dorfpastor war sein Großalmosenier; sie nannten ihn alle »Gnädiger Herr« und lachten, wenn er Anekdoten erzählte.
Die gnädige Frau, die etwa 350 Pfund wog, hatte sich dadurch in hohes Ansehen gesetzt und machte bei Gelegenheit die gnädige Wirtin mit einer Würde, wodurch sie noch größere Ehrfurcht einflößte. Ihre siebzehnjährige Tochter Cunégonde war ein frisches, üppiges, rotwangiges, reizendes Kind. Der Sohn des Freiherrn schien in allen Stücken seines Papas würdig. Der Hauslehrer Pangloss war das Orakel des Hauses, und der kleine Candide hörte auf seinen Unterricht mit der treuherzigen Leichtgläubigkeit, die sein Alter und seine Gemütsart mit sich brachte.
Pangloss lehrte die Metaphysikotheologokosmonarrologie. Er bewies auf unübertreffliche Weise, dass es keine Wirkung ohne Ursache gebe, und dass in dieser besten aller möglichen Welten das Schloss des gnädigen Herrn das beste aller möglichen Schlösser und die gnädige Frau die beste aller möglichen gnädigen Freifrauen sei.
»Es ist erwiesen,« sagte er, »dass die Dinge nicht anders sein können: denn da Alles zu einem Zweck geschaffen worden, ist Alles notwendigerweise zum denkbar besten Zweck in der Welt. Bemerken Sie wohl, dass die Nasen geschaffen wurden, um den Brillen als Unterlage zu dienen, und so tragen wir denn auch Brillen. Die Beine sind augenscheinlich so eingerichtet, dass man Strümpfe darüber ziehen kann, und richtig tragen wir Strümpfe. Die Steine wurden gebildet, um behauen zu werden und Schlösser daraus zu bauen, und so hat denn auch der gnädige Herr ein prachtvolles Schloss; der größte Freiherr im ganzen westfälischen Kreise musste natürlich am besten wohnen, und da die Schweine geschaffen wurden, um gegessen zu werden, essen wir Schweinefleisch Jahr aus, Jahr ein. Folglich sagen die, welche bloß zugeben, dass Alles gut sei, eine Dummheit: sie mussten sagen, dass nichts in der Welt besser sein kann, als es dermalen ist.«
Candide hörte aufmerksam zu und glaubte in seiner Unschuld Alles; denn er fand Fräulein Cunégonden äußerst reizend, obgleich er sich nie erdreistete, es ihr zu sagen. Er hielt es nächst dem Glücke, als Freiherr von Thundertentronckh geboren zu sein, für die zweite Stufe der Glückseligkeit, Fräulein Cunégonde zu sein, für die dritte, sie alle Tage zu sehen, und für die vierte, der Weisheit des Magister Pangloss lauschen zu dürfen, des größten Philosophen Westfalens und folglich der ganzen Erde.
Eines Tages lustwandelte Cunégonde in einem kleinen Gehölz in der Nähe des Schlosses, das man den Park nannte, da erblickte sie im Gebüsch den Doctor Pangloss, als er gerade der Kammerjungfer ihrer Mutter, einer kleinen sehr hübschen und gelehrigen Brünette, Privatunterricht in der Experimental-Physik erteilte. Da Fräulein Cunégonde sehr wissbegierig war, beobachtete sie mit angehaltenem Atem die wiederholten Experimente, die vor ihren Augen vorgenommen wurden. Sie sah deutlich die ratio sufficiens des Doctors, die Wirkungen und die Ursachen. Auf dem Heimwege war sie höchst aufgeregt, tiefsinnig und voll des Verlangens, ihre Kenntnisse zu bereichern, wobei sie sich dachte, dass sie wohl die ratio sufficiens des jungen Candide und er die ihrige vorstellen könnte.
Als sie zum Schlosse zurückkam, begegnete sie ihm und errötete; Candide errötete gleichfalls, sie begrüßte ihn mit unsichrer Stimme, und Candide sprach mit ihr, ohne zu wissen, was er sagte. Am folgenden Tage nach dem Mittagessen, als man eben vom Tisch aufstand, trafen Cunégonde und Candide sich zufällig hinter einer spanischen Wand. Cunégonde ließ ihr Taschentuch fallen; Candide hob es auf; sie fasste ihn in ihrer Unschuld bei der Hand; der junge Mensch küsste in seiner Unschuld die Hand des jungen Fräuleins mit einer Lebhaftigkeit, einem Feuer der Empfindung, einer Anmut, die ihm bis dahin fremd war. Ihre Lippen begegneten sich, ihre Augen glühten, ihre Knie zitterten, ihre Hände verirrten sich. In diesem Augenblick ging der Freiherr von Thundertentronckh an der spanischen Wand vorüber, und da er jene Ursache und jene Wirkung sah, jagte er unsern Candide mit derben Fußtritten zum Schlosse hinaus. Cunégonde fiel in Ohnmacht; mit Ohrfeigen brachte die gnädige Frau Mama sie wieder zu sich selbst; und allgemeine Bestürzung herrschte in dem schönsten und angenehmsten aller möglichen Schlösser.
Aus dem irdischen Paradiese verjagt, wanderte Candide eine Zeitlang fort, ohne zu wissen wohin, indem er seine tränenvollen Augen zum Himmel emporrichtete, noch öfter aber sie nach dem schönsten der Schlösser zurückwandte, wo das reizendste Freifräulein weilte. Ohne zu Nacht gespeist zu haben, legte er sich bei heftigem Schneegestöber auf offenem Felde zwischen zwei Furchen nieder.
Ganz erstarrt schleppte er sich den folgenden Tag nach dem benachbarten Flecken Waldberghoftrarbkdickdorf und blieb, da er kein Geld hatte, halb tot vor Hunger und Müdigkeit und höchst niedergeschlagen an der Tür eines Wirtshauses stehen.
Zwei blaugekleidete Männer bemerken ihn.
»Kamerad,« sprach der eine zum andern, »seht doch den hübschen, stattlichen Burschen dort! Er wird die erforderliche Länge haben.«
Sie gingen auf Candide zu und baten ihn sehr höflich, mit ihnen zu speisen.
»Meine Herren,« erwiderte Candide mit liebenswürdiger Bescheidenheit, »Sie erzeigen mit viel Ehre, allein ich habe nichts, um meine Zeche zu bezahlen.«
»Ei, lieber Herr,« entgegnete ihm einer der Blauen, »Leute von Ihrem Äußern und Ihrem Verdienste bezahlen nie etwas. Messen Sie nicht fünf Fuß fünf Zoll rheinisch?«
»Allerdings, meine Herren, das ist genau mein Maß,« sprach Candide mit einer Verbeugung.
»Vortrefflich, lieber Freund! setzen Sie Sich zu Tisch. Wir werden Sie nicht bloß freihalten, sondern auch nimmer dulden, dass es einem Manne, wie Ihnen, an Gelde fehlt. Die Menschen sind ja dazu in der Welt, sich einander beizustehen.«
»Sie haben Recht,« sprach Candide, »das hat Doctor Pangloss mir immer gesagt; und ich sehe wohl, dass Alles aufs beste angeordnet ist.«
Man bittet ihn, einige Taler anzunehmen. Er nimmt sie und will einen Schein darüber ausstellen, allein das gibt man nicht zu. Man setzt sich zu Tisch.
»Lieben Sie nicht zärtlich...?«
»Ach, ja wohl!« erwiderte er, »ich liebe Fräulein Cunégonden zärtlich!«
»Nein!« fällt einer der beiden Herren ihm ins Wort, »wir fragen, ob Sie den König der Bulgaren nicht zärtlich lieben?«
»Durchaus nicht,« entgegnet er, »ich habe ihn in meinem Leben nicht gesehen.«
»Wie! es gibt keinen charmanteren König in der Welt! Wir müssen einmal auf seine Gesundheit trinken!«
»O, mit dem größten Vergnügen, meine Herren;« und er trinkt.
»So! das genügt,« heißt es darauf; »jetzt sind Sie die Stütze, der Stab, der Verteidiger, der Held der Bulgaren. Ihr Glück ist gemacht, Ihr Ruhm fest begründet.«
Ohne weitere Umstände wird er an Händen und Füßen geschlossen und so zum Regiment transportiert. Hier heißt es: »Schwenkt euch rechts! – schwenkt euch links! – schultert's Gewehr! – Gewehr beim Fuß! – legt an! – Feuer! – Dubliertritt, marsch!!« – und man gibt ihm dreißig Stockprügel. Den andern Tag exerziert er nicht ganz so schlecht und empfängt nur zwanzig Hiebe. Den dritten Tag bekommt er nur zehn und wird von seinen Kameraden wie ein Wundertier angestaunt.
Ganz betäubt, wie er war, konnte Candide noch immer nicht recht begreifen, wie er dazu gekommen, ein Held zu werden. An einem schönen Frühlingsmorgen fiel es ihm ein, einen Spaziergang zu machen. Ganz arglos ging er der Nase nach, da er es für ein Privilegium der menschlichen wie der tierischen Gattung hielt, sich der eignen Beine nach Belieben zu bedienen. Er hatte aber noch keine zwei Stunden Weges zurückgelegt, als plötzlich vier andere, sechs Fuß lange Helden ihn einholen, binden uns ins Gefängnis schleppen. Man fragte ihn von Rechtswegen, was er lieber wolle: sechsunddreißigmal durch das ganze Regiment Spießruten laufen oder sich auf einmal zwölf bleierne Kugeln durchs Hirn jagen lassen. Es half ihm nichts, dass er sich auf die Freiheit des Willens berief und erklärte, er wolle weder das Eine noch das Andre. Er musste eine Wahl treffen, und kraft des göttlichen Geschenks, das man Freiheit nennt, entschloss er sich, sechsunddreißigmal Spießruten zu laufen: Zweimal hielt er die Promenade aus. Das Regiment bestand aus 2000 Mann. Er empfing demnach 2000 Spießrutenstreiche, die ihm vom Genick bis zum Kreuzbein alle Muskeln und Nerven bloßlegten. Als man zum dritten Gang schreiten wollte, konnte Candide nicht weiter und bat, man möge die Gnade haben, ihm den Hirnkasten zu zerschmettern. Diese Vergünstigung wurde ihm bewilligt. Man verbindet ihm die Augen und lässt ihn niederknien. In diesem Augenblick kommt der König der Bulgaren vorüber. Er erkundigt sich nach dem Verbrechen des armen Sünders, und da dieser König ein großes Genie war, wurde ihm aus Allem, was er über Candide erfuhr, klar, dass derselbe ein junger Metaphysiker, in den Angelegenheiten dieser Welt aber sehr unerfahren sei, und mit einer Huld und Milde, die alle Zeitungen und alle Jahrhunderte nicht genug preisen können, begnadigte er ihn. Ein tüchtiger Feldscheer heilte Candide in drei Wochen mit erweichenden Aufschlägen nach der Vorschrift des Dioskorides. Er hatte schon wieder ein wenig Haut und konnte marschieren, als der König der Bulgaren dem Könige der Avaren eine Schlacht lieferte.
Nichts in der Welt war so schön, so zierlich, so glänzend, so wohlgeordnet, wie die beiden Heere. Der Zusammenklang der Trommeln und Pfeifen, Trompeten, Hoboen, Mörser und Kanonen bildete eine Harmonie, wie man sie in der Hölle nicht besser wünschen kann. Das schwere Geschütz raffte gleich im Anfang der Schlacht etwa sechstausend Mann auf jeder Seite hinweg; sodann beseitigte das Kleingewehrfeuer noch ungefähr neun bis zehntausend Schurken aus der besten Welt, deren Oberfläche sie vergifteten. Das Bajonett war gleichfalls »der zureichende Grund« (ratio sufficiens) des Todes von einigen Tausend Menschen. Im Ganzen mochte sich die Zahl der Gefallenen auf 30,000 Seelen belaufen. Candide zitterte wie ein Philosoph und versteckte sich während der heldenhaften Metzelei so gut er konnte.
Endlich, während jeder der beiden Könige in seinem Lager das Tedeum singen ließ, fasste er den klugen Entschluss, sich aus dem Staube zu machen und anderswo über Ursache und Wirkung zu philosophieren. Über Haufen von Toten und Sterbenden führte ihn sein Weg in ein benachbartes Dorf. Es lag in Asche. Es war ein avarisches Dorf, das die Bulgaren nach den Gesetzen des Völkerrechts in Brand gesteckt hatten. Hier sahen Greise, von hundert Stichen durchbohrt, wie ihre erwürgten Weiber, die sterbenden Kinder an den blutigen Brüsten, sich in Todeszuckungen wanden. Dort hauchten Mädchen, denen man den Leib aufgeschlitzt, nachdem sie die natürlichen Bedürfnisse einiger Helden gestillt hatten, ihre letzten Seufzer aus. Andere, die halb verbrannt waren, flehten winselnd, man möge ihnen den Gnadenstoß geben. Zerschmetterte Hirnschalen lagen in buntem Gemisch mit abgehauenen Armen und Beinen auf dem Boden umher.
Candide floh, so schnell er konnte, in ein andres Dorf. Es gehörte den Bulgaren, und die avarischen Helden hatten darin nicht schlechter gehaust. Eine geraume Strecke weit musste Candide über zuckende Menschenglieder und durch Schutt und Trümmer sich Bahn machen, bis er endlich, mit einigem Mundvorrat im Tornister und Fräulein Cunégondens Andenken im Herzen, die Grenzen des Kriegsschauplatzes hinter sich hatte. Sein Vorrat ging ihm aus, als er nach Holland kam. Da er indessen gehört hatte, dass es hier nur reiche Leute gebe, und dass es ein christliches Land sei, zweifelte er nicht, man werde ihn so gut behandeln, wie einst im freiherrlichen Schlosse, ehe er wegen Fräulein Cunégondens schönen Augen fortgejagt wurde.
Er sprach verschiedne Leute von ehrenfestem Ansehen um Almosen an, doch alle bedeuteten ihm, wenn er dies Gewerbe ferner treibe, werde man ihn in ein Zuchthaus sperren, um ihn Lebensart zu lehren.
Er wandte sich hierauf an einen Mann, der in einer großen Versammlung eine Stunde lang ganz allein über die christliche Nächstenliebe gesprochen hatte. Der Redner sah ihn über die Achseln an und fragte: »Was wollt Ihr hier? Seid Ihr hier für die gute Sache (pour la bonne cause)?«
»Es gibt keine Wirkung ohne Ursache (sans cause),« erwiderte Candide bescheiden; »Alles steht mit einander in notwendiger Verkettung und ist aufs beste geordnet. Ich musste aus Fräulein Cunégondens Nähe fortgejagt werden, musste Spießruten laufen und muss jetzt mein Brot betteln, bis ich es verdienen kann. Dies Alles konnte nur so und nicht anders kommen.«
»Mein Freund,« fragte der Redner weiter, »glaubt Ihr, dass der Papst der Antichrist sei?«
»Ich habe noch nichts davon gehört,« antwortete Candide, »doch mag er es sein oder nicht, ich habe kein Brot.«
»Du verdienst keins zu essen!« fuhr jener ihn an; »fort, Schurke! pack Dich, elender Wicht! komm mir nie wieder unter die Augen!«
Die Frau des Redners sah eben zum Fenster hinaus, und da sie einen Menschen gewahrte, der noch zweifelte, ob der Papst der Antichrist sei, begoss sie ihn von oben bis unten mit einem vollen... Gerechter Himmel! wie weit geht doch der Religionseifer bei den Damen!
Ein Mensch, der nicht getauft war, ein ehrlicher Wiedertäufer, Namens Jakob, war Augenzeuge der grausamen und schimpflichen Behandlung, die man einem seiner Brüder, einem zweifüßigen Wesen ohne Federn, das eine Seele hatte, angedeihen ließ. Er nahm ihn mit in sein Haus, reinigte ihn, gab ihm Brot und Bier, schenkte ihm überdies zwei Gulden und wollte ihn sogar in seinen Manufacturen persischer Seidenstoffe, die in Holland fabriziert werden, als Lehrling annehmen.
Candide warf sich ihm beinahe zu Füßen, indem er ausrief: »Magister Pangloss hatte doch Recht, wenn er sagte, dass Alles in dieser Welt aufs beste bestellt ist, denn Ihre außerordentliche Großmut rührt mich unendlich mehr, als die Härte jenes Herrn im schwarzen Mantel und seiner Frau Gemahlin.«
Den andern Tag begegnete er auf dem Spaziergange einem Bettler voller Eiterbeulen, mit toten Augen, zerfressener Nasenspitze, schief gezogenem Munde und schwarzen Zähnen, der durch die Kehle sprach, von einem heftigen Husten geplagt war und, so oft ihn derselbe befiel, einen Zahn ausspie.
Candide, bei dem das Mitleid über den Abscheu die Oberhand gewann, gab dem scheußlichen Bettler die beiden Gulden, die er von dem braven Wiedertäufer erhalten hatte. Das Gespenst fasste ihn scharf ins Auge, brach in Tränen aus und fiel ihm um den Hals. Candide fährt entsetzt zurück.
»Ach!« spricht der eine Elende zum andern Elenden, »ach! so kennst Du Deinen lieben Pangloss nicht mehr?«
»Was hör' ich? Sie, mein teurer Lehrer! Sie in diesem schauderhaften Zustande! Welches Unglück hat Sie denn betroffen? Warum sind Sie nicht mehr im schönsten der Schlösser? Was ist aus Fräulein Cunégonden geworden, aus ihr, der Perle der Mädchen, dem Meisterwerke der Natur?«
»Ich kann nicht mehr,« sprach Pangloss.
Ohne Verzug führte Candide ihn in den Stall des Wiedertäufers, wo er ihn etwas Brot zu sich nehmen ließ. Als Pangloss sich ein wenig gesammelt hatte, wiederholte er seine Frage: »Nun? Cunégonde?«
»Sie ist tot,« erwiderte jener.
Bei diesem Worte wurde Candide ohnmächtig. Sein Freund brachte ihn mit etwas schlechtem Essig, der sich zufällig im Stalle fand, wieder zum Bewusstsein.
Candide schlägt die Augen auf. »Cunégonde tot! O! beste Welt, wo bleibst Du! – Aber an welcher Krankheit ist sie gestorben? Aus Schmerz vielleicht, weil sie sehen musste, wie mich ihr Herr Vater mit furchtbaren Fußtritten aus seinem schönen Schlosse fortjagte?«
»Das nicht,« erwiderte Pangloss; »bulgarische Soldaten schlitzen ihr den Leib auf, nachdem ihr auf die brutalste Weise alle nur denkbare Gewalt angetan war. Dem Freiherrn schlugen sie den Schädel ein, als er sie verteidigen wollte; die gnädige Frau wurde in Stücken gehauen, mein armer Zögling genau so behandelt, wie seine Schwester, und was das Schloss betrifft, so blieb kein Stein davon auf dem andern; keine Scheune, kein Schaf, keine Ente, kein Baum blieb übrig. Doch wir wurden tüchtig gerächt, denn die Avaren machten es mit einer benachbarten Herrschaft, die einem bulgarischen Edelmanne gehörte, ganz eben so.«
Während dieses Erzählung verlor Candide