Candide - Voltaire - E-Book

Candide E-Book

Voltaire

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Beschreibung

Ist die Welt, in der wir leben, tatsächlich, wie Leibniz behauptet, "die beste aller möglichen", oder ist sie ein Ort, aus dem Gott sich längst zurückgezogen, ja mehr noch, den er nie betreten hat? Am Beispiel des einfältigen Candide beantwortet Voltaires auf den Index gesetzte Romansatire diese Fragen mit der radikalen Demontage von Leibniz' philosophischem Optimismus, denn Candide erlebt auf seiner abenteuerlichen Reise die infernalischsten Schrecken und absurdesten Zufälle. Geläutert kommt er am Ende zu der Erkenntnis, dass dem Menschen letztlich nichts bleibt, als ,seinen Garten zu bestellen'.

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Voltaire

Candide

oder der Optimismus

Neu übersetzt aus dem Französischen von Ulrich Bossier

INHALT

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

ERSTES KAPITEL

Wie Candide in einem schönen Schlosse aufwächst, dann aber aus diesem vertrieben wird

Es lebte einst in Westfalen auf dem Schlosse des Barons Thundertentronckh ein Jüngling, dem die Natur eine ungewöhnlich sanfte Wesenart verliehen hatte, wie jeder sogleich bemerkte, der ihn nur ansah. Er hatte einen durchaus wachen Verstand, der sich bei ihm freilich mit einem schlichten Gemüt und völliger Arglosigkeit paarte; wohl deshalb nannten ihn alle Candide, was ›reinen, redlichen Herzens‹ bedeutet. Glaubt man dem, was die alten Dienstboten im Hause sich so zuraunten, war Candide der Sohn einer Schwester des Herrn Barons und eines Krautjunkers aus der Gegend. Mochte dieser auch ein braver und ehrbarer Mann gewesen sein – heiraten wollte ihn das Fräulein um keinen Preis, denn er konnte nur einundsiebzig adelige Ahnen nachweisen; den Rest seines Stammbaums hatte der Zahn der Zeit hinweggenagt.

Der Herr Baron war einer der bedeutsamsten Edelleute Westfalens, denn sein Schloss besaß Tor und Fenster. Den großen Rittersaal schmückte sogar ein Gobelin. Seine vielen Hofhunde bildeten zur Not eine Meute; die Stallknechte übernahmen die Rolle der Jäger; der Dorfgeistliche gab den Oberschlosskaplan. Die Leute sagten zum Herrn Baron ›Euer Gnaden‹ und lachten pflichtschuldigst, wenn er Schwänke erzählte.

Die Frau Baronin wog gut und gerne dreihundertfünfzig Pfund; allein dies schon sicherte ihr tiefen Respekt. Noch mehr Achtung verschaffte ihr indes die gemessene Würde, mit der sie gegenüber Gästen die Honneurs machte. Es gab zwei Kinder. Die Tochter Kunigunde, gerade siebzehn, frisch und rosig und leicht mollig, war regelrecht zum Anbeißen. Der Sohn schien in allen Dingen ein würdiges Ebenbild seines Vaters. Für die Erziehung der jungen Herrschaft war eigens ein Hauslehrer angestellt; er hieß Meister Pangloss und genoss in der Familie geradezu die Autorität eines Orakels, und der kleine Candide lauschte seinen Lektionen so offen und treuherzig, wie es seinem Alter und seinem Wesen entsprach.

Pangloss lehrte Metaphysico-theologico-cosmologico-naivologie. Er vermochte mit bewundernswert logischem Gedankenschwung darzutun, dass es keine Wirkung ohne Ursache gebe und dass in dieser Welt, der besten aller Welten, das Schloss des gnädigen Herrn Barons das schönste aller möglichen Schlösser sei und die gnädige Frau Baronin die edelste aller möglichen Baroninnen.

»Die Dinge – das lässt sich klar erweisen – können nicht anders sein, als sie sind«, dozierte Pangloss. »Denn da alles zu einem Zweck erschaffen worden ist, dient alles notwendigerweise dem besten Zweck. Schaut euch nur um, und ihr findet Beispiele zuhauf. Nasen etwa wurden gemacht, dass man Brillen darauf setze; und – wir tragen Brillen. Beine wurden, wie schon der Augenschein zeigt, gemacht, dass man sie behose, also tragen wir Hosen. Steine wiederum gibt es, dass man sie behaue und Schlösser aus ihnen errichte – ergo hat der gnädige Herr ein prächtiges Schloss; der wichtigste Baron der Provinz wohnt zwangsläufig auch am feinsten. Oder die Schweine: sie sind vorhanden, dass man sie esse, und – essen wir nicht das ganze Jahr hindurch Speck? Wer folglich behauptet: Alles ist gut, redet dummes Zeug; es muss heißen: Alles ist zum Besten.«

Wissbegierig, wie er war, lauschte Candide aufmerksam, was sein Lehrer sprach, und unschuldig, wie er war, glaubte er es auch. Denn er fand Fräulein Kunigunde außerordentlich schön; gestanden hatte er ihr dies freilich nie – da fehlte ihm der Mut. Candide machte sich so seine Gedanken. Das höchste irdische Glück erschien ihm nunmehr, als Baron Thundertentronckh das Licht der Welt erblickt zu haben; das zweithöchste, Fräulein Kunigunde zu sein; das dritthöchste, sie täglich zu sehen; und das vierthöchste, von Meister Pangloss unterrichtet zu werden, dem größten Philosophen Westfalens und folglich aller Länder.

Eines Tages ging Kunigunde im nahe gelegenen Wäldchen spazieren, das man großzügig den Schlosspark nannte. Plötzlich gewahrte sie hinter Büschen den Doktor Pangloss und die Kammerjungfer ihrer Mutter. Der Magister erteilte gerade der Zofe, einem brünetten Frauenzimmerchen – ausgesprochen niedlich und ausgesprochen lernwillig – eine Lektion in angewandter Physik. Fräulein Kunigunde interessierte sich lebhaft für die Naturwissenschaften; also muckste sie sich nicht und beobachtete gespannt, wie der Lehrmeister sein Experiment mehrfach vorführte. Ohne Mühe erkannte sie den zureichenden Grund des Doktors und das Zusammenspiel von Ursache und Wirkung. Nach einer Weile wandte sie sich ab und kehrte heim, nun ganz aufgewühlt, ganz in Gedanken versunken und ganz erfüllt von dem Wunsche, auch einmal solche Gelehrsamkeit zu erreichen. Wer weiß, meinte sie zu sich, vielleicht könnte sie des jungen Candides zureichender Grund werden und er seinerseits der ihre.

Als sie zurück zum Schlosse ging, traf sie Candide und errötete; Candide errötete nicht minder. Sie entbot ihm einen verlegenen Gruß, ihre Stimme bebte; Candide schwatzte mit ihr ein paar Worte, ohne genau zu wissen, was er redete. Am folgenden Tage dann, kurz nach Tisch, begegneten sich Kunigunde und Candide wie zufällig hinter einem Wandschirm. Kunigunde ließ ihr Taschentuch fallen, Candide hob es auf. In aller Unschuld fasste sie seine Hand, und in aller Unschuld küsste der junge Mann die Hand der jungen Dame – lebhaft, innig und mit bemerkenswerter Anmut. Lippen fanden einander; Augen erglühten; Knie wankten; Hände verirrten sich. Just in dem Moment ging Baron Thundertentronckh an dem Wandschirm vorbei und blickte dahinter; kaum hatte er Ursache und Wirkung erfasst, jagte er Candide auch schon mit wuchtigen Tritten in den Hintern aus dem Schlosse. Kunigunde sank in Ohnmacht; als sie wieder zu sich kam, erhielt sie ein paar Maulschellen von der Frau Baronin. Und es herrschten Betroffenheit und Bestürzung im schönsten und lieblichsten aller möglichen Schlösser.

ZWEITES KAPITEL

Wie es Candide bei den Bulgaren ergeht

Aus seinem irdischen Paradiese vertrieben, lief Candide eine ganze Weile ziellos umher. Er weinte und hob immer wieder die Augen zum Himmel, wenn er sie nicht gerade zu jenem schönsten aller Schlösser zurückschweifen ließ, das die schönste aller Baronessen beherbergte. Schließlich musste er sich, ohne Abendbrot natürlich, irgendwo auf den Feldern in eine Ackerfurche zum Schlafen legen. Die ganze Nacht schneite es dicke Flocken. Als der Morgen dämmerte, schleppte sich Candide, völlig durchgefroren, zur benachbarten Stadt Waldberghofftrarbkdickdorff. Ohne einen roten Heller in der Tasche und halbtot vor Hunger und Erschöpfung, blieb er endlich auf der Schwelle eines Wirtshauses stehen. Zwei Männer in blauer Uniform beobachteten ihn. »Schau mal den Burschen da, Kamerad«, sagte der eine, »gerade gewachsen wie ein Rohr, und die Größe stimmt auch.« Sie traten auf Candide zu und luden ihn höflich zum Essen ein. »Meine Herren«, entgegnete Candide mit rührender Bescheidenheit, »Euer Angebot ehrt mich wirklich sehr, bloß ich fürchte, ich könnte meine Zeche nicht bezahlen.« – »Aber, aber, lieber Freund«, erwiderte einer der Blauen, »Leute mit Eurer Figur und Euren Gaben brauchen nicht zu zahlen. Ihr messt doch so etwa fünf Fuß fünf Zoll?« – »Ja richtig, gut geschätzt«, sagte Candide und verbeugte sich dezent. »Dann schleunigst zu Tische, mein Herr! Wir werden Euch nicht allein diesmal freihalten; wir sorgen auch dafür, dass es einem Manne wie Euch nie wieder am Gelde fehlt. Es ist doch höchste Pflicht der Menschen, einander zu helfen.« – »Ganz recht«, unterstrich Candide; »dies hat mir mein Lehrer, Meister Pangloss, auch immer gesagt. Und dass alles aufs beste eingerichtet sei, was ich hier ja schönstens bestätigt finde.« Die Blauen gaben ihm sogar noch zusätzlich ein paar Taler; Candide steckte sie ein und wollte den beiden einen Schuldschein schreiben; davon wollten jedoch sie nichts wissen. Also speiste man. Schließlich begann einer der beiden: »Ihr liebt doch zweifellos heiß und innig …« – »O ja«, antwortete Candide, »ich liebe heiß und innig Fräulein Kunigunde!« – »Aha«, entgegnete der Frager, »und den König der Bulgaren? Liebt Ihr den nicht auch heiß und innig?« – »I woher«, gab Candide zurück, »den kenne ich ja gar nicht.« – »Nein? Er ist der sympathischste aller Könige! Kommt, wir müssen auf sein Wohl trinken!« – »Dies von Herzen gern, meine Herren«, willigte Candide ein und trank. Kaum hatte er geleert, hieß es: »So, das reicht. Jetzt seid Ihr der Schutz und Schirm, der Retter und Held der Bulgaren. Euer Glück ist gemacht, Eurem Ruhm steht nichts mehr im Wege.« Auf der Stelle legte man ihn in Eisen und brachte ihn zum Regiment. Dort lehrte man ihn links um, rechts um, Gewehr über, Gewehr ab, legt an, Feuer, im Laufschritt marsch und verabfolgte ihm dreißig Stockschläge. Am nächsten Tag machte er seine Sache schon nicht mehr ganz so schlecht, und er bekam nur zwanzig Hiebe, am übernächsten Tag sogar nur zehn, weshalb ihn seine Kameraden wie ein Wundertier bestaunten.

Candide verwirrte dies alles gewaltig; er begriff noch gar nicht recht, wieso er jetzt plötzlich ein Held sein sollte. Eines schönen Frühlingsmorgens kam ihm in den Sinn, spazieren zu gehen, einfach so geradeaus ohne ein bestimmtes Ziel, denn er glaubte, es sei das verbriefte Recht der Menschen wie der Tiere, sich ihrer Beine nach Belieben zu bedienen. Er war noch keine zwei Meilen gelaufen, da holten ihn vier andere Helden ein, banden ihn und warfen ihn ins Loch. Das Kriegsgericht fragte ihn, was ihm lieber sei: sechsunddreißig Mal Spießruten laufen durchs ganze Regiment oder zwölf Bleikugeln zugleich in den Schädel. Nun konnte Candide den Herren noch so ausführlich erklären, des Menschen Wille sei frei, und er wolle weder das eine noch das andere; es half nichts, er musste sich entscheiden. Und so entschloss er sich denn kraft der Gottesgabe, die da ›Willensfreiheit‹ heißt, für sechsunddreißig Mal Spießrutenlaufen. Er schaffte zwei Durchgänge. Das Regiment bestand aus zweitausend Soldaten; macht viertausend Hiebe. Vom Nacken bis zum Hintern lagen bereits alle Muskeln und Sehnen bloß. Als man sich zum dritten Lauf rüstete, konnte Candide nicht mehr und bat um die Gnade, ihm dann doch lieber das Haupt zu zerschmettern. Die Gunst wurde ihm gewährt. Man verband ihm die Augen und hieß ihn niederknien. Just in diesem Moment kam der König der Bulgaren vorbei. Er blieb stehen und fragte, welches Verbrechen der arme Sünder begangen habe. Nun war der König ein Mann von bedeutendem Geiste, und aus allem, was man ihm über Candide berichtete, erkannte er rasch, dass er da einen jungen Metaphysiker vor sich hatte, noch völlig unerfahren in den Dingen der Welt. Er begnadigte ihn also – eine Milde, die alle Journale und Chroniken sämtlicher Jahrhunderte rühmen und preisen werden. Ein braver Feldscher kurierte Candide in drei Wochen mit dermatologischen Mitteln aus den klassischen Rezeptbüchern des Dioskorides. Die Haut war bereits etwas nachgewachsen, und marschieren konnte er auch schon wieder leidlich, als der König der Bulgaren dem König der Avaren eine Schlacht lieferte.

DRITTES KAPITEL

Wie Candide den Bulgaren entkommt und was ihm weiter geschieht

Was Prächtigkeit der Ausrüstung, Gewandtheit im Kampfe, brillante Strategie und wohlgeordnete Disziplin betraf, konnte diesen beiden Armeen keine andere etwas vormachen. Ihre Trompeten, Pfeifen, Hörner, Trommeln und Kanonen vollführten ein Konzert, wie man es so harmonisch selbst in der Hölle kaum hören dürfte. Zunächst rissen die Kanonen auf jeder Seite etwa sechstausend Mann um; dann befreite das Feuer der Musketen die beste aller Welten von neun- bis zehntausend Halunken, die bis dahin ihre Oberfläche verpestet hatten. Und auch das Bajonett wurde zureichender Grund, dass etliche tausend Leute ihr Leben ließen. Der Gesamtverlust belief sich sage und schreibe auf dreißigtausend Seelen. Candide zitterte während dieser heroischen Metzelei wie ein Philosoph und versteckte sich, so gut er konnte.

Endlich war die Schlacht vorbei, und jeder der beiden Könige hieß in seinem Lager das Tedeum anstimmen. Candide entschied sich derweil, lieber woanders über Ursachen und Wirkungen nachzudenken, und zog weiter. Er kletterte über Berge von Toten und Sterbenden und kam ins nächste Dorf. Es lag in Schutt und Asche, denn es war avarisch; die Bulgaren hatten, dem Kriegsrecht getreu, den roten Hahn flattern lassen. Greise mussten, von Kugeln durchsiebt, hilflos mit anschauen, wie ihre niedergestochenen Frauen und Töchter starben, die ihre Kinder noch an die blutenden Brüste gepresst hielten. Junge Mädchen, die kurz zuvor noch die natürlichen Bedürfnisse einiger Helden befriedigt hatten, hauchten aufgeschlitzten Leibes ihren letzten Seufzer. Anderen Frauen wiederum war der halbe Körper verbrannt, und sie flehten schreiend, dass man sie vollends töte. Zwischen abgerissenen Armen und Beinen bedeckte verspritztes Gehirn den Boden.

Candide floh, so schnell er konnte, in ein anderes Dorf. Dieses nun gehörte den Bulgaren, und avarische Helden hatten es genauso zugerichtet wie ihre Feinde den Nachbarort. Auch hier führte Candides Weg über zuckende Glieder und durch glimmende Trümmer, bis er endlich, im Schnappsack noch ein wenig Proviant und im Herzen unvermindert Fräulein Kunigunde, aus dem Kriegsgebiet hinauskam. So gelangte er nach Holland. Jetzt war sein Mundvorrat zwar aufgebraucht, aber er hatte gehört, dass in jenem Lande alle Leute reich seien und zudem gute Christen; deshalb glaubte er fest, dass es ihm dort ebenso wohl ergehen würde wie im Schlosse des gnädigen Herrn Barons, bevor man ihn der schönen Augen Fräulein Kunigundes wegen verjagt hatte. Er bat mehrere würdig steife Leute von Stand um ein Almosen; die aber erwiderten ihm alle, wenn er so weitermache, werde man ihn in die Besserungsanstalt stecken, um ihn Mores zu lehren. Dann wandte er sich an einen Mann, der gerade eine geschlagene Stunde lang vor einer großen Versammlung über Wohltätigkeit und Barmherzigkeit gesprochen hatte. Der Prediger schaute ihn schief an und fragte: »Weshalb kommt Ihr? Hoffentlich wie wir um der guten Sache willen?« – »Sogar um einer guten Ursache willen«, antwortete Candide scheu. »Es gibt keine Wirkung ohne Ursache. Alles ist in notwendigem Zusammenhange miteinander verknüpft und aufs trefflichste eingerichtet. Ich musste aus Fräulein Kunigundes Nähe fortgejagt werden; ich musste Spießruten laufen; und jetzt muss ich um mein Brot betteln, bis ich wieder in der Lage bin, es mir durch Arbeit zu erwerben. All das konnte gar nicht anders sein.« – »Lieber Freund«, versetzte der Prediger, »glaubst du, dass der Papst der Antichrist ist? Ja oder nein?« – »Das wäre mir freilich neu; aber er mag es sein oder nicht – Hauptsache, ich habe Brot.« – »Du verdienst keines«, schimpfte der andere. »Mach dich fort, elender Schuft, und komme mir nie wieder vor die Augen!« Die Frau des Predigers schaute zum Fenster heraus, und als sie unten einen Menschen erblickte, der Zweifel daran hegte, dass der Papst der Antichrist sei, goss sie einen vollen Nachttopf über ihn aus. O Himmel, zu welchen Exzessen kann religiöser Eifer die Damen treiben!

Die Szene beobachtete jemand, der nicht einmal getauft war: Jacob hieß der Brave, seines Glaubens ein Anabaptist oder Wiedertäufer. Er sah, wie grausam und schändlich man dort einen seiner Brüder traktierte, ein Wesen auf zwei Beinen ohne Federn, das immerhin eine Seele hatte. Er nahm ihn mit in sein Haus, wusch ihn, gab ihm Brot und Bier, schenkte ihm zwei Gulden und wollte ihn sogar in seiner Manufaktur für echt persische Bunttücher beschäftigen, die bekanntlich in Holland hergestellt werden. Candide verneigte sich vor Jacob, ja fiel ihm fast zu Füßen und rief: »Meister Pangloss hatte doch recht. Alles in der Welt ist aufs beste eingerichtet; denn Eure außerordentliche Güte berührt mich viel tiefer als die Härte, die ich von dem Herrn im schwarzen Mantel und seiner Gemahlin erfuhr!«

Frohgemut ging Candide am nächsten Morgen spazieren. Da begegnete er einem kranken Bettler, einer wahren Lazarusfigur. Schwären bedeckten seine Haut; sein Blick war erloschen, die Nasenspitze weggefault; dazu hatte er einen schiefen Mund, kohlschwarze Zähne und eine heisere Stimme, die mehr gurgelte, ja röchelte, als dass sie sprach. Zudem plagte ihn ein heftiger Husten, wobei er bei jedem Anfall einen Zahn ausspie.

VIERTES KAPITEL

Wie Candide seinen alten Philosophielehrer Doktor Pangloss wiedertrifft und was sich daraus entwickelt

Candides gutes Herz siegte letzten Endes über den Ekel, und er schenkte dem grausigen Bettler die beiden Gulden, die er von dem wackeren Wiedertäufer Jacob erhalten hatte. Das Phantom sah ihn starr an, dann brach es in Tränen aus und fiel Candide um den Hals, der entsetzt zurückfuhr. »Ach«, sprach da ein armer Teufel zum anderen, »kennt Ihr wirklich Euren guten Pangloss nicht mehr?« – »Was muss ich hören! Ihr, mein teurer Lehrer? Und in solch schauderhaftem Zustande? Wie kam es zu diesem Unglück? Warum seid Ihr nicht mehr im schönsten aller Schlösser? Was ist aus Fräulein Kunigunde geworden, der Perle unter den Mädchen, dem Meisterstück der Natur?« – »Ich kann nicht mehr«, stöhnte Pangloss. Candide führte ihn schleunigst in den Stall des Anabaptisten und gab ihm ein wenig Brot. Nachdem Pangloss sich etwas erholt hatte, fragte er ihn abermals: »Nun, wie steht’s mit Kunigunde?« – »Sie ist tot«, erwiderte der andere. Candide sank in Ohnmacht. Freund Jacob hatte zufällig eine Flasche schlechten Essig in seinem Stalle; er hielt Candide ein paar Tropfen unter die Nase, bis er das Bewusstsein wiedererlangte. Candide schlug entsetzt die Augen auf: »Kunigunde tot! O beste der Welten, wo bist du? Woran ist sie denn nur gestorben? Bestimmt doch aus Kummer über die schweren Fußtritte, mit denen mich ihr Herr Vater aus seinem schönen Schlosse hinaustrieb?« – »Nein. Bulgarische Soldaten haben sie erst vergewaltigt, bis sie nicht mehr konnten, und ihr dann den Bauch aufgeschlitzt. Dem Herrn Baron, der sie schützen wollte, haben sie den Schädel eingeschlagen. Die Frau Baronin hackten sie in Stücke. Dem Sohn, meinem armen Zögling, erging es genau wie seiner Schwester. Und das Schloss – da haben sie keinen Stein auf dem anderen gelassen. Nichts ist übriggeblieben, keine Scheune, kein Schaf, keine Ente, weder Baum noch Strauch. Aber wir wurden vollauf gerächt. Unweit gab es eine bulgarische Baronie; die Avaren sind hingezogen und haben dort getreulich das vollführt, was man zuvor uns angetan hatte.«

Kaum hatte Pangloss seinen Bericht beendet, schwanden Candide schon wieder die Sinne. Endlich kam er zu sich. Er sagte ein paar teilnahmsvolle Worte, wie die Pflicht sie gebietet; dann erkundigte er sich nach dem zureichenden Grund für Pangloss’ Zustand; welche Ursache hatte eine so beklagenswerte Wirkung gezeitigt? »O weh«, seufzte der andere, »die Liebe war’s, die Liebe, die Trösterin der Menschheit, die Erhalterin allen Lebens, die Seele aller fühlenden Wesen, die Liebe war’s, eine Liebe voller Zärtlichkeit.« – »O weh«, seufzte nun seinerseits Candide, »die habe ich freilich auch kennengelernt, die Liebe, die Königin der Herzen, die Seele unserer Seele; leider hat sie mir bisher nichts eingebracht als einen Kuss und zwanzig Tritte in den Hintern. Und bei Euch? Wie konnte denn eine so schöne Ursache so abscheuliche Wirkungen hervorrufen?«

Pangloss antwortete folgendermaßen: »Mein lieber Candide! Ihr kanntet doch sicher Paquette, die niedliche Zofe unserer erlauchten Frau Baronin? In ihren Armen habe ich die Wonnen des Paradieses genossen, und die haben das Höllenfeuer entfacht, von dem Ihr mich verzehrt seht. Paquette war mit diesem Übel infiziert. Vielleicht ist sie inzwischen schon daran gestorben. Paquette erhielt dieses Geschenk von einem hochgelahrten Franziskaner, der es sich – ganz gründlicher Forscher – aus einer Quelle geholt hatte, die bis zum Ursprung zurückführte. Er hatte es nämlich von einer alten Gräfin empfangen, die wiederum von einem Kavalleriehauptmann, der verdankte es einer Marquise, die einem Pagen, der einem Jesuiten, und der bezog es als Novize von einem direkten Nachkommen eines Schiffsgefährten des großen Christoph Columbus. Ich selbst werde es nicht mehr weitergeben, denn ich sterbe bald.«

»O Pangloss!«, rief Candide, »welch sonderbarer Stammbaum! Sollte die Wurzel etwa der Teufel sein?« – »Behüte«, erwiderte der große Denker. »Dieses Übel ist für die beste aller Welten unentbehrlich, ein notwendiger Bestandteil. Denn hätte Columbus sich nicht auf einer der Inseln Amerikas diese Krankheit zugezogen, welche die Quelle der Zeugung vergiftet, ja selbige häufig sogar verhindert und dadurch offensichtlich dem großen Endzweck der Natur entgegenwirkt, hätten wir weder Schokolade noch Karminrot. Man beachte ferner, dass diese Krankheit bis zum heutigen Tage eine Eigentümlichkeit nur unseres Kontinents geblieben ist, wie die Glaubenskriege. Türken, Inder, Perser, Chinesen, Siamesen und Japaner kennen sie nicht. Noch nicht, denn es besteht ein zureichender Grund, dass sie die Plage in einigen Jahrhunderten ebenfalls kennenlernen werden. Inzwischen hat sie bei uns prächtige Fortschritte gemacht, zumal unter den wackeren, wohlerzogenen Söldnern jener großen Armeen, die über das Schicksal der Staaten und Völker entscheiden. Wenn in einer Schlacht zwei gleich große Heere gegeneinander antreten, sagen wir, dreißigtausend Mann hier, dreißigtausend Mann dort, so sind garantiert auf jeder Seite circa zwanzigtausend mit dieser Seuche behaftet.« – »Bewunderswert dargelegt«, versetzte Candide. »Aber jetzt erst einmal zu Euch! Ihr müsst schauen, dass Ihr wieder gesund werdet.« – »Wie soll das gehen?«, wandte Pangloss ein. »Ich besitze keinen roten Heller, mein Freund, und auf dem ganzen Erdenrund bekommt man keinen Aderlass und kein Klistier, wenn man nicht bezahlt oder jemand anderen findet, der für einen bezahlt.«