Volaire: Candide - Voltaire - E-Book

Volaire: Candide E-Book

Voltaire

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Beschreibung

Candides unerschütterlicher Optimismus wird auf eine harte Probe gestellt, als er aus dem paradiesischen Schloss Thunder-ten-tronckh vertrieben wird. Auf seiner abenteuerlichen Reise durch eine Welt voller Katastrophen, Kriege und menschlicher Grausamkeiten hält er zunächst an der Lehre seines Mentors Pangloss fest, dass wir "in der besten aller möglichen Welten" leben. Doch mit jeder Station seiner Odyssee – von den Schrecken der Inquisition bis zum Erdbeben von Lissabon – beginnt diese philosophische Gewissheit zu bröckeln. Voltaires bissige Satire aus dem Jahr 1759 rechnet nicht nur mit dem naiven Optimismus der Leibniz'schen Philosophie ab, sondern entlarvt auch religiösen Fanatismus und gesellschaftliche Missstände seiner Zeit. Ein zeitloser philosophischer Roman, der mit beißendem Witz fundamentale Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Umgang mit dem Leid in der Welt stellt.

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Voltaire

Candide

Vollständige deutsche Ausgabe von „Candide, ou l’Optimisme“ illustriert mit Kupferstichen von Jean-Michel Moreau

Copyright © 2024 Novelaris Verlag

1. Auflage

ISBN: 978-3-68931-163-6

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel: Wie Candide auf einem schönen Schloss erzogen und dann von dort verjagt wurde

Zweites Kapitel: Was aus Candide unter den Bulgaren wurde

Drittes Kapitel: Wie Candide von den Bulgaren entfloh und was aus ihm wurde

Viertes Kapitel: Wie Candide seinen alten Philosophielehrer, den Doktor Pangloß, wiederfand, und was daraus entsprang

Fünftes Kapitel: Sturm, Schiffbruch, Erdbeben und was dem Doktor Pangloß, Candide und dem Wiedertäufer Jakob begegnete

Sechstes Kapitel: Wie man zur Verhinderung der Erdbeben ein schönes Autodafé veranstaltete und wie Candide ausgepeitscht wurde

Siebentes Kapitel: Wie ein altes Weib Candide in seine Obhut nahm und wie er das wiederfand, was er liebte

Achtes Kapitel: Die Geschichte Kunigundens

Neuntes Kapitel: Was mit Kunigunde, mit Candide, mit dem Großinquisitor und mit einem Juden geschah

Zehntes Kapitel: In welcher Not Candide, Kunigunde und die Alte nach Cadix gelangten und von ihrer Einschiffung

Elftes Kapitel: Die Geschichte der Alten

Zwölftes Kapitel: Fortsetzung des Mißgeschicks der Alten

Dreizehntes Kapitel: Wie Candide gezwungen wurde, sich von der schönen Kunigunde und der Alten zu trennen

Vierzehntes Kapitel: Wie Candide und Cacambo von den Jesuiten in Paraguay aufgenommen wurden

Fünfzehntes Kapitel: Wie Candide den Bruder seiner teuren Kunigunde tötete

Sechzehntes Kapitel: Was den beiden Reisenden mit zwei Mädchen, zwei Affen und mit Wilden begegnete, die Ohrlappen hießen

Siebzehntes Kapitel: Ankunft Candides und seines Dieners im Lande Eldorado und was sie dort sahen

Achtzehntes Kapitel: Was sie im Lande Eldorado sahen

Neunzehntes Kapitel: Was ihnen in Surinam widerfuhr und wie Candide mit Martin bekannt wurde

Zwanzigstes Kapitel: Was Candide und Martin auf dem Meer begegnete

Einundzwanzigstes Kapitel: Candide und Martin nähern sich der französischen Küste und plaudern

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Was Candide und Martin in Frankreich widerfuhr

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Candide und Martin gelangen an die englische Küste, und was sie dort sahen

Vierundzwanzigstes Kapitel: Von Paquette und dem Bruder Giroflée

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Besuch bei dem Signor Pococurante, einem venezianischen Edelmanne

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Von einem Abendessen, das Candide und Martin mit sechs Fremden einnahmen, und wer diese waren

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Reise Candides nach Konstantinopel

Achtundzwanzigstes Kapitel: Was Candide, Kunigunde, Cacambo, Pangloß und Martin widerfährt, usw.

Neunundzwanzigstes Kapitel: Wie Candide Kunigunden und die Alte wiederfand

Dreißigstes Kapitel: Schluß

Cover

Table of Contents

Text

Erstes Kapitel: Wie Candide auf einem schönen Schloss erzogen und dann von dort verjagt wurde

In Westfalen lebte auf dem Schloss des Barons von Tundertentronck ein Junge, dem die Natur das sanfteste Gemüt mit auf die Welt gegeben hatte. Sein Gesicht kündete von seiner Seele. Er verband einen recht gesunden Verstand mit großer geistiger Einfalt, und darum, glaube ich, hatte man ihm den Namen Candide gegeben. Die alten Diener des Hauses munkelten, er sei das Kind einer Schwester des Herrn Barons und eines guten braven Edelmannes aus der Nachbarschaft, den dies Fräulein jedoch niemals hatte heiraten wollen, weil er nur einundsiebzig Ahnen aufzuweisen vermochte und der Rest seines Stammbaumes durch die Ungunst der Zeit verloren gegangen war.

Der Herr Baron war einer der mächtigsten Edelleute Westfalens, denn sein Schloss hatte eine Tür und Fenster, ja, der große Saal war sogar mit Tapeten geziert. Aus seinen Hofhunden ließ sich nötigenfalls eine Meute zusammenstellen, seine Stallknechte waren seine Jäger und der Dorfpfarrer sein Großalmosenpfleger. Sie nannten ihn alle Gnädiger Herr und lachten, wenn er Geschichten erzählte.

Die Frau Baronin wog ungefähr dreihundert Pfund, erwarb dadurch ein großes Ansehen und stand dem Hause mit einer Würde vor, die sie noch achtunggebietender machte. Ihre Tochter Kunigunde zählte siebzehn Jahre. Sie war rotbäckig, frisch, fett und appetitlich. Der Sohn des Barons schien in allen Stücken seines Vaters würdig zu sein. Der Hofmeister Pangloß war das Orakel des gesamten Hauses, und der kleine Candide lauschte seinem Unterricht mit der ganzen Vertrauensseligkeit seines Alters und seines Gemütes.

Pangloß lehrte die Metaphysico-theologico-nigologie. Er bewies aufs bewunderungswürdigste, dass es keine Wirkung ohne Ursache gäbe, und dass in dieser besten aller möglichen Welten das Schloss des gnädigen Herrn Barons das allerschönste Schloss und die gnädige Frau die beste aller möglichen Baroninnen sei.

»Es ist erwiesen,« sagte er, »dass die Dinge nicht anders sein können, denn da alles zu einem Zwecke erschaffen worden ist, geschah es notwendigerweise zu einem besten Zwecke. Beachtet wohl, dass die Nasen zum Tragen von Brillen erschaffen wurden, und so haben wir denn auch Brillen! Beine sind offenbar zum Tragen von Stiefeln eingerichtet, und wir haben Stiefel! Die Steine sind so gebildet, dass man sie behauen und Schlösser daraus erbauen kann, und so hat der gnädige Herr denn auch ein sehr schönes Schloss, und zwar muss der größte Baron der Provinz am besten behaust sein! Da die Schweine zum Essen erschaffen wurden, so essen wir eben auch das ganze Jahr über Schwein. Aus allem diesen geht hervor, dass jene, so behauptet haben, alles sei gut, eine Dummheit sagten: sie hätten sagen müssen, alles sei zum Besten.

Candide lauschte aufmerksam und glaubte unschuldsvoll, denn er fand Fräulein Kunigunde über die Maßen schön, wenn er sich auch niemals die Kühnheit herausnahm, es ihr zu sagen. Er meinte, dass nach dem Glück, als Baron von Tundertentronck geboren zu sein, der zweite Grad der Glückseligkeit darin bestände, Fräulein Kunigunde zu sein, der dritte sie täglich zu sehen und der vierte Meister Pangloß zu hören, als welcher der größte Philosoph der Provinz und folglich der ganzen Erde war.

Als nun Kunigunde eines Tages in der Nähe des Schlosses in einem kleinen Gehölz, das man Park benannte, spazieren ging, sah sie durch die Büsche, wie der Doktor Pangloß der Kammerfrau ihrer Mutter, einem kleinen, sehr hübschen und äußerst gelehrigen Blondkopf, Unterricht in der Experimentalphysik erteilte. Da Fräulein Kunigunde eine große natürliche Begabung für die Wissenschaften besaß, beobachtete sie atemlos das oft wiederholte Experiment, dessen Zeuge sie geworden. Sie erkannte klar den zureichenden Beweggrund des Doktors, die Wirkungen und die Ursachen, und ging aufgeregt, nachdenklich und ganz von dem Wunsche erfüllt, gleichfalls gelehrt zu sein, von dannen und meinte, sie ihrerseits könnte recht wohl den zureichenden Beweggrund für den jungen Candide abgeben und er seinerseits wiederum für sie.

Auf dem Rückweg zum Schloss begegnete sie Candide und errötete, und Candide errötete ebenfalls. Mit halb erstickter Stimme wünschte sie ihm einen guten Morgen, und Candide sprach zu ihr, ohne zu wissen, was er sagte. Als man am nächsten Tage von Tische aufgestanden war, kamen Kunigunde und Candide von ungefähr hinter einen Wandschirm zu stehen. Kunigunde ließ ihr Taschentuch fallen, und Candide hob es auf; da fasste sie ihn unschuldsvoll bei der Hand, und der junge Mann küsste die Hand des jungen Fräuleins ebenso unschuldsvoll mit einer sehr besonderen Lebhaftigkeit, Empfindung und Anmut. Ihre Lippen fanden sich, ihre Augen sprühten, ihre Kniee zitterten, und ihre Hände verirrten sich. Der Herr Baron von Tundertentronck kam ebenfalls von ungefähr an dem Wandschirm vorbei, und sobald er diese Ursache und Wirkung wahrgenommen, jagte er Candide mit wuchtigen Tritten in den Hintern aus dem Schloss. – Kunigunde fiel in Ohnmacht, und sobald sie wieder zu sich gekommen, wurde sie von der Frau Baronin geohrfeigt, und alles in dem schönsten und angenehmsten aller möglichen Schlösser war bestürzt.

Zweites Kapitel: Was aus Candide unter den Bulgaren wurde

Aus dem irdischen Paradiese verjagt, taumelte Candide lange Zeit dahin, ohne zu wissen, wohin er ging, weinte, hob die Augen zum Himmel empor, wendete sie wieder zurück nach dem schönsten aller Schlösser, worin das schönste aller Freifräuleins lebte, und legte sich endlich ohne Nachtmahl inmitten der Felder zwischen zwei Ackerfurchen zum Schlafen nieder. Der Schnee fiel in großen Flocken. Bis auf die Haut durchnässt, schleppte sich Candide am nächsten Morgen ohne Geld und halbtot vor Hunger und Müdigkeit nach der nächsten Stadt, welche Waldberghofftrarbkdikdorff hieß. Vor der Tür einer Herberge blieb er traurig stehen. Dort wurden zwei junge Männer seiner gewahr. »Kamerad,« sagte der eine von ihnen zum andern, »dort steht ein junger, wohlgewachsener Mann, der die erforderliche Gestalt hat.« Sie näherten sich Candide und luden ihn aufs höflichste zum Mittagessen ein. »Meine Herren,« sagte Candide mit berückender Bescheidenheit zu ihnen, »Sie erweisen mir eine große Ehre, aber ich habe kein Geld, meine Zeche zu bezahlen.« »Oh, mein Herr,« erwiderte einer der Blauen, »Leute Ihrer Gestalt und Ihres Talentes brauchen niemals etwas zu bezahlen! Messen Sie denn nicht vielleicht fünf Fuß fünf Zoll?« »Ja, meine Herren, das ist mein Wuchs,« erwiderte Candide mit einer Verbeugung. »Oh, so nehmen Sie bitte Platz, mein Herr, wir werden Sie nicht nur freihalten, sondern auch niemals leiden, dass es einem Manne gleich Ihnen an Geld gebricht. Die Menschen sind ja eigens dazu erschaffen, einander beizustehen.« »Recht gesprochen,« erwiderte Candide, »auch Herr Pangloß hat mir dies stets versichert, ich sehe nun wohl, dass alles zum Besten eingerichtet ist.« Man bat ihn nun, einige Taler anzunehmen, er nahm sie und wollte einen Wechsel ausstellen, man wies dies jedoch zurück und setzte sich zu Tisch. »Lieben Sie nicht aufs innigste …?« »Oh ja,« antwortete Candide, »aufs innigste liebe ich Fräulein Kunigunde.« »Nicht doch, Herr,« rief nun einer der beiden, »wir fragen Sie, ob Sie den König der Bulgaren nicht inniglich lieben?« »Keineswegs,« entgegnete Candide, »denn ich habe ihn niemals gesehen.« »Was Sie sagen! Er ist der reizendste aller Könige, wir wollen auf seine Gesundheit trinken!« »Von Herzen gern, meine Herren!« Und ertrank. »Das genügt,« sprach man nun zu ihm, »damit sind Sie der Halt, die Stütze, der Verteidiger, der Held der Bulgaren geworden. Ihr Glück ist gemacht, Ihr Ruhm gesichert.« Mit diesen Worten legten sie ihm Eisen um die Füße und führten ihn auf der Stelle zum Regiment. Dort musste er rechtsum und linksum machen, den Ladestock handhaben, zielen, schießen, laufen, und zu alledem bekam er noch dreißig Stockschläge. Am nächsten Tage machte er seine Sache schon etwas besser und bekam nur zwanzig Hiebe, am übernächsten gab man ihm nur noch zehn, und darob wurde er von seinen Kameraden wie ein Wunder angestaunt.

Candide war ganz bestürzt und vermochte noch nicht recht zu erkennen, in welchem Sinne er denn eigentlich ein Held sei. An einem schönen Frühlingstag ließ er es sich beifallen, einen Spaziergang zu machen. Er ging immer gerade vor sich hin in dem festen Glauben, es sei ebenso sehr ein Vorrecht der menschlichen wie der Tiergattung, sich seiner Beine zu seinem Vergnügen zu bedienen. Aber er hatte noch nicht zwei Meilen zurückgelegt, da holten ihn auch schon vier andere sechs Fuß lange Helden ein, banden ihn und schleppten ihn in einen Kerker. Hier fragte man ihn auf dem Gerichtsweg, ob er lieber von dem ganzen Regiment sechsunddreißigmal ausgepeitscht werden oder auf einmal zwölf Bleikugeln ins Hirn bekommen wolle. Er mochte nun immer hervorheben, dass des Menschen Wille frei sei und er keines von beidem wolle, es half ihm nichts, er musste eine Wahl treffen, und so entschloss er sich denn kraft der Gottesgabe, die man Freiheit nennt, sechsunddreißigmal Spießruten zu laufen, und zwei dieser Spaziergänge hielt er auch aus. Das Regiment bestand aus zweitausend Mann, das bedeutete viertausend Rutenschläge für ihn, welche ihm vom Nacken bis zum Hintern hinab Muskeln und Nerven bloßlegten. Als man zum dritten Gange schreiten wollte, konnte Candide nicht mehr und bat, man möchte dann doch schon lieber die Güte haben, ihm den Schädel zu zertrümmern. Die Gunst wurde ihm gewährt, man verband ihm die Augen und ließ ihn niederknien. In diesem Augenblick kam der König der Bulgaren vorbei und erkundigte sich nach dem Verbrechen des armen Sünders, und da dieser König einen großen durchdringenden Verstand besaß, erkannte er aus allem, was er über Candide hörte, dass er ein junger, in Dingen dieser Welt völlig unwissender Metaphysiker sei, und begnadigte ihn mit einer Milde, die in allen Zeitungen und allen Jahrhunderten gepriesen werden wird. Ein wackerer Wundarzt heilte Candide in drei Wochen durch jene von Dioskorides gelehrten Umschläge. Schon hatte er wieder etwas Haut und konnte gehen, als der König der Bulgaren dem Könige der Avaren eine Schlacht lieferte.

Drittes Kapitel: Wie Candide von den Bulgaren entfloh und was aus ihm wurde

Etwas Schöneres, Hurtigeres, Glänzenderes und Wohlgeordneteres als die beiden Heere konnte es gar nicht geben. Die Trompeten, Pfeifen, Hörner, Trommeln und Kanonen bildeten zusammen eine Harmonie, dergleichen es nicht einmal je in der Hölle gegeben. Die Kanonen mähten zuerst auf jeder Seite ungefähr sechstausend Mann nieder, dann nahm das Gewehrfeuer ungefähr neun- bis zehntausend Schurken fort, welche die Oberfläche dieser besten aller Welten verpestet hatten, und das Bajonett wurde ebenfalls der zureichende Grund für den Tod einiger tausend Mann. Alles in allem mochte sich das Ganze etwa auf dreißigtausend Seelen belaufen. Candide, der wie ein Philosoph zitterte, versteckte sich während dieser heroischen Schlächterei so gut er konnte.

Als dann endlich die beiden Könige ein jeder auf seinem Schlachtfelde ein Tedeum anstimmen ließen, fasste er den Entschluss, wo anders über Ursachen und Wirkungen nachzudenken. Er eilte über große Haufen Toter und Sterbender dahin und erreichte zunächst ein benachbartes Dorf: es lag in Schutt und Asche. Es war ein Avarendorf gewesen, das die Bulgaren nach den Gesetzen des Völkerrechts niedergebrannt hatten. Hier sahen von Schlägen verkrümmte Greise ihre erwürgten Weiber, welche noch ihre Kinder an blutende Brüste pressten, den Geist aufgeben, dort stießen Mädchen mit aufgeschlitzten Leibern ihren letzten Seufzer aus, nachdem sie die natürlichen Bedürfnisse einiger Helden gestillt hatten; andere flehten halbverbrannt, man möge ihnen vollends den Tod geben … und rings auf der Erde lagen verspritzte Gehirne neben abgeschossenen Armen und Beinen.

Candide floh, so schnell er konnte, in ein anderes Dorf; es gehörte den Bulgaren und war von den avarischen Helden auf gleiche Weise zugerichtet worden. Candide eilte, immer über Trümmer oder zuckende Gliedmaßen schreitend, unaufhörlich weiter und gelangte endlich aus dem Gebiet des Kriegstheaters, in seinem Quersack einen geringen Mundvorrat und in seinem Kopf ohne Unterlass gar viele Gedanken an Fräulein Kunigunde! Als er nach Holland gelangt war, fing sein Mundvorrat an auf die Neige zu gehen; da er jedoch sagen gehört, in diesem Lande sei jedermann reich und christlich gesinnt, zweifelte er nicht daran, dass man ihn hier ebenso gut behandeln würde, wie ihm im Schloss des Herrn Barons geschehen, ehe er daraus wegen der schönen Augen des Fräuleins Kunigunde verjagt worden war.

Er ging mehrere würdige Bürger um ein Almosen an, und diese antworteten ihm allesamt, wenn er nicht aufhöre, dies Handwerk zu betreiben, würde man ihn in eine Besserungsanstalt sperren, um ihn leben zu lehren.

Er wandte sich nun an einen Mann, der soeben ganz allein eine volle Stunde lang in einer Versammlung über Wohltätigkeit gesprochen hatte. Dieser Redner durchbohrte ihn mit seinen Blicken und fragte ihn: »Was wollen Sie hier, verursacht die gute Sache Ihr Hiersein?« »Es gibt kein Ding ohne Ursache,« erwiderte Candide bescheiden, »alles ist notwendig verknüpft und zum Besten gerichtet: ich musste Fräulein Kunigundens wegen verjagt werden, musste Spießruten laufen und muss mir nun auch mein Brot erbetteln, bis ich selber welches verdienen kann; alles dies könnte gar nicht anders sein!« »Mein Freund,« sagte der Redner, »glaubst du, dass der Papst der Antichrist ist?« »Ich habe das noch nicht sagen gehört,« antwortete Candide, »aber ob er’s nun ist oder ob er’s nicht ist, ich habe nichts zu essen!« »Du verdienst auch nichts,« erwiderte der andere, »fort, du Schurke, fort, du Elender, und komme mir niemals wieder in den Weg.« Die Frau des Redners hatte aus dem Fenster gesehen, und als sie nun eines Mannes ansichtig wurde, der bezweifelte, dass der Papst der Antichrist sei, goss sie ihm einen vollen … auf den Kopf. Oh Himmel, zu welchem Überfließen kann bei einem Weibe der Religionseifer nicht führen!

Ein Mann, der nicht getauft worden war, ein braver Wiedertäufer namens Jakob, sah die grausame und schändliche Weise, mit der einer seiner Brüder, ein Wesen auf zwei Füßen ohne Federn, das eine Seele hatte, behandelt wurde. Er nahm ihn mit in sein Haus, reinigte ihn, gab ihm Brot und Bier, machte ihm zwei Gulden zum Geschenk und wollte ihn sogar in seiner Fabrik für persische Stoffe, die in Holland verfertigt wurden, arbeiten lehren. Candide warf sich ihm beinahe zu Füßen und rief: »Meister Pangloß hat wahr gesprochen, als er sagte, dass in dieser Welt alles zum Besten eingerichtet sei, denn Ihre außerordentliche Großmut beeindruckt mich unendlich tiefer, als die Härte jenes schwarz bemäntelten Herren und seiner Frau Gemahlin getan.«

Am nächsten Morgen begegnete Candide auf einem Spaziergange einem über und über mit Pusteln bedeckten Bettler, dessen Augen erloschen, dessen Nasenspitze zerfressen, dessen Mund gespalten und dessen Zähne schwarz waren. Unaufhörlich von einem heftigen Hustenreiz geplagt, krächzte er mit heiserer Stimme und spie bei jedem neuen Hustenanfall einen neuen Zahn aus.

Viertes Kapitel: Wie Candide seinen alten Philosophielehrer, den Doktor Pangloß, wiederfand, und was daraus entsprang

Candide fühlte sich mehr von Mitleiden denn von Abscheu bewegt und schenkte dem grauenhaften Bettler die beiden Gulden, die er von seinem wackeren Wiedertäufer Jakob bekommen hatte. Das Gespenst sah ihn starr an, vergoss Tränen und sprang ihm an den Hals. Entsetzt wich Candide zurück. »Ach,« sprach nun der eine Elende zu dem andern Elenden, »erkennst du deinen lieben Pangloß nicht wieder?« »Was höre ich, Sie, mein geliebter Meister, Sie in diesem grauenhaften Zustande; welches Unglück ist Ihnen denn zugestoßen, warum sind Sie nicht mehr in dem schönsten aller Schlösser, und was ist aus der Perle der Mädchen, aus dem Meisterwerk der Natur, was ist aus Fräulein Kunigunde geworden?« »Ich bin am Ende,« stöhnte Pangloß. Sofort führte Candide ihn in den Stall des Wiedertäufers und gab ihm ein wenig Brot zu essen, und als er sah, dass sich Pangloß ein wenig erholt hatte, rief er aus: »Nun, und Kunigunde?« »Sie ist tot,« erwiderte der andere. Bei diesen Worten fiel Candide in Ohnmacht. Sein Freund brachte ihn mit etwas schlechtem Essig, der sich zufällig im Stalle fand, wieder zur Besinnung. Candide schlug die Augen auf: »Kunigunde ist tot, oh beste der Welten, wo bist du? An welcher Krankheit ist sie nur gestorben? Geschah’s etwa, weil sie hatte mit ansehen müssen, wie ich aus dem schönen Schlosse ihres Herrn Vaters mit wuchtigen Fußtritten vertrieben wurde?« »Nein,« erwiderte Pangloß, »sie ist von bulgarischen Soldaten aufgeschlitzt worden, nachdem man sie so gründlich vergewaltigt hatte, wie dieses nur irgend möglich ist. Dem Herrn Baron, der sie verteidigen wollte, haben sie den Schädel eingeschlagen, die Frau Baronin ist in Stücke zerhackt worden, mein armer Zögling wurde genau wie seine Schwester behandelt, und von dem Schlosse selber ist kein Stein mehr auf dem anderen, keine Scheune, keine Hammel, keine Enten und keine Bäume sind übrig geblieben, aber wir sind gut gerächt worden, denn die Avaren haben auf einer benachbarten, einem bulgarischen Edelmanne gehörigen Freiherrschaft ebenso gehaust.«

Nach dieser Rede fiel Candide abermals in Ohnmacht. Als er dann jedoch wieder zu sich gekommen und alles gesagt hatte, was er sagen musste, forschte er nach der Wirkung und der Ursache und nach dem zureichenden Grunde, der Pangloß in einen so jämmerlichen Zustand versetzt. »Ach,« erwiderte dieser, »die Liebe hat’s getan, die Liebe, die Trösterin der Menschheit, die Erhalterin des Weltenalls, die Seele aller fühlenden Wesen, die zarte Liebe.« »Oh,« rief Candide, »auch ich habe die Liebe gekannt, diese Beherrscherin der Herzen, diese Seele unserer Seele! Mir hat sie niemals mehr eingetragen als einen Kuss und unzählige Fußtritte in den Hintern. Wie hat nur diese so gar schöne Ursache in Ihnen eine so entsetzliche Wirkung hervorbringen können?«