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Tiergestützte Hilfen gewinnen in der Pädagogik zunehmend an Bedeutung. Dies zieht zahlreiche Fragen nach sich. Was sich genau dahinter verbirgt, wie es funktioniert und wem es wie und warum hilft, wird hier mit der Canepädagogik ausführlich dargestellt. Die Jubiläumsausgabe spannt den weiten Bogen von der Erklärung des zugrundeliegenden Konzeptes über die Darstellung verschiedener Anwendungsbeispiele in der ambulanten wie auch stationären Jugendhilfe bis zur detaillierten Auswertung nach zehnjähriger Praxistätigkeit mit zahlreichen Fallbeispielen und schließt mit einem Rückblick auf 25 Jahre Canepädagogik. Es bietet damit sowohl hilfesuchenden Eltern als auch Mitarbeitenden der pädagogischen Helfersysteme, ambitionierten Studierenden oder Interessenten der tiergestützten Arbeit einen umfassenden Überblick über die Grundlagen, die Arbeitsweise und die Wirkung der Canepädagogik.
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Seitenzahl: 271
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Danksagung
Geleitwort
Vorwort
Einleitung
TEIL I KONZEPTENTWICKLUNG
1 Canepädagogik
1.1 Begriffsabgrenzung
1.2 Zielgruppe
1.3 Heilpädagogische Grundlagen
2 Verhaltensauffälligkeiten
2.1 Begriffsabgrenzung
2.2 Ursachen
2.3 Folgen
3 Erziehung
3.1 Begriffsabgrenzung
3.2 Aufgabe der Erziehung
3.3 Erziehungsprobleme
3.4 Förderliche Verhaltensformen
3.4.1 Achtung und Wärme
3.4.2 Einfühlendes Verstehen
3.4.3 Echtheit
3.4.4 Förderndes und nicht-dirigierendes Handeln
4 Aufgaben der Hunde in der Canepädagogik
4.1 Erziehung mit dem Hund
4.1.1 Hunde als pädagogisches Medium
4.1.2 Hunde als bessere Erzieher?
4.2 Erziehung durch den Hund
4.2.1 Befriedigung essenzieller Bedürfnisse
4.2.2 Vermittlung von Verhaltensregeln
4.2.3 Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit
4.2.4 Ganzheitliche Förderung
4.3 Erziehung der Hunde
4.3.1 Foxterrier
4.3.2 Ausbildungsstand
4.3.3 Rudelarbeit
4.3.4 Arbeitsumfeld
4.3.5 Lernziel
4.3.6 Anforderungen an den Pädagogen
5 Didaktik/Methodik der Canepädagogik
5.1 Begriffsabgrenzung
5.2 Didaktische Elemente
5.2.1 Ziele
5.2.2 Situation
5.2.3 Pädagogisches Verhältnis
5.2.4 Methodik
5.2.5 Inhalte
TEIL II ANWENDUNG
6 Das Konzept
7 Canepädagogik in der stationären Jugendhilfe
7.1 Einrichtung
7.2 Rahmenbedingungen
7.3 Durchführung
7.3.1 Kontaktaufnahme
7.3.2 Gruppenbildung
7.3.3 Nachmittagsgestaltung
7.4 Reflexion
8 Canepädagogik – Das Projekt
8.1 Durchführung
8.1.1 Nachmittagsgestaltung
8.1.2 Agility
8.1.3 Zeltlager
8.2 Auswertung
8.2.1 Quantitative Auswertung
8.2.2 Qualitative Auswertung
8.2.3 Resonanz der Bezugspersonen
8.3 Elternarbeit
8.4 Reflexion
9 Canepädagogik in der ambulanten Jugendhilfe
9.1 Gesetzliche Grundlage
9.2 Zugangswege
9.3 Gruppenzusammensetzung
9.4 Durchführung
9.5 Hundeauswahl
TEIL III AUSWERTUNG
10 Belegungsanalyse
10.1 Geschlechterverteilung
10.2 Altersverteilung
10.3 Belegungsentwicklung
10.4 Durchschnittsalter
10.4.1 Abbruchquote
10.4.2 Dauer der Maßnahmen
10.5 Termintreue
11 Grenzen der Canepädagogik
11.1 Nicht ausreichendes Hilfsangebot
11.2 Religiöse Gründe
11.3 Haltung und Wertesystem der Eltern
11.4 Canepädagogik in Suchtfamilien
12 Beurteilung der Canepädagogik durch die Eltern
12.1 Bedeutung der Elternarbeit
12.2 Chancen der Canepädagogik
12.2.1 Motivation wirkt ansteckend
12.2.2 Kinder anders kennenlernen
12.2.3 Transparenz schaffen
12.3 Anschlussmaßnahmen
12.3.1 … nicht mehr erforderlich
12.3.2 … erst möglich
12.3.3 … weiter notwendig
13 Erfolge der Canepädagogik
14 Beurteilung der Canepädagogik durch das Jugendamt
15 Kinderstimmen
16 Diskussion
17 Zusammenfassung
TEIL IV 25 JAHRE CANEPÄDAGOGIK
18 Rückblick und Ausblick
Literatur
Ich bat um KRAFT … und mir wurden Schwierigkeiten gegeben, um mich stark zu machen.
Ich bat um WEISHEIT … und mir wurden Probleme gegeben, um sie zu lösen und dadurch Weisheit zu erlangen.
Ich bat um WOHLSTAND … und mir wurde ein Gehirn und Muskelkraft gegeben, um zu arbeiten.
Ich bat um MUT … und mir wurden Hindernisse gegeben, um sie zu überwinden.
Ich bat um LIEBE … und mir wurden besorgte, unruhige Menschen mit Problemen gegeben, um ihnen beizustehen.
Ich bat um ENTSCHEIDUNGEN … und mir wurden Gelegenheiten gegeben.
Ich bekam nichts von dem, was ich wollte … aber ich bekam alles, was ich brauchte.
(Verfasser unbekannt)
25 Jahre Canepädagogik! Anlässlich dieses besonderen Jubiläums möchte ich mein selbstentwickeltes Handlungskonzept „Canepädagogik“ und zahlreiche Erfahrungen aus der Praxistätigkeit zusammengefasst in dieser vierfarbigen Jubiläumsausgabe veröffentlichen.
Die Entwicklung, Ausarbeitung, Anwendung und Auswertung dieser hundgestützten Förderung verhaltensauffälliger Kinder ist mir nur durch die Unterstützung vieler Personen und Institutionen möglich gewesen. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, mich für diese wichtige Unterstützung zu bedanken.
Sowohl während meines Studiums der Heilpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum als auch bei der Suche nach geeigneten Praktikums- und Arbeitsstellen war ich auf diese Hilfe angewiesen und habe auf meinem Weg die Erfahrung machen dürfen, mit meiner Idee, der hundgestützten Arbeit, an „offene Türen“ zu klopfen.
Erst das Interesse der Professoren, neue Mittel und Wege ressourcenorientierter, heilpädagogischer Arbeit in den Blick nehmen zu wollen, die Neugierde und der Mut der Arbeitgeber, die Wirkung der Hunde auf das Verhalten von Kindern innerhalb ihrer Institution – nach sorgfältiger Klärung der Rahmenbedingungen – zu erfahren, haben es mir möglich gemacht, dieses Konzept sowohl theoretisch fundiert als auch praxisnah entstehen zu lassen. Daher möchte ich mich an dieser Stelle explizit sowohl bei der EFH Bochum und ihren Professoren als auch bei der AWO Dortmund und der Jugendhilfe St. Elisabeth in Dortmund bedanken.
Mein ganz besonderer Dank gilt dem langjährigen stellvertretenden Leiter des Sozialpädagogischen Zentrums (SPZ) der Stadt Hagen, Herrn Klaus Bortz. Dank seiner Innovationsfreude und seiner Begeisterung für die hundgestützte Arbeit erhielt ich im SPZ zunächst die Möglichkeit, mein Anerkennungsjahr als Heilpädagogin absolvieren zu dürfen. Mit seiner Zustimmung und Unterstützung wurde im Rahmen der ambulanten, flexiblen Jugendhilfe des SPZ ein einjähriges Projekt ins Leben gerufen, bei dem eine Kindergruppe ambulant nach meinem Konzept der Canepädagogik über den Umgang mit meinen Hunden pädagogisch gefördert wurde. Erst die Auswertung des Projektes und die sehr positive Resonanz auf das hundgestützte Gruppenangebot trugen dazu bei, dass sich die Canepädagogik als eine ambulante Jugendhilfemaßnahme bei der Stadt Hagen erfolgreich etablieren konnte.
Neben seiner freundschaftlichen und kollegialen Begleitung möchte ich Herrn Klaus Bortz darüber hinaus auch dafür danken, dass ich durch die gemeinsamen Eltern- und Familiengespräche die Gelegenheit erhielt, Vieles lernen und von seiner großen Fachkompetenz wie auch seiner Erfahrung profitieren zu können.
Die Erkenntnis, wie wertvoll die Bedeutung der systemischen Elternberatung als notwendige Ergänzung zur hundgestützten Gruppenarbeit für den Erfolg der ganzen Maßnahme ist, lernte ich erst durch diese qualifizierte Beratungsarbeit richtig schätzen.
Diese Erkenntnis führte dazu, dass ich mich für die Fortbildung der systemischen Familienberatung beim Institut für Humanistische Psychologie (IHP) entschied, die mich mit ihrer ressourcenorientierten, wertschätzenden und qualifizierten Ausbildung bestens auf die Anforderungen der Eltern- und Familienberatung vorbereitet hat. Dem IHP gilt dafür meine besondere Anerkennung und mein Dank.
Auch dem Jugendamt der Stadt Hagen und seinem Team der ambulanten Jugendhilfe möchte ich für die Offenheit danken, sich auf dieses neue „tierische“ Angebot eingelassen zu haben.
Sich einer so neuen Fördermaßnahme konstruktiv zu stellen und Canepädagogik als tiergestützte Jugendhilfemaßnahme nicht nur theoretisch anzuerkennen, sondern auch über Jahre kontinuierlich zu belegen, zeigt ein großes Maß an Innovationsgeist und Klientenorientierung. Nur durch die Berücksichtigung und Vorstellung des tiergestützten Angebotes gegenüber den Familien sowie durch die Finanzierung der Hilfe über das Jugendamt konnte Canepädagogik den Kindern und ihren Familien in Hagen zugutekommen.
Seit 2012 ist auch das Projekt „Kurve kriegen“– eine kriminalpräventive Initiative des Landes NRW zur Verhinderung von Jugendkriminalität – beständiger Auftraggeber der Canepädagogik. Durch die vertraute, intensive und sehr engmaschige Zusammenarbeit mit den Standorten Hagen und Dortmund konnten dem Leben vieler delinquenter Kinder eine neue Richtung gegeben und so eine drohende Karriere als Intensivtäter effektiv verhindert werden. Mit meinen Hunden aktiv mitwirken zu dürfen, die Lebensläufe dieser straffällig gewordenen jungen Menschen ebenso nachhaltig wie positiv zu beeinflussen, macht mich überglücklich und lässt mich meinen Beruf so sehr lieben.
Für diese erfolgreiche Zusammenarbeit möchte ich mich insbesondere bei Frau Jennifer Brockhaus, Herrn Björn Temme und Herrn Stephan Moning von „Kurve kriegen“ bedanken, die für „ihre“ Kinder mit viel Empathie und Augenmaß immer die passenden pädagogischen Angebote finden und so eine „tierisch“ gute Förderung ermöglichen.
Auch der Verband für das Deutsche Hundewesen (VDH) und der Jagdgebrauchshundverband (JGHV) sollen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Beide Verbände tragen durch das regelmäßige Sponsoring von Eintrittskarten zu den großen Messen in der Dortmunder Westfalenhalle dazu bei, dass Canepädagogik den Kindern besondere Höhepunkte bieten kann. Neben der Herausforderung, sich mit Hund auf einer so großen Messe als Hundeführer erleben zu dürfen, macht die Vielzahl von Eindrücken, Informationen und Vorführungen diese Ausflüge zu einem hochgeschätzten Highlight. Für viele Kinder, die sonst weder das Geld noch die Möglichkeiten haben, so eine Veranstaltung zu besuchen, ist jeder dieser Tage ein unvergessliches Erlebnis.
Sehr herzlich möchte ich auch meiner Webmasterin Frau Christiane Danowski für ihr langjähriges, engagiertes Mitwirken meinen Dank aussprechen. Sie hat mich immer mit Rat und Tat unterstützt und entscheidend dazu beigetragen, meine Idee der Canepädagogik auch über das Medium Internet einer großen Öffentlichkeit vorstellen zu können. Zahlreiche Anfragen und viele positive Resonanzen verdeutlichen, wie wichtig dieses Medium für die Canepädagogik ist.
Besonders wichtig ist mir auch, meinen Dank all jenen Eltern und Kindern auszusprechen, die trotz aller Schwierigkeiten, Zweifel, Ängste und Sorgen den Mut und die Kraft gefunden haben, sich auf diese Hilfe einzulassen. Nur ihre Bereitschaft, sich den besonderen Herausforderungen ihres Alltags – unter meiner fachlichen Begleitung – engagiert zu stellen, neue Wege zu gehen und andere Verhaltensweisen zu integrieren, führte dazu, dass die Canepädagogik zu so vielen positiven Entwicklungen beitragen konnte.
Erst die erfolgreiche Bewältigung ihrer höchst unterschiedlichen „Lebenskrisen“ hat es letztlich auch den Familien möglich gemacht, eindrucksvoll zu erfahren, dass diese nicht mehr nur als negativ zu sehen sind, sondern vielmehr als „besondere Entwicklungsaufgabe“ zu einer neuen Qualität des Zusammenlebens innerhalb der Familie beitragen können.
Abschließend möchte ich es nicht versäumen, auch meinen Eltern und meiner Familie zu danken. Sie haben mich mit den Foxterriern „von der Bismarckquelle“ und den vielen kleinen und großen Taten stets in meinem Bestreben unterstützt, die positive Wirkung der Hunde auf die Entwicklung von Kindern als Jugendhilfemaßnahme anbieten zu können. Ohne ihren Einsatz und die tollen Hunde wäre es mir nicht möglich, Kindern diese Hilfe zuteilwerden zu lassen.
Auch die Unterstützung meiner Schwester, Dr. Carola Möhrke, mit ihrem Team der „Tierarztpraxis am Dorney“, die bei den Besuchen unserer Gruppe immer ein offenes Ohr für die Belange der Kinder hat, ist ein kleiner aber fester Bestandteil innerhalb des Gruppenalltags.
All denen, die in den vergangenen 25 Jahren dazu beigetragen haben, dass es Canepädagogik heute weiterhin gibt und Kindern und Jugendlichen mit ihren Familien in ihren persönlichen Lebens- oder Entwicklungskrisen als Hilfsangebot zur Verfügung stehen kann, möchte ich meinen tiefen Dank aussprechen. Nur durch sie konnte aus meiner ursprünglichen Vision „Kindern über den Umgang mit unseren Hunden zu helfen“ tatsächlich eine erfolgreich etablierte und ambulante Jugendhilfemaßnahme werden.
Corinna Möhrke
Jeder Anfang ist von Schwingung getragen.
Dieses Buch über Canepädagogik, so scheint mir, ist Ausdruck guter Schwingung – vom ersten bis zum letzten Wort, und es geht dabei konkret um die Fähigkeit des Hundes, Stimmungen des Menschen erfassen und traurige in gute Schwingung verwandeln zu können.
Corinna Möhrke ist eine Meisterin im Nutzbarmachen solch „animalischer“ Fähigkeiten für den Menschen. Bei ihr fließen Fachwissen und didaktische Fähigkeit im guten Maß zusammen, Fachwissen über den Hund im Rahmen der Canepädagogik und über den Menschen bezüglich seiner Erziehung, Persönlichkeitsentwicklung und dem Hinausfinden aus schwierigen Lebenssituationen, insbesondere im Kindheits- und Jugendalter.
Das Buch kommt einer wissenschaftlichen Ausarbeitung gleich, der sorgfältige Recherchen und ausgiebige eigene Praxis vorangegangen sind. Ich hatte das Vergnügen, die Autorin (und auch den eignen witzig-freundlichen Hund) im Rahmen ihrer Counselor Zusatzausbildung beim IHP (www.ihp.de) kennenzulernen, und es war auch zu dieser Zeit bereits deutlich zu erkennen, wie gut Corinna Möhrke Fachwissen der systemischen Beratung in ihren Beruf als Canepädagogin zu integrieren weiß. Sie schreibt dazu auf ihrer Website: „Die tiergestützte Pädagogik wird immer durch systemische Beratung in Form von Eltern- und/oder Familiengesprächen begleitet. (www.canepaedagogik.de)
Canepädagogik ist ein Vorreiter für das immer größer werdende Fachgebiet des Tiergestützten Counseling und wie der Verein „Tiere als therapeutische Begleiter“ (www.4pfotentherapie.de) ein sehr markantes Beispiel dafür, Kindern und Jugendlichen, die aufgrund ungünstiger Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen in ihrer sozioemotionalen Entwicklung verzögert sind, beim Aufbau tragfähiger personaler Beziehungen und Bindungen behilflich zu sein.
Ich wünsche Corinna Möhrke und ihrem neuen Buch viel Erfolg derart, dass es vielen Multiplikatoren Anregung dafür gibt, wie Kinder und Jugendliche mit Unterstützung eines Tieres zurückfinden zu dem, was sie eigentlich sind, nämlich absolut liebenswerte Menschen, denen man gelegentlich zum Auffinden von Kontaktbrücken die Pfote reichen darf.
Dr. Klaus Lumma Gründer und Senior Advisor IHP Institut für Humanistische Psychologie
Kinder mit auffälligem Verhalten zu verstehen, etwas von den vielen Enttäuschungen zu erfahren, die dazu geführt haben, dass sie sich verschließen und weder Hilfe noch Trost von Eltern, Erziehern oder Therapeuten an sich heranlassen, mit den Kindern mitzuempfinden, mit ihren Problemen, aber ausdrücklich auch mit all ihren Kompetenzen, die sie doch in den Interaktionen mit ihrer sozialen Umwelt einsetzen, das ist die Orientierung, auf der die Heilpädagogin ihre Arbeit aufbaut. Wichtig ist ihr dabei die Unterstützung, die Hunde im pädagogischen und therapeutischen Prozess geben. Canepädagogik, die Erziehung mit dem und durch den Hund, kann in der Tat von der Beziehung zwischen Kindern und Hunden, diesen obligat sozialen Rudeltieren, profitieren, deren Empathie mit Menschen im Laufe der Domestikation verstärkt wurde und die so hervorragende „soziale Katalysatoren“ in der Gruppe sind. Hunde akzeptieren ihren Menschen ohne Bedingungen, sie genießen Schmusen und Zuwendung, machen genauso beim Spielen und Toben mit, aber sie gehen auch ohne Vorwurf auf Distanz, wenn Kinder mit ihrem Verhalten die Beziehung stören. Die Verfasserin stellt in einer konkreten Sprache dar, was die Tiergestützte Pädagogik an sozialen, an emotionalen, aber auch an Effekten für das Selbstsystem von Kindern beschrieben und erklärt hat.
Kinder müssen im Laufe der Entwicklung lernen, auch mit schwierigeren Situationen fertig zu werden. Sie bilden dabei immer mehr und immer weiter vernetzte Erfahrungs- und Sinnstrukturen, um auch mit problematischen oder schmerzhaften Erlebnissen umgehen, ihnen vielleicht sogar etwas Positives abgewinnen zu können. Negative Erfahrungen und negative Affekte erscheinen dabei zuerst einmal hinderlich, das kindliche Selbstsystem schützt sich nach Möglichkeit vor ihnen. Aber negative Erlebnisse oder Erfahrungen können und müssen auch produktiv verarbeitet werden, so etwa, wenn das Kind erlebt, dass ein anderes Lebewesen ihm bei schweren Erfahrungen positive Deutungen vermitteln kann, die Trost und Sinn spenden. Hilfreich ist dabei die Erfahrung von Zugewandtheit. Sie hält das Selbstsystem des Kindes für emotionale Nähe offen. Wird einem Kind nur kontrollierende Aufmerksamkeit geschenkt, wird es nur in die üblichen Sozialisationsschemata eingefügt, dann bleibt sein Selbst gleichsam verschlossen, „abgeschaltet“. Dann kann keine Verbindung zwischen gut gemeinten beruhigenden, tröstenden und positiven Worten und dem kindlichen Selbstsystem hergestellt werden. Das heißt nun, dass positive Einflüsse auf ein Kind, auf dessen Selbstäußerungen abgestimmt sein sollten – es reicht beispielsweise nicht, einen positiven Verstärkungsplan aufzustellen und nach den Regeln eines „behavioral engineering“ abzuarbeiten. Das Kind sollte sich vom Lebewesen gegenüber verstanden und so angenommen fühlen, dass es sich mit all seinen Gefühlen äußern kann, und es sollte zugleich erfahren, dass sein Gegenüber wirksamen Trost oder Ermutigung gibt. Letztlich ist für die gesunde Entwicklung des einzelnen Menschen wie auch der menschlichen Gemeinschaft die Erfahrung von personaler Liebe von ausschlaggebender Bedeutung. Und die empathischen, nicht wertenden Hunde helfen PädagogInnen auf ihre einfache Weise, eine Tür zum Selbst des Kindes zu öffnen.
Hunde sind aber weder Pädagogen noch Therapeuten. Es bedarf der Kompetenz des Menschen, um diese Tür zum Kind ganz aufzustoßen und seine Entwicklung zu fördern. Canepädagogik verlangt vom Menschen viel von der Einstellung, die etwa der humanistische Psychologe Carl Rogers oder das Ehepaar Tausch beschrieben haben. Aber mehr noch wird vom Erzieher gefordert. Die Verfasserin nennt auch die systemische Arbeit, die Beratung der Eltern, die enge Zusammenarbeit mit Schule und Jugendamt. Mit detaillierter Schilderung von Einzelfällen stellt sie die Bedeutung der sozialen Umwelt für Lernen und Entwicklung heraus. Die stigmatisierende Sicht vom „Problemkind“ kann in der Synergie von tiergestützter Gruppenarbeit und systemischer Pädagogik zu einer verstehenden, akzeptierenden und oft sogar wertschätzenden Haltung verändert werden. Das gelingt nicht leicht, geht es doch darum, den Blick vom identifizierten Patienten auf das dysfunktionale soziale System zu lenken. Das zu verändern fordert Veränderung beim Erzieher selbst.
Es ist leichter zu formulieren als zu realisieren, dass Ziele der Gruppenarbeit mit dem Hund und der Interaktionen mit Gleichaltrigen, Eltern, Geschwistern und Lehrern doch zusammen mit dem Kind festgelegt werden sollten, dass seine Motivation bitte beachtet und unverbrüchliche Nähe und Bezogenheit erhalten bleiben, wenn sich Fehlschläge einstellen. Hunden wird das nicht so schwer wie Menschen. Und etwas von ihrem selbstverständlichen Nahebleiben, von ihrem nicht bewertenden Mitgehen teilt sich vielen ErzieherInnen mit. Wir haben doch mehr als 99 % der Menschheitsgeschichte mit Tieren zusammengelebt, können ihr Verhalten nach wie vor „lesen“, und wir spüren nach wie vor eine besondere Affinität zu dem anderen Lebewesen. Das belegt die Neurobiologie mit dem Nachweis von hormonellen und neurologischen Veränderungen bei freundlichen Interaktionen mit Tieren; es sind Prozesse, die als Empathie erfahren werden, oft auch Prozesse, die restitutive Kräfte im Organismus anregen.
Die Verfasserin hat ihre langjährige canepädagogische Arbeit sorgfältig ausgewertet. Vor allem ihre Beschreibungen von Einzelfällen belegen, wie unterschiedlich Hunde auf kindliche Verhaltensschwierigkeiten eingehen, und was für vielfältige Effekte tiergestützte Arbeit erbringt. Das wird von den Eltern bestätigt, es geht auch aus der Akzeptanz und der Unterstützung hervor, die Jugendämter der Canepädagogik geben. Auch im System der Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche erhalten Hunde ihren Platz.
Prof. Dr. Erhard Olbrich (†) Präsident ISAAT (2006 – 2016) (International Society for Animal-Assisted Therapy)
„Therapieresistent“ und „unerreichbar“ werden verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche oft genannt, die schon die verschiedenen Angebote und Institutionen der Jugendhilfe erfolglos – aber nicht spurlos – hinter sich gebracht haben. Eine tragfähige Beziehung zu diesen Kindern aufzubauen, erscheint in Fällen von konzentriertem Desinteresse und manifestem Misstrauen seitens der Kinder ebenso wichtig wie unmöglich.
Immer ausgefallener und auch kostenintensiver werden die Ideen der Pädagogik bei Verhaltensstörungen, damit Kinder durch Grenzerfahrungen Werte und Lebensinhalte finden können, die es ihnen ermöglichen sollen, wieder in die Gesellschaft integriert zu werden. Erlebnisreisen, Segeltörns und Delphintherapie sind nur einige Beispiele.
Hunde, des Menschen älteste und treueste Freunde, leben mit uns, sind für alle ein selbstverständlicher – mehr oder weniger – beliebter Bestandteil unserer Gesellschaft und Bindeglied zwischen Zivilisation und Natur. Diese Natürlichkeit, Selbstverständlichkeit und Normalität, mit der Hunde mit uns leben, hat die Bedeutung der Hunde für den Menschen verschleiert, macht sie für manche sogar nebensächlich und unwichtig. Doch gerade in dieser Normalität liegt eine große Chance für die pädagogische und insbesondere für die heilpädagogische Arbeit mit Kindern verborgen.
Neben den ersten Erfahrungen in einer stationären intensiv-pädagogischen Einrichtung für schwerstverhaltensauffällige Kinder und Jugendliche findet die Canepädagogik nunmehr seit 2001 auch in der ambulanten Jugendhilfe erfolgreich Anwendung. Die knapp fünfundzwanzigjährige Tätigkeit ermöglicht zahlreiche Erkenntnisse und gibt Aufschluss darüber, wie man mit der Hilfe von Hunden eine tragfähige Beziehung zu Kindern gestalten kann, um auf dieser Basis pädagogisch sinnvoll mit ihnen zu arbeiten.
Im Teil I dieses Buches sind neben der begrifflichen Klärung auch die heilpädagogischen Grundsätze dargelegt, auf denen die Canepädagogik aufbaut. Für ein besseres Verstehen von auffälligem Verhalten beschäftigt sich dieser Teil auch eingehend mit Verhalten bzw. Verhaltensauffälligkeiten, ihren Ursachen, den psychischen und sozialen Folgen und der großen Bedeutung des Selbstkonzeptes.
Auch die Erziehungspsychologie, die die Bedeutung der Erziehung für die Persönlichkeitsentwicklung und das Verhaltensrepertoire untersucht, findet hier ihre Beachtung, bevor im Weiteren die Chancen des Einsatzes eines Hundes in der pädagogischen Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen dargestellt werden. Für eine genauere Betrachtung wird eine künstliche Unterteilung in die Kategorien Erziehung mit dem und durch den Hund vorgenommen, die in dieser Form in der Praxis nicht existiert. Abschließend beschäftigt sich dieser Teil mit der Didaktik und Methodik der Canepädagogik.
Teil II des Buches stellt die praktische Durchführung der Canepädagogik in den Mittelpunkt. Um den Begriff der Canepädagogik konkret zu füllen und die Vorgehensweise einer canepädagogischen Förderung transparent zu machen, folgen hier Beispiele sowohl aus der ambulanten als auch aus der stationären Jugendhilfe.
Der Teil III beinhaltet die systematische Auswertung der Tätigkeit der Praxis für Canepädagogik der Jahre 2001 bis 2010. Dabei wird zunächst eine detaillierte Analyse des gesammelten Zahlen- und Datenmaterials vorgenommen, bevor Erkenntnisse zu den Grenzen, Chancen und Erfolgen der Canepädagogik zusammengefasst und mithilfe verschiedener Fallbeispiele anschaulich dargestellt werden. Wichtig ist bereits an dieser Stelle deutlich zu machen, dass diese Untersuchungsergebnisse nicht den Anspruch haben, strengsten wissenschaftlichen Grundsätzen genügen zu wollen.
Dies ist schon allein deshalb nicht möglich, da diese Ergebnisse nicht das Resultat strikter empirischer oder wissenschaftlicher Studien sind. Vielmehr geben sie die zahlreichen Erfahrungen und Erkenntnisse langjähriger Praxistätigkeit unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven (Eltern, Jugendamt) komprimiert wieder.
Ziel des Buches ist es zu zeigen, dass das Konzept der Canepädagogik als sinnvolle Ergänzung und mögliche Alternative zur allgemein anerkannten Pädagogik bei Verhaltensstörungen zu sehen ist. Es soll deutlich machen, welchen positiven Einfluss die Hunde auf die Kinder und ihre Entwicklung ausüben und darüber hinaus aufzeigen, wie wichtig auch die Einbeziehung der Eltern für den gewünschten Erfolg ist.
In dem vorliegenden Buch wird aus Gründen der Vereinfachung meist von verhaltensauffälligen Kindern gesprochen; die Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten sind jeweils mit einbezogen. Die Begriffe der Verhaltensauffälligkeit bzw. Verhaltensstörung werden wertfrei und synonym verwendet.
Bei der theoretischen Herleitung des Konzeptes im Teil I wird bewusst sehr eng an der Literatur gearbeitet. Dadurch soll zum einen die starke heilpädagogische Orientierung der Canepädagogik deutlich werden. Zum anderen gilt es aber auch, wissenschaftlich zu begründen, wie wesentlich die von den Hunden entgegengebrachten Verhaltensweisen insbesondere für die Förderung der Entwicklung und Erziehung verhaltensauffälliger Kinder sind.
Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch das generische Maskulinum verwendet. Die hier verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.
Der Begriff Canepädagogik bedeutet Pädagogik mit dem und durch den Hund. Er ist ein Neologismus – d. h. meine eigene Wortschöpfung – und leitet sich von dem lateinischen Wort für Hund (Canis) ab. Die Endung ‚e‘ entspricht dem Ablativ und steht für das „mit“ bzw. „durch“.
Während Pädagogik als Wissenschaft der Bildung und Erziehung (vgl. KÖCK/OTT, 519) oftmals den Schwerpunkt auf die Bildung (z. B. Schule) legt, fokussiert Canepädagogik den Bereich der Erziehung. Sie möchte Kinder in erster Linie wieder erziehungsfähig und -willig machen, sie in die Gemeinschaft integrieren, um dann mittelbar auch Bildung zu ermöglichen.
Canepädagogik dient der Arbeit mit verhaltensauffälligen, beziehungsgestörten Kindern und Jugendlichen, zu denen der Zugang aufgrund ihrer Biografie auf normalem Wege (z. B. Beratung, soziale Gruppenarbeit etc.) erschwert oder gar unmöglich geworden ist. Kinder, die gelernt haben, niemandem zu vertrauen, sich nur auf ihre Fäuste zu verlassen und jedem Problem mit Gewalt oder Flucht zu begegnen, sind nicht nur für Erzieher und Therapeuten eine (oft zu) große Herausforderung, sondern stellen sich selbst und ihr Umfeld vor immer größere Probleme.
Gemäß § 1 Abs. 1 KJHG hat aber jeder junge Mensch das Recht auf die Förderung seiner Entwicklung und auf die Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Um verhaltensauffälligen Kindern, die eben nicht eigenverantwortlich oder gemeinschaftsfähig und darüber hinaus selten förderungsoder erziehungswillig sind, zu ihrem Recht zu verhelfen, bedarf es einer speziellen und gezielten pädagogischen Unterstützung, die es ihnen ermöglicht, die ihnen angebotene Hilfe annehmen zu können.
Canepädagogik ist ein heilpädagogisch orientiertes Handlungskonzept, das auf den von Paul Moor beschriebenen Grundsätzen heilpädagogischer Arbeit basiert und diese realisiert.
Moor (11) versteht unter Heilpädagogik die „Lehre von der Erziehung derjenigen Kinder, deren Entwicklung durch individuale oder soziale Faktoren dauernd gehemmt ist.“ Heilpädagogik ist für ihn Pädagogik unter erschwerenden Bedingungen. Er unterscheidet dabei vier verschiedene Zielgruppen der Heilpädagogik: die Geistesschwachen, die Sprachgebrechlichen, die Mindersinnigen und die Schwererziehbaren (vgl. MOOR, 12).
Er charakterisiert die Arbeit eines Heilpädagogen, indem er schreibt: „Wir haben es in der heilpädagogischen Arbeit mit Kindern zu tun, welche die Alltagserziehung vor unlösbare Aufgaben stellen, Kinder, für welche die gewohnten Mittel und Wege nicht mehr ausreichen und mit welchen die üblichen Ziele nicht mehr erreicht werden können.“ (Moor, 260; Hervorhebungen im Text) „Gerade für diese aus dem Rahmen fallenden und dann oft einfach übergangenen Kinder aber will nun die Heilpädagogik da sein.“ (MOOR, 261)
Wie wird Heilpädagogik angewandt und umgesetzt, welche Regeln sind zu beachten, um im Praxisfeld der erziehungsschwierigen und verhaltensauffälligen Kinder mit den erschwerenden Bedingungen zurecht zu kommen? Die wichtigste Regel im heilpädagogischen Umgang ist nach Moor:
Um heilpädagogisch sinnvoll und wirksam mit verhaltensauffälligen Kindern arbeiten zu können, ist es wichtig, ein genaues Bild von dem Kind und seiner Seele (Verhalten und Erleben) zu haben, es zu verstehen. Das Kind darf nicht nur auf sein Fehlverhalten reduziert und als Symptomträger gesehen werden. Moor (277) geht es um „die Persönlichkeit als Ganze und nicht nur um ein einzelnes Verhalten; nicht nur um ihr Versagen oder Vergehen, sondern um ihr ganzes Sein und Wesen.“
Dieser Betrachtung und der Heilpädagogik insgesamt liegt ein Menschenbild zugrunde, in dem dem Kind, auch dem verhaltensauffälligen, die gleiche Würde und Bedeutung zuerkannt wird wie allen anderen Menschen.
Moor (270) hebt hervor, dass „man auch diese aus dem Rahmen fallende Kinder für Menschen hält, und zwar nicht für Menschen zweiten Ranges, sondern für Menschen von derselben Würde wie alle andern.“
Das Bild von Kindern, insbesondere von verhaltensauffälligen, hat Janusz Korczak (zit. nach MEHRINGER, 97) noch prägnanter formuliert, indem er schreibt: „Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer. Es ist nur schwächer als wir ...“ Um diese Schwäche adäquat zu kompensieren, bedürfen Kinder neben Unterstützung und pädagogischem Beistand auch die Anerkennung und Akzeptanz ihrer Natur, ihres Wesens.
Damit werden die Bedeutung und auch das Ziel heilpädagogischen Handelns deutlich. Es darf in der heilpädagogisch orientierten Verhaltensgestörtenpädagogik keinesfalls darum gehen, Kinder dressieren zu wollen, sie zur „sozialen Brauchbarkeit“ (MOOR, 269) zu erziehen oder wie Nohl (136) formuliert, einen „bestimmten Lebenstypus zu züchten“. Ihr Ziel ist es vielmehr, sich darum zu bemühen, den Kindern zur Selbstentfaltung innerhalb der Gemeinschaft und den gesellschaftlichen Normen zu verhelfen. Das Kind soll zu seinem Leben und zu seiner Form kommen können (vgl. NOHL, 134). „Ihr Ziel ist nicht, eine bestimmte Art des Menschseins heranzubilden, sondern jede Art des Menschseins zu der ihr möglichen Erfüllung wirklich hinzuführen.“ (MOOR, 274)
Korczak (zit. nach MEHRINGER, 97) sagt dazu: „Ich habe diese Grundrechte für Kinder herausgefunden: das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist …“ Da aber die verhaltensauffälligen Kinder so wie sie sind nicht gemeinschaftsfähig sind, liegt es in der Verantwortung der Heilpädagogik, Wege und Mittel zu finden, diese Kinder in die Gemeinschaft zu integrieren, ohne ihre Persönlichkeit zu brechen. Der hier dargestellte Weg – Canepädagogik – soll genau diese Gratwanderung leisten.
Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie geht man dabei vor bzw. an welcher Stelle setzt man an? Moors zweite Grundregel lautet (vgl. MOOR, 20):
Da es in der Heilpädagogik um Verstehen geht, darf der Fokus nicht nur auf den offensichtlichen Fehler, das Fehlverhalten gerichtet sein. Die sogenannten Verwahrlosungssymptome hat sich das Kind als Waffe, als Überlebenschance zugelegt (vgl. MEHRINGER, 34). Die Symptome sind oberflächlich, wechselhaft und letztlich nur dadurch zu lindern, dass man die zugrundeliegende Ursache – das Fehlende – erkennt und ausgleicht.
Somit betont Mehringer (14), dass es einer der wichtigsten Grundsätze der Heilpädagogik sein dürfte, eben nicht nur die Symptome zu bekämpfen und rasch zu beseitigen – so wie der Arzt bei Masern nicht die roten Flecken direkt angeht – sondern das Kind zu heilen, indem man alles tut, dass es ihm wieder besser geht.
Was aber fehlt Kindern und im Speziellen den Kindern, die auffälliges Verhalten zeigen? Diese Frage ist von zentraler Bedeutung für die Heilpädagogik und Ausgangspunkt für den pädagogischen Einsatz von Hunden. Sie wird in den Kapiteln 2 und 3 beantwortet und macht die Unterstützung durch Hunde (Kap. 4) in diesem Praxisfeld so offensichtlich sinnvoll.
Die dritte Regel Moors (400) für die heilpädagogische Förderung von entwicklungsgehemmten Kindern – nicht nur das Kind, sondern auch seine Umgebung in den Erziehungsprozess mit einzubeziehen – ist Zeichen seines systemischen Ansatzes und auch für den Erfolg der Canepädagogik von sehr großer Bedeutung.
Während die tiergestützte Gruppenarbeit den Fokus auf die direkte pädagogische Förderung des Kindes legt und so einerseits durch eine Verbesserung seines subjektiven Befindens indirekt auch zu einer Entlastung der familiären Situation und der sozialen Interaktion (Schule etc.) beitragen kann, ist es andererseits für eine nachhaltige und erfolgreiche Förderung unerlässlich, über Eltern- und Familiengespräche in den Familien Strukturen zu schaffen, die weiteres auffälliges Verhalten der Kinder zukünftig überflüssig machen.
Auch wenn der Gruppenkontext dem Kind die Chance auf völlig neue Kontakte, unbelastete Beziehungen, aktive und abwechslungsreiche Naturerfahrungen bietet und eine Ablösung von Subkulturen (Gangs, Banden) ermöglichen kann, ist die Schaffung einer gesunden, wertschätzenden Familienatmosphäre für die weitere Entwicklung von zentraler Wichtigkeit.
Denn „die Eltern sind die Architekten des Hauses, das sich Familie nennt“ (Klaus Bortz).
Die Schaffung dieser förderlichen und für die Entwicklung der Kinder so wichtigen familiären Lebenswelt ist das Ziel der Elternarbeit. Sie kann den Eltern Wege und Perspektiven eröffnen, auf welche Weise und in welchem Umfang sie selbst dazu beitragen können (und müssen), dass auffälliges Verhalten für ihr Kind zukünftig nicht mehr erforderlich ist.
In welchem Maße die Elternarbeit für die Canepädagogik von Bedeutung ist, wird sich insbesondere im Teil III des Buches im Rahmen der Auswertung erschließen, bei dem immer auch konkret auf die Elternarbeit Bezug genommen wird.
Die Forderung von Moor, Kinder erst zu verstehen, bevor man sie erzieht, macht im Praxisfeld der Pädagogik bei Verhaltensstörungen eine genaue Betrachtung des Phänomens „Verhaltensauffälligkeit“ notwendig. „Will ich dem Kinde helfen, so muss ich wissen, was überhaupt vorliegt. Ich muss mich zuerst einmal darum bemühen, die Tatsachen festzustellen und sie zu interpretieren; ich muss versuchen, mir auf Grund der geprüften und geklärten Tatsachen ein Bild zu machen von der inneren Verfassung des Kindes.“ (MOOR, 16)
Was Verhalten ist, wie es zu Verhaltensstörungen bzw. Auffälligkeiten kommt und welche Faktoren in diesem Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung sind, ist Grundlage und Inhalt dieses Kapitels und der Ausgangspunkt sinnvoller pädagogischer – canepädagogischer – Förderung.
Bei der Betrachtung von Verhaltensauffälligkeiten stößt man zunächst auf die Frage, was Verhalten ist oder meint.
Das Verhalten im engeren Sinn sind alle der Selbst- und Fremdbeobachtung zugänglichen Bewegungen wie z. B. Sprechen, Gestik, Mimik, Körperhaltung etc. (vgl. NOLTING/PAULUS 56f).
„... Verhalten faßt die Gesamtheit menschlicher Aktivitäten zusammen, die im Wechselspiel zwischen Organismus und Umwelt entstehen und von einfachen Reaktionen auf Reize bis zu willentlichen, komplexen, umweltverändernden Handlungen reichen.“ (MYSCHKER 1999, 148)
Der auch heute noch international gültige Begriff der Verhaltensstörung wurde bereits 1950 auf dem 1. Weltkongress für Psychiatrie festgelegt und ist „... Sammelbegriff für alle Formen und Ausprägungsgrade von Fehlverhalten, vom pädagogischen Phänomen der ‚Erziehungsschwierigkeit‘ über psychiatrische Syndrome von Psychopathie bis hin zu schweren Formen von Verwahrlosung und Delinquenz.“ (VERNOOIJ, 33)
Verhaltensstörung bzw. Verhaltensauffälligkeit – die Begriffe werden oft synonym verwandt – bezeichnet ein langfristig von den entwicklungsbezogenen und gesellschaftlichen, kulturellen, ethischen Normen abweichendes Verhalten, das eine weitere Bildung und Erziehung des Kindes als gefährdet erscheinen lässt (vgl. GOETZE, 7) und „ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann.“ (MYSCHKER 1999, 149)
Der ICD-10 (International Classification of Deseases) der Weltgesundheitsorganisation WHO klassifiziert und kategorisiert Verhaltensstörungen. Unter anderem sind darin folgende Gruppen genannt
F90
Hyperkinetische Störungen
F91
Störungen des Sozialverhaltens
F93
Emotionale Störungen
Die Gruppe „Störungen des Sozialverhaltens“ (F91) wird im ICD-10 wie folgt näher beschrieben:
„Störungen des Sozialverhaltens sind durch ein sich wiederholendes und anhaltendes Muster dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens charakterisiert. Dieses Verhalten übersteigt mit seinen gröberen Verletzungen die altersentsprechenden sozialen Erwartungen. Es ist also schwerwiegender als gewöhnlicher kindischer Unfug oder jugendliche Aufmüpfigkeit. Das anhaltende Verhaltensmuster muss mindestens sechs Monate oder länger bestanden haben. (...) Beispiele für Verhaltensweisen, welche diese Diagnose begründen, umfassen ein extremes Maß an Streiten oder Tyrannisieren, Grausamkeit gegenüber anderen Personen oder Tieren, erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum, Feuerlegen, Stehlen, häufiges Lügen, Schulschwänzen oder Weglaufen von zu Hause, ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche und Ungehorsam.“
An dieser Beschreibung wird erkennbar: „Sie [Verhaltensstörung; die Verf.] ist keine Verhaltensqualität an sich, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Definitionen, und unterliegt ... historisch-kulturellen Veränderungen.“ (VERNOOIJ, 33)
Das Verhalten – ob angepasst oder auffällig – steht in engem Zusammenhang mit den inneren Prozessen bzw. dem Erleben eines Menschen.
Das Erleben umfasst alle bewussten und unbewussten inneren und für Außenstehende nicht sichtbaren Prozesse (z. B. Denkvorgänge, Gefühlserlebnisse) und Erfahrungen (vgl. NOLTING/PAULUS, 1).
Ein wesentlicher Bereich des Erlebens ist die Wahrnehmung. Die Wahrnehmung filtert aus der Vielzahl von Informationen, die den Menschen umgeben, die für ihn bedeutsamen heraus. So werden in der gleichen Situation von verschiedenen Menschen nicht nur unterschiedliche Dinge, sondern diese auch auf unterschiedliche Weise wahrgenommen. Wahrnehmung ist also immer selektiv (vgl. NOLTING/PAULUS, 44) und hängt von der Person, ihrer momentanen Verfassung und ihren Lebenserfahrungen ab.
Verhalten und Erleben befinden sich in einem engen, interdependenten und nicht lösbaren Verhältnis miteinander und bilden die Psyche – Persönlichkeit – eines Menschen. Persönlichkeit ist wertfrei zu verstehen und meint ein bei jedem Menschen einzigartiges, relativ stabiles und Zeitablauf überdauerndes Verhaltenskorrelat (vgl. NOLTING/PAULUS, 76).
Es sind die typischen Personenmerkmale, die erklären, warum Menschen eine objektiv gleiche Situation auf subjektiv sehr unterschiedliche Weise erleben (wahrnehmen) und sich interindividuell verschieden – manchmal auch auffällig – verhalten (vgl. NOLTING/ PAULUS, 39).