Carim - Lena Knodt - E-Book

Carim E-Book

Lena Knodt

4,9

Beschreibung

Ein Mann mit vor Schmerz zerfressenem Herzen. Ein Drache mit Augen so rot wie Blut. Und eine Vergangenheit, die auf immer verborgen bleiben soll. Drachen töten. Das ist es, was Carim kann. Das ist es, was Carim liebt – und seit Jahren tut. Als er auf einer Jagd ein brütendes Weibchen tötet, greift er ohne zu zögern nach dem letzten, unbeschadeten Ei. Doch er kommt nicht dazu, es zu verkaufen – denn der Drache schlüpft. In seiner unstillbaren Machtgier erkennt der junge Mann all die Möglichkeiten, die sich ihm nun bieten und schmiedet einen boshaften Plan. Denn wenn die Bestie ihm erst einmal gehorchte, würde jeder Mann vor ihm kriechen …

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Inhalt

Kapitel 1   Tod und Feuer

Kapitel 2   Engelstränen

Kapitel 3   Das Drachenei

Kapitel 4   Neue Bande

Kapitel 5   Prinz Kastriot

Kapitel 6   Mistvieh

Kapitel 7   Komplikationen

Kapitel 8   Schwarzer Retter

Kapitel 9   Neue Narben

Kapitel 10   Drachenschwingen

Kapitel 11   Sippenmörder

Kapitel 12   Die Königssöhne

Kapitel 13   Feana

Kapitel 14   Marlaut

Kapitel 15   Blut und Feuer

Kapitel 16   Unberechenbar

Kapitel 17   Wendepunkt

Kapitel 18   Feuerrotes Haar

Kapitel 19   Die zweite Schlacht

Kapitel 20   Zwei Herzen in einer Brust

Kapitel 21   Rückkehr

Kapitel 22   Die Feuergarde

Kapitel 23   Verkrustetes Herz

Kapitel 24   Meerblaue Schuppen

Kapitel 25   Eine königliche Verlobung

Kapitel 26   Drachenfeuer

Kapitel 27   Der letzte Drache

Kapitel 28   Beginn einer Reise

Kapitel 29   Trockene Tränen

Kapitel 30   Das dritte Angebot

Kapitel 31   Mätresse des Prinzen

Kapitel 32   Zerbrochen

Kapitel 33   Zu spät

Kapitel 34   Chancen

Kapitel 35   Geheimnisvoller Reiter

Kapitel 36   Drachentöter und Soldatin

Kapitel 37   Vorbei

Kapitel 38   Ein Freund mit schwarzen Schwingen

Kapitel 39   Herz aus Stahl

Danksagung

Die Autorin

Lena Knodt
Carim Drachentöter
Eisermann Verlag

Carim Drachentöter E-Book-Ausgabe  05/2017 Copyright ©2017 by Eisermann Verlag, Bremen Umschlaggestaltung: Cover & Books – Buchcoverdesign Illustrationen: Jessica Broton Satz: André Piotrowski Lektorat: Sarah Kneiber Korrektur: Marie Weißdorn http://www.Eisermann-Verlag.de ISBN: 978-3-946172-44-4

Für meine kleinen Drachenschwestern Laura und Lucie.

Kapitel 1Tod und Feuer

Die Sonne tanzte auf den Schuppen der nachtschwarzen Drachendame und warf mannigfaltige Schattenmuster auf den Boden. Den riesigen Kopf hatte sie auf die Vorderpfoten gelegt und die Augen geschlossen. Ihr Schwanz war um sie herumgeschlungen wie ein Schutzwall gegen alle Feinde von außen. Jeder Zentimeter ihres Körpers war tödlich, ihre riesigen Zähne und ihr von Stacheln besetzter Panzer. Wenn sie sich bedroht fühlte, konnte ihr Feuerstrahl alles und jeden verbrennen. Doch auch nur ein Schlag mit einer ihrer riesigen Pranken würde reichen, um den meisten Menschen ein Ende zu bereiten. Ein paar Meter neben ihrem Kopf lagen die Reste eines Hirschs, den sie wohl vor dem Schlaf gefangen und verspeist hatte. Blutflecken zierten den fast schneeweißen Boden.

Carims Blick strich über ihre riesigen Krallen, die Stacheln auf ihrem Schwanz und die winzigen roten Striche, die wie eine Maserung die Schuppen der Drachendame zierten. Sein Herz klopfte hart in seiner Brust und sein Atem ging schnell. Vorfreude ließ ihn zittern. Nur noch wenige Sekunden und er würde seine Schwerter in die Haut des Drachen schlagen können.

Er stand auf einem kleinen Felsvorsprung, von dem er gute Sicht auf das Plateau hatte, auf dem die Drachendame lag. Mit dem Rücken war sie einer steilen Felswand zugewandt, sodass dieser geschützt war und Carim von vorne würde angreifen müssen. Etwas weiter links von ihr fiel der Fels plötzlich ab.

Der Drachentöter hatte sich bereits einen Plan zurechtgelegt und dieser Plan würde nicht scheitern. Seine Pläne scheiterten nie.

Der Wind strich ihm über die kurzgeschorenen blonden Haare und seinen nackten Oberkörper. Der junge Mann schaute an sich hinab. Er war übersät von Narben verschiedener Größe und Brandwunden, die Carim feuerrot entgegenschrien. Nur zwei gekreuzte Lederbänder bedeckten ihn, die auf seinem Rücken als Halterung für seine beiden Schwerter Rhados und Lincir dienten. Er trug eine Lederhose und seine Füße steckten in schwarzen Stiefeln. Doch die beiden Schwerter waren bei Weitem nicht die einzigen Waffen, die er bei sich trug. Je ein Dolch steckte in jedem seiner Schuhe.

Waffen waren Carims Leidenschaft. Kaum etwas machte ihn glücklicher, als wenn er sich ein neues Schwert zulegte oder einen Messergriff aus dem Oberschenkelknochen eines Drachen schnitzte.

Carim griff nach hinten und zog Lincir hervor. Die Sonne schimmerte auf der silbernen Klinge, die fast den glänzenden Schuppen der Drachendame Konkurrenz machte. Ein grüner Faden war um den Griff gewickelt. Carim schaute hinab zur Drachendame. Wenn er den Vorsprung hinunterkletterte, wäre er sofort auf gleicher Höhe mit seinem Opfer. Dann musste er sich nur so leise wie möglich heranschleichen und zuschlagen. Das hatte er schon hunderte Male gemacht.

Der Drachentöter lächelte mit dem tödlichen Metall in der Hand. Nur auf eine Schlucht, die wenige Meter neben der Drachendame begann, würde er aufpassen müssen. Der Boden fiel an dieser Stelle viele Meter in die Tiefe hinab. Carim war nicht darauf erpicht, von seinem Opfer dort herunter geschleudert zu werden.

Mit einem letzten Blick auf die schwarzrot schimmernden Schuppen machte Carim sich auf den Weg nach unten. Seine Tritte und Griffe waren sicher, trotz des Schwertes in seiner Hand, und nur wenige Sekunden später war er schon am Boden angekommen. Vorsichtig setzte er die Füße auf den Boden und drehte sich zu seinem Opfer um. Die Drachendame schlief immer noch, etwa zweihundert Meter von ihm entfernt. Er musste vorsichtig sein, um sein Opfer im Schlaf überraschen zu können.

Carim konnte nicht anders, er musste noch breiter lächeln. Bald würde er Blut sehen, Blut würde die Klingen seiner Schwerter benetzen, Blut an seinen Armen hinablaufen. Er wollte dem Drachen in die sterbenden Augen blicken, das Leben aus ihm weichen sehen, das Leben, welches er ihm bald eigenhändig rauben würde.

Carim schluckte. Tief in seinem Innern gab es eine Erinnerung. Eine Erinnerung an die Person, die er gewesen war, bevor er zum Drachentöter geworden war. An einen Menschen, der nicht so vom Hass und Blutdurst zerfressen war wie er nun. Der Gedanke an ihn bereitete dem jungen Mann ein merkwürdiges Gefühl im Magen.

Doch diese Erinnerung war blass und kaum zu fassen. Carim unterdrückte sie, bevor sie gänzlich an die Oberfläche kommen konnte. Er war nicht in der Stimmung, sich von ihr die Lust am Töten nehmen zu lassen.

Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Seine schweren Stiefel behinderten ihn beim Schleichen, waren jedoch in der bergigen Landschaft, in der er wohnte, unerlässlich. Die Flanke seines Opfers hob und senkte sich langsam. Fast lautlos schlich er auf den Drachen zu. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, rannte er los, schlug einen kleinen Bogen und sprang auf das linke Vorderbein des Drachen, das er zum Schlafen angewinkelt hatte.

Die Drachendame zuckte zusammen und richtete sich brüllend auf. Carim klammerte sich an ihrer Flanke fest, krallte die Finger zwischen die Schuppen und zog sich an ihrem Körper weiter nach oben, in Richtung des Rückens. Seine Finger schmerzten höllisch, aber es gab keinen anderen Weg. Noch bevor die Drachendame die riesigen Flügel ausbreiten konnte, war er oben angekommen und schwang sein Bein auf die andere Seite. Er drückte seine Knie gegen ihre Schuppen, um nicht herunterzufallen, fast als säße er auf einem Pferd. Das Tier brüllte und wandte den Kopf, um ihn auf seinem Rücken zu erwischen. Carim drehte sich ebenfalls mit dem Oberkörper etwas nach links und schlug mit Lincir nach dem Flügelgelenk der Drachendame. Denn dort, wo die gepanzerte Haut in die dünne Flügelmembran überging, war der Drache mitunter am verletzlichsten.

Sein Opfer brüllte schmerzerfüllt auf, als Lincir Haut zerschnitt und Blut wie ein roter Regenschauer hervorspritzte. Die Drachendame wand sich und warf sich hin und her, sodass Carim von ihrem Rücken geschleudert wurde. Er prallte auf ihren Flügel und rutschte an ihm in Richtung Boden. Schnell drehte er sich auf den Bauch, packte mit beiden Händen Lincirs Griff und rammte das Schwert in den Flügel, als er an der Seite seiner Gegnerin hinabfiel. Bei seinem Sturz nach unten schlitzte er die Haut auf wie ein nachtschwarzes Laken.

Als er hart auf dem Boden aufprallte, erzitterte sein ganzer Körper. Doch er rappelte sich sogleich wieder hoch und stand der wütend funkelnden Drachendame nun direkt gegenüber. Ihr linker Flügel hing schlaff herab. Aus ihrem Gesicht starrten ihn bernsteinfarbenen Augen voller Hass an. Sie bleckte die Zähne.

Carims Blick zuckte kurz zwischen ihren Beinen hindurch und sein Herz schien ihm in der Brust vor Schreck zerquetscht zu werden. Ein Nest aus Steinen und Ästen, in dem drei Dracheneier lagen, befand sich einen Meter hinter ihr am Rand der Schlucht. Von seinem Aussichtspunkt aus hatte er es wohl nicht gesehen. Nun verfluchte sich Carim für diese Nachlässigkeit. Um alles in der Welt würde die Drachenmutter ihre ungeborenen Kinder verteidigen. Das machte sie zu einem weitaus gefährlicheren Gegner, als es eine Drachendame ohne Eier war. Carim musste sich jetzt auf einen Kampf auf Leben und Tod gefasst machen.

Seine Gegnerin riss ihr Maul auf. Carim hastete zur Seite, ein Flammenstoß jagte ihm hinterher. Gerade noch konnte er sich hinter einem Stein in Sicherheit bringen. Rechts und links schoss das Feuer an ihm vorbei und es wurde entsetzlich heiß. Sein Herz hämmerte vor Aufregung in seiner Brust.

Als seine Gegnerin kurz in ihrem Angriff innehielt, zog er einen der Dolche aus seinem Stiefel und spähte hinter dem Felsen hervor. Sein Opfer lief vor seinem Nest hin und her, unschlüssig, ob es ihr Gelege alleinlassen und den Eindringling verfolgen sollte.

Carim sprang hinter dem Felsen hervor und lief wieder wenige Schritte auf sie zu. Seine Feindin fauchte und hob eine ihrer Pranken, bereit, ihn mit ihren tödlichen Krallen zu empfangen. Als er nahe genug herangekommen war, schleuderte er den Dolch nach ihrem Gesicht. Doch die Drachendame duckte sich früh genug weg und sprang einen Schritt auf ihn zu. Überrascht zuckte Carim zusammen und stolperte zurück. Erneut riss die Drachendame ihr Maul auf. Doch ehe sie ihn mit einem weiteren Flammenstoß in die Enge treiben konnte, rannte Carim zwischen ihre Beine. Seine Füße flogen über den Boden, als er weiter auf das Nest zu sprintete. Die Drachendame war zu groß und zu schwer, um sich schnell genug umzudrehen. Mit Anlauf sprang Carim zwischen die Eier. Das Nest musste im Durchmesser wohl an die drei Meter groß sein. Die drei Eier darin reichten ihm bis zu den Knien.

Fauchend drehte sich die Drachendame um und fixierte ihn drohend. Sie traute sich nun nicht mehr, ihn anzugreifen, aus Furcht, ihre Eier zu gefährden. Auch ein Feuerstoß auf den Angreifer, der ihren Eiern zwar nichts anhaben würde, war ihr zu riskant. Das Nest stand so nah an der Schlucht, dass ein Flammenstrahl es leicht über den Rand befördern könnte. Carim grinste und atmete erleichtert auf.

»Na, was machst du jetzt?«, schrie er seiner Gegnerin entgegen und lachte, als sie fauchend ihre Augen zu Schlitzen verengte. Doch er konnte nicht für immer in diesem Nest ausharren.

Er hockte sich hin und nestelte an seinem Stiefel herum. Ein schmales Lederband kam hervor. Nachdem er Lincir wieder auf dem Rücken befestigt hatte, suchte er den Boden des Nestes nach Steinen ab. Dabei stieß er mit der nackten Schulter gegen eines der Eier. Carim fluchte, es war glühend heiß. Endlich hatte er eine Handvoll Steine gefunden und richtete sich wieder auf. Die Drachendame starrte ihm entgegen. Ihr Hass schien fast greifbar in der staubigen Luft.

Vorsichtig legte Carim einen Stein in das Lederband, hob es über seinen Kopf, drehte es ein paar Mal in der Luft und ließ dann ein Ende los. Das Geschoss raste auf seine Gegnerin zu – leider ein Stück zu hoch.

Carim fluchte erneut und legte den zweiten Stein in das Band. Diesmal hatte er mehr Glück und traf sein Opfer mitten ins Auge. Gequält heulte es auf und riss die Vorderpranken in die Höhe. Dabei stieß sie aus Versehen gegen das Nest. Ein großer Ruck ging hindurch. Carim wurde von den Füßen gerissen und fiel nach vorne. Er stützte sich auf den Händen ab und schaute sich panisch um, das Nest neigte sich gefährlich zum Abgrund hin. Langsam begannen die Eier vor und neben Carim zu rollen. Das Nest würde mitsamt den Eiern hinabstürzen! Scharf sog der Drachentöter die Luft ein und rappelte sich hastig auf. Da rutschte das Nest auch schon unter ihm weg und er konnte nichts anderes tun, als zu springen.

Hart prallte er mit dem Oberkörper auf den Felsenrand, während seine Beine noch über dem Abgrund baumelten. Staub drang ihm in die Lunge. Er hustete, rappelte sich jedoch sogleich wieder auf. Sein Gesicht brannte. Er schmeckte Blut.

Die Drachendame brüllte vor Raserei, als sie ihr Gelege in den tödlichen Abgrund stürzen sah. Sie war blind vor Wut. Darin sah Carim seine Chance. Ohne ihn im aufgewirbelten Staub wirklich erkennen zu können, schnappte seine Feindin nach ihm und brachte ihren Kopf gerade so weit nach unten, dass es für ihn reichte. Carim holte tief Luft und sprang auf ihre Schnauze. Eine vertraute Ruhe hatte von ihm Besitz ergriffen und es schien, als sei die Welt um ihn herum verstummt. Er prallte mit dem Bauch auf ihre Schuppen, gönnte sich jedoch keinen Moment zum Durchatmen und zog sich sogleich auf die Beine. Die Drachendame hatte keine Zeit zu reagieren.

Ein Lächeln zuckte über Carims Gesicht, als er ein Schwert hervorzog, den Griff mit beiden Händen umfasste und es tief in das Auge des Drachen rammte.

Kapitel 2Engelstränen

Trübe hing der Mond zwischen Wolkenfetzen am Himmel. Carim trug einen schweren Leinensack durch die leeren Gassen von Fithár. Um unerkannt zu bleiben, hatte er sich in einen schwarzen Umhang gehüllt, dessen Kapuze er tief ins Gesicht zog. Eine schwarze Katze huschte einige Meter vor ihm über den grob gepflasterten Weg. Carim würdigte sie keines Blickes, sondern bog mit zielstrebigen Schritten in eine Straße zu seiner Rechten ein. Es roch nach Abfall und verschimmeltem Essen, alle Fensterläden waren geschlossen, sofern man diese zersplitterten Holzbretter überhaupt als solche bezeichnen konnte.

An der vierten Tür hielt er an, stellte den Sack auf den Boden und schlug dreimal mit der Faust gegen das morsche Holz. Erst rührte sich einige Zeit nichts. Alles, was er hörte, war das entfernte Bellen eines Hundes. Aus einem Haus weiter die Straße hinauf hörte er gedämpftes Husten. Misstrauisch sah Carim sich um, runzelte die Stirn und glitt dann noch etwas weiter in den Schatten des Türsturzes über ihm. Er rührte sich nicht, starrte nur die Tür an, bis er – endlich – schlurfende Schritte dahinter vernahm. Knarrend öffnete sich eine Klappe auf seiner Augenhöhe.

»Wer da?«, fragte eine kratzige Stimme.

»Ich bin es.« Carim sprach leise und schaute noch einmal wachsam die Gasse hinauf und hinab. Er hatte keine Lust, heute Abend noch in Schwierigkeiten zu geraten. Sonst ließ er selten eine Gelegenheit für eine Provokation oder eine Rauferei außer Acht, heute jedoch trug er wertvolle Ware mit sich.

»Ah, der Drachentöter lässt sich wieder blicken! Ein gefährliches Spiel, mein Freund! Die Stadtwache hat dein Gesicht noch lange nicht vergessen. Sie werfen jeden Abend Messer auf dein Bild an der Wand.« Der Mann hinter der Tür lachte schmutzig.

»Ganz recht, Schmuggler. Ich bin zurück, wenn auch nur für eine Nacht … vorerst. Aber mach dir um mich keine Sorgen, das Töten habe ich keinesfalls verlernt.«

»Das habe ich auch nicht erwartet. Aber in der Stadt gibt es keine Drachen, die du töten kannst.«

»Das stimmt, Menschenhaut ist um einiges dünner …« Mit einem drohenden Lächeln spielte Carim an dem Griff eines seiner Dolche herum, zog ihn einen Daumenbreit heraus und stieß ihn dann mit einem metallischen Schaben zurück.

Schmuggler schluckte hart. »Warum bist du hier? Was führt dich zurück nach Fithár nach … etlichen Monaten?«

»Geschäfte, Schmuggler. Was sonst?«

»Geschäfte kannst du auch in anderen Dörfern oder Städten abschließen, Drachentöter. Glaub ja nicht, dass ich dir abnehme, dass du sieben Monate lang keinen Drachen erlegt und verkauft hast.« Schmuggler schnaubte.

Carim seufzte und strich sich über das Gesicht. »Ich habe hier noch eine andere Sache zu erledigen.« Dann hob er den Sack so hoch, dass Schmuggler ihn durch den Schlitz erkennen konnte.

»Also, nun zum Geschäft. Schuppen und Fleisch, wie du es bevorzugst, von einem ausgewachsenen weiblichen Felsdrachen, schwarz gefärbt.«

»Sehr gut, sehr gut! Ausgezeichnet! Doch hast du auch …?«

Carim lächelte hinterhältig. »Einhundert Silberstücke. Zusätzlich.«

Carim hörte das Klimpern von Geldmünzen.

»Ich gebe dir neunzig Silberstücke. Für alles!«

Carim schüttelte lächelnd den Kopf. »Mein alter Freund, hast du in den Monaten meiner Abwesenheit vergessen, dass du eher einen Stein mit bloßen Zähnen zerbeißen kannst, als mich zu Ramschpreisen zu überreden? Einhundertfünfzig Silberstücke. Fünfzig für die Schuppen und das Fleisch und hundert für dies!« Er schnürte den Sack auf, griff hinein und zog einen großen Beutel hervor. Das Leder war feucht und fühlte sich kühl in Carims Händen an.

Schmuggler schluckte. »Wie groß es ist.«

»Was du nicht sagst. Also, bekomme ich meine Silberstücke oder soll ich mich an einen anderen Schwarzhändler wenden? Glaub ja nicht, dass ich von dir abhängig bin.«

Drachenfleisch galt in allen Carim bekannten Städten als Delikatesse. Schuppen und Haut hingegen wurden für Rüstungen und Kleidung verwendet. Wonach sich Schmuggler aber am meisten verzehrte, war das Drachenherz, das für zahlreiche Medikamente verwendet wurde. Da der König jedoch Angst hatte, dass leichtsinnige junge Männer zur Drachenjagd aufbrechen könnten und dort ihren Tod fänden, hatte er den Handel mit Drachenfleisch und Haut, sowie die Jagd selbst, schon seit Jahrzehnten verboten.

Schmuggler seufzte. Dann hörte man hinter der Tür das Klimpern von Münzen. Schmugglers Hand erschien in der Klappe und umklammerte einen prall gefüllten Sack. Dieser Anblick ließ Carims Herz höher schlagen und er riss den Beutel sofort an sich. Doch sein Argwohn war geweckt. Er öffnete ihn, um die Silberstücke nachzuzählen.

»Habe ich dich jemals betrogen?« Schmugglers Frage klang gereizt. »Jetzt gib mir endlich die Ware und verschwinde!«

Carim nickte. Auch er wollte so schnell wie möglich fort von hier; denn die Nacht war schon weit fortgeschritten. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr.

Vielleicht schlief sie schon? Als er sich ihr Gesicht vorstellte, schien sich eine kalte Hand um sein Herz zu legen. Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen?

Carim lehnte den Sack gegen die Holztür und den Beutel mit dem Herz daneben.

»Hier, und wehe dir, wenn die Summe nicht stimmt. Du weißt, was dir dann blüht!« Er nahm die Kapuze seines Mantels und zog sie sich tiefer ins Gesicht. »Bis zum nächsten Mal.« Mit diesen Worten lief er los.

* * *

Nachdem er einige Minuten durch verschiedene Gassen gestreift war, kam er an einem kleinen Haus an, einer Baracke mit undichtem Dach und einer Tür, durch die es schrecklich ziehen musste. Dicke Gardinen verhingen die beiden kleinen Fenster und ließen keine neugierigen Blicke hinein.

Carim blieb dicht vor der Tür stehen, legte seine Stirn gegen das Holz und atmete tief durch. Sein Herz hämmerte in der Brust, diesmal aber nicht aufgrund von Blutdurst. Dieses Gefühl war so verdammt ungewohnt, dass er sogar zu zittern begann. Doch er musste es hinter sich bringen. Er hatte es doch schon so viele Male getan. Er musste nur klopfen, den Beutel vor der Tür ablegen und verschwinden. Also trat er einen Schritt zurück und klopfte dann energisch gegen die Tür. Er wollte den Beutel gerade ablegen, als die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde. Zwei große, blaue Augen lugten von unten neugierig durch den Türspalt hindurch.

»Ja?« Die Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern.

»Nia …« Carim konnte nicht anders, er fiel auf die Knie, um auf Augenhöhe mit dem Mädchen zu sein und nahm seine kleinen Hände in seine. Die Finger des Mädchens waren kühl wie eine Frühlingsbrise. Er wusste, dass er lieber weglaufen sollte. Doch er brachte es nicht über sich. Dieses winzige Gesicht, das ihm so vertraut war! Diese hellblonden Haare, genauso hell wie die auf seinem eigenen Kopf. Carim zitterte und er bekam schwer Luft.

Das Mädchen sah ihn mit klugen Augen an. Ihr Blick wanderte hinab zu ihren Händen, die er immer noch umschlungen hielt. Sie zog sie nicht zurück. Sie erinnerte ihn an einen kleinen Engel, wie sie da in ihrem weißen Nachthemd vor ihm stand. Ihr Körper jedoch wirkte schwach und kränklich. Carim wünschte sich nichts mehr, als sie in den Arm zu nehmen, um sie zu beschützen, ihr alles Böse auf der Welt vom Hals zu schaffen. Seine Kehle war trocken. Er brachte kein Wort hervor.

»Nia?«, rief eine Stimme aus dem hinteren Teil des Hauses. Der panische Unterton war nicht zu überhören. »Hast du wieder einfach die Tür aufgemacht? Wer ist da?«

Nia sah ihn noch einen Moment forschend an und runzelte ihre blasse Stirn.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie unschlüssig, mehr zu sich selbst, als zu der Person, die sie gerufen hatte.

Die Worte brachen Carim fast das Herz. Er presste die Lippen aufeinander, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Doch woher sollte sie ihn auch kennen? In ihren Augen war er ein Fremder, ein Fremder, der merkwürdigerweise dieselben Augen und dasselbe Haar besaß wie sie.

Er schluckte noch einmal. Dann ließ er die kleinen Hände los und drückte dem Mädchen den Geldbeutel, den Schmuggler ihm gegeben hatte, in die Hand. Er richtete sich auf und strich ihr durch das dünne Haar. Sie reichte ihm kaum bis zur Hüfte.

In Momenten wie diesen bereute er, zu wem er geworden war. Zu welcher grausamen, skrupellosen Kreatur.

»Pass auf dich auf, Kleine«, flüsterte er mit erstickter Stimme, drehte sich dann um und rannte davon, bevor ihre Mutter an die Tür kommen und ihn erkennen konnte.

Kapitel 3Das Drachenei

Als Carim in den frühen Morgenstunden zum Leichnam der Drachendame zurückkehrte, hatten sich bereits einige Krähen auf deren Überresten niedergelassen und rissen gierig Fleischbrocken aus dem Kadaver. Carim zog ein Wurfmesser hervor und schleuderte es auf die Krähen. Sie stoben kreischend davon.

Der Drachentöter seufzte und schaute zur bereits wieder aufgehenden Sonne. Nun lag die eigentliche Arbeit vor ihm. Am Tag zuvor hatte er nur etwas Fleisch, einen Teil der Haut und das Herz entfernt, da dieses schnell verkauft werden musste. Das übrige Drachenfleisch verweste langsamer. Heute hoffte er, den Rest des Tieres verarbeiten zu können.

Er stöhnte. Drachen auszunehmen war eine anstrengende und zeitaufwendige Arbeit. Dabei liebte er doch das Töten viel mehr! Dieses befriedigende Gefühl, wenn sich seine Schwerter oder Dolche in das warme, pulsierende Fleisch der Drachen bohrten. Wenn ihr Blut seine Kleidung durchnässte. Wenn er die letzten, hoffnungslosen Schreie der Tiere vernahm und sie sich im Todeskampf auf dem Boden quälten.

Nicht immer war er so gewesen, so blutdurstig und voller Boshaftigkeit. Doch die Erinnerung an den alten Carim war inzwischen so verblasst, dass er nicht mal wusste, ob sie überhaupt noch der Wahrheit entsprach.

Jeden Drachen, den Carim hatte töten wollen, hatte er auch zur Strecke gebracht. Er hatte noch nie einen Kampf verloren. Doch nur vom Töten konnte er schließlich nicht leben.

Er begann seine Ausrüstung abzulegen und sorgfältig auf dem Boden auszubreiten. Sie war voller Blut. Die Lederriemen legte er daneben.

Am Ende trug er nur noch seine Hose. Auch seine ledernen Schuhe hatte er abgelegt. Aus seinem breiten Gürtel, der auf dem Boden lag, zog er die zwei Messer, die er zum Schlachten benutzte, und überprüfte sie auf ihre Schärfe. Dann ging er auf die leblose Drachendame zu. Von dieser Seite sah sie aus, als würde sie nur in einem tiefen, bedrohlichen Schlaf liegen.

Doch als Carim sie umrundet hatte, offenbarte sich ein anderes Bild: Ihre zerfetzten, blutigen Flügel und ihre im Todeskampf erstarrten Augen zerstörten den friedlichen Anblick. Das halb getrocknete Blut klebte unter seinen Stiefeln und ließ ein schmatzendes Geräusch erklingen, jedes Mal, wenn er seine Füße anhob. Carim kniete sich neben dem Bauch des Leichnams auf den Boden und begann, die Haut der Drachendame vom Fleisch zu trennen. Da Carim schon dutzende Male Drachen ausgenommen hatte, verspürte er dabei keinen Ekel mehr. Am Anfang war das anders gewesen. Doch nun kniete er im Blut des Drachen, stieß die Waffe immer wieder in das Fleisch wie ein wildes Raubtier seine Zähne in sein Opfer.

Was für schöne Schuppen sie doch hat, dachte er, als er das Messer wieder und wieder in ihren Körper rammte. Genauso prachtvoll wie ihre Dracheneier. Welch ein Jammer, dass sie in den Abgrund gestürzt sind.

Mit einem Mal hielt er inne. Was, wenn es einen Vorsprung gegeben hatte, eines der Eier daran zerschellt war und dort nun noch Stücke der kostbaren Schale lagen? Carim sprang auf und zog seine beiden Messer mit einem Ruck aus dem Fleisch des Drachen. Er rannte wieder um den Kadaver herum und steuerte auf das Ende des Felsplateaus zu, auf dem am gestrigen Tage ein Teil des tödlichen Kampfes stattgefunden hatte. Wo war noch gleich genau das Nest heruntergefallen? Er sah Rußspuren und Kratzer auf dem Boden, verursacht durch die Drachenkrallen und das Feuer.

Sofort fand er die Stelle wieder. Reste des Nestes steckten noch immer zwischen den Steinen. Er trat vorsichtig an den Rand heran. Wäre er nur wenige Zentimeter weitergegangen, hätte er sich auf einen Sturzflug in den Tod begeben. Vor seinen Füßen fiel die Schlucht mehrere hundert Meter steil in die Tiefe ab, nur durchbrochen von einigen Vorsprüngen und knorrigen Bäumen, die sich mit ihren Wurzeln in die Steinwand krallten.

Als Carim sah, was mit einem der drei Dracheneier passiert war, hielt er die Luft an und musste im nächsten Moment breit grinsen. Von den anderen beiden fehlte zwar jede Spur, doch das dritte Ei hatte sich zusammen mit den Resten des Nestes etwa fünf Meter unter ihm zwischen einem Baum und einem Felsvorsprung verkeilt. Es schien vollkommen unversehrt zu sein. Das Ei hatte eine wunderschöne Farbe, es glänzte in einem metallischen Violett und die Muster, die es überzogen, hatte Carim noch nie zuvor gesehen. Er konnte sein Glück kaum fassen. Die Schmuggler würden sich darum reißen. Doch sein Grinsen erstarb, als er zu überlegen begann, wie er das Drachenei bergen könne. Er lief zurück zu seiner Ausrüstung, nahm zwei mitgebrachte Seile und knotete sie zu einem zusammen.

»Das muss reichen«, murmelte er und ging zurück zum Vorsprung. In Ermangelung eines anderen Gegengewichtes band er das eine Ende des Seiles um den riesigen Fuß der Drachendame. Ihr Gewicht würde Carim und das Ei auf jeden Fall halten. Das andere Ende knotete er sich um den nackten Bauch. Wenn er nun hinunter zu seinem Schatz klettern würde, musste er darauf achten, dass der Knoten sich nicht löste und das Ei für immer in den Tiefen der Berge verloren ging. Auf keinen Fall durfte er den Baum, an dem sich das Ei verkeilt hatte, zum Wackeln bringen … Carim schwang sich behände über den Vorsprung und ließ sich Stück für Stück hinab. Er war schon oft an Felswänden hinabgeklettert, deshalb stellte diese hier keine große Herausforderung für ihn dar. Als er einen Meter über dem Drachenei hing, stieß er sich ab und landete auf dem Felsvorsprung. Das Ei glänzte im Licht der aufgehenden Sonne und Carim konnte den Blick nicht davon abwenden. Vorsichtig überprüfte er das Seil um seinen Bauch und suchte sich dann einen festen Stand. Er packte das Drachenei und klemmte es sich unter den Arm. Dracheneier hatten ganz verschiedene Größen, je nach Art. Dieses reichte ihm bis zu den Knien und war bemerkenswert schmal, sodass er es ohne Probleme mit einem Arm tragen konnte. Es war schwer, jedoch keine Herausforderung für den Drachentöter. Er begann jetzt, an dem Seil wieder hinaufzuklettern. Die Muskeln in seinem linken Arm brannten, doch er gab nicht nach. Sein Atem ging schwer, doch endlich hievte er sich über den Rand des Abgrunds. Einige Sekunden blieb er so auf dem Felsen liegen und beruhigte seinen Atem. Dann erhob er sich. Das Ei klemmte er zwischen einigen Steinen fest, damit es nicht davonrollen konnte. Kurz zögerte er. Dann strich er über die schwarz-violette Schale. Das Ei schien zu pulsieren, für einen Moment wurde es ganz warm. Dann kühlte es sofort wieder ab. Carim konnte seinen Blick nicht abwenden. Doch er musste weiterarbeiten, wenn er heute Abend noch nach Hause kommen wollte.

Also riss er sich schweren Herzens los und wandte sich wieder dem leblosen Drachen zu.

Den ganzen Morgen verbrachte er damit, Fleisch in handliche Streifen zu schneiden, je eine Elle lang, und zu Bündeln zusammenzuknoten. Doch trotzdem war er nicht einmal annähernd fertig, als es gegen Nachmittag Zeit wurde, seine Beute nach Hause zu bringen. Auch die schuppige Haut band er zusammen, genauso wie die Zähne und Knochen. Die Gedärme und einige sehr faserige Teile des Tieres sortierte er aus und warf sie den lauernden Krähen zum Fraß hin. Auch für die Flügel hatte er keine Verwendung und ließ sie einfach liegen.

Er schaute an sich hinab. Sein nackter Oberkörper und seine Arme glänzten rot vom Blut seines Opfers. Doch er wollte keine Zeit mit Waschen vergeuden, dazu hatte er auch später noch Zeit. Also reinigte er nur seine Messer und legte seine Ausrüstung wieder an.

Den Rest des Tages würde er damit verbringen müssen, seine Beute nach Hause zu schleppen. Seufzend schulterte er zwei Fleischbündel und ging los. Doch kaum war er drei Schritte gegangen, da drehte er sich um und schaute zu dem Drachenei zurück. Nein, das Ei musste er zuerst in Sicherheit bringen! Alles in ihm sträubte sich dagegen, es hier zurückzulassen. Also legte er eines der Bündel ab und hob stattdessen das Drachenei hoch. Es pulsierte nun nur noch halb so stark wie vorhin. Carim war sich ziemlich sicher, dass das Drachenjunge darin tot war, schließlich hatte ihm einen Tag lang die Brutwärme der Mutter gefehlt. Aber das war ihm nur recht. Ein Drachenei, bei dem die Gefahr bestand, dass ein Monster daraus schlüpfte, würde ihm niemand abkaufen.

Der Weg vom Felsplateau bis zu seinem Haus betrug nur eine Viertelstunde, wenn man den richtigen Weg kannte. Es war eigentlich kein richtiges Haus, sondern vielmehr eine Höhle, die irgendwelche Vorbesitzer in den kalten Felsen geschlagen haben mussten. Sie lag sehr versteckt zwischen Felsvorsprüngen und ein paar vertrockneten Büschen. Man sah sie erst, wenn man unmittelbar davor stand – ein Unkundiger konnte sie niemals finden, denn ein dicker Steinbrocken nahm jedem die Sicht auf die Öffnung.

Ein dunkelbrauner Vorhang aus dicker Wolle verdeckte den Eingang und hielt im Winter die Wärme in der Höhle. Carim schob ihn mit der Schulter zur Seite und trat ein.

Der Raum war nicht sehr groß. Carim hatte sich zwar öfters mehr Platz zum Lagern gewünscht; doch er kam damit aus. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine kleine Feuerstelle, fast schon ein Kamin. Ein Spalt in der Decke diente als Abzug. In der Mitte des Raumes stand ein wackliger Tisch, der über und über mit Messern, Drachenzähnen, Hautfetzen und Knochen bedeckt war. An der linken Wand befand sich ein Regal mit einer Handvoll Pergamentrollen und ein paar Krügen, rechts sah man eine Matratze, jedoch ohne Decke. Im ganzen Raum stapelten sich Drachenhautstücke verschiedener Größen, hingen Fleischstreifen zum Trocknen an der Decke oder standen Körbe mit Drachengebeinen herum. Hier fühlte sich Carim zu Hause. Es war eine Höhle des Todes.

Der junge Mann stellte das Bündel in der Mitte des Raumes ab und legte das Drachenei an den Fuß seines Bettes, weit genug vom Kamin entfernt. Er zündete ein kleines Feuer an, sodass er sich bei seiner Rückkehr am Abend etwas Fleisch braten können würde. Dann drehte er sich um und verließ die Höhle wieder, um weitere Haut- und Fleischstücke zu holen. Den ganzen Nachmittag transportierte er Jagdbeute von dem Hochplateau zu seiner Höhle. Dann endlich, kurz vor Sonnenuntergang, hatte er alles nach Hause gebracht, was er zurechtgeschnitten hatte, und schleppte den letzten Knochen über die Hausschwelle. Morgen würde er seine Arbeit fortsetzen und den Rest des Leichnams auseinandernehmen. Er hoffte, dass sich in dieser Nacht nicht zu viele Tiere an dem Drachenkadaver bedienen würden.

Doch als Carim die Höhle betrat, traute er seinen Augen nicht. All die Haut- und Fleischbündel, die er so sorgsam an der Wand gestapelt hatte, waren kreuz und quer im Raum verstreut. Der Tisch war umgestoßen worden und alles lag auf dem Boden. Das Feuer im Kamin jedoch loderte höher denn je. Es reichte fast bis zur Decke und war viel größer, als es bei den wenigen Holzscheiten überhaupt werden durfte. Blitzartig ließ Carim den Knochen fallen und zog eines der beiden Kurzschwerter. Irgendjemand war in sein Haus eingedrungen. Doch nirgendwo in der Höhle entdeckte er jemanden. Sie war menschenleer. Nur das Feuer knisterte weiterhin bedrohlich.

Carim packte seine Waffe fester, dann schaute er zum Kamin. Für den Bruchteil einer Sekunde erahnte er zwei glühend rote Augen, die ihn aus dem Feuer anstarrten. Im nächsten Augenblick sah er etwas Schwarzes auf sich zu springen und Schmerz explodierte in seinem Gesicht.

Kapitel 4Neue Bande

Carim schrie auf und stolperte zurück. Sein Gesicht brannte, doch er merkte es kaum, denn sein Jagdinstinkt war nun geweckt. Er packte das Wesen, das ihm ins Gesicht gesprungen war und seine Hand schloss sich um die schuppige Haut, bis das Tier vor Schmerzen aufbrüllte. Dann riss er es von seinem Gesicht und schleuderte es auf den Boden. Carim schnaufte und gönnte sich ein paar Sekunden, um das eingedrungene Wesen genauer zu betrachten. Wie er es schon geahnt hatte, war es ein Drache, ein winziger Drache mit schwarzvioletten Schuppen, einem spitzen Gesicht und roten Augen. Dieses Tier hatte es irgendwie geschafft, aus dem Ei zu schlüpfen, während Carim seine Jagdbeute nach Hause geschleppt hatte.

Gehetzt blickte er sich um und sah vor dem Kamin zerborstene Eierschalen liegen. Wie war das Ei dorthin gekommen? Doch er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn der kleine Drache fauchte und machte Anstalten, ihn ein zweites Mal anzugreifen. Aber diesmal war Carim vorbereitet. Wieder ergriff ihn diese Ruhe, wie jedes Mal, wenn er einen Drachen töten wollte. Sein Herz pochte schneller bei der Aussicht auf Blut. Seine Hände zitterten nicht, als er nun auch das andere Kurzschwert hervorzog. Der kleine Drache schlug wild mit den Flügeln und wollte ihm wohl erneut ins Gesicht springen.

Doch Carim holte nur abwehrend aus und schlug dem anspringenden Ungeheuer den Schwertgriff gegen den Kopf, sodass es seitlich weggeschleudert wurde und mit einem entsetzlichen Knirschen gegen die Wand krachte. An ihr rutschte der kleine Drache besinnungslos hinunter und blieb am Boden liegen. Es war nun totenstill in der Höhle.

Carim bewegte sich langsam auf den zusammengesunkenen Drachen zu und hockte sich vor ihn hin. Die violetten Schuppen waren nun mit rotem Blut überzogen, der linke Flügel stand in einem unnatürlichen Winkel ab, den anderen hatte der Drache an den Körper gezogen. Er war wirklich noch winzig klein. Hätte er sich aufgerichtet, so hätte er wohl kaum bis zu Carims Knie gereicht. Der junge Mann stellte fest, dass das Tier noch lebte. Schwach hob und senkte sich seine Brust. Als Carim ganz nah an ihn heranging, konnte er das kleine Herz wild trommeln hören. Nur noch einen kurzen Moment lauschte der Drachentöter, legte das Schwert aus seiner Rechten zur Seite und zog stattdessen einen Dolch hervor.

Wie sollte er das kleine Wesen töten? Er könnte ihm einfach die Kehle durchschneiden, doch dann wäre der Spaß viel zu schnell vorbei. Langsam fuhr er dem ohnmächtigen Drachen mit der Spitze des Dolches über den Rücken und erfreute sich an dem leisen Klicken, als die Waffe von einer Schuppe zur anderen rutschte.

Plötzlich fasste er einen Entschluss, hob den Dolch und bohrte ihn durch den linken Flügel in den Boden. Der Drache zuckte nicht einmal mehr.

Carim stieß die Luft aus und richtete sich auf. Endlich hatte er Zeit sich umzusehen. Er ging auf die Reste der Eierschalen vor dem Kamin zu und hob ein Stück auf. Die Schale glänzte schwarz-violett im Licht des Feuers. Ob sich der Drache im Ei zum Feuer hingerollt hatte, geleitet von der Wärme?

Carim warf die Schale auf den Boden und schaute sich frustriert um. Was hatte das Biest in seiner Höhle angerichtet? Alles lag kreuz und quer verstreut. Die Drachenhautbündel waren teilweise auseinandergerissen und von dem saftigen Stück Fleisch, das er sich vor das Feuer gelegt hatte, um es nach seiner Rückkunft zu braten, waren nur noch ein paar Fetzen übrig. Carim stockte und hielt die Luft an. Wenn der Drache das Fleisch gefressen hatte, dann hatte er soeben das Fleisch seiner eigenen Spezies verschlungen, vielleicht sogar das seiner eigenen Mutter.

Langsam drehte Carim sich um und sah zu dem kleinen Wesen. Es war aufgewacht, lag jedoch noch immer auf dem Boden. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam und die grellen, rubinroten Augen starrten Carim an. Carim starrte zurück. Aus dem Blick des Drachen sprach pure Wut. Doch der junge Mann hatte das Gefühl, dass diese Wut nicht gegen ihn selbst gerichtet war.

Drachen waren viel intelligenter als andere Tiere, das hatte er schon oft gespürt. Sie waren fähig Wut zu spüren, sogar Ehrgeiz und Mitleid.

Vorsichtig ging er auf das Wesen zu. Es fauchte und fletschte die Zähne, was bei dem kleinen Tier ziemlich lächerlich aussah. Der Drachentöter lachte.

Plötzlich kam ihm eine Idee und er verstummte. In der Höhle war es nun totenstill. Sollte er? Würde er das schaffen? Er hockte sich vor den kleinen Drachen auf den Boden. Die violetten Schuppen glänzten immer noch vom Blut. Noch waren die Krallen nicht ausgewachsen, aber was sie für einen Schaden anrichten würden, wenn das Vieh erst einmal größer war …

Carim musste bei dem Gedanken daran grinsen. Wenn es so weit war, würde er, Carim, der Drachentöter, diese Krallen steuern. Er würde den Drachen zähmen, notfalls mit Gewalt, er würde ihn von sich abhängig machen, er würde seine Kraft nutzen. Das würde ihm unglaubliche Macht verleihen, Herrscher würden ihm zu Füßen liegen und um seine Gunst buhlen. Der Schlüssel dazu war hier, steckte in dem kleinen Wesen, das hier in der Höhle regungslos auf dem Boden lag.

Kapitel 5Prinz Kastriot

Tausende Menschen drängten sich auf dem Marktplatz von Fithárs teuerstem Stadtviertel. Stände für Nahrungsmittel drängten sich dicht an Tische voller Kleidung. Kaufmänner priesen ihre Waren an, schrien die neusten Angebote hinaus. Adlige Frauen schickten ihre Dienerinnen vor, um sich die schönsten und kostbarsten Stoffe zu sichern, während sie selbst unter seidenen Sonnenschirmen ihre blassen Gesichter schützten. Der Marktplatz war weitläufig und kreisrund. Am Rand säumten ihn Banken und einzelne Geschäfte, in der Mitte befand sich ein riesiger Brunnen. Oben spritzte das Wasser in einer Fontäne heraus und lief dann über fünf Stufen hinab in ein großes Becken. Jede dieser Stufen war mit Bildern verziert: In die oberste waren ein König und eine Königin eingemeißelt, die erhaben ihre Zepter zum Himmel reckten. Die zweite und dritte Stufe stellten jeweils Priester und berittene Soldaten dar. Auf der Vierten tummelten sich Bauern, Handwerker und Kaufmänner. Auf der letzten Stufe waren die schemenhaften Umrisse von Bettlern zu sehen. Carim fand es sehr unpassend, dass ein Brunnen mit solch düsterer Botschaft auf einem Marktplatz stand, auf dem so viel Hektik und Trubel herrschte. Doch die Leute, die hier einkauften, schauten sowieso nur zu den obersten Stufen auf.

Carim schlenderte durch die Menge, die Hände tief in den Taschen vergraben und lachte innerlich über die angewiderten Blicke, die einige der Frauen ihm wegen seiner schmutzigen Kleidung zuwarfen. Wie sehr er all diese Menschen verabscheute. Diese hochwohlgeborenen Schönlinge und ihre naserümpfenden Weiber, die noch nie auch nur einen Finger für das Geld gerührt hatten, das ihnen ihre Eltern oder Großeltern vererbt hatten.

Wie nebenbei griff Carim nach einem saftigen Apfel auf einem Stand, an dem er vorbeiging, nahm ihn sich und biss hinein.

»Ich glaube, ich sehe nicht recht! Leg sofort den Apfel zurück, du Dieb!«

Carim drehte sich um und betrachtet abschätzig den dicken, rotwangigen Mann, der jetzt schnaufend hinter dem Obststand hervorkam. Er trug teure Kleidung und einen lächerlichen kleinen Hut auf den sorgfältig gescheitelten Haaren. Carim lachte nur und drehte sich um. Doch der Händler gab nicht auf.

»Hilfe! Ein Dieb! Ein Dieb! Haltet ihn!« Er sprang einen Schritt nach vorne und packte Carim grob am rechten Arm.

Ruckartig blieb der junge Mann stehen. Hatte es dieser Fettsack gerade wirklich gewagt, ihn anzufassen? Er ließ den Apfel fallen, der auf dem staubigen Boden aufschlug und einen halben Meter weiterrollte. Dann ballte Carim seine linke Faust, drehte sich um und schlug sie dem Händler so hart ins Gesicht, dass dieser rückwärts in seinen eigenen Stand fiel. Mit einem gewaltigen Krachen zerbarst der Holztisch unter seinem Gewicht und unzählige Äpfel, Orangen und Feigen ergossen sich über den Boden. Eine Frau ein paar Meter weiter schrie gellend auf und ließ vor Schreck ihren rosa Sonnenschirm fallen.

Carim lachte nur, spuckte dem nun regungslosen Händler vor die Füße, drehte sich um und wollte verschwinden. Doch kaum hatte er sich umgedreht, blieb er wie angewurzelt stehen. Keine fünf Meter vor ihm stand ein Mitglied der Stadtwache. Wie Carim an dem auffälligen Federbusch auf dem Helm erkennen konnte, musste es sich um einen hochgestellten Hauptmann handeln.

»Bleibt sofort stehen. Im Namen des Königs nehme ich Euch wegen Diebstahls fest. Ihr solltet Euch lieber nicht widersetzen«, befahl der Hauptmann. Unter seinem Helm konnte Carim ein junges, kantiges Gesicht mit einem kleinen, schwarzen Spitzbart entdecken. Eine lockige, schweißnasse Strähne klebte an der Stirn des Soldaten. Seine Augen schienen fast schwarz zu sein.

Carim hatte den Hauptmann noch nie gesehen, obwohl er schon oft mit der Stadtwache Bekanntschaft gemacht hatte. Er sah sich um und erkannte, dass sich langsam ein Kreis aus schaulustigen Marktbesuchern um sie bildete. Ein Entkommen würde für ihn kaum möglich sein. Doch Angst hatte er nicht. Jedes Mal, wenn er gegen einen Drachen kämpfte, blickte er dem Tod ins Auge. Die augenblickliche Situation war nichts dagegen. Seelenruhig bückte er sich und zog aus jedem seiner Stiefel einen Dolch. Sie waren so lang wie sein halber Unterarm und hatten einen einfachen geölten Griff aus Eichenholz.

»Das würde ich lieber lassen! Ich bin nicht irgendein Hauptmann, ich bin Prinz Kastriot von Fithár. Mein Vater ist der König. Wenn Ihr mit Waffen gegen mich vorgeht, ist das Hochverrat!«

Nun konnte Carim sich nicht mehr halten. »Denkst du, ich hätte Angst vor dir, Bengel? Wäre ich du, würde ich mich ganz schnell aus dem Staub machen. Sonst wird das hier noch hässlich für dich enden.« Carim ließ einen Dolch durch die Luft vor sich hin und her zischen und machte drohend einen Schritt auf den Prinzen zu. Er musste sich beeilen, sonst würde eine andere Wache noch auf den Tumult aufmerksam werden und zu Hilfe kommen.

Kastriot wich jedoch nicht zurück, sondern zog mit einer fließenden Bewegung sein eigenes Schwert aus der Scheide. Es war eine prachtvolle Waffe, der Griff mit Edelsteinen besetzt und vergoldet, die Schneide blank und ohne einen einzigen Kratzer. Mit dieser Waffe hatte Kastriot wohl noch nicht oft gekämpft. Als Carim wieder in die Augen des Prinzen blickte, erkannte er in ihnen Angst. Wieso war der Prinz überhaupt hier und dazu noch allein? Hatte sein Hochmut ihm verboten, einen weiteren Wachmann mitzunehmen?

Kastriots Gesicht war inzwischen blass geworden. Er blickte immer wieder hektisch zwischen Carim und der umstehenden Menge hin- und her. Offenbar hatte er Angst, sich vor den Menschen zu blamieren, über die er einmal herrschen wollte. Das erfüllte Carim mit einer gewissen Schadenfreude, denn er wusste genau, dass er diesen Kampf gewinnen würde. Drachen hatten vier gewaltige, krallenbesetzte Pranken und ein Maul voller tödlicher Zähne, während dieser Jüngling ihm nur ein einziges Schwert unbeholfen entgegenreckte.

Carims Muskeln zitterten vor Aufregung und Vorfreude auf den bevorstehenden Kampf. Er wusste, dass er den Königssohn nicht töten durfte, sonst würde man ihm die gesamte Wache des Königs auf den Hals hetzen. Doch er würde noch ein bisschen mit ihm spielen können … Schließlich hatte Kastriot ihn ja geradezu dazu aufgefordert.

Der Prinz hatte sich nun wohl gefasst und kam unbeholfen in Angriffshaltung auf ihn zu gestolpert. Die schwere Rüstung und seine Nervosität schienen ihn merklich zu behindern. Er umklammerte das Schwert mit schweißnassen Händen, biss sich auf die Lippe, sprang dann einen Schritt nach vorne und schlug nach Carims rechter Schulter.

»Sehr gut, sehr gut«, spöttelte der Angegriffene, während er einfach einen Schritt zur Seite wich und den Prinzen ins Leere laufen ließ.

»Die Ausbildung, die der König seinen Kindern zuteilwerden lässt, scheint nicht die schlechteste zu sein«, feixte er.

Wieder schlug Kastriot nach Carim. Doch der tänzelte nur geschickt um ihn herum und ließ die Waffe des Angreifers nicht mal in seine Nähe kommen. Von den Umstehenden hörte man vereinzeltes Gelächter. Vor unterdrückter Wut lief Kastriot purpurrot an. Seine Schläge wurden schneller und brutaler, aber ungenauer und mehr als einmal verlor er fast das Gleichgewicht und strauchelte.

»Jetzt kämpfe gegen mich, du feiger kleiner Dieb!«, brüllte er Carim wütend an, als dieser wieder einem seiner Schläge auswich.

Doch Carim lachte nur. »Warum sollte ich das tun, kleiner Prinz? Dann wäre der Spaß doch schon nach ein paar Sekunden vorbei. Seht her, Einwohner von Fithár! Schaut euch euren Prinzen an, der nicht einmal mit einem Apfeldieb fertig wird! Ich wünsche euch viel Glück, wenn dieser Schwachkopf erst einmal euer König ist.« Weiteres Gelächter drang aus der Menge, während die adligen Frauen in der ersten Reihe eher bestürzt dreinblickten.

Da kam Carim eine Idee. Kastriot hatte kurz in seinen Angriffen innegehalten und schnaufte vor Wut, Anstrengung und Demütigung. Carim steckte seine beiden Dolche wieder ein. Schnell lief er zu einer der Frauen, einem Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren mit langen, blonden Locken und einem Kleid aus himmelblauem Stoff.

»Verzeiht, Mylady«, entschuldigte sich Carim mit einem frechen Grinsen und einer Verbeugung und zog ihr den edlen Sonnenschirm aus der Hand. Die junge Frau schaute ihn entsetzt an, sagte jedoch nichts. Mit einem kräftigen Ruck riss er den aufgespannten Seidenstoff mit den dünnen Verstrebungen ab und hielt nur noch den etwa einen halben Meter langen hölzernen Schirmstock in der Hand.

»Was machst du da?«, presste Kastriot zwischen den Zähnen hervor. Doch in seinen Augen spiegelte sich bereits Verstehen.