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Cäsar Cascabel zieht als Artist schon seit vielen Jahren durch die USA. Seine Truppe, die aus Gauklern und Artisten besteht, setzt sich vor allem aus Angehörigen seiner Familie (Ehefrau Cornelia, die Söhne Jean und Xander, die Tochter Napoleone) zusammen. Cäsar kommt zu dem Entschluss, dass es an der Zeit ist mit seiner Familie in seinem Jahrmarktswagen in seine französische Heimat zurückzukehren. Er muss auch seine Ersparnisse sicher transportieren. Zu diesem Zweck verwendet er eine schwere Geldkassette. Diese weckt dann aber die Begehrlichkeit der angeheuerten Führer. Diese stehlen die Kassette und fliehen mit den Pferden. Das verhindert den ursprünglichen Reiseplan von Cäsar Cascabel, die USA zu durchqueren und in New York an Bord eines Transatlantikdampfers zu gehen. Cäsar Cascabel beschließt daraufhin einen ungewöhnlichen Weg nach Frankreich zu wählen. Jules Verne (1828-1905) war ein französischer Schriftsteller.
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Seitenzahl: 501
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»Hat niemand mehr Geld?... Geht, Kinder, durchsucht eure Taschen!«
»Hier, Vater,« antwortete das kleine Mädchen; damit zog es einen schmutzigen, zerknitterten grünlichen Papierfetzen aus dem Kleidchen hervor, auf dem die fast unleserlichen Worte: United States fractional Currencyund die sechsmal wiederholte Zahl 10 den ehrwürdigen Kopf eines Herrn im Salonrock umgaben, – was einen Wert von zehn Cents, etwa zehn französischen Sous, repräsentierte.
»Woher hast du das?«
»Es ist mir noch von der letzten Einnahme geblieben,« antwortete Napoleone.
»Und du, Xander, hast du nichts mehr?«
»Nein, Vater.«
»Du auch nicht, Jean?«
»Ich auch nicht.«
»Wieviel fehlt denn noch, Cäsar?« fragte Cornelia ihren Mann.
»Wenn wir eine runde Summe haben wollen, so fehlen noch zwei Cents,« antwortete Herr Cascabel.
»Hier, Herr Direktor,« sagte Clou-de-Girofle, indem er ein Kupferstückchen, das er aus den Tiefen seiner Hosentasche herausgeholt hatte, durch die Luft schnellte.
»Bravo, Clou!« rief das kleine Mädchen.
»So... das stimmt!« rief Herr Cascabel.
Und es stimmte in der That, um uns der Ausdrucksweise des wackeren Gauklers zu bedienen. Die Gesamtsumme betrug gegen zweitausend Dollars, etwa zehntausend Francs.
Zehntausend Francs, ist das nicht ein ganzes Vermögen, wenn man nur vermittelst seiner Talente dahin gelangt ist, sich die öffentliche Großmut zinsbar zu machen?
Cornelia umarmte ihren Mann; die Kinder kamen ebenfalls herbei, den Vater zu umarmen.
»Jetzt,« sagte Herr Cascabel, »müssen wir eine Handkasse kaufen, eine hübsche Handkasse mit Vexierschloß, in der wir unser ganzes Vermögen aufbewahren können.«
»Ist das wirklich unumgänglich notwendig?« warf Frau Cascabel ein, welche diese Ausgabe ein wenig erschreckte.
»Cornelia, das ist unumgänglich notwendig!«
»Vielleicht würde eine Schatulle genügen?...«
»Da sehe man die Frauen!« rief Herr Cascabel. »Eine Schatulle ist ganz gut für Schmucksachen. Für Geld bedarf man einer Kasse, oder doch wenigstens einer feuerfesten Kassette; und da wir mit unseren zehntausend Francs eine lange Reise machen sollen...«
»Nun, so geh deine Handkasse kaufen, aber handle ordentlich!« versetzte Cornelia.
Das Familienoberhaupt öffnete die Thür des »prächtigen und ansehnlichen« Wagens, welcher als bewegliches Wohnhaus diente, stieg über den an der Gabel befestigten eisernen Tritt hinab und durchschritt die ins Centrum von Sakramento führenden Straßen.
Im Februar ist es in Kalifornien kalt, obgleich dieser Staat unter demselben Breitegrade wie Spanien liegt; aber in seinen warmen, mit imitiertem Marderpelz gefütterten Überrock gewickelt, die Pelzmütze über die Ohren herabgezogen, kümmerte Herr Cascabel sich nicht sonderlich um die Temperatur und eilte fröhlich vorwärts. Eine Handkasse, Besitzer einer Handkasse sein, das war der Traum seines ganzen Lebens gewesen: und dieser Traum sollte endlich in Erfüllung gehen!
Es war zu Anfang des Jahres 1867.
Neunzehn Jahre vor dieser Epoche war das jetzt von der Stadt Sakramento eingenommene Gebiet noch eine weite, wüste Ebene gewesen. Im Mittelpunkt derselben erhob sich ein kleines Fort, eine Art Blockhaus, welches die Setters, die ersten Handeltreibenden, errichtet hatten, um ihre Lager gegen die Angriffe der westamerikanischen Indianer zu schützen. Aber seit jener Epoche, seitdem die Amerikaner Kalifornien den Mexikanern abgenommen hatten, welch letztere dasselbe nicht zu verteidigen vermochten, hatte das Aussehen des Landes sich merkwürdig verändert. An die Stelle des Forts war eine Stadt getreten – jetzt eine der bedeutendsten Städte der Vereinigten Staaten, wenngleich Feuer und Überschwemmungen die emporblühenden Bauten zu wiederholten Malen vernichtet hatten.
So brauchte Herr Cascabel denn im Jahre 1867 keine feindlichen Einfälle von Indianerstämmen mehr zu befürchten, auch nicht einmal die Übergriffe jener kosmopolitischen Räuberscharen, welche die Provinz Anno 1849 überschwemmt hatten, als die etwas nordöstlicher auf dem Grass-Valley-Plateau gelegenen Goldminen und das berühmte Lager von Allison-Rauch entdeckt worden, dessen Quarz per Kilogramm Gold im Werte von einem Franc lieferte.
Ja! jene Zeiten unerhörter Erfolge, furchtbaren Verderbens, namenlosen Elends waren vorüber. Keine Goldgräber mehr, nicht einmal im Cariboo, jenem oberhalb des Gebietes von Washington befindlichen Teil von Britisch-Kolumbia, wohin 1863 Tausende von Goldgräbern strömten. Herr Cascabel lief keine Gefahr mehr, seiner kleinen, sozusagen im Schweiße seines Angesichtes erworbenen Ersparnisse, die er in der Tasche seines Überrockes bei sich trug, beraubt zu werden. Der Ankauf einer Handkasse war auch nicht so unumgänglich notwendig zur Sicherung seines Vermögens, wie er behauptete; wenn er trotzdem darauf bestand, so war es in der Voraussicht einer großen Reise durch die Territorien des Far West, die nicht so wohl behütet waren, wie die kalifornische Region, – einer Reise, die ihn nach Europa zurückführen sollte.
Herr Cascabel schritt gemächlich durch die breiten, reinen Straßen der Stadt, vorüber an prächtigen Squares voll schöner, noch unbelaubter Bäume, ebenso elegant als bequem gebauten Gasthöfen und Privathäusern, öffentlichen Gebäuden im angelsächsischen Stile und zahlreichen monumentalen Kirchen, welche der Hauptstadt Kaliforniens ein großartiges Gepräge verleihen. Überall geschäftige Menschen, Kaufleute, Rheder, Industrielle, die einen auf die Ankunft der Schiffe harrend, welche den dem Stillen Ocean zufließenden Strom herauf oder hinabfahren, die anderen den Folsoner Bahnhof belagernd, der seine Züge ins Innere der Bundesstaaten entsendet.
Einen französischen Tusch vor sich hin pfeifend, bog Herr Cascabel in die High-Street ein. In dieser Straße hatte er bereits die Niederlage eines Konkurrenten der berühmten Pariser Kassenfabrikanten Fichet und Huret bemerkt. Hier verkaufte William J. Morlan gute und nicht teuere Ware – wenigstens verhältnismäßig nicht teuer, wenn man sich die übertriebenen Preise aller Dinge in den Vereinigten Staaten von Amerika vor Augen hält.
William J. Morlan war in seiner Niederlage, als Herr Cascabel dort vorsprach.
»Herr Morlan,« sagte er, »ich habe ja die Ehre... Ich möchte eine Handkasse kaufen.«
William J. Morlan kannte Cäsar Cascabel; wer hätte ihn in Sakramento nicht gekannt? Bildete er doch seit drei Wochen das Entzücken der Bevölkerung. So antwortete denn der wackere Fabrikant:
»Eine Handkasse, Herr Cascabel? Gestatten Sie, daß ich Ihnen Glück wünsche...«
»Wieso?«
»Wenn man eine Kasse kauft, so ist das ein Zeichen, daß man ein paar Säcke Dollars aufzubewahren hat.«
»So ist's, Herr Morlan.«
»Nun denn, nehmen Sie diese,« antwortete der Kaufmann, indem er auf eine ungeheure Kasse wies, welche eines Platzes in den Büreaus der GebrüderRothschild oder anderer Banquiers, die gewöhnlich ihr Auskommen haben sollen, würdig gewesen wäre.
»O!... o!... langsam!« rief Herr Cascabel. »Darin könnte ich meine ganze Familie unterbringen!... Allerdings ein wahrer Schatz, diese Familie, aber es handelt sich augenblicklich nicht um ihre Sicherung... Sagen Sie, Herr Morlan, wieviel dürfte dieser ungeheure Behälter wohl fassen?«
»Mehrere Millionen in Gold.«
»Mehrere Millionen?... Dann... werde ich... nochmals vorsprechen... sobald ich die habe... Nein, ich brauche ein sehr solides, feuerfestes Kästchen, das ich unter dem Arme tragen und in einem Winkel meines Wagens unterbringen kann, wenn ich reise.«
»Ich habe etwas Passendes für Sie, Herr Cascabel.«
Und der Fabrikant zeigte ihm eine kleine, mit einem Sicherheitsschlosse versehene Handkasse, welche höchstens zwanzig Pfund wog und im Innern wie die in Bankhäusern gebräuchlichen Geld- oder Dokumentenkassen eingerichtet war.
»Dazu ist sie feuerfest,« bemerkte Herr William J. Morlan, »und garantiert laut Faktura.«
»Vortrefflich, vortrefflich!« versetzte Herr Cascabel. »Ich bin damit zufrieden, wenn Sie mir für das Schloß stehen!...«
»Kombinationsverschluß,« sagte der Fabrikant. »Vier Buchstaben.. ein aus vier Alphabeten zu wählendes Wort, von vier Buchstaben; das läßt gegen viermalhunderttausend Kombinationen zu. Ehe ein Dieb die rechte herausfände, hätte man hunderttausendmal Zeit, ihn zu hängen.«
»Hunderttausendmal, Herr Morlan! Das ist wirklich wunderbar!... Aber der Preis?... Sie begreifen, daß eine Kasse zu teuer ist, wenn ihr Preis die Summe übersteigt, die man hineinthun möchte!«
»Sehr wahr, Herr Cascabel. Ich werde sie Ihnen denn auch bloß mit sechs und einem halben Dollar berechnen...«
»Sechs und ein halber Dollar?...« versetzte Cascabel. »Dieser Preis von sechs und einem halben Dollar gefällt mir nicht. Hören Sie, Herr Morlan, man sollte immer mit runden Summen rechnen. Sagen wir fünf Dollars.«
»Meinetwegen, weil Sie es sind, Herr Cascabel.«
Als der Handel geschlossen und der Preis bezahlt war, erbot William J. Morlan sich, dem Gaukler die Kasse in seine Wagenwohnung zu senden, damit er sie nicht selber zu tragen brauche.
»Gehen Sie doch, Herr Morlan! Ein Mann wie Ihr ergebenster Diener, der mit vierzigpfündigen Gewichten hantiert!«
»He! he!... Was wiegen Ihre vierzigpfündigen Gewichte genau?« fragte Herr Morlan lachend.
»Genau fünfzehn Pfund, aber sagen Sie's nicht weiter!« erwiderte Herr Cascabel.
Damit schieden William I. Morlan und er ganz entzückt von einander.
Eine halbe Stunde später langte der glückliche Handkassenbesitzer in seinem auf dem Cirkusplatze stationierenden Wagen an und stellte dort, nicht ohne eigene Selbstzufriedenheit, »die Kasse des Hauses Cascabel« nieder.
Ah! wie man sie in seiner kleinen Welt bewunderte, diese Kasse! Wie stolz und glücklich die Familie war, sie zu besitzen! Man mußte sie öffnen, man mußte sie wieder schließen. Der junge Xander wäre gern zum Spaß hineingeschlüpft. Aber das war unmöglich; sie war zu eng, um den jungen Xander aufzunehmen!
Was Clou-de-Girofle angeht, so hatte er nie etwas so Schönes gesehen – nicht einmal im Traume.
»Wie das schwer zu öffnen sein muß!« rief er... »wenn es nicht etwa leicht ist, falls das Schloß schlecht sperrt!«
»Du hast nie etwas Richtigeres gesagt,« erwiderte Herr Cascabel.
Dann rief er in jenem befehlenden Tone, der keine Einwendung zuläßt, und mit jenen bezeichnenden Handbewegungen, die kein Zaudern gestatten:
»Vorwärts Kinder, lauft was ihr könnt und kauft alles zu einem königlichen Frühstück ein. Da habt ihr einen Dollar zu eurer Verfügung... Ich traktiere heute!«
Der wackere Mann! Als ob er nicht alle Tage »traktiert« hätte! Aber er liebte Scherze dieser Art, die er mit einem herzhaften Lachen zu begleiten pflegte.
Im nächsten Augenblicke hatten Jean, Xander und Napoleone in Begleitung Clous, der einen großen, zur Aufnahme der Viktualien bestimmten Korb am Arme trug, den Platz verlassen.
»Und nun wir allein sind, Cornelia, laß uns ein wenig überlegen,« sagte Herr Cascabel.
»Was denn, Cäsar?«
»Was?... Ei, welches Wort wir für das Schloß unserer Kasse wählen sollen. Nicht als ob ich den Kindern mißtraute!... Großer Gott, es sind ja wahre Cherubim!... ich mißtraue nicht einmal jenem einfältigen Cloude-Girofle, der die personifizierte Ehrlichkeit ist!... Aber ein solches Wort muß geheim sein.«
»Nimm ein beliebiges Wort,« versetzte Cornelia, »Ich überlasse das dir...«
»Du hast keinen besonderen Wunsch?«
»Nein.«
»Nun denn! ich möchte einen Eigennamen...«
»Ja!... das wäre das Rechte... der deinige, Cäsar.«
»Unmöglich!... Er ist zu lang!... Der Name darf nur vier Buchstaben haben.«
»Dann lasse das »ä« aus!... Das geht ganz gut! Wir können ja doch machen, was wir wollen!«
»Bravo, Cornelia! Das ist ein guter Einfall... einer jener Einfälle, wie sie dir häufig kommen, liebe Frau. Aber wenn wir uns schon entschließen, Buchstaben auszulassen, so lasse ich lieber gleich vier von deinem Namen aus.«
»Von meinem Namen?...«
»Ja!... Und nehme das Ende davon... elia. Ich finde das sogar vornehmer!«
»Ah!... Cäsar!«
»Es wird dir doch Vergnügen machen, deinen Namen am Schlosse unserer Kasse zu wissen?«
»Ja, da er bereits in deinem Herzen ist!...« antwortete Cornelia mit ebensoviel Nachdruck als Zärtlichkeit.
Und voller Freude gab sie ihrem wackeren Manne einen herzhaften Kuß.
So kam es denn, daß infolge dieser Kombination niemand, der das Wort Elia nicht kannte, je im stande sein würde, die Kasse der Familie Cascabel zu öffnen.
Eine halbe Stunde später kamen die Kinder mit dem Eingekauften zurück: appetitlich aufgeschnittenem Schinken und Pökelfleisch und einigen jener erstaunlichen Gemüse, welche die kalifornische Vegetation aufweist, buschartigen Kohlköpfen, melonengroßen Erdäpfeln und gelben Rüben, die einen halben Meter lang waren und, wie Herr Cascabel zu sagen liebte, »sich höchstens mit denen vergleichen könnten, welche man ausreißt, ohne die Mühe des Anbauens gehabt zu haben.« Was die Getränke betrifft, so hat man höchstens die Qual der Wahl unter den mannigfaltigen Genüssen, welche Natur und Kunst den amerikanischen Kehlen anbieten. Diesmal sollten alle, abgesehen von einer Kanne schäumenden Bieres, teil an einer seinen Flasche Sherry zum Dessert haben.
Von Clou, ihrem gewöhnlichen Gehilfen, unterstützt, hatte Cornelia das Frühstück im Handumdrehen bereitet. Man deckte den Tisch in der zweiten Abteilung des Wagens, dem sogenannten Wohnzimmer, dessen Temperatur durch den in der ersten Abteilung befindlichen Küchenherd auf gehöriger Höhe erhalten wurde. Wenn Vater, Mutter und Kinder an jenem Tage – wie übrigens alle Tage – mit bemerkenswertem Appetit aßen, so war das durch die Umstände mehr als gerechtfertigt.
Nach der Mahlzeit schlug Herr Cascabel den feierlichen Ton an, in welchem er seine Reden an das Publikum zu halten pflegte, und sprach sich folgendermaßen aus:
»Morgen, Kinder, verlassen wir die edle Stadt Sakramento mitsamt ihren wackern Einwohnern, die wir nur loben können, ob ihre Farbe nun rot, schwarz oder weiß sei. Aber Sakramento liegt in Kalifornien, und Kalifornien liegt in Amerika, und Amerika liegt nicht in Europa. Und Vaterland bleibt denn doch Vaterland, und Europa ist Frankreich, und es ist Zeit, daß Frankreich uns wieder ›in seinen Mauern‹ sehe, nachdem wir so viele Jahre lang von dort abwesend waren. Haben wir ein Vermögen erworben? Eigentlich nicht! Indessen besitzen wir eine gewisse Anzahl von Dollars, die sich in unserer Handkasse recht gut ausnehmen werden, wenn wir sie erst in französisches Gold oder Silbergeld umgesetzt haben. Ein Teil dieser Summe wird uns die Überfahrt über den Atlantischen Ocean auf einem jener schnellen Schiffe ermöglichen, welche die dreifarbige Flagge tragen, die Farbe, die Napoleon einst von Hauptstadt zu Hauptstadt spazieren führte.... Auf deine Gesundheit, Cornelia!«
Frau Cascabel verneigte sich angesichts dieser Freundschaftsbezeigung, welche ihr Gatte ihr häufig erwies, als wolle er ihr auf diese Weise dafür danken, daß sie ihm alkideisch herkulische Helden in seinen Kindern geschenkt habe.
Dann fuhr er fort:
»Ich trinke auch auf eine glückliche Reise für uns. Mögen günstige Winde unsere Segel blähen!«
Er hielt inne, um jedermann ein letztes Gläschen von seinem vorzüglichen Sherry einzuschenken.
»Aber vielleicht meinst du, Clou, daß unsere Kasse nach Deckung der Reisekosten leer bleiben werde?...«
»Nein, Herr Direktor... wenn nicht etwa die Preise der Dampfschiffe im Vereine mit den Preisen der Eisenbahnen...«
»Eisenbahnen, Railroads wie die Yankees sagen!« rief Herr Cascabel. »Aber, du naives und unverständiges Wesen, wir werden ja keine Eisenbahnen benützen! Ich gedenke die Transportkosten von Sakramento nach Newyork zu ersparen, indem ich den Weg in unserem rollenden Hause zurücklege! Einige hundert Meilen werden doch wohl die Familie Cascabel nicht erschrecken, welche daran gewöhnt ist, durch die Welt zu bummeln!«
»Gewiß nicht!« stimmte Jean bei.
»Und welche Freude es für uns sein wird, Frankreich wiederzusehen!« rief Frau Cascabel.
»Unser Frankreich, Kinder,« fuhr Herr Cascabel fort, »das ihr nicht kennt, weil ihr in Amerika geboren seid; unser schönes Frankreich, das ihr endlich kennen lernen werdet! Ach, Cornelia, welch ein Vergnügen für dich, die Provençalin, und für mich, den Normannen, nach zwanzigjähriger Abwesenheit!«
»Ja, Cäsar, ja!«
»Siehst du, Cornelia, wenn man mir jetzt ein Engagement anböte, und wäre es selbst am Theater des Herrn Barnum, ich würde es ausschlagen! Unsere Rückkehr verschieben, niemals!... Eher ginge ich auf den Händen zurück!... Wir sind eben vom Heimweh befallen und das kann man nur durch die Rückkehr ins Vaterland kurieren... Ich kenne kein anderes Heilmittel dafür!«
Cäsar Cascabel sprach die Wahrheit. Seine Frau und er hatten nur mehr einen Gedanken: nach Frankreich zurückzukehren; und welche Befriedigung, in der Lage dazu zu sein, nachdem es nicht an Geld mangelte!
»Also machen wir uns morgen auf den Weg!« sagte Herr Cascabel.
»Und vielleicht wird das unsere letzte Reise sein!« antwortete Cornelia.
»Cornelia,« versetzte ihr Mann mit Würde, »ich kenne nur eine letzte Reise, diejenige, zu welcher Gott keine Retourkarten ausgiebt!«
»Wohl, Cäsar, aber werden wir uns nicht vor dieser Reise ausruhen, wenn wir ein Vermögen erworben haben?«
»Uns ausruhen, Cornelia? Niemals! Ich mag kein Vermögen, wenn dasselbe uns dem Müßiggange entgegenführt. Glaubst du denn, daß du das Recht besitzest, die Fähigkeiten unbenützt zu lassen, mit welchen die Natur dich so reichlich ausgestattet hat? Meinst du, ich könnte mit den Händen im Schoße leben und die Geschmeidigkeit meiner Gelenke gefährden? Soll Jean seine equilibristischen Übungen einstellen, Napoleone ihr Seiltanzen mit und ohne Balancierstange aufgeben, Xander nicht mehr auf dem Gipfel der lebenden Pyramide figurieren und Clou selber sein halbes Dutzend Ohrfeigen per Minute nicht mehr zur größten Belustigung des Publikums einheimsen? Nein, Cornelia! Sage mir, daß die Sonne im Regen erlöschen, daß das Meer von den Fischen ausgetrunken werden wird, aber sage mir nicht, daß die Stunde der Ruhe je für die Familie Cascabel schlagen könnte!«
Und jetzt waren nur noch die Vorbereitungen zu treffen, um sich anderen Tages, sobald die Sonne am Horizont von Sakramento erscheinen würde auf den Weg zu machen.
Man that dies im Laufe des Nachmittags. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß man die berühmte Handkasse in einem sichern Winkel der innersten Wagenabteilung unterbrachte.
»Auf diese Weise,« sagte Herr Cascabel, »können wir sie Tag und Nacht hüten!«
»Das war entschieden eine gute Idee von dir, Cäsar,« antwortete Cornelia, »und es ist mir nicht leid um das Geld, welches diese Kasse gekostet hat.«
»Sie ist vielleicht etwas klein, liebe Frau, aber wir werden eine größere kaufen... sobald unser Schatz wächst!«
Cascabel!... Ein in den fünf Weltteilen »und anderwärts« bekannter und sogar berühmter Name, sagte stolz der Mann. der diesen Namen so ehrenvoll trug.
Cäsar Cascabel, gebürtig aus Pontorson inmitten der Normandie, war in allen Kniffen des Normannenlandes wohlbewandert. Aber so schlau und geschickt er auch sein mochte, er war ein ehrlicher Mensch geblieben und man würde unrecht thun, ihn unter die Mitglieder der gewöhnlichen Marktschreiergilde zu zählen. Als Familienvater machte er durch seine persönlichen Tugenden die Niedrigkeit seiner Herkunft und die Unregelmäßigkeiten seines Berufes wett.
Zu jener Zeit war Herr Cascabel so alt wie er aussah, fünfundvierzig Jahre, nicht mehr und nicht weniger. Zu einem unsteten Leben geboren, hatte er keine andere Wiege als das Hausierbündel gekannt, welches sein Vater auf den Messen und Märkten der normännischen Provinz umherschleppte. Seine Mutter war, kurz nachdem er das Licht der Welt erblickt hatte, gestorben, und als er einige Jahre später seinen Vater verlor, wurde er sehr zur rechten Zeit von einer wandernden Gauklerbande aufgenommen. Dort verbrachte er seine Jugend mit Purzelbäumen, Verrenkungen und gefährlichen Sprüngen, den Kopf nach unten, die Beine in der Luft. Dann wurde er nach der Reihe Clown, Gymnastiker, Akrobat, Jahrmarktsherkules – bis er sich endlich, als Vater dreier Kinder, zum Direktor jener kleinen Familie emporschwang, die er mit Frau Cascabel, gebornen Cornelia Vadarasse, aus Martigues in der Provence, gegründet hatte.
Intelligent und scharfsinnig, von auffallender Körperkraft und ungewöhnlicher Geschicklichkeit, gaben seine moralischen Eigenschaften seinen physischen nichts nach. Freilich setzt sich an einen rollenden Stein kein Moos an, aber er reibt sich wenigstens an den Unebenheiten der Straßen, er glättet sich, er schleift seine Kanten ab, er wird rund und glänzend. So hatte Cäsar Cascabel sich denn auch während fünfundvierzig Jahren des Rollens so gründlich gerieben, geschliffen und abgerundet, daß er das Leben durch und durch kannte und sich über nichts mehr wunderte. Da er Europa von Jahrmarkt zu Jahrmarkt durchzogen und sich sowohl in Amerika als auch in den holländischen und spanischen Kolonieen akklimatisiert hatte, verstand er so ziemlich alle Sprachen und war derselben mehr oder weniger mächtig, »sogar derjenigen, die er nicht konnte«, wie er zu sagen pflegte, denn er stand nicht an, sich durch Gesten verständlich zu machen, wenn ihm die Worte ausgingen.
Cäsar Cascabel war etwas über Mittelgröße gewachsen, – breite Brust, sehr geschmeidige Glieder, Gesicht mit etwas vorstehenden Kinnbacken (was auf Energie deutet), kräftiger Kopf mit struppigem Haar, von den Wettern und Sonnengluten aller möglichen Zonen gebräunt, Schnurrbart ohne Spitzen unter einer mächtigen Nase, ein wenig Backenbart auf kupferigen Wangen, blaue, sehr lebhafte, sehr durchdringende, gutmütig blickende Augen, ein Mund, in dem man noch keinen künstlichen Zahn hätte anbringen können, ohne die übliche Zahl von zweiunddreißig zu überschreiten. Vor dem Publikum ein Fréderic Lemaitre mit grandiosen Gesten, phantastischen Posen und hochtrabenden Phrasen, war er im Privatleben sehr einfach, sehr natürlich, und betete seine Familie an.
Von äußerst robuster Gesundheit, war er, wenngleich sein Alter ihm jetzt den Beruf eines Akrobaten untersagte, noch immer bemerkenswert bei den Kraftproduktionen, welche »Muskel erfordern«. Überdies besaß er außerordentliches Talent zu jenem Zweige der Jahrmarktsindustrie, der Bauchrednerei, der Wissenschaft des Engastrymismus, die aus sehr alten Zeiten stammt, da nach Aussage des Bischofs Eustachius die Hexe von Endor nichts anders als eine Bauchrednerin war. So oft er es wollte, stieg ihm die Stimme aus der Kehle in den Bauch hinab. Hätte er allein ein Duett singen können?... O! er hätte sich nicht lange bitten lassen!
Schließlich wollen wir noch zur Vervollständigung seines Porträts erwähnen, daß Cäsar Cascabel eine Schwäche für die großen Eroberer hatte – besonders für Napoleon. Ja, er liebte den Helden des ersten Kaiserreiches ebenso sehr, wie er seine Henker, jene Söhne Hudson Lowes, jene abscheulichen John Bulls, haßte. Napoleon, das war »ein Mann für ihn«! Er hatte sich denn auch nie vor der Königin von England produzieren wollen, »obgleich sie ihn durch Vermittlung ihres Majordomus darum ersucht hatte«, wie er gern und zwar so häufig erzählte, daß er es schließlich selber glaubte.
Herr Cascabel war kein Cirkusdirektor, kein Franconi, Renz oder Schumann, an der Spitze einer Truppe von Kunstreitern, Kunstreiterinnen, Clowns und Taschenspielern. Nein! ein einfacher Jahrmarktsgaukler, der sich auf den Marktplätzen, bei schönem Wetter unter freiem Himmel, bei Regen in einem Zelte sehen ließ. Bei diesem Gewerbe, dessen bedenklichen Wechselfällen er ein Vierteljahrhundert lang die Stirne geboten, hatte er, wie man weiß, jenes runde Sümmchen erspart, welches jetzt unter einem Kombinationsschlosse verwahrt wurde.
Welche Arbeit, welche Anstrengungen, welches zeitweilige Elend das repräsentierte! Jetzt war das Schwerste überstanden. Die Familie Cascabel bereitete sich zur Rückkehr nach Europa vor. Nachdem sie die Vereinigten Staaten durchzogen, sollte sie sich auf einem französischen oder amerikanischen – nur keinem englischen! – Paketboote einschiffen.
Übrigens war Cäsar Cascabel nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Hindernisse existierten nicht für ihn. Höchstens Schwierigkeiten. Er verstand es, sich durchs Leben zu winden und zu schlagen. Er würde ruhig mit dem Herzog von Danzig, einem der Marschälle seines großen Mannes, gesagt haben:
»Bohrt mir ein Loch, so krieche ich hindurch!«
Und er war in der That schon durch viele Löcher gekrochen!
»Frau Cascabel, geborne Cornelia Vadarasse, eine Vollblut-Provençalin, die unvergleichliche Hellseherin, die Königin der elektrischen Frauen, mit allen Reizen ihres Geschlechtes ausgestattet, mit all den Tugenden geziert, welche einer Familienmutter zur Ehre gereichen, war siegreich aus den großen Wettkämpfen hervorgegangen, zu welchen Chicago die ersten, Athletinnen der Welt' geladen hatte.«
Mit diesen Ausdrücken pflegte Herr Cascabel die Gefährtin seines Lebens vorzustellen. Er hatte sie zwanzig Jahre zuvor in Newyork geheiratet. Hatte er bezüglich dieser Heirat die Meinung seines Vaters eingeholt? Nein! Und zwar erstens, weil sein Vater ihn auch bei der seinigen nicht um seine Meinung befragt hatte, und zweitens, weil der wackere Mann schon damals nicht mehr dieser Welt angehörte. Die Sache hatte sich, das darf man mir glauben, sehr einfach gemacht, ohne all jene präliminären Förmlichkeiten, welche im alten Europa die Vereinigung zweier für einander geschaffener Wesen so ärgerlich verzögern.
Eines Abends, als er sich in der Eigenschaft eines Zuschauers in Barnums Theater auf dem Broadway befand, erstaunte Cäsar Cascabel über die Anmut, die Kraft, die Gewandtheit, welche eine junge französische Akrobatin, Fräulein Cornelia Vadarasse, am Reck entfesselte. Der Gedanke, die Talente dieser anmutigen Künstlerin mit den seinigen zu verbinden, ihre beiden Existenzen zu einer zu verschmelzen, eine künftige Familie kleiner, ihres Vaters und ihrer Mutter würdiger Cascabels zu gründen, lag für den wackeren Gaukler auf der Hand. Während eines Zwischenaktes auf die Bühne stürzen, sich Cornelia Vadarasse vorstellen, ihr mit geziemenden Worten unter Hinweis auf ihre Zusammengehörigkeit als Franzosen einen Heiratsantrag machen, einen im Zuschauerraume anwesenden ehrsamen Clergyman erspähen, denselben ins Foyer schleppen und auffordern, eine so wohl begründete Ehe einzusegnen, das war in dem glücklichen Lande der Vereinigten Staaten Amerikas eine Kleinigkeit. Und sind diese per Dampf geschlossenen Ehen deshalb weniger glückliche Wenigstens sollte die des Cäsar Cascabel mit Cornelia Vadarasse eine der glücklichsten sein, die jemals auf dieser niederen Welt geschlossen worden.
Zur Zeit, wo diese Erzählung ihren Anfang nimmt, zählte Cornelia Vadarasse vierzig Jahre. Sie war schön gewachsen, vielleicht ein klein wenig voll, mit schwarzen Augen und Haaren, lächelndem Munde, und gleich ihrem Manne im Besitze ihrer sämtlichen Zähne. Was ihre ungewöhnliche Kraft betrifft, so hatte man dieselbe bei jenen denkwürdigen Wettkämpfen ermessen können, wo sie »einen Ehren-Chignon« erhalten. Erwähnen wir, daß Cornelia ihren Mann noch wie am ersten Tage ihrer Ehe liebte und ein unerschütterliches Vertrauen in das Genie dieses außerordentlichen Menschen setzte, der eine der merkwürdigsten Typen des Normannenlandes repräsentierte.
Erstgeborner aus dieser Jahrmarktskünstlerehe: Jean, dermalen 19 Jahre alt. Wenn er von Natur aus nicht zu Kraftproduktionen, gymnastischen Leistungen, Clown- und Akrobatenkünsten beanlagt war, so ersetzte er diesen Mangel durch eine erstaunliche Gewandtheit mit den Händen und eine Sicherheit des Blickes, welche ihn zum anmutigsten und elegantesten Taschenspieler machten, der übrigens nicht sehr stolz auf seine Erfolge war. Er war ein sanftes, sinniges Wesen, brünett wie seine Mutter, aber mit blauen Augen. Wißbegierig und zurückhaltend, suchte er sich, wo und wann er konnte, zu unterrichten. Er schämte sich keineswegs des Berufes seiner Eltern, aber er begriff, daß man doch besseres thun könne, als dem Publikum Kunststückchen vormachen, und er gedachte dieses Gewerbe aufzugeben, sobald er in Frankreich sein würde. Aber da er tiefe Zuneigung zu seinen Eltern hegte, beobachtete er in Bezug auf diesen Gegenstand die äußerste Zurückhaltung. Wie sollte er übrigens auch dahin gelangen, sich eine andere Stellung in der Welt zu schaffen?
Zweiter Sohn: Ah, dieser, der Zweitgeborene, der Verrenkungskünstler der Truppe, der war wirklich das logische Produkt der Cascabelschen Verbindung! Zwölf Jahre alt, behend wie eine Katze, geschickt wie ein Affe, flink wie ein Aal, ein kleiner, drei Fuß sechs Zoll hoher Clown, der, wenn man seinem Vater glauben wollte, schon als Säugling den »großen Sprung« gemacht, ein wahrer Gassenjunge an Schelmerei und Possen, von schlagfertigem Witze, aber gut geartet, verdiente er manchmal einen Backenstreich und lachte, wenn er ihn erhielt, da er nie sehr nachdrücklich gegeben wurde.
Man wird bemerkt haben, daß der älteste Cascabel sich Jean nannte. Und weshalb dieser Name? Die Mutter hatte darauf bestanden, zu Ehren eines ihrer Großonkel, eines Marseiller Seemannes, Jean Vadarasse, der von den Karaiben verspeist worden – worauf sie sehr stolz war. Offenbar würde der Vater, welcher das Glück hatte, Cäsar zu heißen, einen anderen, historischeren, besser mit seiner geheimen Bewunderung für Kriegshelden in Einklang stehenden Namen vorgezogen haben.
Aber er hatte seiner Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes nicht entgegen sein wollen und dem Namen Jean zugestimmt, indem er sich vornahm, sich bei der möglichen Ankunft eines weiteren Sprößlings dafür zu entschädigen.
Und so wurde der zweite Sohn Alexander getauft, nachdem er beinahe zu den Namen Hamilkar, Attila oder Hannibal gekommen wäre. Zur vertraulichen Abkürzung aber hieß man ihn Xander.
Nach dem ersten und dem zweiten Knaben hatte die Familie sich um ein kleines Mädchen vermehrt, welches Frau Cascabel gern Hersilla genannt hätte, welches aber zu Ehren des Märtyrers von Sankt Helena den Namen Napoleone erhielt.
Napoleone zählte derzeit acht Jahre. Sie war ein niedliches Kind, welches sehr hübsch zu werden versprach und das Versprechen auch wirklich hielt. Blond und rosig, mit lebhaften und beweglichen Zügen, sehr graziös und sehr geschickt, war sie bereits in alle Geheimnisse des Seiles eingedrungen; ihre Füßchen glitten und trippelten auf dem Drahtseil dahin, als ob das leichte kleine Ding von Flügeln gehalten würde.
Selbstverständlich war Napoleone der verhätschelte Liebling der Familie Alle beteten sie an und sie war auch anbetungswürdig. Ihre Mutter gefiel sich in dem Gedanken, daß Napoleone eines Tages irgend eine glänzende Partie machen werde. Ist dies doch eine der mit dem nomadischen Gauklecleben verknüpften Chancen! Warum sollte Napoleone, wenn sie groß und hübsch geworden, nicht einem Prinzen begegnen, der sich in sie verlieben und sie heiraten würde?
»Wie in den Märchen?« antwortete Herr Cascabel, der positiver angelegt war als seine Frau.
»Nein, Cäsar, wie im Leben.«
»Ach, Cornelia! Die Zeiten sind vorüber, wo Könige Schäferinnen heirateten, und ich weiß auch nicht einmal, ob die Schäferinnen heutzutage einwilligen würden, Könige zu heiraten!«
So war die Familie Cascabel beschaffen, Vater, Mutter und drei Kinder. Vielleicht wäre es, im Hinblick auf gewisse Figuren der lebenden Pyramide, wo die Künstler sich paarweise aufeinander aufbauen, besser gewesen, wenn noch ein vierter Sprößling hinzugekommen wäre. Aber dieser Vierte blieb aus.
Glücklicherweise war Clou-de-Girofle da und durchaus zur Mitwirkung bei erstaunlichen Schaustellungen geeignet.
In der That, Clou ergänzte die Cascabels vorzüglich. Die Truppe war seine Familie. Er gehörte in jeder Hinsicht dazu, obgleich er amerikanischen Ursprungs war. Einer jener armen Teufel, ohne Verwandte, geboren kein Mensch weiß wo – kaum daß sie's selber wissen –, von der Barmherzigkeit großgezogen, vom Zufall ernährt, die gut ausfallen, wenn sie eine gute Natur und angeborene Moral haben, die ihnen gestatten, dem bösen Beispiel und den bösen Einflüsterungen des Elends zu widerstehen.
Und sollte man nicht einiges Mitleid mit diesen Unglücklichen haben, wenn sie, wie es am häufigsten geschieht, auf Abwege geraten oder ein übles Ende nehmen?
Aber letzteres war nicht der Fall bei Ned Harley, dem Herr Cascabel zum Spaß den Spitznamen Clou-de-Girofle gegeben, was in seiner Muttersprache ein artiges Wortspiel zuließ, bei dem die zahlreichen Ohrfeigen, zu deren Entgegennahme während der Vorstellung er engagiert war, die Pointe bildeten.
Vor zwei Jahren, als Herr Cascabel während seiner Rundreise durch die Vereinigten Staaten auf Ned Harley gestoßen, war dieser Unglückliche dem Hungertode nahe gewesen. Die Akrobatentruppe, der er angehört, hatte sich eben nach der Flucht des Direktors aufgelöst. Er spielte dort die »Minstrels«. Ein trauriges Gewerbe, selbst wenn es den ihm Obliegenden halb und halb ernährt! Sich mit Wichse beschmieren, um einen Neger vorzustellen, einen schwarzen Frack und eine schwarze Hofe, eine weiße Weste und weiße Kravatte anlegen und in Gesellschaft von vier bis fünf Parias seines Schlages possenhafte Lieder singen und dazu auf einer lächerlichen Fiedel herumkratzen, welch ein Amt im menschlichen Gemeinwesen! Nun, und um dieses Amt war Ned Harley gekommen; so war er überglücklich, der Vorsehung in Gestalt des Herrn Cascabel in den Weg gelaufen zu sein.
Dieser hatte gerade seinen Gehilfen davongejagt, dem die komischen Rollen in den Paradescenen gewöhnlich zugefallen waren. Sollte man's glauben? Dieser Hanswurst hatte sich für einen Amerikaner ausgegeben, und er war englischen Ursprungs! Ein John Bull in der wandernden Truppe! Ein Landsmann jener Henker, die... Sie kennen ja das Lied. Eines Tages erfuhr Herr Cascabel durch Zufall, welcher Nation der Eindringling angehörte.
»Herr Waldurton,« sagte er zu ihm, »da Sie Engländer sind, so werden Sie sich augenblicklich packen, oder ich werfe Ihnen meinen Stiefel an den Kopf, ein so tüchtiger Hanswurst Sie auch sein mögen!«
Und ein so tüchtiger Hanswurst er auch war, Herr Waldurton würde den Stiefel an die bezeichnete Stelle bekommen haben, wenn er sich nicht eiligst aus dem Staube gemacht hätte.
So kam denn Clou an seine Stelle. Der Ex-minstrel verpflichtete sich zu allem, sowohl zu der Parade auf den Brettern, als auch zur Wartung der Tiere und zu Handleistungen in der Küche, so oft Cornelia derselben bedürfen sollte. Selbstverständlich sprach er französisch, aber mit äußerst prononciertem Accent.
Im ganzen genommen war er ein trotz seiner fünfunddreißig Jahre naiv gebliebener Bursche, ebenso heiter, wenn er das Publikum durch seine drolligen Späße ergötzte, wie er im Privatleben melancholisch war. Er sah die Dinge mehr von ihrer düsteren Seite an, und das war, aufrichtig gesagt, nicht erstaunlich, da er sich kaum zu den Glücklichen dieser Erde zählen konnte Sein spitzer Kopf, das lange, eingefallene Gesicht, das gelbliche Haar, die runden, kindlichen Augen, die unmäßig lange Nase, auf welche er ein halbes Dutzend Brillen setzen konnte – großer Lacheffekt –, die abstehenden Ohren und der magere, von Skelettbeinen getragene Rumpf machten ihn zu einem bizarren Wesen. Übrigens pflegte er sich nicht zu beklagen, wenn nicht etwa, – dies »wenn nicht etwa« war die Verwahrungsformel, die er seinen Äußerungen anzuhängen pflegte – das Schicksal ihm Anlaß zu Klagen gab. Schließlich hatte er sich seit seinem Dienstantritte bei den Cascabels sehr an diese Familie gewöhnt, die ihrerseits ihren Clou-de-Girofle nicht mehr zu entbehren vermocht hätte.
So war das, wenn man sich so ausdrücken darf, menschliche Element dieser Gauklertruppe beschaffen.
Das tierische Element vertraten zwei wackere Hunde, ein Wachtelhund, sehr tüchtig auf der Jagd, sehr zuverlässig als Hüter des rollenden Hauses, und ein Pudel, gelehrt und geistreich, zum Mitglied der französichen Akademie bestimmt, sobald es eine französische Akademie für Hunde geben wird.
Nach den zwei Hunden geziemt es sich, dem Publikum einen kleinen Affen vorzustellen, der es im Grimassenwettstreit so erfolgreich mit Clou selber aufnehmen konnte, daß die Zuschauer in großer Verlegenheit gewesen wären, zu entscheiden, welchem von beiden der Preis gebühre. Des weiteren gab es einen Papagei, Jako, auf Java zu Hause, der dank der Lektionen seines Freundes Xander zehn Stunden von zwölfen hindurch sprach, plapperte, sang und schrie. Schließlich sind noch zwei Pferde zu erwähnen, zwei brave alte Gäule, welche den Jahrmarktswagen zogen; der Himmel weiß, daß ihre mit dem Alter etwas steif gewordenen Beine manche Meile Weges zurückgelegt hatten!
Und man will wissen, wie diese beiden trefflichen Tiere sich nannten? Das eine hieß Vermout, wie der Sieger des Herrn Delamarre, das andere Gladiator, wie der Sieger des Grafen v. Lagrange. Ja sie trugen diese auf dem französischen Turf berühmten Namen, ohne daß es ihnen je in den Sinn gekommen wäre, sich für denGrand Prix de Paris nennen zu lassen.
Was die beiden Hunde betrifft, so hörte der Wachtelhund auf Wagram, der Pudel auf Marengo, und man wird unschwer erraten, welchem Paten sie diese historisch berühmten Namen verdankten.
Der Affe aber war John Bull getauft worden – ganz einfach wegen seiner Häßlichkeit.
Was wollen Sie? Man muß Herrn Cascabel diese Manie nachsehen, die ihren Ursprung schließlich in einem sehr verzeihlichen Patriotismus hatte – verzeihlich selbst in einer Epoche, wo derartige Sympathien keine eigentliche Existenzberechtigung mehr besitzen.
»Wie sollte man,« sagte er manchmal, »nicht den Mann vergöttern, der inmitten eines Kugelregens rief: Folgt meinem weißen Helmbusch, ihr werdet ihn immer u. s. w.!«
Und als man ihm einmal bemerkte, daß diese schönen Worte von Heinrich IV. herrührten, antwortete er:
»Möglich; aber Napoleon wäre ganz im stande gewesen, einen solchen Ausspruch zu thun.«
Wie viele Leute nicht schon von einer nach Art der Gaukler in einem Coach-House gemachten Reise geträumt haben! Sich weder um die Hotels noch um die Schenken, die unzuverlässigen Betten oder die noch unzuverlässigere Küche kümmern zu müssen, wenn es sich darum handelt, ein kaum mit Flecken oder Dörfern besäetes Land zu durchstreifen! Was reiche Liebhaber gewöhnlich an Bord ihrer Vergnügungs-Yachten mit allen Vorteilen des beweglichen Heims ausführen, das haben wenige mittels eines Wagens ad hoc vollbracht. Und dennoch, ist der Wagen nicht das gehende Hauss Warum sind die Jahrmarktsbesucher die einzigen, welche den Genuß der »Navigation auf terra firma« kennen?
In der That ist der Wagen des Gauklers eine vollständige Wohnung mit Zimmern und Möbeln, ein rollendes »Heim«, und derjenige des Cäsar Cascabel entsprach den Anforderungen eines Nomadenlebens vollkommen.
Die Belle-Roulotte – denn der Wagen hatte seinen Namen so gut wie irgend ein normännischer Schoner, und Sie können mir glauben, daß er demselben auf seinen vielen verschiedenen Wanderungen durch die Vereinigten Staaten Ehre machte – die Belle-Roulotte war vor kaum drei Jahren von den ersten Ersparnissen der Familie angekauft worden und ersetzte seitdem den alten, mit einem einfachen Plan bedeckten und jeglicher Feder entbehrenden Leiterwagen, welcher der ganzen Truppe solange als Wohnung gedient. Da Herr Cascabel nun schon über zwanzig Jahre auf den Messen und Märkten der Union einherzog, ist es selbstverständlich, daß sein Gefährt amerikanischen Ursprungs war.
Die Belle-Roulotte ruhte auf vier Rädern. Mit guten stählernen Federn versehen, verband sie Leichtigkeit mit Solidität. Sorgfältig gehalten, abgeseift, gerieben, gewaschen, ließ sie ihre grellfarbigen Wände glänzen, wo Goldgelb sich angenehm mit Scharlachrot verband, um den Blicken die bereits berühmte GesellschaftsfirmaCäsar Cascabel darzubieten. Vermöge ihrer Länge hätte sie mit jenen Chariots wetteifern können, welche noch jetzt die Prairien des Far West befahren, dort, wo der Great-Trunk, die Eisenbahn von Newyork nach San Francisco, noch keine seiner Zweiglinien projektiert hat. Offenbar konnten zwei Pferde dieses schwere Gefährt nur im Schritt ziehen. Die Last war in der That eine bedeutende. Abgesehen von ihren Bewohnern, trug die Belle-Roulotte auf ihrer oberen Galerie die Zeltleinwand mit Stangen und Seilen, und dann einen unter dem Wagengestell befestigten Hängekorb, der verschiedene Gegenstände, große Trommel, Handtrommel, Klapphorn, Posaune und andere Geräte und Requisiten enthielt, welche geradezu als die Werkzeuge des Gauklers zu betrachten sind. Verzeichnen wir auch die Kostüme zu einer berühmten Pantomime, »Die Räuber des Schwarzwaldes«, welche auf dem Repertoire der Familie Cascabel figurierte.
Die innere Einrichtung war durchaus zweckmäßig und dank Cornelien, welche in dieser Hinsicht keinen Spaß verstand, selbstverständlich von tadelloser, von vlamländischer Reinlichkeit.
Am äußersten Ende des Wagens befand sich eine mit Fenstern versehene Schiebthür, welche die erste, durch den Küchenherd geheizte Abteilung verschloß. Dann kam ein Wohn- oder Speisezimmer, in welchem die Wahrsagerei betrieben wurde; hierauf ein erstes Schlafzimmer, mit gleich den Schiffskojen über einander angebrachten Lagerstätten, wo, durch einen Vorhang getrennt, links die kleine Schwester, rechts die beiden Brüder schliefen; endlich, ganz vorn, die Stube des Herrn und der Frau Cascabel, in welcher die berühmte Handkasse neben dem mit dicken Matratzen und bunter gesteppter Decke belegten Bette einen Platz gefunden. In allen Ecken waren Bretter angebracht, die man aufstellen und herablassen und als Arbeits- oder Toilettentische benützen konnte, und schmale Schränke, in denen man die Kostüme, Perücken und Masken der Pantomime verwahrte. Das Ganze wurde von zwei Petroleumlampen erhellt, zwei echten Schiffslampen, welche auf unebenen Wegen zu balancieren verstanden; überdies ließ ein halbes Dutzend kleiner Fenster, deren Scheiben in Blei gefaßt und deren leichte Musselinvorhänge von bunten Bändern gehalten waren, das Tageslicht in die verschiedenen Abteilungen dringen und gab der Belle-Roulotte das Gepräge eines holländischen Flußschiffes.
Anspruchslos von Natur, schlief Clou-de-Girofle in der ersten Abteilung, in einer Hängematte, die er abends zwischen den beiden Seitenwänden aufspannte, und beim ersten Morgengrauen wieder herabnahm.
Bleibt noch zu erwähnen, daß die beiden Hunde Wagram und Marengo, in ihrer Eigenschaft als Nachtwächter, in dem Hängekorb unter dem Wagen schliefen, woselbst sie die Gegenwart des Affen John Bull trotz seiner ungestümen Natur und seiner Neigung zu mutwilligen Streichen duldeten; und daß der Papagei Jako in einem in der zweiten Abteilung hängenden Käfig untergebracht war.
Was die beiden Pferde, Gladiator und Vermout, betrifft, so hatten sie volle Freiheit, in der Umgebung der Belle-Roulotte zu grasen, ohne daß man ihnen Spannstricke anzulegen brauchte. Und wenn sie das Gras jener weiten Prairien abgeweidet hatten, wo der Tisch stets gedeckt und das Lager stets bereitet ist, konnten sie sich auf dem Boden, der sie genährt, zur Ruhe legen.
Und das ist gewiß, daß die Belle-Roulotte vermöge der Flinten und Revolver ihrer Inwohner und der sie bewachenden Hunde nachts die vollste Sicherheit gewährte.
So war dieser Familienwagen beschaffen. Wie viele, viele, zahllose Meilen durch die Union, von Newyork bis Albany, vom Niagara bis Buffalo, Saint Louis, Philadelphia, Boston, Washington, längs des Mississippi bis New-Orleans, längs des Great-Trunk bis zu den Rocky-Mountains, ins Mormonenland und ins Innerste von Kalifornien er seit drei Jahren zurückgelegt hatte! Hygienische Reisen, wenn es je welche gegeben! Denn kein Mitglied der kleinen Truppe war jemals krank gewesen – mit Ausnahme von John Bull, dessen Indigestionen ebenso häufig waren, wie sein Instinkt ihm zur Befriedigung seiner unglaublichen Naschhaftigkeit verhalf.
Und welche Freude es sein würde, diese Belle-Roulotte nach Europa zu bringen, auf den Landstraßen des alten Festlandes umherzufahren! Welch sympathische Neugierde dieselbe auf der Fahrt durch Frankreich, durch die ländlichen Gegenden der Normandie erregen würde! Ah! Frankreich wiedersehen, »seine Normandie wiedersehen«, wie in dem berühmten Liede von Bérat dahin ging alles Denken, alles Sehnen Cäsar Cascabels!
Einmal in Newyork angelangt, mußte das Gefährt zerlegt, eingepackt und an Bord eines nach Havre gehenden Paketbootes geschafft werden; dann brauchte man es nur wieder zusammenzustellen, um die Reise nach der Hauptstadt darin anzutreten.
Wie ungeduldig Herr Cascabel, seine Frau, seine Kinder und ohne Zweifel auch ihre vierfüßigen Gefährten, oder besser gesagt, ihre vierfüßigen Freunde, die Stunde der Abreise erwarteten! So verließen sie denn den großen Platz von Sakramento beim ersten Morgengrauen am 15. Februar, die einen zu Fuß, die andern im Wagen, jeder nach eigenem Gutdünken.
Die Luft war noch sehr frisch, aber das Wetter war schön. Selbstverständlich hatte man sich nicht ohne Zwieback, das heißt ohne verschiedene Fleisch- und Gemüsekonserven, eingeschifft. Übrigens würde man sich in den Städten und Dörfern neuerdings verproviantieren können. Und dann gab es ja Wild; sind doch Büffel, Damhirsche, Hafen und Rebhühner in diesen Gegenden reichlich vertreten! Und würde Jean sich's doch nicht versagen, seine Flinte zu nehmen und gehörigen Gebrauch davon zu machen, da die Jagd auf den weiten Prairien des Far West weder verboten, noch ein Erlaubnisschein dazu erforderlich ist! Jean war nämlich ein geschickter Schütze und der Wachtelhund Wagram zeichnete sich vor dem Pudel Marengo durch die Jagd betreffende Eigenschaften ersten Ranges aus.
Als sie Sakramento verließ, schlug die Belle-Roulotte eine nordöstliche Richtung ein. Es handelte sich darum, die Grenze auf dem kürzesten Wege zu erreichen und die Sierra Nevada etwa zweihundert Kilometer weit bis zum Senora-Passe zu überschreiten, welcher den Zutritt zu den endlosen Ebenen des Ostens vermittelt.
Es war noch nicht der eigentliche Far West, wo man nur in weiten Zwischenräumen auf einen kleinen Flecken stößt; es war nicht die Prairie mit ihren fernen Horizonten, ihren weiten Wüstenstrecken, ihren indianischen Nomaden, welche die Civilisation allmählich gegen die minder besuchten Regionen Nordamerikas zurückdrängt. Schon in nächster Nähe von Sakramento wurde die Gegend hügelig. Man spürte die Ausläufer der Sierra, die mit ihren von schwarzen Tannen beschatteten, hier und da von fünftausend Meter hohen Spitzen überragten Bergketten einen herrlichen Rahmen um Alt-Kalifornien zieht. Es ist eine grüne Grenze, welche die Natur jener Gegend gegeben, wo sie soviel, jetzt von der menschlichen Habgier entführtes Gold aufgespeichert hatte. Der von der Belle-Roulotte eingeschlagene Weg berührte selbstverständlich die bedeutenden Städte Jackson, Mocquetenne, Placerville, guter berühmte Vorposten von Eldorado und Calaveras. Aber Herr Cascabel hielt sich dort nur eben lange genug auf, um einige Einkäufe zu besorgen, oder sich hin und wieder eine ruhigere Nacht zu gönnen. Er hatte Eile, die Berge der Nevada, das Land um den großen Salzsee und den ungeheuren Wall der Rocky-Mountains zu überschreiten, wo sein Gespann keine leichte Aufgabe haben würde. Hernach würde der Wagen bis zum Erie- oder Ontariosee nur mehr die von den Pferdehufen und Chariots der Karawanen durch die Prairie gebahnten Wege zu verfolgen brauchen.
Indessen kam man auf diesen gebirgigen Gebieten nicht rasch vorwärts. Die Reise verzögerte sich durch unvermeidliche Umwege. Überdies hatte die letzte Kälte des Winters ihre volle Schärfe bewahrt, obgleich diese Gegend unter dem achtunddreißigsten Breitegrad liegt, demselben, der in Europa Sizilien und Spanien durchschneidet. Bekanntlich ist das Klima Nordamerikas infolge der Entfernung des Golfstromes – jener warmen Strömung, die sich nach ihrem Austritte aus dem Golf von Mexiko in schräger Richtung gegen Europa hinzieht – unter derselben Breite ungleich kälter, als das des alten Festlandes. Aber noch einige Wochen und Kalifornien würde wieder jenes vor allen anderen freigebige Land, jene fruchtreiche Mutter geworden sein, wo jedes Getreidekorn sich verhundertfacht, wo die verschiedenartigsten Produkte der tropischen und der gemäßigten Zone, Zuckerrohr, Reis, Tabak, Orangen, Oliven, Citronen, Ananas und Bananen sich im Überflusse vereinen.
Es ist nicht das Gold, welches den Reichtum des kalifornischen Bodens bildet, sondern die aus ihm emporsprießende außerordentliche Vegetation.
»Wir werden uns nach diesem Lande zurücksehnen,« sagte Cornelia, die nicht gleichgültig gegen Küchenfreuden war.
»Näscherin!« versetzte Herr Cascabel.
»O, es ist nicht meinetwegen, sondern der Kinder wegen!«
Mehrere Tage zogen sie längs der Wälder durch die grünenden Prairien dahin. So zahlreich auch die sich davon nährenden Wiederkäuer sein mochten, es gelang ihnen nicht, den Grasteppich abzunützen, den die Natur dort unaufhörlich erneut. Man kann die vegetabilische Kraft jenes kalifornischen Gebietes nicht genug betonen, welchem kein anderes vergleichbar ist. Es ist die Kornkammer des Stillen Oceans, und die Handelsflotten, die seine Produkte exportieren, vermögen es nicht zu erschöpfen. Die »Belle-Roulotte« hielt ihre gewohnte Fahrgeschwindigkeit inne, durchschnittlich sechs bis sieben Meilen pro Tag – nicht mehr. In dieser Weise hatte sie ihr Personal bereits in sämtlichen Bundesstaaten umhergeführt, wo der Name Cascabel von den Mississippimündungen bis Neu-England so vorteilhaft bekannt war. Damals hatte man freilich in jeder Stadt der Union Halt gemacht, um Einnahmen zu erzielen. Jetzt auf dieser Reise von Westen nach Osten, handelte es sich nicht mehr darum, die Bevölkerungen in Erstaunen zu setzen. Diesmal galt es keine artistische Rundreise, sondern die Rückkehr ins alte Europa, mit normännischen Gehöften am Horizont.
Die Fahrt ging so lustig von statten, daß manches feststehende Haus dies rollende um das darin enthaltene Glück beneiden konnte. Man lachte, man sang, man scherzte, und manchmal jagte das Klapphorn, mit dem der junge Xander wohl umzugehen wußte, die Vögel in die Flucht, die ebenso geschwätzig wie diese fröhliche Familie waren.
Das war nun alles recht schön und gut, aber Reisetage brauchen nicht notwendigerweise Ferientage zu sein.
»Kinder,« sagte Herr Cascabel wiederholt, »man darf sich darum doch nicht einrosten lassen!«
Und wenn man Halt machte, um dem Gespann Ruhe zu gönnen, so rastete die Familie nicht. Mehr als einmal eilten die Indianer herbei, um Jean seine Taschenspielerstückchen probieren, Napoleone einige anmutige Pas ausführen, Xander sich wie ein Kautschukwesen verrenken, Herrn Cascabel bauchrednerische Effekte erzielen und Frau Cascabel Kraftübungen anstellen zu sehen, derweil Jako in seinem Käfig plapperte, die Hunde zusammen arbeiteten und John Bull sich in Grimassen erschöpfte.
Bemerken wir indessen, daß Jean seine Studien unterwegs nicht vernachlässigte. Er las wiederholt die wenigen Bücher, aus welchen die Bibliothek der Belle-Roulotte bestand: ein wenig Geographie und Arithmetik und verschiedene Reisebeschreibungen; er führte auch ein »Logbuch«, in welchem er die Zwischenfälle der Navigation in äußerst anziehender Weise aufzeichnete.
»Du wirst zu gelehrt werden!« sagte sein Vater manchmal zu ihm. Aber schließlich, wenn du Geschmack daran findest!...«
Und Herr Cascabel hütete sich, die Instinkte seines Erstgeborenen anzufeinden. Im Grunde waren seine Frau und er sehr stolz darauf, einen »Gelehrten« in der Familie zu haben.
Am Nachmittage des siebenundzwanzigsten Februar langte die »Belle-Roulotte« vor den Engpässen der Sierra Nevada an. Vier bis fünf Tage hindurch würde die schwierige Übersteigung der Bergkette große Anstrengungen verursachen. Es würde eine harte Aufgabe für Menschen und Tiere sein, die Abhänge zu ersteigen. Man würde sich auf den engen, geschlängelten Wegen, welche die Flanken der ungeheuren Schranke umwinden, gegen die Räder stemmen müssen. Obleich das Wetter sich unter den frühzeitigen Einwirkungen des kalifornischen Frühlings fortwährend milder gestaltete, würde das Klima doch auf einer gewissen Höhe noch ziemlich rauh sein. Nichts Furchtbareres als die Regengüsse, die entsetzlichen Schneewehen, die wütenden Windstöße am Eingang der Schluchten, wo der Sturm sich wie in einem Trichter fängt. Überdies ragen die oberen Pässe in die Zone des ewigen Schnees hinein und man muß nicht weniger als zweitausend Meter emporklimmen, bevor man jenseits in das Land der Mormonen hinabsteigen kann.
Übrigens gedachte Herr Cascabel dasjenige zu thun, was er schon früher bei ähnlichen Anlässen gethan: er würde in den Dörfern oder Gehöften des Gebirges Aushilfspferde und Männer, Indianer oder Amerikaner, zu deren Führung mieten. Das würde ohne Zweifel eine Mehrausgabe bilden, aber es war eine Notwendigkeit, wenn die Familie ihr eigenes Gespann nicht dienstunfähig machen wollte.
Am Abend des siebenundzwanzigsten war der Sonora-Paß erreicht. Die bisher durchzogenen Thäler hatten nur unbedeutende Terrainschwierigkeiten geboten und Vermout und Gladiator hatten dieselben denn auch ohne allzu große Anstrengungen überwunden; aber der gegenwärtigen Aufgabe wären sie nicht einmal unter Mithilfe des ganzen Personals gewachsen gewesen.
In kurzer Entfernung von einem in den Schluchten der Sierra versteckten Dörfchen wurde Halt gemacht. Es bestand nur aus wenigen Häusern und einem auf doppelte Schußweite gelegenen Gehöfte, in welches Herr Cascabel noch denselben Abend zu gehen beschloß. Er wollte für den folgenden Tag Vorspann bestellen, welcher Vermout und Gladiator willkommen sein würde.
Vor allem mußte man Vorkehrungen treffen, um die Nacht an dieser Stelle zu verbringen.
Sobald das Lager gewohnheitsgemäß organisiert worden, setzte man sich mit den Einwohnern des Dörfchens in Verbindung, welche gern bereit waren, Menschen und Tiere mit frischer Nahrung zu versehen.
An jenem Abend war keine Rede vom »Repetieren« der Übungen. Alle waren am Ende ihrer Kräfte nach dem schweren Tage, denn man hatte einen großen Teil des Weges zu Fuß zurücklegen müssen, um das Gespann zu schonen. Herr Cascabel gestattete denn auch eine vollständige Ruhe, welche auf den ganzen Nevada-Übergang ausgedehnt werden sollte.
Nachdem Herr Cascabel das Lager mit Herrscherblick gemustert, ließ er die Belle-Roulotte in der Obhut seiner Frau und Kinder zurück und schlug, von Clou begleitet, den Weg zu dem Gehöfte ein, dessen Schornsteine man durch die Bäume hindurch rauchen sah.
Jenes Gehöft war von einem Kalifornier und dessen Familie bewohnt, die den Gaukler gut aufnahmen. Der Landwirt verpflichtete sich, ihm am folgenden Tage drei Pferde und zwei Führer zur Verfügung zu stellen. Letztere sollten die Belle-Roulotte an die Stelle geleiten, wo die Abhänge sich gegen Osten zur Ebene hinabsenken; von dort würden sie mit dem Vorspann zurückkehren. Nur würde das einen hübschen Preis kosten.
Herr Cascabel erörterte diesen Preis als ein Mann, der sein Geld nicht zum Fenster hinauszuwerfen wünscht, und verstand sich schließlich zu einer Summe, welche den für diesen Teil der Reise bestimmten Kredit nicht überstieg.
Am folgenden Morgen um 6 Uhr erschienen die beiden Männer, und ihre drei Pferde wurden vor Vermout und Gladiator gespannt. Die Belle-Roulotte setze sich in Bewegung und bog in eine enge, stark bewaldete Schlucht ein. Gegen 8 Uhr waren jene wunderbaren Länderstrecken Kaliforniens, welche die Familie nicht ohne ein gewisses Bedauern verließ, an einer der Krümmungen des Engpasses vollständig hinter den Bergmassen der Sierra verschwunden.
Die drei Pferde des Landwirtes waren solide Tiere, auf die man schon bauen konnte. War das auch mit ihren Führern der Fall? Das schien zum mindesten zweifelhaft.
Es waren zwei starke Burschen, eine Art Mestizen, halb Indianer, halb Engländer. Ah! hätte Herr Cascabel das gewußt, wie schnell hätte er ihnen den Laufpaß gegeben!
Im ganzen genommen fand Cornelia ihr Aussehen verdächtig. Jean teilte die Ansicht seiner Mutter und Clou war derselben Meinung. Herr Cascabel schien nicht gut angekommen zu sein. Aber schließlich waren sie nur zu zweien und würden mit starken Gegnern zu thun haben, falls sie sich einer Übertretung schuldig machen wollten.
Was gefährliche Begegnungen in der Sierra betrifft, so waren dieselben nicht vorauszusehen. Die Straßen mußten in dieser Jahreszeit sicher sein. Die Zeit war vorüber, wo die kalifornischen Goldgräber, die sogenannten »Loafers« und »Rowdies«, sich mit aus allen Weltwinkeln gekommenen Missethätern verbanden, um ehrlichen Leuten übel mitzuspielen. Das Lynchgesetz hatte sie schließlich zur Vernunft gebracht.
Indessen beschloß Herr Cascabel als vernünftiger Mann, auf seiner Hut zu sein.
Die auf dem Gehöft gemieteten Männer waren jedenfalls geschickte Fuhrleute. Der Tag verging denn auch ohne Unfall, und dazu mußte man sich vor allem anderen Glück wünschen. Das Brechen eines Rades oder einer Achse hätte die Bewohner der Belle-Roulotte, so fern von jeder menschlichen Wohnung, ohne die Möglichkeit, den Unfall zu reparieren, in die größte Verlegenheit versetzt.
Der Paß bot damals einen äußerst wilden Anblick. Keine andere Vegetation als schwärzliche Fichten und das den Boden bedeckende Moos. Hie und da vermehrten ungeheuere Felsmassen die Krümmungen des Weges, besonders längs eines Nebenflusses des Walkner, der aus dem See dieses Namens floß und sich tosend in tiefe Abgründe stürzte. In blauer Ferne ragte der Castle-Peak in die Wolken hinein und beherrschte die übrigen, pittoresk aus der Nevadakette emporstrebenden Gipfel.
Gegen fünf Uhr abends, als die Tiefen der engen Schlucht sich bereits in Schatten hüllten, hatte man eine scharfe Biegung zu überwinden. Der Weg war an dieser Stelle so steil, daß es notwendig wurde, den Wagen teilweise zu entlasten und den Hängekorb sowie die meisten auf der oberen Galerie untergebrachten Gegenstände einstweilen zurückzulassen.
Jedermann legte Hand an und man muß gestehen, daß die beiden Führer bei dieser Gelegenheit großen Eifer bewiesen. Herr Cascabel und die Seinigen kamen denn auch in Bezug auf diese Leute ein wenig von ihrem ersten Eindrucke zurück. Übrigens würde ja der höchste Punkt des Engpasses binnen zwei Tagen erreicht sein; dann ging es wieder bergab und der Vorspann kehrte in das Gehöft zurück.
Als ein Rastplatz gewählt war und während die Fuhrleute sich mit ihren Pferden beschäftigten, gingen Herr Cascabel, seine Söhne und Clou zurück, um die unterhalb des Abhanges gelassenen Gegenstände zu holen.
Ein gutes Nachtmahl beschloß diesen Tag und man dachte nur mehr daran, sich auszuruhen.
Herr Cascabel bot den Führern Schlafstätten in einer der Abteilungen der Belle-Roulotte an; aber sie dankten ihm mit der Versicherung, daß der Schutz der Bäume ihnen genügen werde. In große Decken gehüllt, würden sie im Freien besser über die Pferde ihres Herrn wachen können.
Wenige Sekunden später war das Lager in tiefen Schlaf versunken.
Am folgenden Morgen war alles beim ersten Tagesscheine auf den Beinen.
Herr Cascabel Jean und Clou, welche die Belle-Roulotte zuerst verließen, begaben sich nach der Stelle, wo Gladiator und Vermout am vorigen Abend eingepfercht worden.
Beide waren dort; aber die drei Pferde des Landwirts waren verschwunden.
Da sie nicht weit sein konnten, ging Jean, um die Führer auf die Suche nach ihnen zu senden; aber die beiden Männer waren nicht mehr im Lager.
»Wo sind sie nur?« sagte er.
»Wahrscheinlich,« antwortete Herr Cascabel, »laufen sie ihren Pferden nach.«
»Holla!... Holla!...« rief Clou mit scharfer Stimme, die in großer Entfernung hörbar sein mußte.
Er erhielt keine Antwort.
Neue Rufe, welche Herr Cascabel und Jean aus vollem Halse ausstießen.
Die Führer erschienen nicht.
»Sollten wir uns doch nicht über ihr Aussehen getäuscht haben?« rief Herr Cascabel.
»Warum hätten die Leute uns verlassen?« fragte Jean.
»Weil sie uns irgend einen schlimmen Streich gespielt haben!«
»Welchen denn?«
»Welchen?... Warte!... Wir werden es gleich wissen!...«
Und von Jean und Clou gefolgt, kehrte er laufend zu der Belle-Roulotte zurück.
Auf den Tritt springen, die Thür aufschieben, sich durch die Abteilungen in das letzte Gelaß stürzen, wo die kostbare Handkasse untergebracht worden, das war für ihn das Werk einer Sekunde; dann erschien er wieder und schrie:
»Gestohlen!«
»Die Handkasse?« fragte Cornelia.
»Ja, von diesen Schuften gestohlen!«
Schufte!
Das war gewiß die Bezeichnung, die solchem Gesindel gebührte. Aber die Familie war darum nicht minder geplündert.
Bisher hatte Herr Cascabel jeden Abend nachgesehen, ob die Kasse sich auch an ihrem Platze befinde! Gestern aber hatte er, wie er sich jetzt erinnerte, infolge der schweren Anstrengungen des Tages schlaftrunken, seine gewöhnliche Vorsichtsmaßregel vergessen. Offenbar waren die beiden Führer, während er mit Jean, Xander und Clou die zurückgelassenen Gegenstände holte, unbemerkt bis in die letzte Abteilung gedrungen, hatten sich der Handkasse bemächtigt und dieselbe in irgend einem Gestrüpp am Rande des Lagers versteckt. Das war auch der Grund ihrer Weigerung, die Nacht im Innern der Belle-Roulotte zu verbringen. Sie hatten abgewartet, bis die ganze Familie eingeschlafen war, und hatten sich dann mit den Pferden des Landwirts aus dem Staube gemacht.
Von sämtlichen Ersparnissen der kleinen Truppe war nichts übrig geblieben, mit Ausnahme einiger Dollars, die Herr Cascabel bei sich trug. Und dabei mußte man noch von Glück sagen, daß die Schurken nicht auch Vermout und Gladiator mit sich geführt hatten!
Die bereits seit vierundzwanzig Stunden an die Gegenwart der beiden Männer gewöhnten Hunde hatten nicht einmal angeschlagen und die Missethat war ohne Schwierigkeit verübt worden.
Wo sollte man die über die Sierra geflohenen Diebe suchen?... Wo das Geld wiederfinden?.. Und wie sollte man ohne dies Geld über den Atlantischen Ocean kommen?
Die Verzweiflung der Familie äußerte sich in den Thränen der einen, der Wut der andern. Anfangs war Herr Cascabel ganz außer sich und seine Frau und Kinder hatten große Mühe, ihn zu beruhigen. Aber als sein Zorn sich ausgetobt hatte, beherrschte er sich wie ein Mann, der seine Zeit nicht mit vergeblichen Rekriminationen verlieren darf.
»Verwünschte Kasse!« konnte Cornelia sich nicht enthalten, inmitten ihrer Thränen zu sagen.
»Das steht fest,« meinte Jean, »daß unser Geld, wenn wir keine Kasse gehabt hätten...«
»Jawohl... Ein hübscher Einfall, der mich dazu trieb, diese verteufelte Kiste zu kaufen!« rief Herr Cascabel. »Wenn man eine Kasse hat, so ist es entschieden vernünftig, nichts hinein zu thun! Was hilft's, daß sie feuerfest ist, wie der Verkäufer mir sagte, sobald sie keine Sicherheit gegen Räuber gewährt!«
Man muß gestehen, daß dies ein harter Schlag für die Familie war und es kann niemand wunder nehmen, wenn sie sich dadurch gebeugt fühlte, zweitausend so mühsam erworbene Dollars zu verlieren!
»Was thun?« sagte Jean.
»Was thun?« antwortete Herr Cascabel, dessen zusammengebissene Zähne die Worte zu kauen schienen. »Das ist sehr einfach!... Ohne Vorspann können wir den Paß nicht höher hinausgelangen... Daher schlage ich vor, in das Gehöft zurückzukehren... Vielleicht sind jene Lumpen dort...«
»Wenn sie nicht etwa einen anderen Weg eingeschlagen haben!« sagte Clou-de-Girofle.
Und das war allerdings mehr als wahrscheinlich. Indessen, wie Herr Cascabel wiederholt sagte, mußte man umkehren, da man nicht vorwärts konnte.
So wurden denn Vermout und Gladiator eingespannt und der Wagen schlug den Rückweg durch den Sierra-Engpaß ein.
Ach! das fiel nur zu leicht! Man kommt schnell von der Stelle, wenn es nur bergab geht. Aber die Truppe schritt niedergeschlagen einher. Alles schwieg, bis auf Herrn Cascabel, der von Zeit zu Zeit eine Flut von Flüchen ausstieß.
Mittags hielt die Belle-Roulotte vor dem Gehöft. Die beiden Diebe waren nicht dahin zurückgekehrt. Als der Landwirt hörte, was geschehen war, geriet er in großen Zorn, ohne sich indessen sonderlich um die Familie zu kümmern. Hatte dieselbe ihr Geld eingebüßt, so war er um seine drei Pferde gekommen. Die Missethäter mußten über den Paß hinüber geflohen sein. Da war guter Rat teuer! In seiner Wut war der Landwirt nahe daran, Herrn Cascabel für den Raub seiner Tiere verantwortlich zu machen.
»Das ist doch stark!« sagte dieser. »Warum halten Sie solche Schurken in Ihrem Dienste und warum verdingen Sie dieselben an ehrliche Leute?«
»Wußte ich's denn?« entgegnete der Landwirt. »Ich hatte mich nie über sie zu beklagen gehabt!... Sie waren aus Britisch-Kolumbia gekommen...«
»Es waren Engländer?«
»Jawohl.«
»In diesem Falle warnt man die Leute, Herr, man warnt sie!« schrie Herr Cascabel.
Wie dem auch sein mochte, das Geld war gestohlen und die Lage eine äußerst ernste.
Aber wenn Frau Cascabel sich auch nicht so rasch zu fassen vermochte, so gewann doch ihr Mann mit der ihm eigenen Nomadenphilosophie bald seine Kaltblütigkeit wieder.
Und als sie aufs neue in der Belle-Roulotte versammelt waren, entspann sich ein Gespräch zwischen den Mitgliedern der Familie, ein Gespräch von hoher Wichtigkeit, »aus welchem ein großer Entschluß her vorgehen sollte,« wie Herr Cascabel mit feierlichem Nachdruck bemerkte.
»Kinder, es giebt Lebenslagen, in denen ein entschlossener Mensch wissen muß, was er will... Ich habe sogar bemerkt, daß dies besonders bei unangenehmen Lagen der Fall ist. So zum Beispiel bei derjenigen, in die wir uns durch die That jener Schurken jener Englishmen, versetzt sehen!... Es handelt sich darum, uns für den kürzesten Weg zu entscheiden, umsomehr, da es keinen längeren giebt... Es giebt nur einen, und diesen werden wir sofort einschlagen!«
»Welchen?« fragte Xander.
»Ich werde euch gleich mit dem Plan bekannt machen, der mir durch den Kopf gefahren ist. Aber um zu wissen, ob derselbe ausführbar ist, muß Jean sein Dingsda mit den Landkarten bringen...«
»Meinen Atlas,« sagte Jean.
»Jawohl, deinen Atlas. Du mußt ja sehr stark in der Geographie sein!... Geh deinen Atlas holen.«
»Sogleich, Vater.«
Und als der Atlas auf dem Tische lag, fuhr Herr Cascabel folgendermaßen fort:
»Es ist selbstverständlich, Kinder, daß wir, trotzdem diese Schufte von Engländern – habe ich es nicht geahnt, daß es Engländer waren! – uns unsere Kasse gestohlen, – was habe ich auch den Einfall gehabt, eine Kasse zu kaufen! – es ist trotzdem selbstverständlich, sage ich, daß wir unsere Absicht, nach Europa zurückzukehren, nicht aufgeben...«
»Sie aufgeben?... niemals!« rief Frau Cascabel.
»Würdig gesprochen, Cornelia! Wir wollen nach Europa zurückkehren, und wir werden dahin zurückkehren. Wir wollen Frankreich wiedersehen, und wir werden es wiedersehen. Wenn wir durch Gesindel geplündert worden sind, so soll uns das nicht... Ich wenigstens, ich muß die Luft der Heimat atmen, sonst sterbe ich...«
»Und du sollst nicht sterben, Cäsar! Wir sind nach Europa aufgebrochen... wir werden trotz allem dahin gelangen...«