Cassardim 2: Jenseits der Schwarzen Treppe - Julia Dippel - E-Book
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Cassardim 2: Jenseits der Schwarzen Treppe E-Book

Julia Dippel

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Beschreibung

Romantisch, gefährlich, mitreißend – Die Liebe zwischen Amaia und Noár muss sich beweisen!

Als Goldene Erbin und Verlobte des Schattenprinzen ist Amaia den Mächtigen in Cassardim ein Dorn im Auge. Auf ihrer Reise durch die Fürstentümer muss sie deshalb nicht nur die höfischen Intrigen überleben, sondern auch diverse Mordanschläge. Besonders in der Schattenfeste, wo Liebe als Schwäche gesehen wird, schwebt Amaia in großer Gefahr. Um sie zu schützen, ist Noár gezwungen, erneut zu dem skrupellosen Prinzen zu werden, den alle so fürchten. Doch wieder einmal ist nichts, wie es scheint, sodass nicht nur Amaias Herz auf eine harte Probe gestellt wird.  

Eine außergewöhnliche Fantasy-Liebesgeschichte von Izara-Autorin Julia Dippel
"Cassardim - Jenseits der Goldenen Brücke" wurde 2020 nominiert für den Jugendbuchpreis "Buxtehuder Bulle".

Der dritte und finale Band erscheint im November 2021.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 549

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Das Buch

»Ich habe Angst, Kätzchen. Angst davor, mich zwischen deinem Leben und deiner Liebe entscheiden zu müssen.«»Aber wieso denn das?«, erwiderte ich verwirrt.»Weil all die Lügen immer ihren Preis haben und man irgendwann die Wahrheit nicht mehr erkennt.«

www.cassardim.de

Die Autorin

© http://perkins.photo

Julia Dippel wurde 1984 in München geboren und arbeitet als freischaffende Regisseurin für Theater und Musiktheater. Um den Zauber des Geschichtenerzählens auch den nächsten Generationen näherzubringen, gibt sie außerdem seit über zehn Jahren Kindern und Jugendlichen Unterricht in dramatischem Gestalten. Ihre Textfassungen, Überarbeitungen und eigenen Stücke kamen bereits mehrfach zur Aufführung.

www.instagram.com/julia_dippel_autorin

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

INS GEDÄCHTNIS GERUFEN

Nachdem Amaia erfahren hat, dass sie nicht nur eine fürstliche Geisel aus Cassardim, sondern die Goldene Erbin ist, rückt sie in den Fokus ihres Großvaters, Kaiser Fidrin. Er zwingt sie, das verschollene Juwel der Macht zu suchen, um seine Herrschaft für alle Zeiten zu sichern.

Amaia gelingt es jedoch mithilfe ihres Verlobten Noár den Machenschaften des Kaisers ein Ende zu setzen. Es kommt zur Schlacht auf der Nebelbrücke, bei der Fidrin stirbt und das Juwel der Macht zerstört wird.

Fidrins Sohn Katair stößt den Leichnam des besiegten Kaisers in den Ewigen Fluss und übernimmt den Thron im Goldenen Berg.

Katair ist jedoch von seiner hundertjährigen Gefangenschaft so verwirrt, dass er Amaia nicht wiedererkennt und seine Vaterschaft leugnet.

Das bringt die Goldene Erbin in eine heikle politische Situation, die noch belastender wird, weil ihre Verlobung mit Noár sie in Gefahr bringt. Die beiden müssen so auch weiterhin ihre Liebe geheim halten und der Öffentlichkeit eine Feindschaft vorspielen. Um den Intrigen des Kaiserhofs für ein paar Tage zu entfliehen, beschließt Amaia, sich »entführen« zu lassen – nach Rim Valesh, einem ausgedienten Shendai-Hort an der Außengrenze des Schattenreichs.

THE SHOW MUST GO ON

Der leichte Stoff meines Kleides folgte raschelnd meinen Bewegungen. Ich wirbelte herum, wieder und wieder, warf mein Bein in die Höhe und fühlte, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen legte. Es war eine gefühlte Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal so frei und unbeschwert getanzt hatte. Ich tanzte, um das Glück festzuhalten, das aus meinem Inneren herausströmte. Und ich tanzte, um die dunklen Gedanken zu verdrängen, die hinter diesem Glück lauerten.

Als die letzten Töne meines Lieblingslieds verklungen waren, schloss ich schwer atmend das schwarze Kästchen, aus dem die Musik stammte.

»Hätte ich gewusst, was für eine Darbietung mir entgeht, hätte ich dir den Speisesaal schon früher frei geräumt«, meinte eine samtige Stimme.

Schlagartig stoben in meiner Magengegend tausend Schmetterlinge auf. Ich drehte mich um und entdeckte ein Paar verschränkter Arme vor einer kräftigen Brust. Darüber blitzten zwei makellose Zahnreihen in einem Lächeln, das mir jedes Mal von Neuem den Atem raubte. Noárs Sternenblick war Liebkosung und Warnung zugleich. Niemand sonst hatte es je geschafft, dass ich mich wie eine Königin und zur gleichen Zeit wie ein schutzloses Beutetier fühlte.

»Wolltest du nicht mit Nox ausfliegen?«, fragte ich verlegen. Meine Tanzeinlage war eigentlich nicht für Publikum gedacht gewesen. Schon gar nicht für eines, auf dessen Meinung ich Wert legte.

Noár stieß sich von der bunten Glasfront des Eingangs ab und kam mit gemächlichen Schritten auf mich zu. Das Geräusch seiner schweren Stiefel hallte durch den leeren Speisesaal.

»Das war der Plan, aber Nox hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich ein Idiot wäre, wenn ich die gemeinsame Zeit mit dir nicht nutzen würde.«

Lachend verschränkte ich meine Arme. »Ach, wirklich? Wie hat er das denn geschafft?«

Noár zog eine Grimasse. »Das zu erzählen würde eindeutig meinem Ruf schaden«, murrte er und brachte mich damit nur noch mehr zum Lachen. In den letzten Tagen war mir Noárs riesiger Shendai enger ans Herz gewachsen als ohnehin schon. Er besaß eine bestechende Intelligenz, einen ausgeprägten Hang zum Schmusen und einen Humor, der den so mancher Menschen in den Schatten stellte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er den Schattenprinzen rückwärts in einen Futtertrog gestoßen hätte, um seinen Standpunkt deutlich zu machen.

»Aber ich gebe zu, dass Nox recht hat. Jede Minute, die ich nicht an deiner Seite verbringe, ist verlorene Zeit.«

Ich seufzte innerlich. Dieser Kerl fand immer genau die richtigen Worte, um meine Knie in Butter zu verwandeln. Er war einfach unglaublich und trug mich unermüdlich auf Händen – fast, als wollte er sämtliche schlechten Erinnerungen, die ich mit ihm verband, ein für alle Mal auslöschen. Und es gelang ihm erstaunlich gut. Schon bei unseren ersten Begegnungen hatte ich mich in Noár verliebt, doch seit ich die Fassade des skrupellosen Schattenprinzen durchschaut hatte, war ich ihm unwiderruflich verfallen. Meine Gefühle für ihn hatten mich so fest im Griff, dass sie mich manchmal in Angst und Schrecken versetzten. In seiner Gegenwart nicht zu einem sabbernden Fangirl zu werden, war harte Arbeit. Ganz harte Arbeit. Besonders, wenn Noár – wie jetzt – so nah vor mir stand, dass ich jeden einzelnen goldenen Sprenkel in seinen dunklen Augen erkennen konnte. Großer Gott! Dafür, dass der Schattenprinz mir mein Herz gestohlen hatte, begann es gerade ziemlich wild und verräterisch in meiner Brust zu klopfen.

»Hmm, dann werde ich mich wohl bei Nox bedanken müssen. Schließlich weiß ich, wie schwierig es ist, sich mit deinem Ego anzulegen«, neckte ich ihn und griff nach meinem Handtuch. Ehe ich es zu fassen bekam, packte Noár mein Handgelenk und zog mich an sich.

»Dafür ist später noch genug Zeit«, raunte er mir zu, »zuerst werde ich deine unmissverständliche Herausforderung annehmen.«

Seine Wärme sickerte durch meine Haut und steckte meine Gedanken in Brand. »Womit soll ich dich denn herausgefordert haben? Nichts von dem, was ich hier gemacht habe, war für deine Augen bestimmt.«

»Genau darum geht es ja«, erwiderte er amüsiert, während seine Finger an meiner Wirbelsäule entlangstrichen und Wellen der Erregung durch meinen Körper schickten. »Du hast nur für dich getanzt, als würde die Musik dich von allem befreien. Die Schönheit und die Leichtigkeit deiner Bewegungen waren anbetungswürdig. Aber das Glück, das du ausgestrahlt hast … das war eine Kampfansage an meinen Stolz.« Es war kaum möglich, seinen Worten zu folgen, denn das zarte Kleid, das ich trug, bot nur wenig Schutz vor der Hitze seiner Berührung. »Ich würde alles dafür geben, dich ebenso zum Strahlen bringen zu können.«

Bevor ich ihn darüber aufklären konnte, wie glücklich er mich bereits jetzt machte, verschloss Noár meinen Mund mit einem zärtlichen Kuss. Sein Verlangen prickelte auf meinen Lippen, fand ein Echo in mir und übernahm die Kontrolle. Ich stöhnte leise auf und schlang meine Arme um seinen Hals. Vielleicht war es gut, dass er mich nicht hatte zu Wort kommen lassen. Abgesehen davon, dass sowieso nur unkoordiniertes Gestammel herausgekommen wäre, gab es nämlich überhaupt nichts an seinen Ambitionen auszusetzen.

Noár verstärkte den Druck um mich. Es schien, als würde er mich jeden Moment hochheben und ins Schlafzimmer bringen wollen, doch da beendete er den Kuss und lehnte mit einem frustrierten Seufzen seine Stirn an meine.

»Was ist?«, fragte ich atemlos.

Die Antwort war so ernüchternd, als wäre jemand bei einer Party versehentlich an den Lichtschalter gekommen. »Wir bekommen Besuch.«

Wie aufs Stichwort ertönte ein Brüllen vor den Höhlen von Rim Valesh. Es wurde von einem zweiten, sehr viel lauteren beantwortet. Nox begrüßte die Neuankömmlinge. In diesem Augenblick stürzte die Realität mit voller Wucht auf mich ein. Nervosität machte sich in mir breit. Fünf wundervolle Tage lang hatte ich niemanden außer Noár zu Gesicht bekommen. Fünf Tage ohne Intrigen, ohne Machtpolitik, ohne Etikette oder ambitionierte Höflinge. Fünf Tage, in denen ich außerdem erfolgreich verdrängen konnte, dass der Schattenprinz mich streng genommen vom Kaiserhof entführt hatte.

»Dann sollte ich mir besser etwas anderes anziehen.« Hastig schlüpfte ich aus Noárs Umarmung. Wer auch immer da im Anflug war, würde mein verschwitztes Kleid, die geröteten Lippen und rosigen Wangen sicher überinterpretieren. Wobei … so falsch läge derjenige nicht. Allerdings war genau das das Problem. Wir hatten uns in den letzten Tagen nicht so verhalten, wie es von einer Goldenen Erbin und ihrem Verlobten erwartet wurde. Zumindest nicht vor der Hochzeit.

Noár lachte leise über meinen hastigen Aufbruch. »Nur keine Eile, ich wimmle ihn ab.«

Gerade als ich den Durchgang zu den heißen Quellen erreicht hatte, verdunkelte ein riesiger Schatten die Glasfront des Speisesaals.

»Noár!«, rief eine Männerstimme, die ich nur zu gut kannte. Sie gehörte Rhome, Noárs oberstem General und bestem Freund. Mehr bekam ich nicht mit, weil die dicken Vorhänge und das Rauschen der unterirdischen Wasserfälle mich von der Außenwelt abschnitten. Damit blieben mir zwei Möglichkeiten: Entweder könnte ich mir Zeit nehmen und es Noár überlassen, mit Rhome fertigzuwerden, oder ich konnte meiner Neugier nachgeben und die Dusche dementsprechend kurz halten. Ich entschied mich für die letzte Variante. Es lag mir einfach nicht, die Verantwortung für mein Leben abzugeben. So schnell ich konnte, sprang ich über die feuchten Felsen.

Inzwischen kannte ich die Grotte mit all ihren heißen Quellen und Wasserbecken gut genug, um zu wissen, wo ich hintreten durfte und wo das scharfkantige schwarze Gestein mir die Füße aufreißen würde. Im hinteren Teil der Höhle lag eine verborgene Stelle, die zu meinen absoluten Lieblingsplätzen zählte. Hier lief ein höhergelegenes Bassin über und stürzte in einem großen Wasserfall auf eine von dunklem Moos bewachsene Fläche. Dieser Ort war besser als jede Luxus-Tropendusche und lud förmlich dazu ein, die Zeit zu vergessen – allein oder in Gesellschaft. Jetzt musste ich mich allerdings beeilen. Rasch wusch ich mich und nahm anschließend eine verborgene Treppe hinauf zu Noárs Höhle, um mich anzuziehen. Ich wählte ein schwarzes Kleid, band meine nassen Haare zu einem lockeren Dutt zusammen und flitzte dann durch die Grotte zurück. Gerade als ich den schweren Vorhang zur Seite schieben wollte, hörte ich erneut Rhomes Stimme. Vorher hatte sein Tonfall schon sehr ernst geklungen, jetzt schien der General stinksauer zu sein.

»Du überspannst den Bogen, Noár! Es geht nicht nur um Politik. Deine Offiziere beginnen sich zu fragen, wo ihr Heerführer steckt, während das Chaos immer öfter die Barrieren überwindet. Uns steht ein Krieg bevor und du spielst hier heile Welt mit deiner Verlobten.«

Erschrocken hielt ich inne. Ich hatte gewusst, dass Cassardims Schutzbarrieren seit der Zerstörung des Juwels der Macht geschwächt waren. Wie schlimm es allerdings stand, war mir nicht einmal annähernd klar gewesen.

»Ich habe Generäle, die sich um so etwas kümmern sollten«, knurrte Noár.

Obwohl ich die beiden nicht sehen konnte, spürte ich, wie sich eine ungewohnte Kälte zwischen ihnen ausbreitete.

»Willst du mir etwa vorwerfen, dass ich dir den Rücken nicht freihalte?«, erkundigte sich Noárs General leise.

Ich lugte durch den Vorhang. Rhome hatte sich vor seinem Herrn aufgebaut und durchbohrte ihn förmlich mit seinem goldbraunen Falkenblick. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Wütend und … enttäuscht.

Noár wich zurück und fuhr sich durch die mahagonifarbenen Haare.

»Nein«, murmelte er, als würde es ihm leidtun, seinen Freund so angefahren zu haben. »Verschaff mir einfach noch ein paar Tage.«

Rhome seufzte. Die Anspannung zwischen den Männern sank wieder auf ein erträgliches Maß. Dennoch blieb der Tonfall des Generals streng. »Ich weiß, dass du Angst hast, sie zu verlieren, doch exakt das wird passieren, wenn du sie nicht zurückbringst.«

Stille legte sich über den Speisesaal. Ich verstand, dass es um mich ging, aber ich hatte keine Ahnung, was genau Rhome meinte. Wieso sollte Noár mich denn verlieren?

Unvermittelt flog ein Stuhl durch den Raum und zerbrach krachend an der Wand über dem Kamin. Ich zuckte zusammen und sah zu Noár. Sein Gesicht war ausdruckslos. Nichts wies auf den Wutausbruch hin, dem eben der arme Stuhl zum Opfer gefallen war. Anders als ich schien der Schattenprinz jedoch ganz genau zu wissen, was sein Freund gemeint hatte. Und es jagte ihm eine Heidenangst ein.

»Der Mann, der ich dort draußen sein muss, ist nicht gerade liebenswert«, flüsterte er.

»Der Mann, der du dort draußen sein musst, ist das, was wir brauchen«, erwiderte Rhome kühl und wenig beeindruckt von dem herumfliegenden Möbelstück. »Wenn Amaia wirklich die Richtige ist, wird sie es verstehen.«

Wieder diese Stille.

Das ungute Gefühl, das ich seit Rhomes Ankunft mit mir herumschleppte, wurde langsam zu einem schweren Bleiklumpen in meinem Magen. Hielt Noár mich tatsächlich für so naiv und zartbesaitet, dass er mich derart unterschätzte?

Energisch schob ich den Vorhang beiseite.

»Natürlich verstehe ich das!«

Mein plötzliches Auftauchen veränderte die Stimmung im Saal grundlegend. Noárs angespannte Gesichtszüge wurden weicher, dafür verschwand die vertrauliche Haltung der beiden. Rhome wirkte auf einmal so steif, als hätte er einen Stock verschluckt. Nach einer Schrecksekunde verneigte er sich tief und verharrte für ein paar Augenblicke in der Verbeugung.

»Ich grüße Euch, kaiserliche Hoheit«, gab er ungewöhnlich formell von sich.

Mit gerunzelter Stirn schluckte ich das freudige »Hi, Rhome« runter, das mir auf der Zunge gelegen hatte. Wann war er von »Amaia« wieder zurück zu »kaiserliche Hoheit« gewechselt? Eigentlich hatten wir uns doch beide längst an zwanglosere Umgangsformen gewöhnt.

»Hab ich irgendwas falsch gemacht?«, fragte ich irritiert.

Noár schüttelte den Kopf. Obwohl es den Kummer nicht aus seinen Augen vertreiben konnte, entdeckte ich ein Schmunzeln auf seinen Lippen.

»Nein, Rhomes Manieren stecken lediglich in einer Krise, weil ich seine Lebensschuld übernommen habe«, klärte er mich auf. »Jetzt weiß der Gute nicht, wie er seiner Dankbarkeit dir gegenüber noch Ausdruck verleihen kann, ohne mich zu beleidigen.«

Bitte was?! Entgeistert sah ich Noárs General an. Der wiederum spießte seinen Freund mit vorwurfsvollen Blicken auf, bis der Schattenprinz zu grinsen anfing.

»Außerdem hat Rhome mir gerade für mein ungebührliches Verhalten der Goldenen Erbin gegenüber den Kopf gewaschen. Du siehst also, um seine Loyalität musst du dir keine Sorgen machen.«

Aha. Aber um dessen Ungezwungenheit dafür umso mehr. Und um Noár. Und dass ich wohl zum Streitpunkt zwischen den beiden Freunden geworden war. Von der Gesamtsituation ganz zu schweigen. Ich verkniff mir eine entnervte Grimasse. Wahrscheinlich würde ich mich nie an diese Schuld-Herumschieberei in Cassardim gewöhnen.

»Okay, dann kürze ich das Ganze mal ab«, sagte ich in dem Tonfall, der bislang für die Zurechtweisung meiner Brüder reserviert gewesen war. Den schmerzhaften Stich, den mir die Erinnerung an Adams Tod versetzte, verdrängte ich geflissentlich. Stattdessen sah ich dem blonden General fest in seine Falkenaugen. »Noár hat nichts getan, womit ich nicht einverstanden war. Ich hab nichts getan, wofür man sich bedanken müsste. Und du musst dich ganz bestimmt nicht schlecht fühlen oder dich mir gegenüber komisch verhalten, nur weil ich dir das Leben gerettet habe. Du hast meines auch gerettet, also sind wir quitt. Und wehe, du kommst jetzt mit diesem Es-war-deine-Pflicht-Mist. Das lass ich nicht gelten.«

Rhomes Brauen wanderten langsam in die Höhe. Seine Mundwinkel zuckten und schließlich fiel alle Verkrampftheit von ihm ab. »Ich hatte fast vergessen, wieso ich sie so mag.«

»Gut, dann fühle dich hiermit erinnert!«, gab ich beschwingt von meinem Erfolg zurück. »Abgesehen davon habe ich Noár dazu gezwungen, mich herzubringen. Er ist für diese Situation also nicht verantwortlich.«

»Du hast …« Rhomes fassungsloser Blick flog zu Noár. »Sie hat WAS?!«

Der Schattenprinz zuckte schicksalsergeben mit den Schultern – fast so, als hätte ich ihm wirklich keine Wahl gelassen. »Durch deine Lebensschuld hatte sie mich in der Hand.«

»Das heißt, ich bin an diesem ganzen Mist auch noch mitschuldig?!«, schnaubte Rhome empört. Er stieß ein paar sehr fantasievolle Flüche aus, bevor er Noár mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Brust tippte. »Du hättest es besser wissen müssen!«

»Es ist mein Recht und meine Pflicht, meiner Verlobten vor der Hochzeit den Hof zu machen«, gab der Schattenprinz frostig zurück.

»Ja, aber am Hof und unter Zeugen«, hielt Rhome dagegen. Schon wieder war die Stimmung kurz davor zu kippen und ich bekam das Gefühl, mitten im Streit von vorhin gelandet zu sein. »Du weißt, dass mir herzlich egal ist, was ihr hinter verschlossenen Türen treibt. Gerüchte wird es immer geben. Die Kunst dabei ist, stets einen Zweifel offenzulassen. Das hast du diesmal ordentlich vermass–«

»Ich durfte keinen Zweifel offenlassen!«, donnerte Noár und brachte seinen Freund damit zum Schweigen.

Rhome wirkte geradezu perplex. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie sich seine Gedanken überschlugen. Zu guter Letzt hatte er wohl alle Puzzleteile zusammengesetzt und stöhnte auf. »Sie war vorher schon keine Jungfrau mehr, oder?«

Noárs Miene verdunkelte sich. Langsam schien er die Geduld mit seinem Freund zu verlieren. »Das geht dich weder etwas an noch spielt es eine Rolle.«

Mit offenem Mund verfolgte ich die Richtung, in die sich das Gespräch entwickelte. Innerhalb weniger Sekunden waren wir bei einem Thema angekommen, das ich ganz bestimmt nicht hier vor Rhome diskutieren würde. Trotzdem beeindruckte mich der scharfe Verstand von Noárs General. Er hatte aus vagen Andeutungen die richtigen Schlüsse gezogen, während ich noch drei Schritte hinterherhinkte.

»Okay. In knappen Worten!«, wandte ich mich an meinen Verlobten. »Warum durftest du keinen Zweifel offenlassen?«

Mein Tonfall war vielleicht ein bisschen harsch, aber das Kalkül, das in allen von Noárs Handlungen zu stecken schien, schockierte mich. Sein reumütiger Blick machte die Sache nicht besser.

»Weil es genügend einflussreiche Adlige in Cassardim gibt, die unsere Hochzeit verhindern wollen«, antwortete er. »Früher oder später wäre jemand auf die Idee gekommen, eine Prüfung deiner Keuschheit zu fordern. Dann wäre entweder deine ›Vorgeschichte‹ aufgeflogen oder die Tatsache, dass wir bereits eine gemeinsame Nacht in Rim Valesh verbracht haben. Eine Nacht, in der du eigentlich nicht bei mir, sondern bei den Unbekannten hättest sein sollen, die dich vor deiner Hinrichtung gerettet hatten. Eine Verwicklung in diese Angelegenheit kann ich mir nicht leisten. Da erschien es mir als die beste Lösung, das Problem offensiv zu lösen.«

Bitte was?! Eine Prüfung meiner Keuschheit? Heilige Scheiße! Irgendjemand musste Cassardim mal ganz schnell aus dem Mittelalter rausholen!

Rhome zog sich lautstark einen Stuhl heran und ließ sich darauffallen. »Also gut. Wenigstens weiß ich jetzt, dass du nicht vollständig den Verstand verloren hast«, resümierte er mit einer müden Geste in Noárs Richtung. »Dann lass mal hören: Wie hast du vor, mit den neuen Problemen umzugehen, die dein Plan hervorgebracht hat?«

Der Schattenprinz schwieg, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Das ließ meine Laune weiter sinken.

»Was für neue Probleme?«, wollte ich wissen.

»Gerüchte«, antwortete Rhome.

»Was für Gerüchte?«

»Deinen Ruf betreffend.«

»Genauer!«

Er seufzte. »Das sollte dir vielleicht besser jemand anderes erklären.«

Der General zog eine Kette aus seiner Brusttasche. Daran baumelte ein milchiger, von goldenen Fäden durchzogener Edelstein, der auf seinen Befehl hin zu strahlen begann. Einen Augenblick später floss ein bläulicher Energiestrom heraus und formte sich langsam zu einer Gestalt.

»Zoey?«, hauchte ich überrascht.

»Zu meiner Verteidigung«, sagte Rhome mit einer leidgeprüften Grimasse. »Sie hat erst Lazar und dann mich so lange genervt, bis ich eingewilligt habe, sie herzubringen.«

Die Geistergestalt vervollständigte sich und mein Herz machte einen Freudensprung, als ich meine Freundin endlich in ihrer ganzen Pracht vor mir stehen sah.

»Was für ein wilder Ritt!«, nörgelte sie, bevor sie mich entdeckte und dramatisch ihre durchsichtigen Arme gen Himmel warf. »Na endlich, MaiMai. Ist dir eigentlich klar, dass ich den ganzen Goldenen Berg nach dir abgesucht habe?« Ihr Blick fiel auf Noár, was so ziemlich jeden in Cassardim aus dem Konzept gebracht hätte. Meine Freundin war aber nicht jeder. »Oh, hi, gut aussehender Prinz, der vorgibt, ein Fiesling zu sein, obwohl er in jeder Disney-Romanze die Hauptrolle spielen könnte. Halt«, unterbrach sie sich selbst und sah an meinem irritierten Verlobten herunter. »Wenn ich’s mir recht überlege, ist Disney viel zu jugendfrei für dich. MaiMai, wie sitzen meine Haare? Ich hab das Gefühl, mein Trip in diesem Stein-Ding hat mich völlig verknautscht.«

Schwungvoll warf sie ihren Afro zurück, konnte jedoch nicht verhindern, dass er direkt wieder in die alte Form sprang.

»Was machst du hier, Zoey?«, fuhr ich sie an. Das Schattenreich war ganz bestimmt kein Ort, an dem sie sich in ihrer jetzigen Daseinsform aufhalten sollte.

»Frag dich das lieber selbst!«, gab sie mit einem Schulterzucken zurück. »Ist dir klar, dass der ganze Kaiserhof sich das Maul über euch zerreißt?«

»Ja, so was habe ich mir inzwischen zusammengereimt. Und weiter?«

»Und weiter?! Ich bin hier, um dich zurückzuholen. Hast du denn bei all den Royale-Intrigen-Filmen, zu denen ich dich gezwungen habe, nicht aufgepasst? Du kannst dich nicht einfach hier verkriechen und glauben, dass niemand eure Abwesenheit zu seinem Vorteil nutzt.«

»Schon klar«, murrte ich. »Ich hab nicht gerade einen Fanclub am Kaiserhof.«

»Oh MaiMai, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber du bist den meisten herzlich egal. Seit du Fidrin nicht daran hindern konntest, das Juwel der Macht zu zerstören, hält man dich für schwach und beeinflussbar. Bestenfalls eine Marionette, schlimmstenfalls eine – und ich zitiere – Unannehmlichkeit, die man wie eine Fliege wegwischt. Nein«, meinte meine Freundin und deutete auf Noár, »ER ist das Problem.«

Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Die Juwelensplitter, die noch immer in meiner Haut steckten, erinnerten mich jeden Tag an meinen Kampf mit Fidrin. Ja, ich hatte das Juwel nicht retten können, aber ich hatte es meinem Großvater auch nicht überlassen. Es war kein Erfolg auf ganzer Linie, aber trotzdem ein Erfolg. Und es war meiner. Von mir aus konnte der versnobte Kaiserhof mir vorwerfen, dass ich versagt hatte, aber ich würde mir nicht mangelnde Entschlossenheit nachsagen lassen.

Voller Mitleid sah Zoey mich an, während ihr ausgestreckter Arm immer noch auf den Schattenprinzen wies. Noár rührte sich nicht vom Fleck. Nur sein Blick verriet, dass er wenig angetan von dem Geister-Zeigefinger war, der unmittelbar vor seiner Nase schwebte.

»Ja, du hast ganz richtig gehört, MaiMai«, fuhr meine Freundin fort. »Niemand will deinen Verlobten auf dem Kaiserthron sehen. Die allermeisten glauben nämlich, er hätte dich entführt, um dich für seine finsteren Pläne ungestört gefügig zu machen.«

»Das ist doch lächerlich«, platzte es aus mir heraus.

»Ist es nicht«, meinte Noár ausdruckslos. »Nicht bei meinem Ruf.« Er brauchte ein paar Atemzüge, bevor er sich überwinden konnte, mir in die Augen zu sehen. »Die Fürstenhöfe könnten mich unter Umständen als deinen Gatten akzeptieren, wenn sie dir zutrauen würden, dich gegen mich durchzusetzen. Das tut jedoch niemand – wie deine Freundin sehr treffend zusammengefasst hat.«

Es ging also wieder einmal um Macht. Wieso überraschte mich das überhaupt noch? Jeder wollte sich sein Stück vom Kuchen sichern und achtete penibel darauf, nicht zu kurz zu kommen – und das, obwohl das Chaos die Grenzen des Reichs bedrohte.

Zoey schwebte lautlos vor mich. »Ich hab echt versucht, für dich Partei zu ergreifen, MaiMai, aber du hast ja keine Ahnung, wie herablassend die alle mit mir umgegangen sind. Diskriminierung vom Feinsten und das nur, weil ich ein Geist bin. Da glaubt man, im Leben nach dem Tod müsste man sich mit so einem Quatsch nicht mehr auseinandersetzen und dann so was. Pah!« Sie verdrehte sehr effektvoll die Augen. »Andererseits hatte die allgemeine Ignoranz auch den Vorteil, dass ich ungesehen meine Lauscherchen ausstrecken konnte. Mein Fazit aus dem ganzen Mist? Du musst dringend zurück und ihnen in ihre versnobten Hintern treten.«

»Hört, hört«, brummte Rhome von seinem Platz aus.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah meine Freundin finster an. Tatsächlich war ich gerade in genau der richtigen Stimmung, um in ein paar Hintern zu treten. »Fein, dann fliegen wir eben zurück und geigen ihnen die Meinung.«

»Ganz so einfach ist das nicht.«

Noárs trockener Einspruch brachte meine Freundin endgültig auf die Palme. Mit in die Hüften gestützten Fäusten baute sie sich vor ihm auf.

»Ach ja, Mister Oberversnobter-Hintern höchstpersönlich? Was soll daran nicht einfach sein?«

Herablassend funkelte Noár sie an. »Wie willst du Amaia denn beweisen lassen, dass sie nicht unter meinem Willen steht?«

»Sie hat dir auch vorher schon ordentlich Paroli geboten«, konterte Zoey.

»Da hat sie aber auch noch nicht mit mir geschlafen.«

Für einen winzigen Augenblick verschlug es meiner Freundin die Sprache, bevor sie zu ihrer typischen Schlagfertigkeit zurückfand: »Na und? Du bist ein hübscher Kerl. Vielleicht hatte sie einfach Lust drauf? Vielleicht hat sie ja sogar dich manipuliert?«

Zoeys zusammengekniffene Augen waren ein deutliches Anzeichen dafür, dass sich ein feministisches Gewitter über dem Schattenprinzen zusammenbraute. Doch Noár ließ es gar nicht erst so weit kommen. Ungerührt hielt er ihrem herausfordernden Blick stand.

»Niemand zwingt mich zu etwas, das ich nicht will«, stellte er fest. »Behauptet ihr das Gegenteil, werden alle umso überzeugter sein, dass ich Amaia meinem Willen unterworfen habe.«

»Und?«, fauchte Zoey. »Haben sie recht?«

Wow! Noch nie hatte ich erlebt, dass die Temperatur in einem Raum so schnell gesunken war. Noár starrte meine Freundin aus tödlich glühenden Augen an. Die Warnung darin war so unmissverständlich wie die Kompromisslosigkeit seiner Antwort.

»Nein, das würde ich niemals tun.«

Stille mischte sich in die frostige Stimmung. Mein Verlobter und meine blau schimmernde Geisterfreundin taxierten sich gegenseitig, während Rhome im Hintergrund aufstöhnte. Er sah aus, als würde er gerade schlimme Kopfschmerzen bekommen. Ich verstand ihn nur zu gut. Es war eine ziemlich vertrackte Zwickmühle, an deren Ende ich entweder als Flittchen, Marionette oder als Spatzenhirn dastehen würde. Nicht einmal die Wahrheit würde man mir glauben. Mir fiel nur eine Lösung ein, die uns aus dieser Situation retten konnte.

»Hier geht es doch nur um den Kaiserthron, oder?«, unterbrach ich das stumme Duell zwischen Zoey und Noár. »Was ist, wenn ich offiziell darauf verzichte?« Ich hatte sowieso nie Kaiserin werden wollen. Außerdem war ja jetzt mein Vater zurück, der sich um Cassardim kümmern konnte. Falls er diese Chaos-Sache in den Griff bekam, hatte er bestimmt noch ein paar gute Jahrhunderte vor sich. Zeit genug, um haufenweise andere Goldene Erben zu zeugen.

Zoey switchte sofort in den Mastermind-Modus und tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Wär ’ne Lösung …«

Verunsichert sah ich zu Noár. Es wäre der Ausweg, den wir bräuchten – es sei denn natürlich, er legte Wert auf den Kaiserthron. Ich spürte, wie Angst meine Eingeweide in einen Knoten verwandelte. Seine Antwort könnte für meine Gefühle weitreichendere Folgen haben, als mir lieb wäre.

Mein Verlobter senkte den Kopf. Seine Haltung wirkte plötzlich distanziert und abweisend. Das verwirrte mich zutiefst, denn unter seinen dunklen Wimpern schimmerte so etwas wie Sehnsucht. Rhome sprang auf und beeilte sich, an die Seite seines Freundes zu treten.

»Als Kronprinz des Schattenreichs hat Noár Pflichten«, erklärte er mir bemüht sachlich. Trotzdem gelang es ihm nicht, die Sorge aus seiner Stimme zu verbannen. Es schien überhaupt so, als würde der mahnende Unterton seiner Worte nicht nur mir gelten. »Er wird dich dann nicht mehr heiraten können. Zumindest nicht, ohne sein Volk im Stich zu lassen und verstoßen zu werden.«

Oh.

Mist.

Okay, jetzt verstand ich, warum Noár den Stuhl gegen die Wand geschleudert hatte. Es war wirklich verfahren. Am liebsten hätte ich gerade selbst gerne etwas kaputtgehauen, zumal ich wusste, wie viel Noár Cassardim bedeutete. Niemals könnte ich von ihm verlangen, das alles für mich aufzugeben.

»Also gut«, murmelte ich, bevor Noár sich zu irgendeiner Dummheit hinreißen ließ, die er später bereute. »Was schlagt ihr vor?«

Rhome schnalzte mit der Zunge und sah zu seinem Herrn. Offenbar schien es eine Lösung zu geben, die keinem der beiden gefiel. Irgendwann seufzte der Schattenprinz und kam auf mich zu. Auf seinem Gesicht lag ein trauriges Lächeln.

»Unsere gemeinsame Zeit hier darf weder deine Willensstärke noch deine moralische Integrität infrage stellen. Das bedeutet, dass du mich die Schuld hierfür tragen lassen musst.«

Zoey pfiff anerkennend durch die Zähne. »Langsam verstehe ich, warum du dir so einen miesen Ruf zugelegt hast. Es ist das perfekte Alibi.«

»Die Leute denken, was sie denken wollen«, murmelte Noár.

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, wovon die beiden da sprachen. Entsetzt riss ich die Augen auf und wollte protestieren, aber Zoey kam mir zuvor. »Er hat recht, MaiMai. Und es wäre für euch zwei ja nicht wirklich was Neues. The show must go on, und so …«

»Ihr müsst Noárs Verfehlungen ja nicht detailliert schildern«, relativierte Rhome. »Ein paar vage Andeutungen und Feindseligkeiten reichen, um in ganz Cassardim Spekulationen loszutreten. Das würde Amaia Sympathien in allen Völkern einbringen.«

»Ja, auf Noárs Kosten«, fauchte ich. »Darauf kann ich gern verzichten!« Denn im Gegensatz zur landläufigen Meinung, wusste ich nämlich, dass Noár sehr wohl Gefühle besaß.

»Amaia! Es ist ein schmaler Grat, auf dem ihr beide euch da bewegt«, ermahnte mich der General. »Mir ist bewusst, dass derartige Täuschungsmanöver deiner Natur widersprechen, aber Cassardim ist nun einmal ein sehr gefährlicher Ort für die Liebe.«

Noár sah meine Skepsis und griff nach meiner Hand, um sie zu drücken.

»Ich halte das aus«, sagte er entschlossen. Die Zuversicht in seinem Sternenblick ließ meine Welt stillstehen. »Solange ich dich nicht verliere.«

Alles in mir wehrte sich gegen die Vorstellung, ihm wehzutun. Am liebsten hätte ich jedem einzelnen Cassarden bewiesen, wie großartig der Mann war, an den ich mein Herz verloren hatte.

Ein leises Quieken zerstörte unseren magischen Moment. »Ooooooh, wie romantisch!« Zoey hatte sich die Hände auf die Wangen gepresst und schmachtete uns an, als wären wir ein Korb voller Welpen.

Noár seufzte frustriert. »Ist dir eigentlich klar, was wir mit Seelen wie dir im Schattenreich machen?«, fragte er meine Freundin und klang dabei so todernst, dass Zoey sichtlich erschrak. Wer konnte es ihr verdenken, schließlich war Noárs Heimat im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle. Dann gewann jedoch ihre Frechheit wieder die Oberhand.

»Keine Chance!«, konterte sie. »Du schüchterst mich nicht ein. Ich hab dich nämlich durchschaut. Außerdem bin ich dafür viel zu sehr mit deiner Verlobten befreundet.«

Ein gefährliches Grinsen machte sich auf Noárs Gesicht breit. Gerade wollte er etwas zweifellos Schlagfertiges erwidern, als er plötzlich ins Stocken geriet. Sein Grinsen verblasste und sein Blick wurde gnadenlos.

»Was ist?«, stammelte Zoey leise. »Hab ich ihn sauer gemacht?«

Ich wusste es nicht. Irritiert schaute ich zu Rhome, doch der war ebenso erstarrt wie sein Herr.

Erst nach einigen sehr seltsamen Augenblicken erwachte Rhome aus seiner Trance und packte Noár am Arm. Sein Tonfall und seine Miene waren besorgniserregend und eindringlich. »Wirst du dem Ruf folgen?«

Schwarze Augen mit glühenden Sprenkeln zuckten zu mir. Darin lag Sorge, aber auch wilde Entschlossenheit. Noár nickte, woraufhin ihm sein General erleichtert auf die Schulter klopfte.

»Dann sehen wir uns dort«, sagte Rhome, bevor er mir die Kette mit dem weißlichen Stein zuwarf. »Bis später, Prinzessin.«

Ohne noch mehr Worte zu verlieren, stürmte er zum Ausgang, schwang sich draußen auf seinen Shendai und hob ab.

Wie vor den Kopf gestoßen, sah ich Noár an.

»Kannst du mir erklären, was hier gerade passiert ist?«

»Wir haben einen Notruf von Pash erhalten.« Er marschierte zu einem der Waffenregale, die überall im ehemaligen Shendai-Stützpunkt herumstanden. Dort hingen sein Lederharnisch und sein Waffengurt. »Das Chaos ist im Wandernden Wald durchgebrochen.«

»Das Chaos?!«, hauchte Zoey entsetzt. »Du meinst das Irrer-Kaiser-Chimären-und-stinkende-Hunde-Chaos?«

Bilder der grausigen Schlacht auf der Nebelbrücke tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Eigentlich hatte ich gehofft, dem Chaos nie wieder begegnen zu müssen. Noch schlimmer war jedoch die Vorstellung, Noár einfach so in den Kampf ziehen zu lassen. Mir war schon klar, dass ich in einer Schlacht gegen das Chaos keine große Hilfe sein konnte. Trotzdem lag mir die Rolle des braven Frauchens nicht, das zu Hause auf den strahlenden Kriegshelden wartete. Blieb nur die Frage, wie ich Noár davon überzeugen konnte …

»Wir werden schnell unterwegs sein«, unterbrach der Schattenprinz meine Gedankengänge. »Nur, falls du dir einen Umhang überziehen willst.«

Verdattert starrte ich ihn an. »Du nimmst mich mit?«

Er war ganz darauf konzentriert, die Schnallen an seinem Harnisch zu schließen. Dennoch konnte ich ihn lächeln sehen.

»Wieso überrascht dich das?«, erkundigte er sich amüsiert.

»Äh, weil du eher so der herrische Beschützertyp bist?«, mischte sich meine Geisterfreundin ein und brachte mich damit zum Lachen. Wo sie recht hatte …

Mit einem warnenden Blick in Zoeys Richtung beendete Noár sein Werk. Dann griff er nach meinem Umhang und legte ihn mir um die Schultern.

»Auch auf die Gefahr hin, dass ich deine Freundin in ihren Vorurteilen nur bestärke«, meinte er und zupfte dabei an einer Locke, die sich aus meinem Dutt gelöst hatte, »aber du bist nirgends sicherer als an meiner Seite.«

»Arrogant hatte ich vergessen«, fügte Zoey trocken hinzu.

Schneller als ich reagieren konnte, schnappte sich Noár die Kette mit dem Stein und brachte ihn zum Strahlen.

»Zurück in den Kristall mit dir!«, befahl er.

Zoey blieb weder Zeit zu protestieren noch zu schmollen. Sie löste sich einfach auf und wurde als bläulicher Nebel in den Stein gezogen.

Als das Licht verblasst und wir endlich wieder allein waren, atmete Noár erleichtert auf.

»Das ist ein Schleierkristall«, erklärte er, während er mir die Kette um den Hals legte. »Die Nebelreiter benutzen ihn, um die Seelen unbeschadet nach Cassardim zu transportieren. Solange er deine Haut berührt, wird deine Freundin durch deine Augen sehen und durch deine Ohren hören können. Sollte sie anfangen, dich zu nerven, mach es wie Rhome und schieb sie in deine Tasche.«

Zeit, mich mit dieser neuen Information auseinanderzusetzen, ließ er mir nicht. Stattdessen schnappte er sich meine Hand und zog mich mit nach draußen.

»Jetzt komm, lass uns eine Chimäre töten.«

AUS ALLEN WOLKEN FALLEN

Auf dem Weg nach draußen hatte ich tausend Fragen darüber, wie wir uns jetzt verhalten sollten. Noár beantwortete sie alle mit einem schlichten Ratschlag: »Stell dir einfach vor, ich wäre Ifar.«

Super. Das konnte erst recht nicht verhindern, dass sich Lampenfieber in mir breitmachte. Wir würden in Kürze nicht nur dem Chaos, sondern auch der Öffentlichkeit gegenübertreten. Am liebsten hätte ich mich in Ruhe auf all das vorbereitet, allerdings schien die ruhige Zeit nun vorerst vorbei zu sein. Kaum im Sattel, hob Nox in einem nervenzerfetzenden Manöver ab und trug uns senkrecht die Klippen nach oben. Der Wind riss so heftig an uns, dass mir die Luft wegblieb. Außerdem hatte ich alle Hände voll zu tun, mich an Noárs Arm festzuklammern und nicht zu schreien. Offenbar war ihm die übliche Route entlang der Küste zu lang oder zu langweilig, sodass ich diesmal einer abenteuerlichen Abkürzung ins Gesicht sehen musste. Immer höher brachten uns die kräftigen Stahlschwingen des Shendai. Dunkle Gewitterwolken rauschten auf uns zu. Sie verhüllten die Gipfelkämme des Schattenreichs und waren schon von Weitem einschüchternd gewesen. Jetzt aus der Nähe lehrten sie mich das Fürchten.

Die Frage, ob wir tatsächlich durch das Gewitter hindurchfliegen würden, erübrigte sich, denn keinen Atemzug später tauchten wir in die sich bedrohlich wälzenden Wolkenberge ein. Es wurde stockdunkel um uns herum, doch weder Nox noch Noár reduzierten die irre Geschwindigkeit, mit der wir uns vorwärtsbewegten. Ein blauweißer Blitz zuckte an unseren Köpfen vorbei. Donner folgte, so erschütternd und allumfassend, dass ich ihn bis ins Mark spürte. Nie zuvor hatte ich ein lauteres Geräusch gehört. Es hallte von den Felsen wider und mischte sich mit dem Dröhnen anderer Donnerschläge. Nox änderte die Flugrichtung. Für einen Moment schienen wir zu fallen, dann vollführte der Shendai eine Rolle, die uns nur haarscharf vor einem zweiten Blitz rettete. Das Gewitter wurde heftiger. Es wirkte fast, als würde es sich gegen uns Eindringlinge wehren. Die Blitze jagten uns. Wir flogen nicht mehr durch Wolken, sondern durch gleißendes Licht und wütendes Donnergrollen. Alles um uns herum knisterte. Die feinen Härchen an meinen Armen stellten sich auf. Immer wieder änderte Nox die Richtung, um den Angriffen auszuweichen. Wir wurden herumgeschleudert und herumgewirbelt, doch Noár hielt mich fest an seine Brust gepresst. Einmal glaubte ich sogar, ihn lachen zu hören. Und dann – ganz unvermittelt – war alles vorbei. Nox durchstieß die letzten Gewitterwolken und trug uns mit einem triumphierenden Brüllen in den goldgelben Himmel Cassardims.

Traumatisiert von dem, was eben passiert war, atmete ich tief ein und aus und löste meine Finger aus Noárs Arm.

»Kannst du mir verraten«, stammelte ich, »warum deine Heimat gerade versucht hat, uns zu töten?«

»Nicht uns. Nur dich«, lachte Noár und drückte mich im Sattel nach vorne, bis ich fast schon auf Nox lag. Ehe ich wusste, wie mir geschah, legte der Shendai die Flügel an und stürzte sich in die Tiefe. Diesmal konnte ich nicht verhindern, dass mir ein Schrei entwich. Die Wolkendecke riss auf und gab die Sicht auf Cassardim frei, das ungebremst auf uns zurauschte. Noár lehnte sich eng an mich, um den Luftwiderstand zu verringern. Nach ein paar panischen Sekunden erfasste uns eine kräftige Böe und lenkte Nox’ Sturzflug in die Waagerechte um. Ich war ja gewarnt worden, dass wir schnell unterwegs sein würden, aber niemals hätte ich mit einer solchen Geschwindigkeit gerechnet. Wie ein Pfeil schossen wir durch die Luft und verloren dabei nur wenig an Höhe. Das war physikalisch so unmöglich, dass ich mir sicher war, dass Noár mit seinem Willen nachhalf. Irgendwann gewöhnte ich mich an das mörderische Tempo und wagte es, mich umzusehen. Wir befanden uns über den Niemandslanden mit ihren von Nebeln umgebenen Felsen. Aber ich konnte auch das Trockene Meer entdecken und weit entfernt am Horizont den Goldenen Berg. Unser Ziel lag jedoch unmittelbar vor uns: die bläulich grünen Baumkronen des Wanderndes Waldes. Darüber erspähte ich winzige Kreaturen, die sich einen erbitterten Kampf lieferten. Je näher wir kamen, desto bewusster wurde mir, dass diese winzigen Kreaturen gar nicht so winzig waren. Es handelte sich um Shendai und silbern glänzende Wyvern. Über die Drachenwesen des Wolkenvolks hatte ich erst neulich etwas gelesen, war aber nicht davon ausgegangen, so schnell wieder welche zu Gesicht zu bekommen. In ungewohnter Eintracht mit den Shendai pflückten sie ganze Schwärme von Chaoshunden aus der Luft.

Als wir die Grenze zum Wandernden Wald passierten, erkannte ich das ganze Ausmaß der Zerstörung: Etwas hatte ein riesiges Loch ins dichte Blätterdach gerissen. Dutzendweise waren die mächtigen Bäume entwurzelt worden und bildeten nun ein sternförmiges Muster um einen dunkel brodelnden Abgrund. Schwarze Rauchschwaden sprudelten aus dem Chaoswirbel, aus dessen Mitte eine grauenhafte Chimäre mit ölig schimmernden Teerschuppen kroch. Ihr Körper besaß die Gestalt einer Echse, aber ihr Maul ähnelte dem eines Hais, während aus ihrem Rücken spinnenbeinartige Stacheln wuchsen, mit denen sie jeden Feind mühelos durchbohren konnte. Pfeile und Speere sausten durch die Luft und prallten an den Schuppen der Chimäre ab. Anders als bei den Chaoshunden, die aus dem Abgrund emporschossen, schien die Chimäre völlig unempfindlich gegenüber den Waffen der Cassarden zu sein.

Ich spürte, wie Noár sich anspannte und leise knurrte. Einen Moment später öffnete sein Shendai die Flügel, um unseren Sturzflug abzubremsen. Und schon waren wir nicht mehr bloß Zuschauer der Schlacht. Nox legte sich in eine Kurve und zerteilte mit seinen Schwingen einen Chaoshund, der das Pech hatte, unseren Landeanflug zu kreuzen. Einige Blutspritzer trafen mich. Sofort war meine Nase erfüllt von dem widerlichen Gestank der Kreaturen. Zusammen mit den Schreien und den Kampfgeräuschen erinnerte mich das unangenehm an meine letzten Begegnungen mit dem Chaos. Jede davon hatte ich nur knapp überlebt. Ich kämpfte mit meiner aufsteigenden Panik, als ein Ruck durch uns ging. Nox setzte auf einem der umgefallenen Baumstämme auf, von denen jeder einzelne so groß wie ein Kirchturm war. Seine scharfen Krallen bohrten sich tief ins silbergraue Holz, um nicht abzurutschen. Noch bevor er seine Schwingen anlegen konnte, sprang der Schattenprinz aus dem Sattel und zog sein Schwert.

»Pass auf sie auf!«, befahl er, während er sich den Baumstamm hinabgleiten ließ und sich ins Getümmel stürzte. Dunkelgrün gekleidete Waldkrieger hatten einen Kreis gebildet und streckten dem Abgrund ihre Handflächen entgegen. Da kapierte ich, warum die Chimäre sich noch nicht aus der Tiefe hatte befreien können. Die Cassarden hielten das Wesen mit ihrem Willen in Schach. Diesen Kampf schienen sie jedoch schon sehr bald zu verlieren, denn die Chimäre riss bedenkliche Lücken in die Reihen der Waldkrieger.

Tatendrang packte mich. Ich mochte ja mit Klingen nicht sonderlich gut umgehen können, aber wenn es um meinen Willen ging, hielt ich mich der Herausforderung durchaus für gewachsen. Ich kletterte von Nox’ Rücken und wollte zu den gebeutelten Waldkriegern eilen, als mir plötzlich eine große schwarze Tatze den Weg versperrte. Verdutzt sah ich nach oben und blickte direkt in tadelnde Katzenaugen.

»Echt jetzt?«, rief ich genervt, als mir klar wurde, dass der Befehl des Schattenprinzen seinem Shendai gegolten hatte. »Ich will doch nur helfen!«

Aber Nox dachte gar nicht daran, mir den Weg frei zu machen, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als missmutig um ihn herumzustapfen. Da riss mich etwas am Hals nach hinten. Ich plumpste rückwärts und landete unsanft auf meiner Kehrseite. Aus den Augenwinkeln bekam ich gerade noch mit, wie Nox meinen Umhang ausspuckte.

»Du willst dich also wirklich mit mir anlegen?«

Die Antwort des Shendai bestand aus einem Schnauben, das verdächtig amüsiert klang. Er senkte seinen Kopf und schob mich damit ein gutes Stück zurück, bis ich zwischen seinen Riesentatzen saß. Zufrieden mit seinem Werk richtete er den Blick wieder auf die Umgebung. Offenbar nahm der Shendai den Auftrag seines Herrn sehr ernst.

Pfft! Wie hatte ich nur glauben können, dass Noár mich tatsächlich an einer Schlacht teilnehmen lassen würde? Wütend verschränkte ich die Arme vor der Brust. Der konnte sich auf etwas gefasst machen, wenn ich ihn in die Finger bekam. Für den Moment war ich wohl dazu verdonnert, das Geschehen aus der Ferne zu beobachten – vorausgesetzt, ich wollte mich nicht mit seinem sturköpfigen Shendai anlegen.

Noárs Gestalt war im Gemetzel schnell auszumachen. Er schnitt sich eine Schneise durch angreifende Chaoshunde und hielt direkt auf den Abgrund zu. Jeder seiner Schritte schien mit Bedacht gewählt zu sein und jede seiner Bewegungen war tödlich. Eine Frau in Grün bellte ein paar Befehle. Pfeile zischten durch die Luft und trafen die Chaoshunde, die dabei waren, Noár anzugreifen. Die Waldkrieger gaben dem Schattenprinzen Feuerschutz. Diese Chance nutzte er und begann zu rennen. Nein, er nahm Anlauf! Für einen übermenschlichen Sprung in Richtung der Chimäre. Gleichzeitig mit seiner Landung auf dem Rücken des Ungetüms bohrte sich sein Schwert durch die schuppige Haut. Seine Klinge schaffte mühelos, woran die Pfeile der Waldkrieger zuvor gescheitert waren. Schwarzes Blut sprudelte aus der Wunde. Das Wesen stieß ein grausiges Kreischen aus. In Todesqual schnappte es nach Noár, bäumte sich auf und versuchte, seinen Angreifer abzuschütteln, doch der Schattenprinz kannte keine Gnade und kein Zögern. Er riss sein Schwert aus dem Fleisch und stach, begleitet vom Jubel der Waldkrieger, ein zweites Mal zu.

»Schließ den Wirbel!«, brüllte er der Frau in Grün zu, die ich inzwischen als die Waldfürstin identifiziert hatte. Die Wurzeln um den Abgrund herum erwachten zum Leben. Gebannt beobachtete ich, wie sie vorwärts wuchsen und krochen, doch als sie mit dem Chaoswirbel in Kontakt kamen, vertrockneten sie und zerfielen zu Staub.

In diesem Augenblick breitete sich ein fauliger Geschmack in meinem Mund aus und ein beißender Schmerz durchzuckte meine Hände. Die Splitter des Juwels der Macht schienen sich unter meiner Haut zu bewegen. Panisch sah ich auf meine Handflächen, aber außer dem üblich unschuldigen Glitzern der Juwelenreste konnte ich nichts erkennen. Entsetzte Rufe ließen mich aufschauen. Der Chimäre war es in ihrem Todeskampf gelungen, Noár abzuschütteln. Jetzt hielt er sich nur noch mit einer Hand an einem der schwarzen Rückenstacheln fest, während seine Füße über dem Abgrund baumelten. Instinktiv sprang ich auf und wollte ihm zu Hilfe eilen, doch ein tiefes Knurren stoppte mich. Noárs Shendai schien sich keinerlei Sorgen um seinen Herrn zu machen – sehr wohl aber um mich.

Ich fuhr herum und bedachte das störrische Vieh gerade mit ein paar unschönen Schimpfnamen, als das Brennen meiner Handflächen so unerträglich wurde, dass ich auf die Knie fiel. Eine kühle Schnauze stupste mich an, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mit den auf mich einstürzenden Empfindungen zurechtzukommen. Plötzlich sah ich die Dinge mit skrupelloser Klarheit.

Der Wald litt schlimmste Qualen.

Die Krieger waren nicht stark genug, um den Chaoswirbel zurückzudrängen, und selbst die Macht der Waldfürstin endete exakt am Abgrund.

Nur Noár schien es mit dem Chaos aufnehmen zu können, und er glaubte, mit all dem alleine fertigwerden zu müssen. Ich spürte, wie die Splitter in meinen Händen eine unbändige Wut in mir weckten. Immer wieder war mir gepredigt worden, Cassardim als meine Heimat zu betrachten, und trotzdem empfand man mich als einen Fremdkörper. Dabei wollte ich helfen!

Ich wollte das Chaos zurückdrängen!

Ich wollte …

Der Baumstamm, auf dem ich kniete, begann zu vibrieren. Mein Wille ließ Wurzeln daraus hervorsprießen. Sie schlängelten sich in Richtung des Abgrunds. Erschrockene Waldkrieger sprangen zur Seite, während sich die Wurzeln mit denen anderer Bäume verflochten. Unaufhaltsam begruben sie die Kadaver der gefallenen Chaoshunde unter sich und erreichten schließlich den schwarzen Wirbel. Aber dort endete meine Macht nicht. Ich war die Goldene Erbin. Ich war geboren worden, um dem Chaos die Stirn zu bieten. Also befahl ich den Wurzeln, weiterzuwachsen. Und das taten sie. Stück für Stück.

Noár hatte sich inzwischen wieder auf den Rücken der Chimäre gezogen. Er balancierte gerade zum Hals der Kreatur, um ihr den finalen Todesstoß zu versetzen, als er bemerkte, was vor sich ging. Sein Blick zuckte zur Waldfürstin, doch die starrte mit offenem Mund in meine Richtung.

Gut so! Es sollten ruhig alle mitbekommen, zu was ich in der Lage war!

Noár sah zu mir und hob eine Braue. Mehr ließ er sich nicht anmerken, bevor er sein Schwert im Nacken der Chimäre versenkte. Verzweifelt kreischte die Kreatur auf. Jede Spannung schwand aus ihrem massigen Körper und sie sank langsam zurück in den Wirbel. Gerade wollte Noár zum rettenden Sprung ansetzen, da stieg plötzlich ein neuer Schwarm an Chaoshunden aus dem kleiner werdenden Abgrund empor. Es wirkte fast so, als würde etwas auf der anderen Seite ahnen, dass nun die letzte Chance gekommen war, um nach Cassardim zu gelangen. Ich erhob mich. Zorn und Macht pulsierten in meinen Adern. Die Wurzeln schossen in die Höhe und bohrten sich wie Speere durch die widerlichen Wesen. Jene, die meinem Willen entkamen, fielen Noárs Klinge oder den Shendai-Reitern zum Opfer. Unerbittlich drängte ich die Triebe voran, bis schließlich der Chaoswirbel unter einem dichten Geflecht begraben war. Übrig blieb eine Skulptur, wunderschön und schrecklich zugleich – eine haushohe Sturmwelle aus Holzranken, eingefroren im Moment ihres blutigen Sieges.

Stille legte sich über das Schlachtfeld.

Alle starrten mich an, als wäre ich ein Alien. Nur der Schattenprinz, der ganz oben auf meiner Wurzelskulptur stand, tippte sich mit einem spöttischen Grinsen an die Stirn.

In diesem Moment wurde mir bewusst, was ich gerade getan hatte. Der Wandernde Wald war meinem Willen gefolgt. Ich hatte ihn kontrolliert und gleichzeitig jegliche Kontrolle verloren. Ich sah auf meine Handflächen. Unschuldig glitzerten die winzigen Juwelensplitter zwischen den goldenen Linien der Kaisersymbole. Der brennende Schmerz und der faulige Geschmack in meinem Mund kamen mir nur noch wie eine vage Erinnerung vor. Dummerweise hatte sich mit ihnen auch meine Selbstsicherheit aus dem Staub gemacht. Dafür überrollte mich nun nachträglich die Angst, die ich angesichts meiner kühnen Aktion eigentlich hätte haben sollen.

Ein Maunzen in meinem Rücken rief mir ins Gedächtnis, dass ich nicht die Einzige war, die sich Sorgen um mich machte.

»Mir geht’s gut«, log ich Nox an.

Also echt, MaiMai, als ob die große Katze dir das glauben würde. Die ist genauso geflasht wie ich. Warum zum Henker hast du mir nicht verraten, dass du so was kannst?!

»Zoey?!«, flüsterte ich verwirrt.

Waren mir etwa gerade ein paar Sicherungen zu viel durchgebrannt? Hörte ich jetzt schon Stimmen?

Natürlich bin ich’s! Oder trägst du irgendwo noch einen von diesen dämlichen Geistersteinen?

Oh. Richtig. Schleierkristall. Hautkontakt. Ich fasste mir an den Hals und stellte fest, dass mir die Kette mit dem weißlichen Edelstein ins Dekolleté gerutscht war – vermutlich bei dem Sturz, den ich Nox zu verdanken gehabt hatte.

»Wie viel hast du mitbekommen?«, wollte ich von meiner Freundin wissen, die nun offenbar durch meine Augen sehen konnte.

Zoey lachte. Genug, um dich demnächst Badass-Bitch zu nennen.

»Ich … ich war das nicht.« Verstört blickte ich auf meine Hände. »Also schon irgendwie, aber ich hab keine Ahnung, wie das passieren konnte …«

Sag das mal lieber nicht zu laut. Dieser Auftritt war nämlich genau das, was wir gerade brauchen.

Ich runzelte die Stirn. Meine Freundin hatte recht. Trotzdem blieb die ungute Vorahnung, dass mir dieser Vorfall irgendwann noch gehörig auf die Füße fallen würde. Zumindest versprach Noárs Gesichtsausdruck keine Lobpreisungen, als er von meinem Wurzelgeflecht heruntersprang und auf mich zuhielt.

Uuuh, da ist aber einer energisch. Also echt, MaiMai, inzwischen verstehe ich dich wirklich gut. Der Typ ist ’ne Granate, kommentierte Zoey munter weiter. Wo wir gerade beim Thema sind. Ich will ALLES über euren vorgezogenen Honeymoon-Trip erfahren!

Ich rollte mit den Augen. »Das werde ich dir jetzt ganz sicher nicht erzählen. Und sei still! Die Leute müssen ja nicht auch noch glauben, ich wäre eine Selbstgespräche führende Irre.«

Meine Anweisung kam gerade rechtzeitig, denn während ich redete, landeten auf den Baumstämmen um mich herum Dutzende Shendai und silbrig schimmernde Wyvern. Die Tiere fauchten sich an, aber ihre Reiter riefen sie zur Ordnung. Von dem narben-übersäten Shendai zu meiner Rechten stieg ein Mann mit wirren dunklen Haaren ab. Sein nackter Oberkörper war bedeckt mit Schattensymbolen und dem schwarzen Blut von Chaoshunden. Er sah erbärmlich aus, aber das wilde Grinsen auf seinem Gesicht sprühte nur so vor guter Laune.

»Na, guck mal einer an, wer da aus der Versenkung aufgetaucht ist, um uns alle zu retten«, rief Pash mit einer scherzhaften, aber unerwartet eleganten Verbeugung. Der Graf kannte sich bestens mit höfischen Umgangsformen aus, wobei sein Auftreten durchaus dazu verleitete, das zu vergessen.

Bevor ich Noárs verrückten Freund begrüßen konnte, brüllte ein großes Shendai-Weibchen auf, dessen Reiter sich geschmeidig aus dem Sattel gleiten ließ. Diesmal war Rhome nicht als Privatperson unterwegs und strahlte eine solch einschüchternde Autorität aus, dass es mich nicht mehr wunderte, wie er der oberste General der Schattenarmee hatte werden können. Mit ein paar geschickten Sprüngen überwand er die Lücken zwischen unseren Baumstämmen und verneigte sich vor mir.

»Eure kaiserliche Hoheit.«

Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit begrüßte Rhome mich mit meinem offiziellen Titel. Diesmal aber war es Kalkül, wie das kleine Zwinkern bewies, das so gar nicht zu seiner ausdruckslosen Miene passen wollte.

Schien, als wäre die große Amaia-gegen-Noár-Show eröffnet.

»Dürfen wir Euch zu Eurem Verlobten geleiten?«, erkundigte er sich formell. Es klang weniger nach einer Frage als nach einer Aufforderung.

Ich spielte mit und nickte herablassend.

»Nach Euch, General.«

Auf unserem Weg nach unten hüpfte Pash fröhlich von Ast zu Wurzel und Wurzel zu Ast. Rhome dagegen hielt immer wieder an, um mir galant seine Hilfe anzubieten. Ich lehnte sie jedes Mal ab, ohne mir groß Gedanken darüber zu machen. Etwas anderes forderte meine ganze Aufmerksamkeit: Mir war am gegenüberliegenden Ende der Lichtung eine dunkle Gestalt aufgefallen. Zuerst hatte ich sie für einen von Noárs Leuten gehalten, aber irgendetwas war komisch an ihr. Während die Wald- und Schattenkrieger geschäftig herumliefen, Verwundete versorgten und die Kadaver der Chaoshunde fortschafften, rührte sich diese Gestalt nicht vom Fleck. Ihr Gesicht war unter den Schatten der Kapuze verborgen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie in meine Richtung sah.

»Mein Verhalten ist inakzeptabel?«, hörte ich Noárs Stimme über die Lichtung hallen. Ich riss meinen Blick von dem Kapuzenmann los und sah, dass die Waldfürstin meinen Verlobten abgefangen hatte. Das allein wäre nicht schlimm gewesen, wenn sich den beiden nicht noch ein Mann mit silbernem Harnisch angeschlossen hätte. Ifar, der schwarzhaarige Wolkenprinz mit den himmelblauen Augen. Der Mann, der mir vorgemacht hatte, mein Bruder zu sein, um mein Vertrauen zu erschleichen. Der Mistkerl, der mich zu einer Ehe mit ihm hatte zwingen wollen. In mir keimte so eine Aversion gegen diesen Typen auf, dass ich Noárs Tipp zu verstehen begann. Wäre ich von Ifar entführt worden, hätte ich wohl mehr als nur einmal mit meinem Brechreiz zu kämpfen gehabt.

»Ganz ruhig«, flüsterte Rhome mir zu, um mich daran zu erinnern, dass es ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt war, um die Beherrschung zu verlieren. Den Rat hätte er lieber mal Noár geben sollen, denn der schien gerade erst so richtig in Fahrt zu kommen.

»Ich sag dir, was inakzeptabel ist, Ifar. Der Wandernde Wald fällt in deine Zuständigkeit. Trotzdem musste ich die kostbare Zweisamkeit mit meiner Verlobten unterbrechen, um herzukommen und deine Arbeit zu erledigen.«

Der Spott traf den Wolkenprinzen wie eine öffentliche Ohrfeige. Er sah aus, als ob er Noár jede Sekunde an die Gurgel gehen würde.

»Was hast du ihr angetan?«, fauchte Ifar.

Diese Frage überraschte mich dann doch. Ich hätte erwartet, dass er eher sich verteidigen würde als meine Ehre. Was mich allerdings nicht überraschte, war das selbstgefällige Grinsen, das gerade auf Noárs Lippen erschien. »Nichts, was wir nicht beide genossen hätten.«

»Ist das nur deine oder auch ihre Meinung?«, wollte der Wolkenprinz wissen.

»Vorsicht, Ifar!«, murmelte Noár, dem nicht entgangen war, dass die Hand seines Gegenübers zum Schwertgriff zuckte. »Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Neid aus dir spricht.«

»Neid worauf? Etwa darauf, dass du den Einfluss anderer so sehr fürchtest, dass du deine Verlobte verstecken musst?«

Noárs Lächeln gefror. Selbst die Waldfürstin, die das Gespräch bislang schweigend verfolgt hatte, zeigte sich besorgt, als der Schattenprinz einen Schritt auf Ifar zuging.

»Der Einfluss anderer ist mir herzlich egal«, meinte Noár gefährlich leise. »Ich teile nur nicht gerne.«

Diesen Augenblick wählte Rhome, um mit einem Räuspern auf uns aufmerksam zu machen. Ifar fuhr herum und erstarrte.

»Prinzessin Amaia«, stammelte er überfordert. Seine blauen Augen studierten mein Gesicht, meine Kleidung, meine Frisur, als würde er nach irgendwelchen Anzeichen einer Misshandlung suchen. »Geht es Euch gut?«

Rhome ersparte mir eine Antwort und taxierte den Wolkenprinzen unnachgiebig. »Wollt Ihr meinem Herrn etwa unterstellen, er hätte sich nicht angemessen um die Goldene Erbin gekümmert?«

Plötzlich war Ifars scheinbare Fürsorge wie weggefegt. Noár mochte ihm ebenbürtig sein, doch von einem General schien er derartige Provokationen nicht zu dulden.

»Ich hinterfrage nur, was der Schattenprinz als angemessen empfindet«, zischte er Rhome in einem Tonfall an, der seinen Stand und seine Überlegenheit deutlich machte.

Noár intervenierte, indem er an meine Seite schlenderte und die Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte. »Meine reizende Verlobte kann sicherlich Licht ins Dunkel bringen«, meinte er und griff nach meiner Hand, um sie sich genüsslich an die Lippen zu führen. Der Blick, mit dem er mich dabei bedachte, fühlte sich an, als hätte er mich hier vor allen ausgezogen. »Sag mir, habe ich mich angemessen um dich gekümmert?«

Ich spürte, wie mir aus diversen Gründen das Blut in die Wangen schoss. Das machte mich sauer und gleichzeitig auch dankbar. Noár hatte mir eine so unausstehliche Vorlage geboten, dass es mir leichtfiel, darauf zu antworten. Gereizt funkelte ich ihn an.

»Ich werde mich nicht von euch benutzen lassen, um euren lächerlichen Wettstreit voranzutreiben.«

Der Plan ging auf, wie Ifars Verwunderung bewies. Offensichtlich hätte er niemals mit Widerworten meinerseits gerechnet. Noár dagegen stieß ein sinnliches Geräusch aus, mit dem er deutlich machte, wie sehr er meine Aufsässigkeit genoss. Bevor er mich jedoch weiter in Verlegenheit bringen konnte, nutzte die Waldfürstin die Gelegenheit, um einzuschreiten.

»Eine sehr weise Entscheidung, kaiserliche Hoheit«, sagte die blonde Frau, deren Haare an den Schläfen kunstvoll geflochten waren, sodass es die bernsteinfarbenen Symbole des Waldvolks betonte. Überhaupt wirkte die Fürstin ungewohnt kriegerisch, denn anders als bei unseren vorherigen Begegnungen trug sie Hosen und Harnisch und stützte sich auf einem reich verzierten Langbogen ab. »Zumal ihr beide Prinzen heute überflügelt habt. Ohne Eure Hilfe hätten wir das Chaos nie so schnell besiegen können. Mein Volk und ich stehen in Eurer Schuld.«

Den letzten Worten verlieh sie ein ganz besonderes Gewicht, indem sie sich vor mir verbeugte.

Bäm! Da war er, der Moment, in dem mir die Sache auf die Füße fiel. Die Waldfürstin hatte öffentlich verkündet, in meiner Schuld zu stehen. Ich hätte Rhomes scharfes Luftholen nicht gebraucht, um die diplomatisch heikle Situation zu erkennen, in der ich steckte.

»Ich muss Euch widersprechen, Fürstin«, sagte ich schnell. »Unser aller Pflicht ist es, Cassardim vor dem Chaos zu bewahren. Da nehme ich mich nicht aus.«

Mit meiner Antwort verblüffte ich die Umstehenden so sehr, dass man für ein paar Sekunden nur das Zwitschern eines einsamen Vogels hören konnte. Noár, der noch immer meine Hand hielt, drückte sie anerkennend, während die Fürstin bemüht war, eine passende Erwiderung zu finden.

»Nun, dann möchte ich Euch zumindest fragen, ob Ihr mir die Ehre gewährt, Euch heute meine Gäste nennen zu dürfen.« Nach einem flüchtigen Blick in Richtung des Schattenprinzen fügte sie hinzu: »Falls Ihr diese Einladung als ungebührend erachtet, würde ich es natürlich verstehen.«

Noár neigte reserviert den Kopf. »Das ist sehr freundlich, Fürstin Ganaya, aber wir –«

»Wird Moe da sein?«, platzte es aus mir heraus. Die Vorstellung, meinen kleinen Bruder wiederzusehen, ließ alles andere unwichtig erscheinen.

Die Waldfürstin lächelte. »Ich denke, das lässt sich einrichten.«

»Dann nehmen wir Eure Einladung gerne an«, entschied ich, bevor Noár mir widersprechen konnte. Seinem Gesichtsausdruck nach war er ganz und gar nicht begeistert von meinem Alleingang. Auch Ifars gehässiges Grinsen versprach nichts Gutes, aber nun, da die Worte raus waren, vermochte niemand mehr etwas daran zu ändern.

»Wann immer Ihr bereit seid, der Wald wird Euch zu mir bringen.« Fürstin Ganaya verneigte sich vor uns und verließ die Lichtung, die das Chaos hervorgebracht hatte.

DER WALD HAT OHREN

Noár übertrug Rhome die Verantwortung für die Aufräumarbeiten und führte mich – nach einer spöttischen Verabschiedung an Ifar – in einen Teil des Wandernden Waldes, der nicht vom Angriff des Chaos betroffen gewesen war.

Wurzeln, so dick, dass sie selbst als Bäume durchgehen könnten, erhoben sich aus einem dichten Geflecht ihrer kleineren Kameraden. Manche waren wie Mangroven ineinander verschlungen, andere bildeten Bögen und Durchgänge, bevor sie schließlich weit über unseren Köpfen in monumentale Stämme übergingen. Diese ragten so weit in die Höhe, dass ihr blaugrünes Laub fast schon wie ein eigentümlicher Himmel wirkte. Das Rauschen der Baumkronen erinnerte mich an eine sanfte Meeresbrandung. Einzelne Blätter segelten herab. Noch im Fallen veränderten sie ihre Farbe. Erst verschwand der blaue Schimmer, dann wurde aus dem Grün ein sattes Gelb und schließlich ein tiefes Rot. Als die Blätter auf dem Boden ankamen, zerfielen sie in glitzernden Staub. Jetzt verstand ich, warum die Luft hier im Wurzellabyrinth zu funkeln schien. Doch das war längst nicht das Einzige, das hier schimmerte und glänzte. Auch goldene Harztropfen quollen überall aus den moosbewachsenen Stämmen und bildeten skurrile Bernsteinfiguren, die das Licht brachen und –

Ich stolperte und wäre gestürzt, wenn Noár mich nicht aufgefangen hätte. Seine Nähe katapultierte mich für ein paar Atemzüge aus der Realität – zurück in unsere Zeit in Rim Valesh. An seinem flackernden Blick konnte ich sehen, dass es ihm ähnlich ging.

»Wir werden beobachtet«, raunte er mir zu, bevor er mich wieder auf die Beine stellte. Trotzdem verweilten seine Hände länger als nötig an meiner Taille. Bedauernd lächelte er mich an. Da erst verstand ich, was er von mir erwartete. Es kostete mich große Überwindung, doch ich schaffte es irgendwie, ihn von mir zu stoßen und mit einem möglichst wütenden Gesicht weiterzumarschieren. Dieser magische Ort hatte mir das Gefühl gegeben, allein mit ihm zu sein. Nun aber, da ich wusste, worauf ich achten musste, entdeckte ich überall zwischen den Wurzeln Waldkrieger, die uns in gebührendem Abstand folgten. Durch ihre dunkelgrüne Kleidung und die silbergrauen Umhänge verschwammen sie mit der Umgebung.

Nach ein paar Schritten hatte Noár mich wieder eingeholt. Wie so oft strahlte seine Haltung kühle Arroganz aus, doch seine gedämpften Worte waren voller Wärme.

»Es tut mir leid, Kätzchen. Ich hätte dich besser auf die Situation vorbereiten müssen.«

»Ich komm zurecht«, flüsterte ich und schlüpfte unter einer gebogenen Wurzel hindurch. »Solange die Splitter in meinen Händen nur nicht wieder Amok laufen.«

Noár sprang leichtfüßig über dieselbe Wurzel hinweg und versperrte mir den Weg. Aus schmalen Augen funkelte er mich an. »Geht es dir gut?«

Verwirrt nickte ich. Das war irgendwie nicht die Reaktion, die ich erwartet hatte. »Willst du gar nicht wissen, was passiert ist?«, fragte ich ihn mit gedämpfter Stimme.

Er schnaubte. »Ich bin durchaus in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen. Um ehrlich zu sein, habe ich von Anfang an nicht glauben können, dass die Splitter keine Auswirkungen haben würden.«