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Manchmal reicht ein Kuss, um ein Herz zu brechen
Sintha konnte die mysteriöse Mordserie in Enebha zwar beenden, doch der Preis dafür war hoch: Jeder weiß nun, wer sie ist. Darum muss sie nun an der Seite der Monarchin in die Hauptstadt reisen, wo sie als Symbol des Friedens vorgeführt werden soll. Doch das scheinbare Wohlwollen der Monarchin hat ein Ablaufdatum und Arez’ Misstrauen verfolgt sie ebenso wie der Sturm. Wenn es ihr nicht gelingt, den Drahtzieher hinter der gefährlichen Intrige zu finden, in die sie verstrickt wurde, verliert sie nicht nur seine Liebe, sondern auch ihr Leben.
In A Song to Raise a Storm öffnet Julia Dippel die Pforten zu einer bildgewaltigen Fantasy-Welt mit vielschichtigen Wesen, gefährlichen Intrigen, einer prickelnden Liebesgeschichte und einem blutigen Mordfall, dessen Aufklärung Sintha und Arezander mehr kostet, als sie bereit sind zu geben.
***Wer es spicy mag, findet im Buch einen QR-Code, der zu einem Bonuskapitel führt – aber Achtung, hier wird's heiß***
***Mit wunderschön gestaltetem farbigen Buchschnitt von Alexander Kopainski in limitierter Auflage.***
Alle Bände der Sonnenfeuer-Ballade:
// Band 1: A Song to Raise a Storm
Band 2: A Song to Kill a Kiss
Band 3: A Kiss to End a Song – erscheint im Frühjahr 2025 //
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Dank Sintha ist die mysteriöse Mordserie in Enebha zwar beendet, aber der Preis dafür war hoch: Arez hat sein Herz für sie verschlossen. Zu allem Überfluss ist ihr Name nun in aller Munde, weshalb die Monarchin sie zwingt, mit ihr in die glanzvolle Hauptstadt der Menschen zu reisen. Dort soll Sintha als letzte Onyde und Heldin von Valbeth für den Frieden werben. Doch Arez’ Misstrauen verfolgt sie ebenso wie der Sturm, und das geheuchelte Wohlwollen der Monarchin ist lediglich von kurzer Dauer. Viel Zeit bleibt Sintha also nicht, um den Drahtzieher hinter den gefährlichen Intrigen am Karmesinhof zu entlarven, zumal die Schattenseiten ihrer ungewohnten Berühmtheit sie schon bald einholen. Nur eines ist sicher: Misslingt es ihr, der Stimme in den Schatten das Handwerk zu legen, verliert sie nicht bloß Arez’ Liebe, sondern auch ihr Leben.
© http://perkins.photo
Julia Dippel wurde 1984 in München geboren und arbeitet als freischaffende Regisseurin für Theater und Musiktheater. Um den Zauber des Geschichtenerzählens auch den nächsten Generationen näherzubringen, gibt sie außerdem seit über zehn Jahren Kindern und Jugendlichen Unterricht in dramatischem Gestalten. Ihre Textfassungen, Überarbeitungen und eigenen Stücke kamen bereits mehrfach zur Aufführung.
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Julia Dippel
Planet!
Für meinen Papa, der mir die Liebe zufantastischen Geschichten vererbt hat.Ich hoffe, der Himmel ist voll Bücher,in denen du nun schwelgen kannst.
Dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Auf der vorletzten Seite findest du eine Themenübersicht, die Spoiler für den Roman enthält.
Am Ende des Kapitels „Bedingungen“ findest du einen QR-Code, dieser führt zu einem Bonuskapitel. Aber Achtung, hier wird’s spicy!
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Viel Spaß!
Man erzählt sich, dass die Tochter der Onyden-Fürstin den menschlichen Kronprinzen verwunschen und in den Tod getrieben hat. So kam es zum Großen Krieg zwischen Qidhe und Menschen, der für beide Seiten schreckliche Verluste bedeutete. Als die Vakàr sich schließlich um einen Waffenstillstand bemühten, verfiel die Onyden-Fürstin ihrer Rachsucht und befahl den Angriff auf die menschliche Hauptstadt, wo die Friedensverhandlungen bereits im Gange waren. Sie wurden zurückgeschlagen, doch dieses Ereignis, das viele Leben gekostet hatte, brandmarkte die Onyden für alle Zeiten als blutrünstige Verräter. Nun stellte die menschliche Monarchin eine neue Bedingung für das Friedensabkommen: die komplette Ausrottung aller Onyden.
Und die Vakàr fügten sich …
Seit Sintha, die letzte lebende Halb-Onyde, in einem eingeschneiten Gasthaus in Ravenach auf Arezander und seine Skall gestoßen ist, steht ihr Leben kopf. Bislang hat sie sich als unregistriertes Halbwesen (Bhix) bedeckt gehalten und ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung von verbotenen Blutperlen bestritten, doch nun erfahren die Vakàr von ihrer Onyden-Herkunft und von ihren kriminellen Machenschaften. Arez zwingt Sin, ihm im Austausch für eine Begnadigung bei einer Mordermittlung zu helfen. Er möchte sich ihr Onyden-Lied zunutze machen, mit dem sie jeden dazu bringen kann, zu tun, was sie will. Dass sie ihre »Opfer« damit jedoch in eine Art Besessenheit treibt, ist Arez anfangs herzlich egal. Er startet sogar einen Testlauf mit dem berühmten Sänger Tillard von Kronsee, der Sin ab diesem Moment verfallen ist.
Da Arez außerdem von ihrem Blut gekostet hat und sie so überall aufspüren könnte, bleibt Sintha keine andere Wahl, als auf sein zweifelhaftes Angebot einzugehen. Gemeinsam heften sie sich dem Mörder an die Fersen und Sin findet heraus, dass der Schneesturm, der alle im Gasthaus festhält, eine unmittelbare Folge des Zusammentreffens zwischen ihr und Arez ist. Als letzte lebende Halb-Onyde ist sie die einzige Möglichkeit, wie die Energie ihres Volks in die Welt strömen kann. Und Arez ist nicht nur irgendein Vakàr, sondern ihr Anführer, der Syr der Syrs, durch den die gesamte Energie der dunklen Qidhe fließt. Das Aufeinanderprallen dieser entgegengesetzten Mächte, die nie dafür vorgesehen waren, am selben Ort zu existieren, verursacht den Sturm. Um ihn zu beenden, müsste einer von beiden sterben oder sie erden die Energien, indem sie miteinander schlafen.
Da sich Sintha und Arez ohnehin zueinander hingezogen fühlen, scheint das die optimale Lösung, doch zuvor müssen sie den Mörder stellen. Der entpuppt sich als Arez’ tot geglaubter Bruder Cjan, der von einer ominösen »Stimme in den Schatten« von Dunkelblutperlen abhängig und damit hörig gemacht wurde. Plötzlich findet sich Sintha in einer gefährlichen Intrige wieder, die in einem Attentatsversuch auf die Monarchin gipfeln soll.
Arez und Sintha geben nun endlich der Anziehung nach und schlafen miteinander. Das zwischen ihnen scheint mehr als nur etwas Körperliches zu sein, bis Sintha zu ihrem Entsetzen herausfindet, dass sich Arez dadurch Immunität vor ihrem Lied erschlichen hat. Zudem prophezeit ihr eine Raga, eine Nachthexe, dass der Syr der Syrs sie nie freigeben wird.
Arez belehrt sie eines Besseren, gesteht ihr seine Liebe und erfüllt seinen Teil der Abmachung. Doch nach dem Tod ihres kranken Vaters und dem Wegzug ihrer schwangeren Halbschwester weiß Sintha mit ihrer Freiheit nichts anzufangen. Sie entscheidet, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben, indem sie Arez dabei hilft, einen erneuten Krieg zwischen Qidhe und Menschen zu verhindern. Deshalb folgt sie den Vakàr nach Valbeth, wo das Attentat auf die menschliche Monarchin stattfinden soll. Eine Verstrickung unglücklicher Umstände führt dazu, dass Sintha allein auf Arez’ Bruder trifft. Cjan fleht sie an, ihn aufzuhalten, weil er sich nicht gegen den Einfluss der Stimme in den Schatten wehren kann. Dafür soll sie ihm in den Rücken schießen, da er sonst gezwungen wäre, sie zu töten. In ihrer Not überwindet sich Sintha zu diesem Schritt und begeht damit das schlimmste Verbrechen in der Welt der Vakàr: Sie verwehrt ihm einen ehrenvollen Tod und verhindert so, dass seine Seele wiedergeboren werden kann.
Nun wird sie von den Menschen zwar als Retterin der Monarchin gefeiert, doch Arez ist zutiefst erschüttert. Er glaubt felsenfest, dass Cjan Sintha niemals um einen unehrenhaften Tod gebeten hätte, was nur einen Schluss zulässt: Sintha lügt. Zudem steht ihr nun eine Verurteilung vor dem Tribunal der Vakàr und damit der Siddac bevor, die grausamste Hinrichtung der magischen Welt.
Allerdings überzeugt ihn die Monarchin, mit dem Vollstrecken der Strafe noch zu warten, bis der Rummel um Sinthas Heldenmut verebbt ist. Dass ein Vakàr der Attentäter war, hat nämlich das Vertrauen in das Friedensabkommen ins Wanken gebracht. Deshalb sollen Sintha und Arez die Monarchin in die Hauptstadt begleiten, wo Sintha, als Halb-Onyde, für den Frieden werben muss.
Sintha fügt sich diesem Plan, denn sie will um Arez’ Liebe kämpfen und den wahren Schuldigen finden: die Stimme in den Schatten.
Keine Ahnung, wer es für eine gute Idee gehalten hatte, mich gemeinsam mit Arez auf ein Schiff zu stecken, aber dieser jemand schuldete mir mindestens zwölf Mahlzeiten und eineinhalb Wochen meines Lebens. Wir konnten von Glück sagen, dass der Sturm noch nicht die Kraft zurückgewonnen hatte, die uns in Ravenach zum Verhängnis geworden war – andernfalls wäre die royale Flotte wohl längst von der wütenden See zermalmt worden.
Natürlich war mir klar, dass weder die Monarchin noch ihre Kapitäne begriffen, wieso dieses verdammte Unwetter uns so penetrant verfolgte wie ein ausgehungerter Straßenköter. Dennoch war ich gerade nicht in der Stimmung, ihre Unwissenheit als Ausrede gelten zu lassen. Möglicherweise nahm ich es auch einfach nur persönlich, dass ich bereits den zwölften Tag in einer winzigen Kajüte verbringen musste – »zu meinem Schutz«.
Ich hasste enge Räume. Ich hasste es, keinen Fluchtweg zu haben. Ich hasste es, eingesperrt zu sein. Nachts war es am schlimmsten, wenn meine Welt sich auf eine verrußte Schifflaterne reduzierte und das kleine Bullauge der Kajüte nur die Dunkelheit meines Gefängnisses widerspiegelte.
»KLAR ZUM BEIDREHEN!«, brüllte jemand an Deck. »FIER AUF DEN GROSSSCHOT!«
Eine mächtige Welle donnerte gegen die Planken des Segelkreuzers. Ich wurde mit dem Rücken in die Ecke meiner Koje gedrückt. Gleichzeitig stemmte ich meine Füße gegen den Bettrahmen, um zu verhindern, dass es mich von der Matratze schleuderte. Ein scharfer Schmerz zuckte durch meinen Bauch. Ich nahm ihn in Kauf, denn wie sich gezeigt hatte, war alles besser, als mit meiner schlecht verheilten Wunde gegen die Kajütenwand zu krachen. Schadensminimierung gehörte für mich inzwischen zur Routine – wobei es mir vorkam, als wäre der Seegang seit Einbruch der Nacht nicht mehr ganz so zerstörerisch wie noch vor ein paar Stunden. Vielleicht durchquerten wir bereits die Bucht vor Cahess, was bedeutete, dass wir unser Ziel bald erreicht hätten.
Der Gedanke drehte mir den Magen um. Wieder. Nur diesmal aus anderen Gründen. Das Anlegen in der Hauptstadt würde zwar den Albtraum dieser Überfahrt beenden, aber dafür einen ganz anderen beginnen lassen.
Ich schloss die Augen und machte mich auf den nächsten Zusammenstoß mit den Gezeiten bereit, als jenseits meiner Lider etwas aufflackerte. Ein schwacher Lichtschimmer – kaum hell genug, um mich zu irritieren. Ich sah dennoch auf und bekam gerade noch mit, wie ein kleiner leuchtender Ball mit Schwung in meinem Beutel landete.
»Nivi?!«
Keine Antwort.
»Verstecken ist sinnlos. Ich hab dich gesehen.«
»Wiiiirklich?« Das gedämpfte Stimmchen des Irrlichts war unter dem ächzenden Gebälk nur schwer zu verstehen.
»Ja.«
»Oh.«
Ich seufzte streng.
»Solltest du nicht längst unterwegs in dein Moor sein?«
Ich hatte das Irrlicht noch in der ersten Nacht auf See aus meinem Beutel befreit und zu Arez geschickt, damit er es vor dem Verblassen retten konnte. Wenn es Nivi nämlich nicht gelang, mich in den Tod zu locken, würde es selbst sterben. Und einzig der Syr der Syrs konnte diese Bindung aufheben.
Es raschelte in meinem Beutel. Ein schuldbewusster Lichtball schwebte heraus und ließ sich auf der Stuhlkante nieder.
»Ich hab den Syr nicht gefunden«, piepste Nivi.
»Du hast ihn nicht gefunden?! Wir sind auf einem Schiff. Und der Syr ist ziemlich groß. Ich bin mir sehr sicher, dass er nicht zu übersehen ist.«
Nivi fiel ein wenig in sich zusammen, was den Eindruck erweckte, es würde verlegen auf seine nicht vorhandenen Füßchen gucken.
»Du hast dich nicht getraut, oder?«
»Doch!«, protestierte es. »Ich war sogar schon an seiner Tür. Und in seiner Wand. Und unter seinem Fußboden.«
»Zwölf Tage lang? Und er hat dich nicht bemerkt?!«
»Nivi kann auch ganz dunkel sein«, erklärte das Irrlicht nicht ohne Stolz. »Und Nivi stinkt nicht so wie Qidhe mit Haut und Fell.«
»Aber diese stinkenden Qidhe hätten vielleicht den Mut gehabt, ihn anzusprechen.«
»Ich war kurz davor, den Mut zu haben!«, verteidigte es sich.
»Aber?«
»Der Syr war beschäftigt.«
»Womit?«
»Hmm … Zähnezeigen … Knurren … böse Schauen …«
»Nivi!« Ich zwang mich, tief durchzuatmen. »Wenn du nicht verlöschen willst, musst du ihn bitten, dir zu helfen!«
Die Reaktion des Irrlichts bestand aus einem winzig kleinen, aber übertrieben lang gezogenen Stöhnen, das jedem schmollenden Menschenkind alle Ehre gemacht hätte.
»Kannst du nicht ins Wasser springen und dich ertränken? Dann wäre alles viel einfacher.«
»Sehr verlockend«, gab ich trocken zurück. »Allerdings würden die Vakàr das nicht erlauben.«
»Hast du nicht gesagt, dass sie dich umbringen wollen? Sie werden bestimmt froh sein, wenn du ihnen die Arbeit abnimmst.«
»Ich glaube nicht, dass die Todbringer sich das Vergnügen nehmen lassen, mich persönlich hinzurichten. Abgesehen davon will mich die Monarchin erst noch ihrem Hof von Stiefelleckern präsentieren, bevor sie mich den Vakàr überlässt.«
»Ach so«, piepste das Irrlicht geknickt. Seine Enttäuschung hielt jedoch nicht lange an. »Schmecken die Stiefel der Monarchin wirklich so gut, dass Menschen daran lecken wollen?«
»Keine Ahnung, hab’s nie probiert. Und jetzt flieg zum Syr und bitte ihn endlich, dich freizugeben!«
»Ich kann nicht.« Aus dem Nichts heraus erhob sich das Irrlicht in die Luft und schwirrte in einem empörten Zickzack vor meiner Nase herum. »Dem Nächsten, der ihn stört, reißt er die Kehle raus. Das hat er zu den anderen Todbringern gesagt. Und die sind seine Freunde. Nivi ist kein Freund des Syrs. Zu mir wird er viel, viel, viel, viel böser sein.«
Ich stutzte. Arez hatte seine Skall bedroht?!
»Du weißt nicht zufällig, worum es ging, als der Syr das gesagt hat?«
»Doch.« Nivi landete auf meinem linken Knie. »Sie streiten immer darüber, wie er dich behandelt. Und das letzte Mal hat der Syr geknurrt und seine Zähne gezeigt und alle fortgejagt.«
Es war um mich gegangen?! Arez’ Skall hatte Partei für mich ergriffen? Mehrmals? Ich wusste nicht, ob mir das mehr Hoffnung machen sollte, weil ich Verbündete hatte, oder weniger, weil Arez sich selbst von seinen engsten Freunden nicht erweichen ließ.
»Und wenn sie dann weg waren, ist der Syr entweder in das fallende Wasser hinausgegangen, wohin ich ihm nicht folgen konnte, oder sein Gesicht ist nass geworden. Nur ein bisschen, aber ich habe das nicht verstanden. Weil große Leute mit nassen Gesichtern immer eine Umarmung brauchen. Aber der Syr hat sein nasses Gesicht nie den anderen gezeigt, sodass sie gar nicht wussten, dass sein Gesicht nass war und sie ihn umarmen müssen. Kannst du es ihnen nicht sagen? Oder ihn selbst umarmen? Vielleicht ist er dann nicht mehr so böse und lässt zu, dass du dich ertränkst?«
Erschüttert blinzelte ich das Irrlicht an.
»Er hat … geweint?«
»Ist Weinen und Heulen das Gleiche? Wie bei Wölfen? Dann nicht. Er war ganz still und Wasser ist aus seinen Augen getropft.«
Tränen …
Das war das Letzte, was ich von Arez erwartet hätte. Nicht, weil er kein Recht darauf hatte. Natürlich hatte er das. Sein Bruder war gestorben. Durch meine Hand. Also ja, Arez durfte trauern. Und ja, er durfte wütend sein. Doch seit unserem Gespräch auf dem Balkon des Eisernen Palais waren all seine Emotionen wie ausgelöscht gewesen – sogar seine Wut. Stattdessen hatte er mich mit Schweigen und unerbittlicher Kälte gestraft. Wenn überhaupt. Denn nachdem er mich hier auf dem Schiff weggesperrt hatte, waren all meine Bitten, ihn sehen oder mit ihm sprechen zu dürfen, ins Leere verlaufen. Zwölf Tage lang. Als würde ich für ihn nicht mehr existieren. Und trotz meines festen Vorsatzes, um Arez zu kämpfen, waren irgendwann Zweifel in mir aufgestiegen. Wie eine leise, aber sehr penetrante Stimme in meinem Kopf, die mein Vorhaben lächerlich und naiv nannte. Sie verlangte, dass ich die Realität akzeptierte: Arez’ Liebe für mich war mit seinem Bruder gestorben und würde nicht zurückkehren. Tag für Tag war diese Stimme lauter geworden, bis ich sie nicht länger ignorieren konnte.
Aber Tränen bedeuteten Gefühle.
Und Gefühle bedeuteten … Hoffnung.
Und diese Hoffnung krachte nun mit einer solchen Wucht auf meine rumorenden Zweifel, dass mir die Luft wegblieb. Mein Herz zog sich sehnsuchtsvoll zusammen und erstarrte gleichzeitig in blanker Panik.
»GROSSSEGEL EINHOLEN UND BERGEN! SCHOT ÜBERNEHMEN! KLAR ZUM AUSGUCK!«
Gerade als die Befehle des Kapitäns übers Deck schallten, hörte ich Schritte vor der Tür. Der rostige Riegel des Schlosses wurde zurückgeschoben. Nivi reagierte schneller und flitzte ins nächstbeste Versteck: meinen Ärmel. Beinahe gleichzeitig krachte die Tür zu meiner Kajüte auf und eine kleine, schwer bewaffnete Vakàrin marschierte herein. Verwundert richtete ich mich auf. Zaha war die Einzige von Arez’ Skall, die meinem Gefängnis hin und wieder einen Besuch abgestattet hatte. Immer dann, wenn meine Bauchwunde Ärger machte. Wie auch die anderen Vakàr, die mich bewachten, hatte sie das stets wortlos getan und mich nie länger angesehen als unbedingt notwendig. Heute war das anders. Ihre stechend hellgrauen Augen musterten mich ebenso ausgiebig wie abfällig.
»Du siehst scheiße aus«, urteilte sie schroff. Dann warf sie mir ein Stück Seife und ein Bündel Kleidung zu. »Bring das in Ordnung. Und beeil dich. Der Morgen graut bereits und wir passieren gerade die Leuchttürme von Cahess.«
Eine Antwort wartete sie nicht ab, sondern stapfte aus dem Raum und ließ mich mit meinem klopfenden Herzen allein.
Wir würden also tatsächlich gleich anlegen …
Ich starrte auf den Stoffberg in meinen Händen. Helles Wildleder mit Lammfellbesatz und goldenen Stickereien. Diese Art von Kleidung zog man nicht an, um sich ungesehen durch Hintertüren zu schleichen, und das bedeutete, unsere Ankunft in der Hauptstadt würde wohl keine Nacht- und Nebelaktion werden. Die Monarchin wollte mich ihrem Volk präsentieren. Verlogenes Miststück!
»Was sind Leuchttürme?«, drang Nivis Stimme aus meinem Ärmel.
Oh Mann, das Irrlicht stellte meine Geduld wirklich auf eine harte Probe. Frustriert legte ich meine neue Garderobe beiseite und schnappte mir die Seife.
»Lichter in der Nacht, die den Menschen den Weg weisen.«
Ein leuchtendes Köpfchen schob sich aus meinem Ärmel und sah mich erstaunt an. »Wie Nivi?«
»Eher das Gegenteil«, murmelte ich und pflückte den Lichtball von meinem Handgelenk. »Du lockst Menschen in den Tod. Ein Leuchtturm zeigt, welchen Weg sie wählen müssen, damit sie sicher sind.«
»Dann gehen wir jetzt also an einen sicheren Ort?«
Ich öffnete den Mund und schloss ihn direkt wieder, weil es auf diese Frage nur eine Antwort gab, von der ich beim besten Willen nicht wusste, wie ich sie einem Irrlicht erklären sollte.
Nein, Cahess war nicht sicher. Genau genommen gab es für mich keinen gefährlicheren Ort. Die Stadt war das Herz der Menschenwelt, der Regierungssitz der Monarchin und … das Reich der Stimme in den Schatten.
Meine Beine zitterten, als ich die Treppe an Deck hochstieg.
»Weiter«, blaffte der Vakàr, der mich aus meiner Kajüte geholt hatte. Ich nannte ihn insgeheim den Stierschädel. Er war zwar weder groß noch bullig, aber er starrte mich gerne mit gesenktem Kopf und irren Augen in Grund und Boden. Seine Gefährtin dagegen besaß die Statur und die emotionale Ausdruckskraft einer Schrankwand. Sie war es, die mich ruppig die letzten Stufen hinaufschob.
Draußen hieß mich der Sturm in seinen Armen willkommen wie eine alte Freundin. Blitze zuckten durch die Wolken, während mir eisiger Regen ins Gesicht peitschte. Ich kniff die Augen zusammen, um sie vor Wind, Wetter und dem Tageslicht zu schützen. Sogar das trübe Morgengrauen kam mir im Moment schmerzhaft hell vor.
Meine Bewacher nahmen darauf keinerlei Rücksicht. Auch meine Verletzung, der Schlafmangel und die vielen Mahlzeiten, die mir dank des stürmischen Seegangs hochgekommen waren, schienen sie nicht gnädig zu stimmen. Ungerührt drängten sie mich über die rutschigen Decksplanken vorwärts, während meine Knie immer wieder unter mir nachzugeben drohten. Zu allem Überfluss krabbelte Nivi in meinem Ärmel herum wie eine panische Hummel. Das Irrlicht hatte sich geweigert, in meinen Beutel zurückzukehren, und dafür hoch und heilig versprochen, sich unauffällig zu verhalten. So viel dazu.
Ich blendete meinen kleinen Passagier aus und konzentrierte mich darauf, nicht hinzufallen, wodurch ich um ein Haar in einen Matrosen hineingelaufen wäre. Der junge Bursche wich mir in letzter Sekunde aus, wurde kreidebleich und stolperte hastig davon. Die Angst in seinem Blick war nicht zu übersehen und traf mich unerwartet heftig. Ich musste mich erst noch daran gewöhnen, dass inzwischen alle von meiner Abstammung wussten. Die meisten kannten Onyden zwar nur aus alten Legenden oder den Kriegs-geschichten der Großeltern, doch das änderte nichts an ihrer unumstößlichen Meinung über mein Volk: Onyden waren Verräter. Sie waren gefährlich. Sie waren der Feind.
»Zum Landungssteg!«, knurrte der Stierschädel.
Mittlerweile hatte ich mich an das Tageslicht gewöhnt und wagte es, meine Umgebung ein wenig näher in Augenschein zu nehmen. Die Matrosen in ihren rot-weißen Uniformen waren emsig dabei, das Schiff zu vertäuen. Befehle wurden über Deck gebrüllt und fanden ein mehrfaches Echo an den anderen Docks. Auch die übrigen Schiffe unserer Reisegemeinschaft legten gerade an. Allen voran das Flaggschiff der Monarchin. Doch als ich den Blick weiter durch die Regenschleier schweifen ließ, presste mir die Aussicht die Luft aus den Lungen. Im Süden teilten zwei mächtige Leuchttürme den grauen Himmel. Wie stumme Wächter flankierten sie die Zufahrt zum Hafen. In ihren Schatten schaukelten die Masten zahlloser Schiffe, von denen mindestens die Hälfte die Flaggen der royalen Kriegsflotte trug. Entlang der Docks erstreckten sich wuchtige Ziegelbauten und Kasernen mit verzierten Erkern, Fenstern und Zinnen. Sie allein hätten schon als wehrhafter Palast durchgehen können und doch wirkten sie eher bescheiden im Vergleich zu dem Prunkbau dahinter. Majestätisch erhoben sich sieben Türme und die legendäre Goldkuppel von Cahess aus dem Meer blutroter Dächer. Der Karmesinpalast der Monarchin.
»Ist das Ehrfurcht oder versuchst du, dich im Regen zu ertränken?«
Eine altbekannte Stimme ließ mich zusammenzucken. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich den Anblick des Palasts mit weit geöffnetem Mund bestaunt hatte. Ich presste die Lippen aufeinander und sah mich nach dem Sprecher um. Neben der Landungsbrücke stand Riven, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
»Zu schade aber auch«, murmelte ich und versuchte, die latente Feindseligkeit zu ignorieren, die der junge Vakàr ausstrahlte. »Ich dachte schon, ich könnte meinem Schicksal mit einem ausgeklügelten Selbstmordplan entkommen.«
Keine Reaktion. Früher hätte Riven meinen Sarkasmus zumindest mit einem Schmunzeln belohnt. Jetzt zuckte er nicht einmal mit der Wimper. Er schickte den Stierschädel-Vakàr und dessen Schrankwand-Schatten mit einem Nicken fort und richtete seine Augen wieder auf das Geschehen an den Dockstraßen. Jetzt sah auch ich, dass sich dort trotz des Sturms unzählige Bürger versammelt hatten, um die Rückkehr der Monarchin zu feiern. Soldaten hielten sie mit Absperrungen vom Hafen fern, aber der Weg zum Palast führte direkt durch die Menge hindurch.
»Sie sind nicht nur wegen der Monarchin hier. Alle wollen die Halb-Onyde sehen, die den Frieden gewahrt hat, die Retterin Ihrer Majestät, die Heldin von Valbeth.« Der Spott in Rivens Stimme fühlte sich wie eine Ohrfeige an. »Du solltest ein Lächeln für sie aufsetzen.«
Ich schnaubte leise. »Ihr könnt mich in diese alberne Verkleidung stecken und nennen, wie ihr wollt. Ein Lächeln werdet ihr bestimmt nicht bekommen.«
»Diese alberne Verkleidung«, meinte Riven und deutete auf meine strahlende Wildledergarderobe, »wahrt den Schein. Und der Schein ist im Moment alles, was dich am Leben hält, Sin. An deiner Stelle würde ich artig ›Danke‹ sagen und mein Bestes geben, um deine Rolle perfekt zu spielen. Andernfalls verlierst du die Gunst der Monarchin. Und dann … wartet nur noch der Tod auf dich.«
»Wie konnte ich das vergessen«, höhnte ich. »Natürlich kennt meine Dankbarkeit keine Grenzen.«
Rivens Hand spannte sich um die Reling. Ich sah seine Knöchel hervortreten und spürte, wie das Eisen unter seiner Haut tobte. Er war eindeutig wütend, auch wenn das Gesicht unter der Kapuze und seinem sauber gestutzten, schwarzen Bart nicht die kleinste Emotion zeigte.
»Nur, um hier eins klarzustellen«, meinte er und fixierte mich mit unerbittlicher Härte. »Arez behandelt dich besser, als er dürfte. Ein wenig Dankbarkeit wäre also tatsächlich nicht zu viel verlangt.«
»Besser, als er dürfte?!«, wiederholte ich fassungslos. Das war lächerlich. »Er ist der Syr der Syrs. Ich weiß, dass er –«
»Du weißt gar nichts, Sin!«, fiel Riven mir ins Wort. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Stimme im Zaum zu halten. Er ließ die Reling los und baute sich so nah vor mir auf, dass ich den Kopf heben musste, um ihm ins Gesicht blicken zu können. »Dir wird das schlimmste Verbrechen zur Last gelegt, das es in der Welt der Vakàr gibt. Der Siddac wartet auf dich, und wir werden Sorge tragen, dass du lange genug überlebst, um deine Strafe zu erhalten. Mehr nicht. Jeder Vakàr, der dir hilft oder dein Leid erleichtert, wird dir in den Tod folgen. So will es unser Gesetz. Was denkst du, warum Arez Zaha im Eisernen Palais Einhalt geboten hat, als sie deine Wunde heilen wollte? Aus Boshaftigkeit? Hältst du ihn wirklich für so grausam? Er hat es gemacht, damit Zaha nicht unwissend ihr Leben riskiert. Leider ist er nicht so besonnen, wenn es um ihn selbst geht. Ob du es nämlich glaubst oder nicht, unsere Gesetze gelten auch für den Syr der Syrs. Und trotzdem hat er entschieden, dass du jeden Tag drei Mahlzeiten bekommst. Trotzdem hat er dir deine Habseligkeiten bringen lassen und dir eine eigene Kajüte statt einer Zelle zugeteilt. Trotzdem durftest du in einer warmen Koje schlafen, während die Mannschaft in ihren Hängematten frieren musste. Also ja, ich denke doch, dass ein bisschen Dankbarkeit angebracht wäre.«
Erschütterung rieselte mein Rückgrat hinunter. Ich hatte Nivi falsch verstanden. Arez’ Skall hinterfragte seine Entscheidungen nicht, weil er mir gegenüber zu ungerecht und hartherzig war. Sie machte sich Sorgen um sein Leben, weil er ihnen nicht weit genug ging.
»Aber Arez … hat all das nicht aus Güte getan«, stammelte ich. »Er wahrt den Schein. Nicht mehr und nicht weniger.«
Riven schnalzte mit der Zunge und schaffte wieder Abstand zwischen uns, wobei seine Miene noch missbilligender wurde als zuvor. »Der Schein lässt sich auf viele Arten wahren. Genau wie der Frieden. Deinen Siddac hinauszuzögern, ist nur der bequemste Weg. Allerdings werde ich nicht zulassen, dass Arez sich selbst und unser Volk in Gefahr bringt, bloß weil er seine Gefühle nicht von seiner Vernunft unterscheiden kann.«
»Dem schließe ich mich an«, sagte eine weitere frostige Stimme hinter mir. Erschrocken fuhr ich herum. Keine Armlänge entfernt durchbohrte mich Makeez mit einem vernichtenden Blick. »Ohne Arez ist unser Volk dem Untergang geweiht und das werden wir deinetwegen nicht riskieren.«
In genau diesem Moment erklangen Fanfaren an den Docks, gefolgt von tiefen Trommeln. Das Volk begann zu jubeln. Ich sah mich nach dem Grund dafür um und fand ihn auf dem Flaggschiff einen Steg weiter. Die Entourage der Monarchin strömte in einer gemächlichen Prozession an Land. Zeitgleich spürte ich die Planken unter meinen Füßen erzittern, als mindestens sieben Skalls an Deck unseres Schiffes marschierten. Bei Nheemas schwarzen Fingern, mir war nicht bewusst gewesen, dass Arez so viele seiner Leute mitgenommen hatte. Und sie kamen nicht mit leeren Händen. Die Dunklen Jäger trugen zwei Bahren, auf denen in Leinen gewickelte tote Körper ruhten. Ich ging jede Wette ein, dass es sich dabei um Cjans und Pektors Leichen handelte. Außerdem schleiften sie acht Menschen in schweren Ketten mit sich mit. Gefangene vom Tag des Anschlags. Zumindest nahm ich das an, denn einen von ihnen kannte ich. Sehr gut sogar. Es war Wyn, mein früherer Hin-und-wieder-Liebhaber, der sich als Rebell entpuppt hatte. Er hielt den Blick gesenkt. Seine kräftige Gestalt wirkte ausgezehrt, seine braunen Locken hatten an Glanz verloren, und trotzdem schien er erstaunlich unverletzt zu sein. Noch, schoss es mir durch den Kopf – immerhin hatte die Monarchin unmissverständlich klargemacht, welches Schicksal jeden einzelnen Rebellen in Cahess erwartete.
Übelkeit breitete sich in mir aus. Ich versteckte meine zitternden Hände in den Manteltaschen und wurde das Gefühl nicht los, dass ich Wyn gerade zum letzten Mal sah. Und alles meinetwegen …
»Vorsicht, Bhix-Mädchen. Du solltest lieber nicht öffentlich mit einem Rebellen sympathisieren, wenn man dir deine Rolle abkaufen soll«, zischte mir Makeez ins Ohr.
Zum Antworten kam ich nicht mehr, denn ein donnernder Ruf hallte über das Deck. Drei Mal riefen die Vakàr wie aus einer Kehle: »Atteh kam’ah!«
Dein Weg, unser Ziel!
Man musste die Alte Sprache nicht sprechen, um zu begreifen, was hier gerade vor sich ging, denn die Blicke der Dunklen Jäger waren auf das Achterdeck gerichtet. Genauer gesagt auf einen Mann, dessen bloßes Erscheinen eine solche Macht und Entschlossenheit demonstrierte, dass niemand mit Verstand seinen Rang anzweifeln konnte. Ein schwarzer Umhang wehte von seinen breiten Schultern, während sich seine Winterhimmelaugen einen Überblick über die Lage verschafften. Nicht aus Neugier, sondern aus der Gewissheit heraus, dass alle Aufmerksamkeit auf ihm ruhte – auf ihm, dem Syr der Syrs.
Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass das Chaos in mir losbrach.
Nichts geschah …
Mein Herz fühlte sich taub an.
Trotzdem verlor der Rest der Welt auf einmal an Bedeutung. Ich registrierte am Rande, dass Tye und Zaha an die Seite ihres Syrs traten, doch mein Verstand blendete sie einfach aus. Nur noch er existierte. Arez.
Stocksteif sah ich dabei zu, wie er sich in Bewegung setzte und die Treppe vom Achterdeck hinabstieg. Seine Schritte und seine Haltung wirkten kraftvoll und geschmeidig, wie die eines Raubtiers, das in seinem Territorium keine Konkurrenz und keinen Widerspruch duldet. Allein seine Präsenz verlangte Respekt und strahlte dabei diese abgeklärte Überlegenheit aus, die mich ebenso zur Weißglut treiben wie auch unwiderstehlich anziehen konnte. Nicht einmal der Sturm vermochte an seiner Selbstsicherheit zu kratzen. Ganz im Gegenteil. Der Regen hatte seine zurückgebundenen Haare in ein schwarz glänzendes Kunstwerk verwandelt, während der Wind an ihm zerrte und dabei die ungezähmte Wildheit unterstrich, die in ihm schlummerte. Arez war ein Jäger durch und durch. Eine fleischgewordene Gefahr auf zwei Beinen. Darüber konnte auch seine ungewohnt vornehme Kleidung nicht hinwegtäuschen. Sie war perfekt auf ihn zugeschnitten. Kostspielige schwarze Stoffe, ohne Zierrat, Borten oder Rüschen, die vom Wesentlichen hätten ablenken können.
Ein leises Echo von Wehmut stieg in mir hoch. Das hier war nicht der Arez, in den ich mich verliebt hatte. Es war nur eine leere Rüstung, die so viel unterkühlte Dominanz versprühte, dass es mich unwillkürlich fröstelte.
Zielstrebig steuerte er nun auf die Landungsbrücke zu – genau in meine Richtung. Und obwohl er mich bislang keines Blickes gewürdigt hatte, wusste ich, dass Arez meine Anwesenheit nicht entgangen war. Das machte die Kälte, die ihn umgab, noch unerträglicher. Seit wir uns das erste Mal begegnet waren, hatte er immer wieder gesagt, ich würde ihn nicht kennen. Nie hatte sich diese Behauptung richtiger angefühlt als in diesem Moment.
Dann stand er vor mir – und war doch unendlich weit weg. Noch immer schenkte er mir keinen Funken seiner Aufmerksamkeit. Sein sturmgrauer Blick ruhte auf dem Geschehen an Land. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, gleichwohl seine Miene unmissverständlich zu verstehen gab, dass er lieber in ein Jiggith-Nest gestochen hätte, als auch nur einen Fuß auf den Boden von Cahess zu setzen.
»Hallo, Arez«, flüsterte ich.
Der Wind trug meine Stimme ungehört davon. Niemand reagierte. Sieben unerträglich lange Atemzüge, bevor schließlich ein leises Grollen aus Arez’ Kehle stieg.
»Wir riechen es auch«, meinte Makeez.
Tye nickte. »Schon seit wir angelegt haben.«
»Fünf Kronen, dass sie noch vor der Hauptstraße angreifen«, wettete Riven.
»Zehn Kronen, dass sie es noch vor der alten Bäckerei tun«, hielt Zaha dagegen.
Verwirrt sah ich zwischen den Vakàr hin und her.
»Ich weiß, dass ich in Ungnade gefallen bin, aber wäre es zu viel verlangt, mich einzuweihen? Was riecht ihr?«
Ein abfälliges Lächeln zuckte in Rivens Mundwinkeln.
»Ärger.«
»Keine Klauen und so wenig Blut wie möglich! Das Attentat auf die Monarchin hat dem Ruf der Vakàr schon genug geschadet.«
Arez’ Stimme zu hören, schickte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Die Bedeutung seiner Worte machte daraus ein kaltes Schaudern. Ich versuchte gerade, meine Gedanken zu sortieren, als vor meinem Gesicht plötzlich eine Hand in einem schwarzen Lederhandschuh auftauchte. Sie gehörte dem Syr und war eine offensichtliche Aufforderung.
Ernsthaft?! Arez konnte mir nicht einmal in die Augen schauen und erwartete, dass ich Hand in Hand mit ihm durch Cahess flanierte?
»Danke, ich verzichte.«
»Du hast kein Recht zu verzichten!«, knurrte Makeez.
»Ach, wirklich? Und was wollt ihr tun? Mich zwingen? Als ob das helfen würde, den Ruf der Vakàr –«
Der Rest meines Protests wurde von erneuten Fanfarenklängen und frenetischem Beifall verschluckt. Das Volk skandierte »LANG LEBE DIE MONARCHIN«, während am Nebensteg eine pompöse Sänfte an Land getragen wurde.
Für einen Moment war ich abgelenkt. Das genügte Arez, um mich zu überrumpeln. Er schnappte sich meine Hand und marschierte los. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu fügen – zumal ich nicht wie ein Kleinkind hinter ihm hergezogen werden wollte.
Dieser arrogante Mistkerl! Er wusste genau, dass ich mich nicht wehren durfte, wenn ich meine Gnadenfrist nicht aufs Spiel setzen wollte. Die Monarchin brauchte mich als Aushängeschild für den Frieden. Als harmloses, vertrauenswürdiges Aushängeschild. Da käme es bestimmt nicht gut, wenn ich den Syr der Syrs schon bei erster öffentlicher Gelegenheit ins Hafenbecken stieß.
Obwohl es mich durchaus in den Fingern juckte …
»Denk nicht mal dran!«
Arez’ leise Warnung ließ den Odem in meinem Blut hochkochen. Oh nein, Wut war das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte! Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange und versuchte, bis zehn zu zählen.
Eins … zwei … drei …
Wenn die wütende Onyde in mir die Kontrolle an sich riss, wäre ein Bad im Hafenbecken noch das Netteste, womit Arez rechnen konnte. Viel eher würde Blut fließen. Und blutige Goldkrallen samt leuchtender Onyden-Augen riefen gerade in Cahess keine besonders rosigen Erinnerungen wach.
Vier … fünf … sechs …
Wir erreichten das Ende der Landungsbrücke. Der Puls hämmerte mir so dröhnend in den Ohren, dass Trommeln, Jubel und Fanfaren nur noch durch einen dichten Nebel zu mir drangen. Kaum tat ich jedoch den ersten Schritt auf den Anlegesteg, wurde ein anderes Problem viel akuter. Nach zwölf Tagen auf See spielte mein Gleichgewichtssinn plötzlich verrückt. Der massive Steg schien unter meinen Füßen zu schwanken, als wäre ich immer noch auf dem offenen Meer. Nur unter großer Anstrengung gelang es mir, halbwegs geradeaus zu gehen. Erst seekrank und jetzt landkrank?! Die Götter hatten wirklich einen beschissenen Sinn für Humor.
Verkrampft setzte ich einen Fuß vor den anderen. Wenigstens erübrigte sich so das Weiterzählen, denn unter den verzweifelten Bemühungen, nicht hinzufallen, wurde meine Wut zweitrangig.
Arez’ Finger schlossen sich fester um meine. Es fühlte sich wie eine stumme Ermahnung an, mich zusammenzureißen. Kein Wunder, wir hielten bereits auf das Ende des Stegs zu, wo der schillernde Tross der Monarchin vorbeizog. Die vielen Gesichter verschwammen vor meinen Augen. Ich sah nur ein Wirrwarr aus Seide, Brokat, Pelz, Federn und Edelsteinen.
Ohne Vorwarnung drosselte Arez seine Geschwindigkeit, was mich gefährlich ins Wanken brachte. Erst verstand ich nicht warum, bis sich die prächtig geschmückte Sänfte der Monarchin in mein Sichtfeld schob. Unter dem Baldachin thronte die zierliche Gestalt der alten Herrscherin. Ihr Haupt war von einem schwarzen Spitzenschleier verhüllt und von glitzernden Rubinen gekrönt. Während sie vorbeigetragen wurde, streckte sie die Hand nach mir aus und fasste sich anschließend ans Herz. Prompt schallte es von irgendwoher: »EIN HOCH AUF DIE HELDIN VON VALBETH!«
Die Gunstbekundung der Monarchin lenkte alle Aufmerksamkeit auf mich. Applaus schwappte mir entgegen, doch nur wenig Begeisterung. Ich nahm vor allem kühles Interesse, Skepsis und latente Abscheu wahr. Genau genommen trafen sie mich wie ein Tritt in den Magen. Ich wusste, dass man irgendeine Reaktion von mir erwartete. Eine Verbeugung? Vielleicht ein Winken? Oder zumindest das Lächeln, von dem Riven gesprochen hatte …
Keine Chance. Selbst wenn ich gewollt hätte. Meine Muskeln verkrampften und verstärkten den Schwindel. Jetzt war ich froh um den Regen, der es mir erlaubte, mich zwischen meinem Kragen und der Lammfellmütze zu verstecken.
Was danach geschah, bekam ich nur noch bruchstückhaft mit. Wir tauchten in die überfüllten Straßen von Cahess ein. Die schwankende Sänfte vor uns, die marschierenden Skalls hinter uns, eingezwängt zwischen hohen Gebäudefassaden und einem Meer aus Gesichtern. Es gab kein Zurück und kein Entkommen. Rot gekleidete Soldaten verschafften uns gerade genug Platz, um nicht zerquetscht zu werden. Nur eine Richtung stand uns offen: vorwärts. Die pfeilgerade Straße wurde immer enger, als würden die Häuser uns verschlucken wollen. Sie führte direkt zu der Silhouette des Karmesinpalastes. Dahinter kämpfte sich das Licht der aufgehenden Sonne durch die Regenschleier. Donner grollte. Mein Herzschlag hämmerte durch meine Gedanken. Die Pflastersteine unter meinen Stiefeln verschwammen. Flatternde rote Girlanden zerteilten die aufgewühlten Sturmwolken.
»Atme!« Arez’ Stimme drang durch das Gewirr meiner Sinneseindrücke. Alles in mir sträubte sich gegen seine Anweisung, aber er hatte recht. Atmen und geradeaus gehen. Mehr musste ich nicht tun. Das schaffte ich.
Ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Ich zuckte zusammen. Ein Schuss? Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte völlige Stille. Dann brach das blanke Chaos aus. Schrille Schreie und herrische Befehle erfüllten die Straße. Menschen überrannten in Panik die Absperrungen. Soldaten sprangen auf die Sänfte der Monarchin und schirmten sie mit ihren Körpern vor jeder Gefahr ab. Ich hatte keine Ahnung, ob ich mitten in einem zweiten Attentat gelandet war oder ob etwas anderes vor sich ging, aber meine Instinkte drängten meine Übelkeit in den Hintergrund. Alles in mir schrie nach Flucht. Arez ließ das nicht zu. Er schob mich mit dem Rücken zur Sänfte und bildete mit seiner Skall einen Halbkreis um mich. Eine unüberwindbare Mauer, die mich vom Geschehen abschnitt. Das war keine Bewachung, das war eindeutig eine Schutzmaßnahme. Glaubte er, ich wäre in Gefahr?
Die Vakàr verharrten regungslos, während jeder andere um sein Leben lief. Sie warteten.
Dann fiel ein zweiter Schuss. Durch einen Spalt zwischen Riven und Tye sah ich diesmal, wen es traf: einen der gefangenen Rebellen. Blut spritzte auf das Kopfsteinpflaster und sein toter Körper sackte leblos in sich zusammen.
»Sie wollen sie gar nicht befreien«, rief Zaha über den Tumult hinweg. »Sie schenken ihnen den Tod!«
Arez antwortete mit einem wilden Knurren.
»Südwesten, zweiter Stock«, peitschte sein Befehl durch die Straßen, »und das Dach im Norden.«
Die Skalls, die die Gefangenen bewachten, reagierten schnell und koordiniert. Eine Hälfte zerrte die gefesselten Rebellen in Deckung, die andere Hälfte bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und kletterte die Fassaden hoch.
»WIR STERBEN NICHT FÜR DIE MONARCHIN!«, brüllte plötzlich einer der Gefangenen. »WIR STERBEN FREI! FÜR DEN ASCHEKREIS! MIT STOLZ!«
Sein Ruf war kaum verhallt, da rannte einer der Zuschauer in ihn hinein. Metall blitzte auf. Ein Dolch. Der gefangene Rebell sackte tot zu Boden – gefolgt von seinem vermeintlichen Angreifer, der durch das Schwert einer Vakàrin fiel.
Von überallher ertönte nun das Sirren gezogener Klingen – und nicht nur bei Arez’ Leuten. Scheinbar unbescholtene Bürger warfen ihre Umhänge ab und stürzten sich in den Kampf mit jedem, der sich ihnen auf dem Weg zu ihren Kameraden entgegenstellte.
Jetzt begriffen auch die royalen Soldaten, was los war. Sie schossen blindlings in die Menge.
»REBELLEN!«, kreischte ein Offizier. »BRINGT DIE MONARCHIN IN SICHERHEIT!«
Sofort setzten sich die Träger der Sänfte in Bewegung. Sie pflügten sich rücksichtslos durch das Durcheinander und beraubten uns so unserer Rückendeckung.
»Vollidioten«, schimpfte Riven. Er und Zaha schlossen den Kreis um mich. Doch das nutzte wenig, denn die panische Menge sah in der freigelegten Schneise ihre Rettung. Kopflos stürmten die Menschenmassen der Sänfte hinterher und rissen uns förmlich mit. Arez fluchte.
»Zur Bäckerei!«
Er schob mich in Richtung eines Ziegelbaus, als ein bewaffneter Mann ihm den Weg versperrte.
»NIEDER MIT DEN UNTERDRÜCKERN! FRIEDEN FÜR –«
Ein Wurfmesser aus Zahas Arsenal traf den bärtigen Mann und ließ seine letzten Worte in einem blutigen Blubbern untergehen. Sein Tod lenkte die Aufmerksamkeit weiterer Rebellen auf uns. Plötzlich waren Arez und seine Skall in ein Handgemenge verwickelt. Jemand schlang seinen Arm um meine Taille und wollte mich mit sich zerren. Sengender Schmerz schoss durch meine Bauchwunde. Ich schrie auf und rammte dem Angreifer den Ellbogen ins Gesicht. Zwei Mal. Seine Nase brach, aber er ließ mich nicht los. Rivens Schwert war effektiver. Unvermittelt kam ich frei und wich dem heftigen Kampf aus, der zwischen dem blutenden Hünen und dem Vakàr begann.
»DRECKIGE ONYDE!«, kreischte eine neue Stimme hinter mir. »NIE WIEDER SOLLTET IHR ZURÜCKKEHREN!«
Verwirrt fuhr ich herum und entdeckte auf einem der Balkone eine alte Frau mit struppigen grauen Haaren. Wie von einer Rachegöttin besessen, ragte sie über dem Schlachtfeld auf, schrie sich die Seele aus dem Leib und streckte ihren tattrigen Finger in meine Richtung. »SEHT NUR, WAS PASSIERT, WENN DIESE GOTTVERFLUCHTEN MONSTER AUF UNSEREN STRASSEN WANDELN! SIE HABEN MIR ALLES GENOMMEN.«
Ich hörte, wie jemand meinen Namen rief, aber der Hass, den die Greisin mir entgegenschleuderte, schockierte mich so sehr, dass ich mich nicht rühren konnte.
»VERRECKEN SOLLST DU WIE DIE VERFLUCHTEN REBELLEN. NUR TOTE ONYDEN BRINGEN UNS FRIEDEN!«
Wieder wurde mein Name gerufen. Eindringlich. Und als die Greisin plötzlich eine Pistole in der Hand hielt und auf mich richtete, wusste ich auch, warum. Bevor ich reagieren konnte, zerriss ein Schuss meine Gedanken. Etwas traf mich mit der Wucht eines Steinschlags. Schatten wirbelten um mich herum, während mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Ich fiel. Mein Kopf krachte auf die Straße. Schmerz jagte durch meinen Körper. Rote Schlieren nahmen mir die Sicht. Meine Ohren schrillten. Ich konnte mich nicht bewegen. Herzschlag um Herzschlag rang ich nach Luft. Und als sich meine Sinne endlich klärten, schwebte über mir ein Paar der schwärzesten Augen, die ich je gesehen hatte. Umgeben von einem Gesicht, das meine Welt auf den Kopf stellte. Wieder und wieder.
Arez lag auf mir. Seine Lippen bewegten sich.
Ich verstand nicht, was er sagte, denn seine Nähe und sein besorgter Blick durchdrangen jede meiner Schutzmauern und verwüsteten meine Gefühlswelt. Das hier war nicht der Mann, der vorhin auf dem Schiff seine Gleichgültigkeit zur Schau gestellt hatte. Nein, dieser Blick gehörte dem echten Arez. Dem Arez, der so viel in mir auslöste, dass ich schreien wollte. Dem Arez, dem zu begegnen ich mich gefürchtet hatte. Dem Arez, für den mein Herz schlug. Alles, was geschehen war, spielte in diesem kurzen Moment keine Rolle mehr. Es war, als würden sich unsere Seelen nach einer Ewigkeit, in der wir uns verloren hatten, endlich wiedersehen. Eine stumme Verbindung. Ein stummes Geständnis. Stumme Gewissheit.
Ich wusste, dass Arez dasselbe fühlte und sich mit aller Macht dagegen wehrte. Seine Miene wurde immer härter und verschlossener. Helles Silber verdrängte das Schwarz seiner Augen. Er versuchte, den Moment zu kappen, an den ich mich so verzweifelt klammerte. Seine Brauen schoben sich zusammen. Er packte mein Kinn und plötzlich … drehte sich die Welt weiter. Geräusche und Gerüche von Kampf, Tod und Angst brachen über mir zusammen.
»Bist du verletzt?«, wollte Arez wissen, wobei er die Worte so deutlich betonte, als hätte er die Frage nicht zum ersten Mal gestellt.
Sein Handschuh an meinem Kinn fühlte sich komisch an. Irgendwie klebrig feucht. Etwas tropfte auf meine Wange. Blut. Arez’ Blut. Es quoll aus einer Wunde an seiner Schulter. Gütige Götter! Hatte er sich für mich in die Schussbahn geworfen?!
»War das eine Eisenkugel?«, krächzte ich. Die Worte zu formen, fiel mir unendlich schwer, aber meine Sorge trieb mich an.
»Das spielt keine Rolle! Bist du verletzt?«
Natürlich spielte das eine Rolle. Nur Eisen war für einen Qidhe tödlich.
Arez war am Ende seiner Geduld. Er stemmte sich von mir runter und zog mich mit sich auf die Beine. Keine gute Idee. Mir wurde schlecht. Und kalt. Ich taumelte. Meine Knie wollten unter mir nachgeben, aber seine kräftigen Hände hielten mich aufrecht. Nur mein Kopf kippte vornüber und was ich dann sah, ließ mich erschauern. Das helle Leder meines Mantels war durchtränkt von Blut. Und diesmal war ich mir ziemlich sicher, dass es meines war.
Arez’ leiser Fluch ging unter, weil Zaha wie eine Furie herbeistürmte.
»Verdammt noch mal! Wenn du nicht mein Syr wärst, würde ich dir Vernunft einprügeln, dass dir Hören und Sehen vergeht.«
»Heile sie!«, forderte Arez schroff.
»Hast du den Arsch offen? Ich werde –«
Zaha verstummte abrupt und der Tonfall, den Arez nun anschlug, machte selbst mir Angst.
»Ist das die Antwort, die du deinem Syr geben willst?«
»Aber …«
»Jeder hier sieht, dass Sin verletzt ist. Wenn wir sie nicht heilen, wirft das Fragen auf, die einen Krieg entfachen könnten. Also tu, was ich gesagt hab!«
Riven drängte sich in mein Sichtfeld.
»Arez, überlass das der Monarchin. Auch die Menschen haben Heiler. Wenn du –«
»Es reicht!«, fiel der Syr ihm harsch ins Wort. »Mein Befehl, meine Verantwortung!«
Ein unangenehmer Geruch zerrte mich zurück in die Realität. Genervt schob ich meine Nase unter die Decke. Ich versuchte mit aller Macht, mich an meinem traumlosen Schlaf festzuklammern, aber gegen diesen Gestank hatte ich keine Chance. Als ich durch die Wimpern lugte, nahmen Licht und Nebel die Form eines Gesichts an, das vor mir hin und her schaukelte wie eine Boje. Eine Boje mit strahlendem Lächeln und gezwirbeltem Schnurrbart.
»Ich muss mich von ganzem Herzen entschuldigen, dass ich so unhöflich in Eure Privatsphäre eindringe, aber Ihr sollt schon in wenigen Stunden dem Hof präsentiert werden. Und da keine der Hofdamen dazu zu bewegen war, Euch zu Diensten zu sein – was für mein Empfinden der größte Skandal seit Meister Rabors erfundener Affäre mit Ministerin Zibbort ist –, habe ich mir erlaubt, Euch meine bescheidene Protektion anzubieten.«
Tillard von Kronsee verstaute ein Fläschchen mit Riechsalz in der Innentasche seines rotgeblümten Brokatgehrocks und deutete eine formvollendete Verbeugung an.
Was machte der denn hier?! Und wo genau war hier?
Desorientiert rappelte ich mich hoch, woraufhin das Ausmaß meiner Verwirrung sein Maximum erreichte. Das Bett, in dem ich lag, war riesig. Ich kam mir darin wie ein Kinderspielzeug vor – zumal ich ein grotesk puppenhaftes Nachtgewand voller Rüschen trug. Doch selbst dieses Monsterbett wirkte verschwindend klein angesichts des Schlafzimmers, in dem es stand. Die komplette Hütte meines Vaters hätte hier mühelos reingepasst und dabei nicht mal den Kronleuchter an der Decke berührt. Weitere Details konnte ich nicht erkennen, denn das Licht aus sieben übermannshohen Fenstern trieb mir die Tränen in die Augen. Ich musste mehrfach blinzeln, bis ich begriff, dass die zwei vagen Umrisse am Fußende des Betts nicht zur Einrichtung gehörten. Und dann musste ich nochmals blinzeln, um sicherzustellen, dass ich mir die beiden Gestalten nicht bloß einbildete.
Wieso zum Henker standen da Flink und Biber?
Mit einer eleganten Geste präsentierte Tillard die zwei Jung-Söldner. »Diese couragierten Burschen kennt Ihr ja bereits. Sie haben mir erzählt, dass ihre Dienste Euch in den Straßen von Valbeth schon einmal das Leben retten konnten. Den Göttern sei Dank für ihr furchtloses Eingreifen! Nicht auszudenken, was diese Horde von Schuften sonst mit Euch gemacht hätte.«
Horde von Schuften?!
Meine Augenbrauen wanderten in die Höhe, was meine beiden furchtlosen Lebensretter dazu veranlasste, auf einmal ein ausgeprägtes Interesse am Parkettfußboden zu entwickeln. Schien, als hatten sie ihre Heldentaten gegenüber dem Spielmann ein klein wenig ausgeschmückt.
»Aus diesem Grund habe ich es mir erlaubt, sie Euch erneut als Leibwache zuzuteilen«, fuhr der Spielmann fort. »Der Karmesin-palast ist kein ungefährlicher Ort und es schadet sicherlich auch nicht, ein paar bekannte Gesichter um sich zu haben.«
Flink räusperte sich verlegen. »Wir haben nur getan, was jeder tun würde.«
»Ja, genau«, bestätigte Biber und knibbelte nervös am Saum seiner schicken neuen Livree herum. »Keine große Sache.«
»Nicht doch!«, tadelte sie der Spielmann. »Wer so heldenhaft handelt, hat nicht nur eine Prämie, sondern auch jedes Lob verdient.«
Die Jung-Söldner liefen rot an, wobei Biber mit seiner hellen Haut klar im Nachteil war.
»Mit den zweien als Leibwächter ist gleich doppelt für Eure Sicherheit gesorgt, weil Euch meine Wenigkeit höchstpersönlich durch die Untiefen und Fallstricke der royalen Gesellschaft lotsen wird. Natürlich nur, falls Ihr einverstanden seid …«
»Ähm …« Ich wusste nicht, ob ich einverstanden war – ob ich überhaupt einverstanden sein durfte. Überfordert rieb ich mir die Stirn. Meine Erinnerungen endeten mit dem Geschmack von Zahas ekelhaft bitter-vergorener Wunderpaste. Offenbar hatte sie sich Arez’ Befehl gefügt und mich geheilt. Und das bedeutete, dass die unvermeidliche Müdigkeit, die üblicherweise auf diese Behandlung folgte, schuld an meiner Gedächtnislücke war. Ich musste also noch auf der Straße bewusstlos geworden sein. Danach hatte man mich wohl in den Karmesinpalast gebracht, wo die Monarchin nun ungeduldig darauf wartete, dass ich meinen Zweck erfüllte.
Ein Räuspern unterbrach meine Gedankengänge. Tillard sah mich erwartungsvoll an.
»Und? Akzeptiert Ihr mein Protektorat?«
»Ich …«
»Die Frage sollte eher lauten, ob ich es akzeptiere.«
Der dunkle Klang von Arez’ Stimme kroch durch das Zimmer wie ein entferntes Donnergrollen. Unwillkürlich schlug mein Herz schneller. Ich sah mich nach ihm um und fand ihn im selben Moment wie der zu Tode erschrockene Tillard.
»Bei Juns Flöte! Müsst Ihr immer so Furcht einflößend sein?!«
Der Spielmann fuchtelte empört in Richtung der hintersten Zimmerecke, wo Arez im Schatten der gerafften Vorhänge saß. Sein Sessel gehörte eigentlich zur Sitzgruppe in der Mitte des Raums. Offenbar hatte er ihn in die Ecke geschoben und es sich dort mit größtmög-lichem Abstand zum Bett bequem gemacht. Zurückgelehnt, die Arme verschränkt, die Beine ausgestreckt und übereinandergeschlagen.
»Wie lange sitzt Ihr schon da? Und warum seid Ihr überhaupt hier?«, zeterte Tillard weiter und ging ein paar mutige Schritte auf Arez zu. »Das gehört sich nicht. Dies sind die Privatgemächer einer Dame! Mit Eurer ungehobelten Dreistigkeit seid Ihr vielleicht in dieser Hinterweltler-Kaschemme durchgekommen, aber das hier ist der Karmesinpalast Ihrer Majestät. Hier legt man Wert auf Etikette.«
Seine Vorwürfe prallten wirkungslos an Arez ab, der den Spielmann eine Weile musterte, bevor er mit trügerisch sanfter Stimme antwortete: »Nicht ich habe mich in die Gemächer einer schlafenden Dame geschlichen, sondern Ihr. Erneut. Und wie damals in besagter Hinterweltler-Kaschemme steht jene Dame auch heute unter meinem persönlichen Schutz.«
»Unter Eurer Aufsicht wäre wohl die treffendere Beschreibung«, schnaubte Tillard. »Ich bin nicht blind, also lasst uns das Kind ruhig beim Namen nennen. Abgesehen davon wäre es als Beschützer Eure Pflicht gewesen, mich ohne Umschweife zu konfrontieren. Hätte ich Übles im Sinn gehabt, wäre Sintha vielleicht schon tot, während Ihr noch immer in der Ecke sitzt und darüber sinniert, mit welchem mysteriösen Spruch Ihr heute den größtmöglichen Schrecken verbreiten könnt. Das ist untragbar! Die Monarchin sollte von Eurer Achtlosigkeit erfahren.«
Nur mit Mühe verkniff ich mir ein Grinsen. Tillard hatte schon in Ravenach Schneid bewiesen, doch hier im Palast fühlte er sich anscheinend sicher genug, noch eine Schippe draufzulegen. Was sollte ich sagen? Er wuchs mir ans Herz. Von allen Personen, die je unter meinem Bann standen, war er mir eindeutig der Liebste.
Arez teilte meine Meinung nicht. Er erhob sich, was die Stimmung im Raum sofort abkühlte. Mit bedächtigen Schritten kam er auf Tillard zu. In seinen Augen blitzte eine unmissverständliche Warnung auf.
»Vielleicht habt Ihr recht. Ich hätte nicht zögern und Euch gleich das Herz aus der Brust reißen sollen.«
Tillard erbleichte.
»Ihr … Ich … So meinte ich das nicht …«
Sein Gestammel stoppte Arez nicht. Im Gegenteil, der Syr hielt erst an, als er bedrohlich vor dem Spielmann aufragte. Dessen Blick zuckte Hilfe suchend zu Flink und Biber, die ihrerseits damit haderten, wie sie verfahren sollten. Sie packten zwar ihre Schwertgriffe, konnten sich aber nicht dazu überwinden, die Waffen zu ziehen.
All das entging Arez natürlich nicht und er reagierte … konsterniert. So viel Unvermögen schien selbst ihn aus dem Konzept zu bringen. Seine bedrohliche Miene machte einem resignierten Kopfschütteln Platz. Er seufzte, als hätten die Götter ihn dazu verdammt, mit einem Haufen Kleinkinder in die Schlacht zu ziehen.
»Was auch immer Ihr diesen beiden furchtlosen Leibwächtern zahlt, es ist definitiv zu viel.«
»Syr, ich muss doch bitten! Ich hege nur die besten Absichten und –«
Mit einer energischen Geste schnitt Arez dem Spielmann das Wort ab. »Wartet einen Moment. Da gibt es noch jemanden, der Eure flammende Verteidigungsrede bestimmt hören will.«
»W-wie bitte?«
Statt einer Antwort schlenderte er zu einer reich gedeckten Anrichte. Unterwegs deutete er mit einer beiläufigen Geste gen Eingangstür. Einen Augenblick später tat es einen gewaltigen Rumms und die beiden Türflügel krachten schwungvoll auf. Eine Frau stürmte herein, deren Haare dieselbe Farbe hatten wie ihre schiefergraue Uniform. Ihr roter Umhang wippte mit ihren forschen Schritten mit. Sie hatte eine Eskorte von Soldaten im Schlepptau, die sich am Eingang postierte, während sie ungebremst auf Tillard losging.
»Was wird das hier? Niemand darf ohne Vorkehrungen und angemessenen Schutz mit der Onyde sprechen. Meine Befehle diesbezüglich waren unmissverständlich.«
Ihre Stimme klang genauso hart, wie ihr Gesicht aussah. Überhaupt wirkte alles an ihr hart. Ihre Züge, ihre Bewegungen, ihre Frisur, ihre Augen. Als hätte man ein gemeißeltes Stück Granit zum Leben erweckt. Das machte es unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Sie konnte alles zwischen dreißig und sechzig sein, wobei Tillards ehrfürchtiges Entsetzen eher gegen ihre Jugend und für ihren Status sprach. Er räusperte sich und fand zu seiner Eloquenz zurück.
»Generalin Myka, ich weiß Eure Sorge durchaus zu schätzen, aber ich benötige derartige Vorsichtsmaßnahmen nicht. Dieses zarte Wesen dort würde mir nie ein Leid zufügen.«
In einer eleganten Bewegung deutete er auf mich, wobei Flink und Biber eifrig zur Seite sprangen, um die Sicht aufs Bett freizugeben. Der Blick der Generalin folgte Tillards ausgestrecktem Arm. Für den Bruchteil einer Sekunde fixierten mich ihre feindseligen Augen, doch das genügte, um mir durch Haut und Knochen zu dringen.
»Dieses zarte Wesen«, ging sie den Spielmann weiter an, »ist zur Hälfte eine Onyde. Habt Ihr das vergessen? Kreaturen wie sie besitzen kein Gewissen. Und sie hassen uns Menschen. Schlimm genug, dass Ihr Eure eigene Sicherheit vernachlässigt, aber was, wenn sie Euch mit ihrem Lied gezwungen hätte, die Monarchin zu verraten?«
Ihre Vorurteile machten mich fassungslos. Ich holte bereits Luft, um ihr ganz genau zu erklären, wen ich hasste und wen nicht, doch Arez kam mir zuvor. Lautstark stellte er eine Wasserkaraffe ab, an der er sich soeben bedient hatte. Das lenkte die gesammelte Aufmerksamkeit auf ihn. In die Stille hinein sagte er: »Das hätte ich verhindert.«
Sein Gesichtsausdruck ließ weder Zweifel an seinen Worten noch daran, dass er Generalin Myka nicht leiden konnte. Und so, wie sie ihn gerade mit vernichtenden Blicken durchbohrte, beruhte das wohl auf Gegenseitigkeit. Arez gab sich unbeeindruckt. Er griff das Wasserglas, das er sich gefüllt hatte, und bedachte die Generalin mit einer spöttischen Verbeugung.
»Verzeiht, ich wollte Eure kleine Moralpredigt nicht unterbrechen. Fahrt ruhig fort und tut weiterhin so, als wäre ich nicht anwesend. Darin habt Ihr ja Übung.«
Sein charmanter Tonfall war pure Provokation und die grimmige Reaktion der Generalin sprach Bände. Offenbar hatte sie tatsächlich versucht, den Syr zu ignorieren. Nun blieb ihr keine andere Wahl, als Tillard vom Haken zu lassen und sich Arez zuzuwenden.
»Baron Arezander … Ich habe schon gehört, dass die Monarchin Euch die Verantwortung für die Onyde übertragen hat. Was gedenkt Ihr zum Schutz des Hofes zu tun?«
Seinen offiziellen menschlichen Titel betonte sie mit besonderem Nachdruck. War ihr bewusst, dass Arez ihn nicht ausstehen konnte? Oder hatte sie einfach nur Spaß daran, ihn zu demütigen? Schließlich war der Syr weder Mensch noch von niederem Adel, sondern der Anführer seines Volks – ein Rang, der einem Fürsten oder König gleichkam.
Arez ließ sich nicht reizen. Zwar schimmerten seine Augen eine Spur heller als zuvor, aber sein Ton blieb gelassen.
»Wenn Ihr Zweifel hegt, ob ich meiner Aufgabe gerecht werden kann, dann sprecht es aus. Aber erliegt nicht dem Irrglauben, ich müsse mich vor Euch rechtfertigen.«
»Euer Können steht außer Frage, aber Euren Absichten habe ich noch nie vertraut. Ihr bewacht die Onyde? Von mir aus. Meine Leute werden es ebenfalls tun.«
Ein spöttisches Lächeln teilte Arez’ Lippen und entblößte seine Reißzähne. »Wenn Ihr Euch diese unnütze Verschwendung von Ressourcen erlauben könnt. Ich dachte, Ihr hättet ein kleines Rebellenproblem zu lösen?«
Der Seitenhieb saß. Die schmalen Lippen der Generalin verwandelten sich in einen noch schmaleren Strich und die Muskeln an ihren kantigen Kiefern arbeiteten.
»Das habe ich und das werde ich, sobald Ihr mir die Gefangenen aushändigt. Wo wir gerade dabei sind, wann wird das sein?«
Arez antwortete nicht sofort. Er nahm erst einmal einen Schluck Wasser, wobei er Myka nicht aus den Augen ließ. Anschließend zuckte er mit den Schultern.
»Ich hab mich noch nicht entschieden.«
Die Generalin sah aus, als wollte sie ihn mit bloßen Händen erwürgen, doch sie beherrschte sich. Scheinbar saß der Syr am längeren Hebel, was ihr ganz und gar nicht gefiel.
»Ich warne Euch, Baron. Wenn auch nur ein einziger Mensch in den Bann der Onyde gerät, werde ich die Vakàr zur Verantwortung ziehen.«
»Das ist Euer gutes Recht. Sintha fällt in meine Zuständigkeit, die Menschen in Eure. Sollte Sintha in dieser Stadt also noch einmal angegriffen werden, ziehe ich Euch zur Verantwortung.«
»Was ihr verlangt, ist unmöglich«, konterte die Generalin kühl. »Onyden haben Cahess einst mit Blut getränkt. So gut wie jeder hier hat also ein Motiv, die Sonnenfeuer-Bhix tot sehen zu wollen. Ich werde selbstverständlich mein Bestes geben, das zu verhindern, doch garantieren kann ich für nichts.«
»Aber ich!«, verkündete Tillard inbrünstig. »Meine Leibwache wird –«
Myka wirbelte herum. In zwei Schritten hatte sie die Distanz zum Spielmann überwunden und ihn am Revers seines Gehrocks gepackt.
»Diese Angelegenheit geht Euch nichts an, Barde!« Brutal stieß sie ihn zur Tür. »Verschwindet! Und nehmt Eure zwei inkompetenten Blindgänger gleich mit. Ihr habt nicht das geringste –«
»Das habt Ihr nicht zu entscheiden«, fiel Arez ihr ins Wort. »Er darf bleiben. Ich akzeptiere sein Protektorat.«
Damit sorgte er für reihenweise baffe Gesichter. Auch bei mir. Er war vorher selbst drauf und dran gewesen, Tillard rauszuschmeißen. Und jetzt ergriff er Partei für ihn?! Warum?
Myka schien eine Antwort darauf zu haben, denn Erkenntnis verfinsterte ihre Züge.
»Das wird Euch auch nichts nutzen, Vakàr.«
»Wer weiß?«, erwiderte Arez mit einem süffisanten Lächeln. »Tillard ist beliebt.«
»Ganz recht!« Der Spielmann strich sich Gehrock und Frisur glatt. »Meine Protektion wird den Menschen die Furcht vor dieser tapferen jungen Dame nehmen. Sie ist nicht verantwortlich für die Gräueltaten ihrer Vorfahren. Ich sorge dafür, dass die Welt sie so sieht, wie ich es tue. Und das wiederum wird den Frieden wahren, so wie die Monarchin es wünscht.«
Endlich fiel auch bei mir der Groschen. Arez hatte vor, Tillard zu benutzen. Ihn und seinen Einfluss auf die Menschen.
»Ist es nicht das, was auch Ihr wollt?«, erkundigte sich der Spielmann unschuldig. »Den Wünschen der Monarchin entsprechen?«
Myka versteifte sich. »Ich würde mein Leben für sie geben und das wisst Ihr, Barde. Doch bei Euch bin ich mir da nicht so sicher.«
»Meine Loyalität steht außer Frage!«
»Wenn das so ist, solltet Ihr Euch lieber beeilen!« Sie griff nach einem silbernen Kettchen an ihrer Uniform und zog eine Taschenuhr hervor. »Die Monarchin wünscht, dass die Onyde dem Kabinett vorgeführt wird. Und das tritt in weniger als einer Stunde zusammen.«
Damit wandte sie sich ab und stapfte auf den Eingang zu, wo ihre Soldaten wohlweislich die Köpfe gesenkt hielten.
»Ihr werdet Euren Krieg nicht bekommen, Myka«, rief Arez ihr hinterher.
Die Generalin hielt nicht an und drehte sich auch nicht um, doch ich glaubte, sie noch etwas wie »Wir werden sehen« murmeln zu hören, bevor sie den Raum endgültig verließ.
Kaum fiel die Tür ins Schloss, überschlugen sich meine Gedanken. Dunkle Erinnerungen krochen aus meinem Bewusstsein hoch. Ich nahm zwar wahr, dass Tillard entzückt in die Hände klatschte, aber ich konnte nur daran denken, was ich gerade gesehen hatte: eine Frau mit Taschenuhr. Eine mächtige Frau mit Taschenuhr, die offenbar einen Krieg mit den Qidhe wollte.
»Das hat Spaß gemacht, findet ihr nicht auch? Wir werden hervorragende Verbündete abgeben.«
Ich hörte Tillard reden, doch durch meinen Kopf hallte einzig die Weissagung der Raga über die Stimme in den Schatten und ihre Helfershelfer:
»Und hier … endet die Spur, denn die Frau mit Taschenuhr hat mein Blut verschenkt.«
Aufgeregt schlug ich die Decke zurück und robbte aus dem Bett. Im gleichen Moment erfüllte ein gefährliches Knurren das Zimmer. Mein Blick zuckte zu Arez, doch seine schlechte Laune galt ausnahmsweise nicht mir.
»Wir sind keine Verbündete!«, teilte er dem Spielmann mit und stellte gereizt das Glas ab. »Ich dulde Euch hier, weil es meinen Interessen dient. Das kann sich aber jederzeit ändern.«
Seine Machtspielchen waren mir im Augenblick egal, denn die Generalin hatte mich an meine Mission erinnert. Ich hatte mich dem Willen der Monarchin nur aus einem Grund widerstandslos gefügt: um die Stimme in den Schatten zu finden und Arez zu beweisen, dass er mit seinen Unterstellungen falschlag. Allerdings war ich nicht davon ausgegangen, so schnell schon auf eine Spur zu stoßen.
Während Arez seine Standpauke fortsetzte, rutschte ich von der Bettkante und registrierte am Rande, dass mir die Matratze verrückterweise bis zum Bauchnabel reichte.
»Folglich solltet Ihr Euren Nachwuchs-Leibwächtern besser klarmachen, dass ich sie lediglich als Dekoration dulde – was schon schwer genug zu erklären sein wird, wenn sie sich weiterhin wie zwei schreckhafte Kaninchen benehmen. Und sollten sie mir oder meinen Skalls irgendwann in die Quere kommen, garantiere ich nicht für ihre Unversehrtheit.«
Seine Beschreibung von Flink und Biber war leider äußerst zutreffend. Als ich barfuß an ihnen vorbeitapste, bekamen sie große Augen und versuchten, mir unauffällig zu signalisieren, dass jetzt kein guter Zeitpunkt war, um mich einzumischen.
Hatte ich nicht vor. Ich suchte das Badezimmer, das es hier bestimmt geben musste. Je schneller ich mich anzog, desto schneller konnte ich ein paar Nachforschungen anstellen und denjenigen finden, der für alles verantwortlich war.
»Ganz, wie Ihr wollt, Syr Arezander!«, erwiderte der Spielmann überraschend gefasst.