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Eine Welt zwischen Engeln und Dämonen
Als pechschwarze Flügel aus Brielles Rücken wachsen, ist klar, dass etwas völlig falsch läuft. Kann es sein, dass in ihr ein Dämon schlummert? Dennoch wird sie an der Fallen Academy der Engel aufgenommen. Mit ihren schwarzen Flügeln ist sie dort allerdings eine Außenseiterin. Da hilft es auch nicht, dass der attraktive Lincoln Grey ihr das Leben noch schwerer macht. Dann wird ihre Zugehörigkeit an der Academy von höchster Stelle angezweifelt, und damit ist das Chaos für Brielle perfekt ...
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Seitenzahl: 408
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Über die Autorin:
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DANK
Leseprobe - Akademie der Engel Jahr 2
Leia Stone ist eine USA TODAY-Bestseller-Autorin, die schon zahlreiche Bücher veröffentlicht hat. Wenn sie nicht gerade mit ihren zwei Kindern durchs Haus tobt, schreibt sie neue Geschichten oder vergräbt ihre Nase in einem Buch. Zusammen mit ihrem Mann, den Zwillingen und dem Hund der Familie lebt sie in Arizona. Celestial City – Akademie der Engel ist ihr Debüt bei ONE.
Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Michael Krug
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Fallen Academy: Year One«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Leia Stone
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Elena Bruns, Lingen
Covergestaltung: Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven von © faestock / shutterstock; Sergey Nivens / shutterstock; run4it / shutterstock; Kawin K / shutterstock; Chones / shutterstock; HS_PHOTOGRAPHY / shutterstock; YummyBuum / shutterstock; Ihnatovich Maryia /shutterstock; Allgusak / shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-9812-0
one-verlag.de
luebbe.de
Für Hawkwind.Verlier nie deine zügellose Vorstellungskraft.
Meine Mutter schob die Tür zu meinem Zimmer auf und ließ Licht hereindringen. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die plötzliche Helligkeit angepasst hatten. Ich hatte den ganzen Tag in meinem dunklen Zimmer gesessen und mich vor dem Unvermeidlichen gedrückt.
»Es ist so weit«, verkündete Mom resigniert.
Mein Blick wanderte über die harten Linien um ihre Augen, die sich durch jahrelange Sorgen gebildet hatten, dann über die noch tränenfeuchten Wangen, bevor er sich auf das auffälligste Merkmal ihres Gesichts heftete – die rote Mondsicheltätowierung auf ihrer Stirn.
Das Symbol einer Dämonensklavin. Das Symbol meiner Zukunft.
Nickend hievte ich mich mit schweren Gliedern und noch schwererem Herzen vom Bett. Meine Mutter trat zur Seite, als ich an ihr vorbei ins Wohnzimmer ging.
Mikey, mein jüngerer Bruder, saß auf dem Sofa und starrte angestrengt an die glatt verputzten Wände, als könnte er durch schiere Willenskraft das Unvermeidliche verändern. Doch es war aussichtslos. Mein Schicksal war vor langer Zeit besiegelt worden.
»Ich wünschte, ich wäre der Erstgeborene«, murmelte mein kleiner Bruder mit so belegter Stimme, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Mein sonst so bescheuerter Bruder war den Tränen nah, und das brachte mich förmlich um.
Ich wünschte mir das nicht. Im Gegenteil, ich war froh, dass ich als Erste auf die Welt gekommen war. Mein Bruder war viel zu sensibel, um das Leben eines Dämonensklaven zu verkraften. So war es besser.
»Heute wäre es mir am liebsten, ich hätte nie Kinder bekommen«, murmelte meine Mutter niedergeschlagen.
Ich wusste, dass sie es nicht so meinte. Sie wollte mich nur vor dem beschützen, was mir blühte. Wäre ich nie geboren worden, müsste ich mich jetzt nicht meinem elenden Schicksal stellen.
So schlimm waren die Zeiten. Seit dem Engelsfall bestand für niemanden mehr die Hoffnung auf ein normales Leben. Man konnte sich nur entweder vergeblich wünschen, die Dinge wären anders, oder sich einfach damit abfinden, wie sie waren.
Mom wischte sich über die feuchten Augen und straffte die Schultern. »Vielleicht wirst du Nekromantin, so wie ich, und kriegst einen guten Posten. Dann könnten wir nach deiner Ausbildung an der Academy zusammenarbeiten.« Bei dem Gedanken hellte sich ihre Stimmung schlagartig auf.
Ich nickte, obwohl ich es für höchst unwahrscheinlich hielt. Als die Engel vom Himmel gefallen waren und auf der Erde Krieg gegen Luzifer und seine Dämonen geführt hatten, waren unbändige Kräfte freigesetzt worden. Sie waren wie Nordlichter über den Erdball gerast und hatten den Großteil der Bevölkerung infiziert. Durch den Engelsfall verwandelten sich die meisten Menschen in übernatürliche Kreaturen, nur ein kleiner Rest war menschlich geblieben. Welche Gabe – oder welchen Fluch – man hatte, hing davon ab, ob man während des Gefechts mit Engels- oder Dämonenkräften in Berührung gekommen war. Die Verteilung war vollkommen willkürlich und hatte nichts damit zu tun, ob man ein guter oder ein schlechter Mensch war.
Meine Mutter hatte die Dämonenbürde der Nekromantie erhalten und verdiente sich den Lebensunterhalt damit, Tote wiederzuerwecken. Ihre Fähigkeiten waren der einzige Grund, warum wir nicht, wie die Hälfte der menschlichen Bevölkerung, auf der Straße lebten. Allerdings waren diejenigen, die sie wiedererweckte, danach nicht wirklich lebendig – sondern eher so etwas wie Zombies. Bei dem Gedanken daran durchlief mich ein Schauder.
»Nekro wird’s nicht sein, Mom. Ist purer Zufall. Sie könnte genauso gut ’ne Knorplerin werden.« Und da war er wieder, mein sarkastischer Mikey, ganz in seinem Element.
Mom versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Sei einfach still«, schalt sie ihn. Ihr sonst so volles blondes Haar wirkte stumpf und strähnig. Zweifellos hatte sie vor Sorge die vergangenen Nächte kaum geschlafen.
Ich lachte trocken, um die Stimmung aufzuhellen. Sollte ich mich als Knorplerin erweisen, wäre das tatsächlich das elende Sahnehäubchen auf meinem ohnehin bereits elenden Leben. Knorpler besaßen die magische Fähigkeit, Unrat verschwinden zu lassen. Sie rochen buchstäblich nach Mist und galten als Bodensatz der magischen Gesellschaftshierarchie.
Als sich der Engelsfall ereignete, war ich fünf Jahre alt. Mom hatte mir erzählt, dass mein Körper fünf Minuten lang in der Luft geschwebt hatte, als ich von der Magie erfasst worden war. Sie musste mich aufs Bett drücken, weil ich sonst davongetrieben wäre. Mikey war vier, als die Magie ihn erfasste. Seine Haut verfärbte sich damals für über eine Stunde lang grün, und er leuchtete wie ein Weihnachtsbaum.
Meine Mutter trat näher und strich mein hellblondes Haar glatt. »Es tut mir leid. Ich hätte mich damals nie auf diesen Pakt ...«
Mit einer Handbewegung schnitt ich ihr das Wort ab. Offen gestanden konnte ich die Entschuldigung nicht mehr hören.
Dad war damals schwer krank gewesen. Er hatte Krebs, und die gesamte Familie war sich einig gewesen, dass Mom ihre Dienste an die Dämonen verkaufen und zur lebenslangen Nekromantin für das Böse werden sollte, damit die Dämonen Dad heilten. Nur hatten wir dabei das Kleingedruckte des Paktes übersehen, das besagte, dass auch ihr erstgeborenes Kind zur Sklavin oder zum Sklaven auf Lebenszeit für die Gottlosen werden sollte.
Damit hätte ich kein Problem gehabt, wäre mein Vater nicht sechs Monate, nachdem er wieder gesund war, von einem Bus überfahren worden. Sechs Monate Lebensverlängerung, mehr hatte ihm die lebenslange Versklavung meiner Mutter und meiner Wenigkeit nicht gebracht. Das Leben war verkorkst, und ich hatte gelernt, nicht auf Sonnenschein und Regenbögen zu hoffen. Die Einhörner meiner Kindheitsträume waren tot. Geschlachtet.
Das war jetzt sechs Jahre her. Mittlerweile war ich achtzehn Jahre alt. Heute würde ich zur Erweckung gehen, einer magischen Zeremonie, bei der die gefallenen Engel unsere Kräfte enthüllten und damit offenbarten, ob wir Engelssegen oder Dämonenbürde in uns trugen – zumindest die Infizierten unter uns.
Als sich der Engelsfall ereignete und all die Kräfte entfesselt wurden, wusste niemand mit Sicherheit, wer überhaupt davon infiziert worden war, und schon gar nicht mit welchen Gaben oder Flüchen. Als die Engel erkannten, was sie angerichtet hatten, unterdrückten sie sämtliche Kräfte, die jemand erhalten hatte, bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr. Sie konnten die Mutation der Menschen zwar nicht rückgängig machen, aber sie konnten sie zumindest so lange eindämmen, dass den Infizierten eine einigermaßen normale Kindheit blieb.
Sobald meine Kräfte ermittelt wären, würde ich meine Tätowierung als Dämonensklavin erhalten und in der berüchtigten, furchterregenden Tainted Academy eingeschrieben werden. Die anderen würden sich dem Rest der freien Seelen in der Fallen Academy der Engel anschließen. Die Fallen Academy war ein exklusives College für Menschen, die nicht als Sklaven an die Dämonen gebunden waren – überwiegend für jene mit Engelssegen. Die übernatürlich Begabten wurden vier Jahre lang ausgebildet und danach in die Engelsarmee rekrutiert, wo sie im Dienste des Lichts einen anständigen Sold erhalten würden. Es herrschte immer noch Krieg, und ich war im Begriff, mich der falschen Seite zu verschreiben. Mein lebenslanger Dienst für die Dämonen würde heute beginnen, und mir wurde allein beim Gedanken daran übel.
»Ich sollte los. Ich will nicht zu spät kommen«, sagte ich abrupt. Das würde nämlich dazu führen, dass meine gesamte Familie von Dämonen hingemetzelt würde. Sie warteten begierig auf ihre neue Sklavin, eine frische Achtzehnjährige, die sie für den Rest ihres Lebens foltern und zermürben konnten.
Mom brach in Tränen aus. Wieder bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Aber ich musste stark bleiben, sonst würde ich hoffnungslos zusammenbrechen.
»Hab euch lieb. Wir sehen uns nachher«, fügte ich hinzu und schenkte dem Weinen meiner Mutter keine Beachtung, als ich hastig nach meiner neben der Tür hängenden Jacke griff.
»Brielle.« In Moms Stimme schwangen so viele Emotionen mit, dass ich wusste, ich durfte mich nicht umdrehen, weil ich sonst vollkommen die Fassung verlieren würde. »Es tut mir so leid. Verzeihst du mir?«
Die Entschuldigung war alt, die Bitte um Verzeihung hingegen neu. Dachte sie etwa, ich würde ihr einen Vorwurf machen? Wir waren uns alle einig gewesen, dass uns der Heiler-Dämon, bei dem wir damals waren, über den Tisch gezogen hatte. Meine Mom hatte keine Ahnung gehabt, dass ein Blutschwur ihr erstgeborenes Kind miteinbezog. Ich war damals zwölf Jahre alt und reif genug gewesen, um zu wissen, wozu ich sie ermutigt hatte. Wir alle hatten es für meinen Vater getan.
Schließlich drehte ich mich trotz allem um.
»Natürlich verzeihe ich dir, Mom. Wer meine Vergebung nie kriegen wird, das ist dieser Dämonenabschaum.« Ich hasste diese Brut. Wut stieg in mir auf, als ich um meine Zukunft trauerte. Die Zukunft, die ich gehabt hätte, wenn meine Mutter nicht mit Hinterlist und Tücke dazu gebracht worden wäre, mein Leben einzutauschen, um das meines Vaters zu retten.
Mom stand nur da und nickte. »Dein Vater würde ...« Sie konnte den Satz nicht beenden, da ein Schluchzen aus ihr herausbrach. Ich musste schleunigst weg. Angesichts ihrer Verzweiflung würde ich mich nicht mehr lange zusammenreißen können.
Als der Bus meinen Vater vor sechs Jahren erwischte, hatte ich meine Mutter angefleht, ihn wiederzubeleben, damit ich mit ihm reden und ihm sagen könnte, wie sehr ich ihn liebte. Ich wollte nur noch ein Mal die Wärme und Sicherheit seiner Umarmung spüren. Sie hatte sich geweigert, und zu dem Zeitpunkt hatte ich sie dafür gehasst. Als ich älter wurde und begriff, was mit den Wiederbelebten passierte, verstand ich nach und nach. Sie waren Zombies, nur leere Hüllen ihrer früheren Persönlichkeiten. Außerdem hatte sie meinem Vater versprochen, dass sie ihn niemals zurückholen würde.
Plötzlich stürmten sowohl meine Mutter als auch mein Bruder auf mich zu, schlangen die Arme um mich und drückten mich fest an sich.
»Vielleicht bist du ja ’ne Infirma und nutzlos für alle«, murmelte mein Bruder in mein Haar, und wir alle lösten uns lachend voneinander.
Ich knuffte ihn leicht in den Arm. »In dieser Familie ist nur Platz für einen Infirmus, und den hast du dir schon unter den Nagel gerissen.« Er grinste nur und schüttelte den Kopf.
Als Infirmi bezeichnete man nicht-magische Wesen. Gewöhnliche Menschen. In Los Angeles eine Seltenheit, da der Engelsfall hier begonnen hatte. Aber gelegentlich kam es vor. Selbst wenn ich eine Infirma wäre, war ich mir sicher, die Dämonen würden trotzdem eine Verwendung für mich finden. Und genauso sicher war ich mir, dass mein Bruder über magische Fähigkeiten verfügte. Das grüne Leuchten war ein eindeutiges Indiz gewesen.
Wir waren beide keine Infirmi.
Nach jener Nacht hatten sich die Fähigkeiten bei den Erwachsenen sofort gezeigt, unsere hingegen waren unterdrückt worden. Wäre kein schöner Anblick gewesen, einen fünfjährigen Knorpler den Müll von der Straße fressen zu sehen. Wenigstens das war fair gewesen. Man hatte uns eine einigermaßen normale Kindheit zugestanden – soweit man es als normal bezeichnen konnte, mit durch die Straßen streifenden Dämonen und gefallenen Engeln aufzuwachsen. Zumindest konnten Siebenjährige die Toten nicht wieder auferstehen lassen.
»Ich hab euch lieb. Es wird alles gut«, versicherte ich meiner Familie mit so viel Kraft in der Stimme, wie ich aufbringen konnte.
Meine Mutter seufzte schwer, als sie die Hand ausstreckte, um mich an der Wange zu berühren. »Du bist für dein Alter sehr weise.«
Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, unvergossene Tränen stiegen in meine Augen. Das hatte mein Vater immer zu mir gesagt. Tatsächlich waren es seine letzten Worte gewesen, bevor er zur Arbeit aufgebrochen war und uns genommen wurde.
»Ich darf wirklich nicht zu spät kommen. Shea wartet bestimmt schon.« Ich schnappte mir meinen Kapuzenparka und steuerte auf die Tür zu.
Wir lebten in Demon City, dem Ort der Dämonen und ihrer Sklaven, die Erweckungszeremonie jedoch würde in Angel City stattfinden. Dort weilten diejenigen, die sich eines normalen Lebens erfreuten, die freien Seelen und die Engelsberührten. Früher waren Demon City und Angel City zusammen Los Angeles gewesen, aber nach dem Engelsfall hatte man es geteilt und die Hälften umbenannt. Angel City umfasste alles nördlich der Innenstadt: Beverly Hills, Santa Monica, Burbank und Pasadena – im Wesentlichen all die schicken, wohlhabenden Gegenden, in denen die Engelsberührten wohnten. Demon City bestand aus dem Osten von Los Angeles, von Inglewood bis Long Beach, darunter der bezaubernde Vorort Compton, in dem wir lebten.
Ich würde rennen müssen, wenn ich den Bus um 17:15 Uhr erwischen wollte. Rasch schlüpfte ich in den grauen Parka und setzte die Kapuze auf. In Demon City regnete es neunzig Prozent der Zeit. Niemand wusste, warum – vielleicht lag es an der Ballung so vieler Dämonen, jedenfalls schien nur selten die Sonne.
Ohne ein weiteres Wort griff ich mir meinen Rucksack und huschte aus der Wohnung im vierten Stock, die ich mir mit meiner Familie und meiner besten Freundin Shea teilte. Sie wollte sich an der Bushaltestelle mit mir treffen, da sie direkt von der Arbeit zur Zeremonie fahren würde. Zu spät zu einer Erweckungszeremonie zu kommen war keine Option.
Die Zeremonien fanden jedes Jahr am Tag vor Unterrichtsbeginn an der Fallen und der Tainted Academy statt. Sheas und mein Geburtstag lagen nur sechzehn Tage auseinander, weshalb wir zur selben Zeremonie geladen waren. Auch Sheas Schicksal verurteilte sie zur Dämonensklavin, allerdings aus mehr als ungerechten Gründen. Ihre Mutter war drogensüchtig und hatte ihre lebenslangen Arbeitsdienste für eine Tagesration Drogen an einen Dämon verkauft. Als ihre Erstgeborene hatte Shea dasselbe Los wie ich gezogen. Sie war ungefähr zur selben Zeit wie wir nach Demon City gekommen, und wir hatten zusammen schon unglaublich viel erlebt. Als sich ihre Mutter nach Las Vegas abgesetzt hatte, war Shea von meiner Mutter bei uns aufgenommen worden.
Ich stürmte durch die Treppenhaustür und nahm bei jedem Schritt drei Stufen auf einmal. Shea war die Langstreckenläuferin, während für mich eher das Motto galt: »Sprinten, dann keuchend auf dem Boden zusammenbrechen und am liebsten sterben wollen«. Mit einem letzten mächtigen Satz stürzte ich schließlich unten durch die Tür nach draußen. Unmittelbar neben dem Eingang zum Treppenhaus saß Bernie an seinem üblichen Platz. Maximus lag eingerollt zu seinen Füßen und wedelte mit dem Schwanz, als er mich roch.
»Wer ist das? Bist du das, Bri?« Bernie schnupperte. Obwohl der Regen heftig herabprasselte, wusste er irgendwie immer, dass ich es war.
Ich grinste. Bernie war obdachlos und blind wie ein Maulwurf, aber süßer als Zucker. Der netteste Mann, den ich je kennengelernt hatte. Einmal hatte er mir seine einzige Jacke angeboten, als mir kalt gewesen war.
Ich holte einen Blaubeer-Muffin hervor, den ich eigens für ihn in meiner Tasche verstaut hatte, und legte ihn in seine Hand. »Hab heute meine Erweckungszeremonie. Kann jetzt nicht reden, aber ich komm später vorbei und bring dir Abendessen.«
Bernie tätschelte meine Hand und zeigte breit lächelnd seine drei verbliebenen Zähne. Er brach ein Stück von dem Muffin ab und gab es Maximus.
»Mögest du eine Engelsberührte sein«, sagte er und nickte mir zu.
Engelsberührte. Ja, genau. Nicht sehr wahrscheinlich, wenn man bedachte, dass meine Mutter mit einer Dämonenbürde geschlagen war. Und es spielte ohnehin keine Rolle, denn ich würde als Dämonensklavin so oder so in der Tainted Academy landen.
»Danke, Bern. Bin spät dran«, erklärte ich ihm. Ich wusste, dass er niemanden zum Reden hatte und unsere Plaudereien genoss, doch ich durfte mich wirklich nicht verspäten.
»Lauf wie der Wind, Kind!«, rief er und scheuchte mich mit den Armen wedelnd davon. Maximus bellte zur Betonung.
Ich machte auf dem Absatz kehrt, sprintete durch den strömenden Regen und stieß beinahe mit einem winzigen Schlangenwurz-Dämon zusammen. Im letzten Moment gelang es mir, ihm auszuweichen. Trotzdem traf mich sein Geruch mit voller Wucht – Schwefel, Säure und ungefiltertes Abwasser. Igitt. Die roten Knopfaugen und die schwarzen, spiralförmigen Hörner dieser Geschöpfe verursachten mir Gänsehaut. Dabei waren sie im Vergleich mit anderen Dämonen, die durch unsere Gegend streiften, wahre Schönheitsköniginnen. An meinem linken Fuß hatte ich Narben von einem Schlangenwurz-Dämon. Lange Geschichte, aber es war Sheas Schuld.
Kaum war ich um die Ecke auf den Rosecrans Boulevard gebogen, musste ich grinsen, als ich Sheas dunkelbraunen, lockigen Pferdeschwanz aus der offenen Tür des Busses wippen sah. Mit den Füßen stand sie noch auf dem Bürgersteig. »Ich sagte, der Bus soll noch eine einzige gottverdammte Minute warten!«, tobte sie.
Meine beste Freundin war halb Afroamerikanerin, halb Puerto-Ricanerin und sehr temperamentvoll. Entweder tat man, was sie wollte, oder man tat, was sie wollte.
»Ich bin hier!«, rief ich.
Shea drehte sich um, sah mir in die Augen und schüttelte den Kopf. »Immer zu spät.«
Ich lächelte dazu nur, und wir stiegen beide eilig in den Bus. Begrüßt wurden wir vom finsteren Blick einer Dämonensklavin hinter dem Steuer. Ihre rote Mondsicheltätowierung prangte über hasserfüllten Augen mitten auf der Stirn.
»Nächstes Mal mach ich die Tür einfach zu und klemm dein hübsches Füßchen ein!«, drohte sie Shea knurrend.
Shea zuckte unbekümmert mit den Schultern, als wäre es ihr egal. War es vermutlich wirklich. Mit einem gebrochenen Knöchel müsste sie ein paar Tage nicht zur Arbeit gehen, bis ein Heiler-Dämon ihn gerichtet hätte, und das wäre spitze. Als sich Sheas Mutter aus dem Staub gemacht hatte und ihre dreizehnjährige Tochter zurückließ, brach sie damit ihren Sklavenvertrag. Das bedeutete, sie wäre auf der Stelle tot, sollte sie sich je wieder in Demon City blicken lassen. Da die Dämonen Besseres zu tun hatten, als einer Süchtigen hinterherzujagen, zwangen sie stattdessen Shea, den Posten ihrer Mutter zu übernehmen. Seither arbeitete sie für Dämonen.
»Wie war die Arbeit?« fragte ich beiläufig, um mich davon abzulenken, was mir bevorstand. Sowohl Shea als auch ich würden offiziell Sklavinnen der Dämonen sein. Für immer. Unsere Tätowierungen hatten wir noch nicht. Theoretisch konnten uns die Dämonen erst zum Dienst verpflichten, nachdem wir die Erweckung hinter uns hatten. Shea jedoch hatte bisher inoffiziell für den Grimlock-Dämon gearbeitet, dem ihr Vertrag gehörte. Er sorgte dafür, dass sie am Leben blieb und zu essen hatte, daher beschwerte sie sich nur selten.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wie üblich. Meister Grim hat mich Bewerbungsgespräche mit neuen ›Tänzerinnen‹ für seinen Club führen lassen, danach hab ich die Ledersitze mit Bleichmittel und Wasser geschrubbt. Voll der Spaß.« Wie sie beim Wort »Tänzerinnen« Anführungsstriche in die Luft zeichnete, brachte mich jedes Mal zum Lachen.
»Wie genau führt man ein Bewerbungsgespräch mit einer ›Tänzerin‹?« Grim, ihr dämonischer Boss, besaß fünf Striplokale in Demon City. Er verdiente damit einen Haufen Kohle und hatte mehr Sklaven, als ich je bei jemand anderem erlebt hatte. Shea war so etwas wie seine persönliche Assistentin.
Jetzt drückte sie die Brüste zusammen und klimperte mit den Wimpern. Ich prustete los. Obwohl die Welt im Grunde den Bach runtergegangen war, konnte Shea mich immer zum Lachen bringen. »Das ist alles? Ein hübscher Vorbau, und schon ist man dabei?«
Hm, vielleicht konnte das mein Notplan werden, falls meine neue Stelle nicht gut bezahlt wurde. Nekros verdienten recht annehmbar, aber als Knorpler wäre ich arm dran. Mein Boss würde mir kaum genug bezahlen, damit ich mir Essen kaufen könnte. Und meine Mutter würde nicht ewig arbeiten können. Die Arbeit als Nekromantin war hart und laugte die Seele aus. Irgendwann würde ich sie, Mikey und vielleicht sogar Shea versorgen müssen.
Sheas Züge fielen in sich zusammen. »In Wirklichkeit ist es echt traurig. Die meisten der Mädchen sind kaum achtzehn. Manche müssen Kinder durchbringen oder Verträge erfüllen. Ich kann von Glück reden, dass Grim mich nicht zum Tanzen zwingt. Überrascht mich aber, dass ihm nicht aufgefallen ist, mit was für unglaublich tollen Möpsen ich gesegnet bin.«
Ich grinste. »Und mit ’nem hübschen Hintern.«
Sie schmunzelte und drehte den Kopf, um ihren Allerwertesten zu betrachten. »Ist er wirklich«, pflichtete sie mir bei. Mein Lächeln wurde breiter.
»Bist du nervös?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »Was, wenn wir beide Knorpler sind?«
Shea zuckte mit den Schultern und streckte sich, um meine Hand zu greifen. »Dann werden wir die besten Knorpler, die Demon City je gesehen hat.«
Dieses Mal misslang mir mein Lächeln. An dem Tag, an dem wir besondere Fähigkeiten und eine Karriere erhalten sollten, würden wir unsere Seelen verkaufen.
»Was meinst du, wird der Krieg jemals enden? Wird je eine Seite gewinnen? Vielleicht die gefallenen Engel?«, fragte ich Shea. Vor uns tauchte Sonnenschein auf. Der Bus näherte sich Angel City. Hier hatte ich einst gelebt, bis mein Vater krank wurde. Mittlerweile erinnerte ich mich kaum noch daran, aber ich wusste noch, dass die Mehrheit der Menschen dort glücklich gewesen war.
Sheas Blick folgte den an der Scheibe herabrinnenden Regentropfen. Ihre blauen Augen hoben sich deutlich von der bronzefarbenen Haut ab. Sie ließ meine Hand los. »Keine Ahnung. Ich bemüh mich, nicht mehr zu hoffen. Das endet nur in Enttäuschung.«
Der Bus verlangsamte seine Fahrt, als er die Grenzkontrolle erreichte. Ein Wachmann trat hinter der hohen Betonmauer hervor, die Angel City und Demon City voneinander trennte. Nachdem der Wachmann den Ausweis der Busfahrerin geprüft und die beiden einige Worte gewechselt hatten, rollten wir weiter. Warmer Sonnenschein fiel durch die Fenster. Nach Angel City zu fahren, hob die Stimmung auf Anhieb. Ich atmete tief durch, als ich spürte, wie sich die Last auf meinen Schultern verringerte.
Shea schmunzelte. »Du liebst es hier.«
»Du etwa nicht?« Angel City war die normale Seite – die Seite mit den guten Menschen.
»Für dich ist hier dein ursprüngliches Zuhause, für mich nicht«, erklärte sie mit einem weiteren Schulterzucken. »Ich fühl mich auf beiden Seiten gleich.«
Das stimmte. Shea stammte aus New Orleans, und nach dem Umzug in unsere Gegend hatte sie immer nur Demon City als Zuhause gekannt. Sie liebte den Regen und die trüben Tage. Ich dagegen sehnte mich nach einem sonnigen Tag am Strand.
Der Bus hielt direkt vor der Erweckungszentrale. Shea und ich stiegen aus. Als wir die verkehrsreiche Straße überquerten, umklammerte ich fest meinen Rucksack. Wir steuerten die Schlange der Teenager an, die das Gebäude durch eine offene Doppeltür betrat.
»Hier hab ich mal ein Spiel der Lakers mit meinem Dad gesehen. Kann mich zwar kaum daran erinnern, aber wir haben ein Foto davon«, erzählte ich Shea.
»Die Erweckung wartet auf niemanden!«, ließ uns eine schlanke Frau Mitte zwanzig wissen, als wir den Eingang erreichten.
»Warum bestehen die eigentlich darauf, dass wir uns aufbrezeln? Ist ja kein Schulball«, murrte Shea, während wir eilig zu den anderen Wartenden aufschlossen. Was wirklich geschah, wenn man es nicht rechtzeitig zur Erweckung schaffte, wollte ich gar nicht wissen. Ich hatte Geschichten darüber gehört, und die waren alles andere als gut.
»Weil sie dadurch was zu tun haben«, flüsterte ich zurück, bevor mich der finstere Blick der Offizierin traf, die für uns die Tür aufhielt. Ich betrachtete das silberne, spiralförmige Abzeichen an ihrer Jacke. Die Frau war Lichtmagierin. Außerdem prangte gleich darunter das ebenfalls silberne Logo der Engelsarmee.
Im Gänsemarsch steuerten wir auf die Umkleideräume zu. Es war Pflicht, sich für die Zeremonie herauszuputzen. Nach der Erweckung schmissen sie eine große Feier für alle, sogar für die Dämonenhörigen.
»Ich hab gehört, bei der Party danach gibt’s ’nen Schokobrunnen.« Sheas Augen leuchteten. Sie war regelrecht besessen von Schokolade – und von Jungs, aber mehr noch von Schokolade.
Die Offizierin der Engelsarmee bedachte uns mit einem missbilligenden Seitenblick.
Shea starrte gereizt zurück. »Kann ich irgendwie helfen?«, fragte sie in ihrem zickigsten Tonfall. Die gefallenen Engel und ihre Offiziere hielten sich für hochmächtig, über jedermann erhaben, vor allem über unsresgleichen, die Dämonenhörigen.
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Ist bloß jammerschade zu sehen, dass so viele Erstgeborene ihre Leben den Dämonen verschreiben.«
Shea blieb abrupt stehen und drehte sich der Offizierin zu. Meine beste Freundin kochte innerlich. Das war deutlich zu sehen. Ich hoffte, ich würde sie nicht zurückhalten müssen – eine Offizierin zu schlagen, galt als Straftat.
Woher wusste sie überhaupt, dass wir zu einem Schicksal als Dämonensklavinnen verdammt waren? Wahrscheinlich hatte sie die Akten im Voraus durchgesehen und eigens auf unsresgleichen geachtet.
»Glauben Sie, wir hätten uns freiwillig verpflichtet? Oh Mann, dann sind Sie noch dümmer, als Sie aussehen«, fauchte Shea.
Ich erstarrte. Wie würde die Frau reagieren? Zwar hatte ich gehört, dass die Engelsarmee und ihre menschlichen Rekruten versöhnlicher wären als die Dämonenstreifen, die durch unsere Straßen patrouillierten. Wetten würde ich allerdings nicht darauf.
»Nein.« Die Offizierin trat näher an Shea heran. »Dumm ist eher, dass eure Mütter – die Menschen, die für eure Sicherheit sorgen sollten – euer Leben für ihren persönlichen Vorteil an Dämonen verpfändet haben.«
Ich machte einen Schritt auf die Frau zu, bereit, ihr deutlich die Meinung zu sagen, da rief eine andere Frau weiter vorn Sheas Namen auf.
»Shea Hallowell. Dämonenhörig.«
Shea bedachte die Offizierin vor ihr mit einem letzten finsteren Blick, bevor sie in die Reihe zurückkehrte und die Hand hob.
Die andere Offizierin weiter vorn tippte etwas in ein Tablet und bedeutete Shea vorzutreten. Drei andere Jugendliche, die ich aus Demon City kannte, hatten bereits eine kleine Gruppe gebildet. Alle dämonenhörig.
»Brielle Atwater. Dämonenhörig.«
Die Verachtung in ihrer Stimme beim Wort ›dämonenhörig‹ war nicht zu überhören. Unwillkürlich steigerte sich meine Abneigung gegen die selbstgerechte Engelsarmee.
Ich hob die Hand und reckte das Kinn vor. Ja, meine Mutter hatte sich als lebenslange Sklavin an die Dämonen verkauft. Aber sie tat es, um das Leben meines Vaters zu retten. Was hatten wir schon für eine Wahl gehabt? Die gefallenen Engel heilten keine Sterbenden – wegen des freien Willens, des Schicksals und all solchem Quatsch. Sie behaupteten, Menschen mit tödlichen Krankheiten wären dazu bestimmt zu sterben, und dabei sollte sich niemand einmischen. Frömmlerische Mistkerle.
Ich folgte Shea und stellte mich zu den anderen aus Demon City. Insgesamt waren wir zu fünft. Beim Rest handelte es sich um freie Seelen, die in die Fallen Academy aufgenommen werden würden. Magier, Hellsichtige, Zentauren und natürlich die seltenen mythischen Celestials – sie alle zählten zu den Engelsberührten und wurden als »die Guten« betrachtet. Celestials hatte es seit fünf Jahren nicht mehr gegeben. Es hieß, sie hätten so viel Engelsenergie verliehen bekommen, dass sie den gefallenen Engeln beinahe ebenbürtig waren. Erkennen konnte man sie mühelos an den großen weißen Flügeln, kleiner als die der gefallenen Engel, aber identisch. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Celestials ihre Flügel nach Belieben einziehen konnten, die Gefallenen hingegen nicht.
Einmal hatte ich einen gesehen. Einen gefallenen Engel. Kurz bevor mein Dad im Krankenhaus seine Diagnose bekam. Ich war damals neun. Raphael, der Erzengel des Heilens, ging umher und segnete die Kranken – meinen Vater musste er wohl übersprungen haben. Nie werde ich seinen Anblick vergessen oder wie er mich angestarrt hat – als könnte er geradewegs in mein Innerstes blicken. Irgendwie unheimlich.
»Freie Seelen hier lang. Dämonenhörige da lang«, rief die vordere Offizierin.
Die freien Seelen bogen nach rechts in Richtung ihres Umkleideraums ab, während wir anderen nach links marschierten. Eine Dämonensklavin mit der roten Mondsichel auf der Stirn erwartete uns schon. In einer Hand hielt sie einen elektrischen Viehtreiber. Shea und ich sahen uns mit hochgezogenen Brauen an. Eine Sklaventreiberin. Falls jemand von uns kalte Füße bekäme und zu flüchten versuchte, würden wir einen Stromschlag erhalten.
Die Kirsche auf dem Sahnehäubchen.
Wir wurden in einen kleinen – offenbar gemischtgeschlechtlichen – Umkleideraum geführt, wo die Sklaventreiberin auf ein Gestell mit Kleidern für die Frauen und Anzügen für die Männer deutete. »Macht euch vorzeigbar, dann gehen wir raus in den Empfangssaal. Ihr habt fünf Minuten.«
Damit verließ sie den Raum und zog die Tür zu. Ein Klicken ließ vermuten, dass sie uns einsperrte.
»Fünf Mäuse, dass Steph ’ne Knorplerin ist«, wandte sich Ben an die Allgemeinheit. Wir alle lachten, als Stephanie ihm erst den Mittelfinger zeigte und dann auf den Hintern klatschte. Steph und Ben gingen seit mittlerweile über einem Jahr miteinander. Sie wohnten nicht in derselben Siedlung wie Shea und ich, deshalb sah ich sie nur in der Schule, aber sie waren cool.
Shea begann, die Kleider durchzusehen. »In Wirklichkeit könnten wir alle Knorpler sein. Bringt nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.«
Steph und ich wechselten einen Blick. Shea war meine kleine Pessimistin. Sie sah nie den Silberstreif am Horizont oder hegte die Hoffnung, irgendetwas könnte sich wie gewünscht fügen. Das geschah nur bei seltenen Gelegenheiten.
James, der Fünfte unserer Gruppe, saß still in der Ecke und starrte an die Wand. Er war einer dieser perfekten Typen – klug, zum Niederknien gutaussehend ... und schwul.
»Was ist, James?«, fragte ich und ließ mich auf der Bank neben ihm nieder, während die anderen sich leise weiter unterhielten.
»Hatte letzte Nacht bloß ’nen schlimmen Traum, das ist alles.« Abrupt stand James auf und ging hinüber zum Kleiderständer, um sich umzuziehen.
Ich verharrte reglos. James besaß die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Als die gefallenen Engel die Kräfte aller unter achtzehn Jahren abstellten, hatte es ein paar Pannen gegeben – nicht bei jedem erwischten sie die Kräfte zu hundert Prozent.
James hatte prophetische Träume.
Eines Tages kam er schreiend in die Schule und brüllte alle an, nach draußen zu verschwinden. Er löste sogar den Feueralarm aus. Wir rannten alle aus dem Gebäude. Keine zehn Minuten später stürzte ein Helikopter der Engelsarmee in die Seite und jagte unsere Schule in die Luft. James erzählte danach, er hätte davon geträumt und irgendwie gewusst, dass es wahr werden würde. Wenn James also vergangene Nacht einen üblen Traum gehabt hatte, dann tat man das besser nicht leichtfertig ab.
Abwesend griff ich mir ein schwarzes Seidenkleid in meiner Größe und folgte James in den Winkel des Umkleideraums, in dem er sich auszog. Als ich dazu ansetzte, selbst aus dem Shirt zu schlüpfen, warf James einen Blick auf meine Brust. »Pfui Teufel, Möpse.«
Kichernd verdrehte ich die Augen, stieg in das Kleid und streifte mir die zierlichen Träger über die Schultern. »Also ... dein Traum. Müssen wir heute noch mit ’ner Hubschrauberbruchlandung oder so rechnen?«
In der Regel gelang es mir, James zum Lachen zu bringen. Dieses Mal jedoch begegnete er meinem Blick mit versteinerter Miene. Er schien bedrückt.
»Du musst vorsichtig sein«, flüsterte er, als ich aus der Hose schlüpfte.
Jäh hielt ich inne. »Okay, das musst du mir genauer erklären.« Was sollte das bedeuten? Und warum ausgerechnet ich? Er hatte gesagt, ich müsste vorsichtig sein. Ich war ohnehin schon nervös wegen der Zeremonie, und nun klopfte mein Herz in der Brust wie ein Presslufthammer.
James warf einen verstohlenen Seitenblick zu den anderen, die lachten, als Shea die Offizierin der Engelsarmee nachäffte. Dann beugte er sich näher zu mir. »Du bist anders. Sie ...«
In dem Moment schwang die Tür auf, und James richtete sich auf, als die Sklaventreiberin hereinkam.
»Es ist so weit«, verkündete sie knurrend und richtete den elektrischen Viehstock auf uns.
Verdammt. Jetzt wär Telepathie ’ne praktische Fähigkeit.
Mit vor Angst schlotternden Knien folgte ich meiner Gruppe aus dem Umkleideraum. Wenn James meinte, ich müsste vorsichtig sein, erwartete mich sicher nichts Gutes.
Im Zeremoniensaal wurden Dämonenhörige und freie Seelen getrennt voneinander in alphabetischer Reihenfolge platziert. Ich endete neben dem Frauenzimmer mit dem Viehtreiber. Das bedeutete, ich konnte weder bei James nachbohren, was er gemeint hatte, noch konnte ich meine Panik mit Shea teilen. Also saß ich nur da und ließ meine wilde Vorstellungskraft verrückte Theorien spinnen.
Als ich mich umdrehte, entdeckte ich Mom und Mikey in der Menschenmenge. Sie standen im öffentlichen Zuschauerbereich. Allerdings wurde ich durch ihren Anblick nur noch nervöser. Die Zeremonie würde jeden Moment beginnen, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich von der schieren Menge des Adrenalins, das durch meine Adern strömte, in Ohnmacht fallen würde.
Du bist anders. Du musst vorsichtig sein, hatte James gesagt. Wenn das keine unheilvolle Warnung war, dann wusste ich auch nicht.
Ich hatte nicht auf die Bühne geachtet, aber beim Klang einer volltönenden, dröhnenden Stimme blickte ich unwillkürlich auf.
»Willkommen, Erdenbürger!«
Ein Schock durchlief mich, als ich den gefallenen Engel vor mir erblickte. Es war der Erzengel Raphael. Über einen Meter achtzig groß, gewelltes goldenes Haar, stechende blaue Augen. Er sah aus wie Anfang dreißig, genau wie damals, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war. Ich hatte völlig vergessen, dass die Gefallenen nicht alterten. Seine langen, weißen Flügel schillerten so strahlend, dass ich Mühe hatte, ihn direkt anzusehen. Er stand auf der rechten Bühnenseite, die mit weißem Perlmutt gefliest war. Die linke Hälfte hatte man mit schwarzem Onyx ausgelegt. Dort stand ein Grimlock-Dämon und beobachtete den gefallenen Engel mit mürrischem Blick.
»Vor dreizehn Jahren tobte im Himmel ein Krieg, den wir versehentlich auf die Erde gebracht haben«, gestand der Engel. Der Grimlock-Dämon verdrehte die Augen.
»Wir konnten nicht zurücknehmen, was wir der Menschheit angetan hatten, aber zumindest konnten wir eure Kräfte eine Zeit lang eindämmen, damit ihr erwachsen werden konntet. Jetzt ist die Zeit gekommen, diese Kräfte zu befreien, damit ihr in der euch zugeteilten Academy ausgebildet werdet und euch euren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft verdienen könnt.«
Ich hatte Gerüchte über einen Jungen gehört, der vor der Erweckungszeremonie geflohen war. Er hatte ungefähr zwei Jahre auf der Straße durchgehalten, bis sich seine Kräfte von selbst zeigten. Er besaß die Gaben eines Gestaltwandlers, überwiegend dämonisch, obwohl er eine freie Seele war. Ohne Ausbildung hatte er eine ganze Kleinstadt angegriffen und war umgekommen, als die Engelsarmee aufkreuzte, um den Schlamassel zu beseitigen. Und die Moral von der Geschichte: Geh zur Erweckung, hol dir deine Kräfte ab und lass dich in der jeweiligen Academy ausbilden.
Der Dämon trat vor und warf einen langen Schatten auf den Erzengel. »Wenn wir eure Namen aufrufen, betretet ihr die Bühne und geht in den weißen Bereich. Nachdem Raphael eure Kräfte entfesselt hat, geht ihr nach rechts ab und werdet in die Fallen Academy der Engel eingeschrieben, wenn ihr eine freie Seele seid, oder nach links zur Tainted Academy der Verdorbenen, wenn ihr dämonenhörig seid.« Er grinste und präsentierte allen Anwesenden zwei Reihen rasiermesserscharfer Zähne.
Der Erzengel warf dem Grimlock-Dämon einen derart vernichtenden Blick zu, dass es mir eiskalt über den Rücken lief.
»Fangen wir an«, verkündete Erzengel Raphael. Der Dämon trat zurück, verließ die Bühnenmitte und setzte sich zu einem anderen Dämon an den Tisch.
Ich kannte diesen anderen Dämon – er war der Boss meiner Mutter, Meister Burdock, ein Schwefel-Dämon.
Der Besitzer unserer Verträge saß selbstgefällig da. Die pelzigen schwarzen Hörner auf seinem Kopf wuchsen gerade nach oben wie Ohren. Ich hatte etliche Geschichten gehört, wie er diejenigen aufspießte, die ihn in Rage brachten. Er war eine Kreuzung aus Stier und Mensch und würde mein neuer Meister werden. Boshaftigkeit blitzte in seinen tiefschwarzen Augen.
»Tilly Anderson. Freie Seele«, verkündete Raphael, und meine Aufmerksamkeit kehrte zur Bühnenmitte zurück.
Raphael stand in der weißen Hälfte der Bühne. Unmittelbar hinter seiner linken Schulter befand sich ein Typ Anfang zwanzig. Ein Celestial. Groß, mit dunkelbraunem Haar, oben lang und igelig, an den Seiten kurz rasiert. Seine überirdischen Flügel zogen mich in ihren Bann. Ein bläuliches Licht tanzte darüber und brachte sie zum Glühen. Die weißen Federn sahen aus, als enthielten sie Elektrizität.
Ich wusste, wer der Typ war. Der Celestial von vor fünf Jahren. Lincoln So-und-so. Sämtliche Zeitungen hatten über ihn berichtet. Er war überaus selten, da er die Kräfte gleich zweier Himmelswesen in sich vereinte: die des Erzengels Michael und des Erzengels Raphael. Es hieß, er hätte den Verlauf des Krieges beeinflusst, könnte sich einer der höchsten Dämonentötungsquoten rühmen und hätte einen Teil des Tals für Angel City zurückerobert. Obwohl sich Dämonen und gefallene Engel für die Erweckungszeremonien zusammen im gleichen Raum aufhielten, tobte außerhalb dieser Mauern nach wie vor ein Krieg zwischen ihnen.
Nervös betrat Tilly die Bühne, und ich fühlte mit ihr. Als Erste oder Erster zu so etwas aufgerufen zu werden war mies. Richtig Kacke. Ich beugte mich ein wenig vor und drehte den Kopf nach rechts, um Sheas Aufmerksamkeit zu erlangen, aber die Hand der Sklaventreiberin sank auf meinen Oberschenkel und umklammerte ihn, ermahnte mich stumm, nach vorn zu schauen. Ich biss mir auf die Zunge, um mir eine schneidende Bemerkung zu verkneifen. Tilly sah in ihrem pompösen, gelben Abendkleid lächerlich aus. Genau wie wir alle. Aber die Gefallenen legten großen Wert auf Zeremoniell und Respekt, daher vermutete ich, dass wir es für sie taten.
Als Tilly vor dem gefallenen Erzengel stand, konnte ich ihre Anspannung fühlen, obwohl ich über fünfzehn Meter entfernt saß. Die Erweckung war ein furchterregendes Ereignis. Für den Rest des Lebens in ein willkürliches Monster verwandelt zu werden – wie sollte man sich darauf freuen?
Mir fiel eine Gruppe weiterer Offiziere der Engelsarmee auf, die rechts der Bühne darauf warteten, Tilly zu begrüßen. Sobald ihre Kräfte offenbart wären, würde sie an der Fallen Academy aufgenommen, dem schicken Elite-College für die freien Seelen. Es sei denn, sie erwiese sich als Knorplerin. Das war die einzige übernatürliche Rasse, die keine Ausbildung erhielt. Als Knorpler ging man einfach von der Bühne ab und bekam einen Job bei der Abfallbeseitigung der Stadt.
Raphael hielt seine Hände über Tillys Kopf. Von seinen Handflächen rieselte golden-orangefarbener Staub. Wir alle starrten wie gebannt zur Bühne, als der goldene Staub Tillys Haut überzog und sie zum Leuchten brachte wie einen Engel an der Spitze eines Weihnachtsbaums. Da erkannte ich die Wirkung der Kleidung. Tilly sah atemberaubend aus. Allerdings währte die Schönheit nur kurz. Bald fing sie an schwer zu atmen. Ihr Körper krümmte sich vornüber, als habe sie Schmerzen.
Ich hatte noch nie zuvor eine Erweckungszeremonie miterlebt, denn dabei durften nur die betroffenen Familien anwesend sein, und es gab nie Übertragungen im Fernsehen. Nun wusste ich, weshalb. Tilly gab einen winselnden Laut von sich, dann verschwand der Staub, als hätte er nie existiert. Zitternd stand sie da und ließ den Blick über die Menschenmenge wandern. Heilige Scheiße. Ihre zuvor blauen Augen waren schwarz, ihre Haut wirkte weiß wie Papier, ihre Eckzähne zeichneten sich deutlich ab.
Raphael warf einen Blick auf sie und nickte. »Tilly Anderson. Nachtblüterin. Willkommen an der Fallen Academy.«
Ich hörte ein Weinen aus dem Zuschauerbereich und vermutete, dass es von Tillys Mutter kam. Nachtblüter konnten bei Tag nicht nach draußen, weil sie sonst eine allergische Reaktion erlitten. Sie wurden ausgebildet und aufgrund ihrer extremen Stärke und Schnelligkeit im Krieg eingesetzt, aber für freie Seelen galten sie als Sprösslinge der Verdorbenen. Die Kräfte von Nachtblütern fielen unter die Dämonengaben, genau wie die von Gestaltwandlern, Nekromanten und Dunkelmagiern. Tilly würde für den Rest ihres Lebens von den Mitgliedern ihrer Gemeinde gefürchtet werden. Wahrscheinlich würde sie über kurz oder lang nach Demon City ziehen, um sich normal fühlen zu können.
Beschämt ließ Tilly den Kopf hängen und ging von der Bühne ab. Die wartenden Offiziere der Engelsarmee übergaben ihr einen neuen, von der Regierung ausgestellten Ausweis. Für die Ausbildung würde ihr ein Nachtblüter-Lehrmeister zur Seite gestellt werden.
»Brielle Atwater. Dämonenhörig.« Raphaels Stimme riss mich aus meinem Bedauern für Tilly.
Nein. Verflixte alphabetische Reihenfolge!
Ich stand auf. Mir wurde schwindelig, als das Adrenalin durch meinen Körper schoss. Mein Herz pochte heftig gegen den Brustkorb. Wie betäubt bewegte ich mich zur Bühne und bemühte mich, nicht über mein zu langes Seidenkleid zu stolpern.
»Du schaffst das!«, rief Shea. Ich hörte, wie die Sklaventreiberin sie zum Schweigen brachte, dennoch zuckten meine Mundwinkel nach oben, und ich ging eine Spur aufrechter. Egal, was gleich geschähe, heute Abend würde ich trotz allem nach Hause zurückkehren und bei Shea, meiner Mutter und meinem kleinen Bruder sein. Nichts könnte daran etwas ändern. Wenn ich für den Rest meines Lebens einen lausigen Job erledigen müsste, dann sollte es eben so sein. Ich hatte immer noch meine Familie.
Bevor ich wusste, wie mir geschah, erreichte ich die Bühne und stand vor dem gefallenen Engel.
»Brielle.« Er sprach meinen Vornamen aus, als wären wir gute alte Freunde, was mich zugleich beruhigte und noch nervöser werden ließ.
»Ja, Sir?« Ich wusste nicht, was das Protokoll für solche Situationen vorschrieb. Immerhin war ich im Umfeld von Dämonen aufgewachsen, nicht in der Nähe dieser netten, flügeltragenden Geschöpfe.
Raphael blickte traurig auf mich herab. »Ich bedauere die Umstände, in denen du dich befindest«, flüsterte er.
Aus irgendeinem verrückten Grund verspürte ich den Drang, in Tränen auszubrechen. Was machte er mit mir? Er sollte einfach den verdammten Funkelstaub auf mich herabrieseln lassen und es hinter uns bringen! Herzerweichende Reden zu schwingen, würde mir nicht weiterhelfen, sondern mich höchstens schwach wirken lassen.
Ich nickte nur und hielt meine Emotionen zurück. Als ich an Raphael vorbeischaute, erkannte ich Lincoln, der hinter seiner Schulter auftauchte und mich finster anstarrte, als wäre ich der größte Abschaum auf Erden. Das kam mir schon eher bekannt vor. Herablassende Blicke, weil ich zur Dämonensklavin verdammt war, war ich gewöhnt.
Ich geriet in Versuchung, ihm den Mittelfinger zu zeigen, besann mich jedoch eines Besseren und beschloss, die Aufmerksamkeit stattdessen den riesigen, über mir ausgebreiteten Handflächen zu widmen. Immerhin stand vor mir ein gefallener Erzengel, ein Wesen mit unvorstellbarer Macht.
Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, rieselte der Staub auf meine Haut, nistete sich in den Poren ein und kitzelte, während er sich den Weg in meinen Körper bahnte. Ein Kribbeln erfüllte mich, als mir eine unsichtbare Energie über den Rücken kroch. Das Kitzeln ging in ein Brennen über, und mir brach Schweiß aus. Würde ich mich als Knorplerin erweisen? Oder schlimmer noch, als irgendeine Art Dämon wie Tilly? Was, wenn mir Hörner wüchsen? Ich wollte einfach irgendetwas Mittelmäßiges sein. Nicht zu tief unten, nicht zu hoch oben. War man zu mächtig, wurde man nach dem Abschluss an der Tainted Academy zum Dienst an der Kriegsfront verpflichtet. Ich wollte einfach, dass mein Leben im Wesentlichen unverändert blieb.
Ein rotglühender Schmerz schoss von meinem Nabel nach oben zur Brust und trat durch die Schulterblätter aus. Mit einem schrillen Aufschrei fiel ich nach vorn. Solche Qualen hatte ich noch nie zuvor erlebt. Die Ränder meines Sichtfelds färbten sich schwarz, als ich darum kämpfte, bei Bewusstsein zu bleiben. Mein Rücken stand in Flammen, und ich hätte beim Leben meiner Mutter gewettet, dass ich gerade schlimmere Schmerzen als bei der Geburt eines Kindes durchlitt. Galle stieg mir in den Hals. Ich schluckte sie wieder hinunter. So sehr ich mich bemühte, still zu bleiben, der Anblick eines grellen, blendenden Lichts, das hinter mir hervorschoss, und ein reißendes Gefühl in der gesamten Länge meines Rückens ließen mich erneut aufschreien.
Kleider? Die stecken uns für das hier in Kleider? Wo bleibt das Aspirin? Das Morphium? Oder irgendwas!
Endlich ließen die Schmerzen etwas nach und wichen einem dumpf pochenden Pulsieren. Das Japsen der Menschenmenge lieferte mir den ersten Hinweis darauf, dass sich soeben etwas Verrücktes ereignet hatte. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Meine Haut fühlte sich an, als stünde sie von oben bis unten in Flammen. Es schmerzte nach wie vor so sehr, dass ich am liebsten erneut geschrien hätte.
»Brielle!«, brüllte Shea, und ich hörte Tumult von den Sitzreihen. Ich schaute auf, kniff die Augen zusammen. Alles wirkte zu grell. Geräusche kamen mir zu laut vor, Gerüche entschieden zu ausgeprägt.
»Sie ist eine Engelsberührte.« Raphaels Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, sodass ich mir nicht sicher sein konnte, ob ich sie wirklich gehört hatte.
Engelsberührte.
Den vier Dämonengaben, die man erhalten konnte, standen vier Engelssegen gegenüber. Ich blickte auf meine Hände hinab. Abgesehen davon, dass meine Haut einen leichten Schimmer ausstrahlte, wirkten sie unverändert. Als ich mich aufzurichten versuchte, geriet ich schwankend aus dem Gleichgewicht. Mir mussten Hörner oder so gewachsen sein. Oder vielleicht war ich zur Zentaurin mutiert, oben Mensch, unten Tier.
Auf der Seite der Engelsarmee setzte ein beunruhigendes Gemurmel ein. Alle schnappten nach Luft, zeigten auf mich, rückten näher.
»Steh auf!«, brüllte der Grimlock-Dämon. Angst durchzuckte mich. Wieder versuchte ich, mich aufzurichten. Doch jetzt merkte ich, was nicht stimmte. Ich drehte den Kopf, blickte hinter mich und sah zwei schimmernde Flügel. Die Flügel einer Celestial. Aber sie waren pechschwarz.
Oh Kacke.
Raphael streckte die Hand aus und stützte mich. Jäh breitete sich Wärme wie lindernder Balsam durch meinen Körper aus und ließ all den Schmerz verfliegen. Ohne das qualvolle Pochen zwischen meinen Schultern konnte ich leichter atmen.
Ich hatte Flügel. Schwarze Flügel, verdammt. Ich hatte noch nie von Celestials mit schwarzen Flügeln gehört. Die waren immer weiß. Alle. Immer.
»Brielle Atwater. C-Celestial«, stammelte Raphael mit belegter Stimme.
Ich wagte nicht, in den Zuschauerraum zu schauen.
»Tritt vor und nimm dein Sklavenzeichen entgegen«, ergriff der Grimlock-Dämon das Wort. Er stand am äußersten Rand des schwarzen Bereichs der Bühne. Ich wollte den Arm aus Raphaels Hand befreien und über die Grenzlinie treten, doch plötzlich wurde sein Griff fest wie ein Schraubstock.
»Sie gehört zu uns«, zischte der gefallene Erzengel.
Was um alles in der Welt hat er gerade gesagt?
Lincoln trat näher zu mir und zog ein leuchtendes Schwert, während ich entsetzt den Grimlock-Dämon anstarrte, aus dessen Hörnern sich schwarzer Rauch kräuselte.
»Du wirst die Vereinbarungen respektieren, oder wir verlagern den Krieg sofort hierher! Gib ... sie ... mir!«, brüllte der Grimlock. Der Dämonenmeister meiner Mutter stand auf und kam herüber.
Raphael schaute gequält drein. »Du hast ihre Mutter mit dem Vertrag überlistet. Sie hat nicht gewusst, dass er ihre Erstgeborene beinhaltet«, richtete er sich an Moms Boss.
Oha. Woher zum Geier weiß er das?
Meister Burdock klatschte laut, und plötzlich hielt er ein braunes Pergament in den zuvor leeren Händen, das mit dicht gedrängter goldener Schrift bedruckt war. Ganz unten prangte ein roter, blutiger Daumenabdruck. Der meiner Mutter.
»Ist ihre eigene Schuld, wenn sie nicht den gesamten Text gelesen hat. Jetzt gib mir meine Sklavin, oder du entfesselst erneut die Hölle auf Erden«, warnte Meister Burdock.
Raphael hielt mich so fest, dass mein Handgelenk zu schmerzen begann. Kaum ging mir der Gedanke durch den Kopf, lockerte sich sein Griff.
»Nein«, erwiderte Raphael. Seine Stimme ließ die Wände erzittern, als würde sie tausendfach verstärkt.
Der Grimlock-Dämon richtete den Blick auf einen der Sklaventreiber hinter der Bühne. »Bring mir ihre Mutter, damit ich sie töten kann.«
»Nein!« Taumelnd setzte ich mich in Bewegung, aber Raphael zog mich mit einem Ruck zurück.
»Überquere nicht diese Linie«, flüsterte der Erzengel.
Ungläubig starrte ich ihn an. »Lassen ... Sie ... mich ... los!«, verlangte ich und sah, wie Schmerz über seine Züge huschte. Eine Regel, auf die Gefallene großen Wert legten, war der freie Wille, das wusste ich. Raphael musste meinen freien Willen respektieren.
Er biss sich auf die Unterlippe. »Du verstehst das nicht. Es ist noch nicht endgültig. Wenn du das Mal entgegennimmst ...«
»Lassen Sie mich los«, wiederholte ich mit mehr Nachdruck. Im selben Moment hörte ich meine Mutter im Zuschauerraum aufschreien.
Mit verblüfft geweiteten Augen ließ Raphael meinen Arm sinken und trat einen Schritt zurück.
»Dummes Mädchen«, spie Lincoln mir entgegen.
»Du kannst mich mal«, konterte ich, bevor ich den weißen Bereich der Bühne verließ und über die Grenzlinie in den schwarzen Bereich ging. Wo ich hingehörte. Das kollektive Luftschnappen der Vertreter der Engelsarmee verursachte mir Übelkeit.
»Sie weiß nicht, was sie tut«, flüsterte Raphael Lincoln zu.
Der Grimlock-Dämon betrachtete geifernd meine schwarzen Flügel, als ich mich ihm näherte. Dann sah er mir eindringlich in die Augen, und ich spürte, wie meine Übelkeit epische Ausmaße annahm. »Knie dich hin und ehre deinen Vertrag als Sklavin der Verdorbenen.«
Plötzlich erfüllte mich Bedauern. Ich verspürte den überwältigenden Drang, zu fliehen, zu entfliegen. So gut wie alles erschien mir besser, als das Mal in Empfang zu nehmen. Dann hörte ich meine Mutter hinter mir vor Schmerz wimmern, und ich sank bereitwillig auf die Knie. Mom war eine Sklavin, ich war eine Sklavin, und es gab nichts, was wir dagegen unternehmen konnten. Mikey war eine freie Seele, daran musste ich mich festhalten.
Blitzschnell schoss die Hand des Grimlocks vor und sengender Schmerz breitete sich aus, wo sein Daumen meine Stirn berührte. Als er die Hand zurückzog, wusste ich, dass ich das rote Mal trug.
»Es ist vollbracht«, bestätigte der Grimlock-Dämon mit einem erleichterten Seufzen.
»Ausbilden werden trotzdem wir sie«, tönte Raphaels Stimme hinter mir. »Ihr habt niemanden, der ihre Kräfte zu bändigen vermag, und das weißt du genau.«
Was?
Die Miene des Grimlock-Dämons verfinsterte sich. »Sechs Stunden pro Tag. Mehr nicht.«
Raphael musste dazu wohl genickt haben, denn der Grimlock forderte mich auf, mich zu erheben. »Geh nach Hause«, sagte er, und das Mal auf meiner Stirn flammte mit loderndem Schmerz auf. Es war ein Befehl, und Befehlen galt es zu gehorchen.