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Am Starnberger See wird die Leiche eines polnischen Bauarbeiters gefunden. Der frisch aus Hamburg zugezogene Kriminalrat Madsen stößt auf geheime Veranstaltungen der Oberschicht, bei denen man sich zum Amüsement bis auf den Tod bekämpft. Madsen schleust sich undercover in die Szene ein – und muss leidvoll erfahren, dass er den Sumpf aus Geld, Sex und Gewalt maßlos unterschätzt hat . . .
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Seitenzahl: 572
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Guido Buettgen, geboren 1967, war nach dem Studium der visuellen Kommunikation in renommierten Werbeagenturen tätig und erhielt für seine Kampagnen zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen. 2010 legte er eine werbliche Pause ein, begab sich auf eine mehrmonatige Weltreise und verdiente sein Geld als Boxtrainer. Inzwischen ist er wieder in die Marketingbranche zurückgekehrt und arbeitet als Geschäftsführer einer Münchner Werbeagentur. Nebenbei widmet er sich seiner großen Leidenschaft, dem Schreiben. Guido Buettgen lebt mit seiner Familie am Starnberger See.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/imageBROKER/Stefan Arendt Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-970-7 Oberbayern Krimi Originalausgabe
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Für Nicole, Kim und Paul.Danke, dass es euch gibt.
Es ist das einzig Wahre. Es ist »du gegen mich«, es ist die Herausforderung von Mann gegen Mann. Worte können das Gefühl nicht beschreiben– ein Mann zu sein, ein Gladiator, ein Kämpfer.
Sugar Ray Leonard, ehemaliger Boxweltmeister
PROLOG
Sein Gegenüber war weder besonders groß noch besonders breit.
Das rotblonde Haar war akkurat geschnitten, Wangen und Kinn glatt rasiert, und die roten Abdrücke auf dem Nasenrücken ließen darauf schließen, dass er noch bis vor wenigen Minuten eine Brille getragen hatte.
Seine blasse Haut leuchtete fahl im flackrigen Neonlicht, und der gesamte Oberkörper war leicht nach vorne gebeugt, sodass es den Anschein hatte, als trüge der Mann das Elend der gesamten Welt auf seinen schmächtigen Schultern.
Er war ein Mensch, dem man auf der Straße begegnete und dessen Existenz man zwei Schritte später bereits wieder vergessen hatte. Ein unscheinbarer Allerweltstyp, dem im großen Film des Lebens allenfalls die Rolle eines Statisten zugedacht schien.
Er selbst war genau das Gegenteil.
Leute, die ihn zum ersten Mal sahen, pflegten ihn gemeinhin als eine echte Erscheinung zu bezeichnen. Er besaß eine beeindruckende Physiognomie, und unter seiner sonnengegerbten, großflächig tätowierten Haut zeichnete sich eine ebenso voluminöse wie definierte Muskulatur ab. Sein rasierter Schädel, die durch mehrere Frakturen entstellte Nase sowie diverse kleine Narben rund um die Augenbrauen verliehen ihm eine Aura der Bedrohlichkeit, die bei Männern devote Ehrfurcht, bei Frauen hingegen eine paradoxe sexuelle Faszination auslöste.
Er war sich seiner körperlichen Überlegenheit vollkommen bewusst.
Und aus diesem Grunde hatte er auch den größten Fehler begangen, den ein Mensch im Leben machen kann.
EINS
Die Spitze des Kajaks durchschnitt die spiegelglatte Wasseroberfläche wie eine Rasierklinge ein Stück Seide.
Der Tag war noch jung.
Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich zaghaft ihren Weg durch die nächtlichen Nebelschwaden, und dem seit Tagen herrschenden Föhn war es zu verdanken, dass sich die Ausläufer der Alpen unmittelbar bis an das südliche Ende des Gewässers zu erstrecken schienen.
Florian Hartmann liebte den Starnberger See mit seinem kristallklaren Wasser und dem facettenreichen Ufer, an dem luxuriöse Millionärsvillen mit eigenen Bootsanlegeplätzen wie an einer Perlenkette aufgereiht lagen, während keine fünfzig Paddelschläge davon entfernt naturbelassene Schilfbestände mit alten, verwitterten Bäumen und undurchdringbarem Dickicht das steinige Ufer säumten.
Es war diese Vielseitigkeit, die den See für ihn so einzigartig machte.
So fand man am Westufer öffentliche Badebereiche, an denen sich an sonnigen Tagen so viele Menschen tummelten, dass die Szenerie an ein Gemälde von Hieronymus Bosch erinnerte, während an den Kiesstränden des Ostufers die Liebhaber ursprünglicher Natur textilfrei die stille Einsamkeit genießen konnten. Es gab Nobelrestaurants mit indirekt beleuchteten Seeterrassen und fest installierten Champagnerkübeln, während andernorts hölzerne Klappstühle auf unebenen Holzstegen dazu einluden, ein kühles Weißbier aus der Flasche zu genießen. Und es gab Plattformen im See, von denen testosterongeschwängerte Jungmillionäre zu rasanten Wasserskifahrten starteten, während sich verliebte Paare in den verwunschenen Winkeln rund um die Roseninsel romantisch ihre Liebe beteuerten, um diesen amourösen Schwur dann auch an Ort und Stelle in die Tat umzusetzen.
Das mit Abstand Schönste am Starnberger See war für Florian Hartmann jedoch das erhabene Gefühl, in den frühen Morgenstunden die kompletten sechsundfünfzig Quadratkilometer Wasseroberfläche für sich alleine zu besitzen.
Weit und breit war kein anderes Boot zu sehen, und selbst die letzten am See verbliebenen Berufsfischer, die diese Uhrzeit für gewöhnlich nutzten, um ihre Netze und Reusen einzuholen und mit Angeln auf Hecht, Waller und Seeforelle zu gehen, schienen ihrem morgendlichen Tagwerk bereits nachgekommen zu sein und das Gewässer gen heimatlichen Hafen verlassen zu haben.
Nach einem erfrischenden Schluck Wasser, den er mit der flachen Hand aus dem See geschöpft hatte, warf Hartmann einen Blick auf die Uhr und erhöhte das Tempo.
Sein Ziel war der beschauliche Segelboothafen in Possenhofen. Dessen Einfahrtsschneise wurde beidseitig von Stegen gesäumt, an denen zahlreiche Boote vertäut lagen, deren unterschiedliche Größen von den ebenso unterschiedlichen Einkommensverhältnissen ihrer Besitzer zeugten.
Über eine ansteigende Holzrampe konnten die Bootseigner ihre Segelyachten per Slipanlage ans Ufer ziehen. Doch auch Hartmann mit seinem kleinen Kajak kamen die hölzernen Planken zugute, denn er pflegte mit Schwung auf die Rampe zuzupaddeln, um über das nasse und glitschige Holz so weit aus dem Wasser zu gleiten, dass er seinen Einsitzer trockenen Fußes verlassen konnte.
Bedingung dafür war allerdings, dass er auf den letzten Metern ausreichend Geschwindigkeit besaß, und so stieß er die Paddel noch einmal mit aller Kraft ins Wasser und nahm Tempo auf.
Rechts und links flogen die Segelboote an ihm vorbei, und er bereitete sich gedanklich bereits auf das Auftreffen auf der Rampe vor, als plötzlich ein dumpfer Aufprall ertönte und das Boot einen heftigen Schlag bekam.
Dann kenterte es.
Für einen kurzen Moment befiel Hartmann Panik.
Für eine Eskimorolle war sein Boot zu lang. Außerdem hatte er angesichts der milden Temperaturen auf die Verwendung einer Spritzdecke verzichtet, sodass der Innenraum seines Kajaks sofort voll Wasser lief.
Prustend befreite er sich und tauchte zurück an die Wasseroberfläche. Der See war an dieser Stelle nicht sonderlich tief, doch wegen des weichen, schlammigen Grundes hatte er Mühe, das schwere Boot zu drehen und über die hölzerne Rampe auf die Wiese zu ziehen.
Anschließend begab er sich kopfschüttelnd wieder zurück zum Ufer.
»Verdammte Scheiße! Was zum Teufel war das denn?«, murmelte Hartmann verwirrt.
Er hatte das Kajak bereits seit mehr als zehn Jahren und hätte Stein und Bein geschworen, die Hafeneinfahrt wie seine Westentasche zu kennen.
Er wusste, wo die Stahlschienen des Transportschlittens auf dem sandigen Seegrund verliefen, er wusste, wo sich die unter Wasser befestigten Sicherungshaken für die Bojen befanden, und er wusste, wo sämtliche größere Steine im Hafenbecken lagen.
Was er dagegen nicht wusste, war, was in drei Teufels Namen er dort vor wenigen Augenblicken gerammt hatte.
Vorsichtig watete Hartmann in den See, diesmal nicht auf, sondern neben der rutschigen Rampe.
Das Wasser war durch sein unorthodoxes Landemanöver aufgewühlt, weshalb sich auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches erkennen ließ. Behutsam bewegte er sich Schritt für Schritt vorwärts und durchsuchte mit seinen Händen das Wasser. Doch er fand nichts.
Schließlich zuckte er resigniert mit den Schultern, drehte sich um und stapfte zurück zum Ufer, als er plötzlich mit seinem Schienbein gegen einen Widerstand stieß.
Er stolperte und wäre um ein Haar abermals der Länge nach in den See gefallen.
Mit einem deftigen, sowohl gesellschaftliche als auch religiöse Etikette verletzenden Fluch griff er in das trübe Wasser, packte den mysteriösen Gegenstand und zerrte ihn an die Oberfläche.
Als er sah, was er gerammt hatte, erblasste Hartmann.
Anschließend erbrach er sich in den Starnberger See.
* * *
Es gibt Menschen, deren Gutmütigkeit dermaßen ausgeprägt ist, dass sie Gefahr laufen, die fließende Grenze zur Naivität zu überschreiten.
Polizeikommissar Maximilian Konstantin von Werdenfels war ein solch gutmütiger Mensch.
Allerdings hatte selbst seine Geduld irgendwann einmal ein Ende, und die cholerische Dame, die auf der anderen Seite der getönten Scheibe im Vorraum des Starnberger Polizeireviers stand und sich aufplusterte wie ein Kampffisch in einem Süßwasseraquarium, war kurz davor, diesen Punkt bei ihm zu erreichen.
Um Contenance bemüht, versuchte er ein weiteres Mal, die Frau zu beschwichtigen.
»Liebe Frau von Wallenbach, es gibt keinen Grund, hier so zu schreien– die Akustik in diesen Räumen ist hervorragend. Wie ich Ihnen bereits mehrfach erklärt habe, werden wir Ihre Angelegenheit umgehend zu Protokoll nehmen und–«
»Genau das ist ja das Problem!«, unterbrach die Frau ihn erbost.
Sie war etwa Anfang vierzig– auch wenn ihr flächendeckender Schminkstil mindestens ein Jahrzehnt weniger implizieren sollte–, hatte dunkles, halblanges Haar und trug ein champagnerfarbenes Kostüm, dessen perfekter Schnitt den durch Pilates und Yoga geformten Körper vorteilhaft in Szene setzte. An ihrer Hand hatte sie neben einem funkelnden Brillanten beachtlichen Umfangs ein kaugummikauendes Kind mit einem ebenso beachtlichen Volumen.
»Sie sollen die Angelegenheit gefälligst nicht nur zu Protokoll nehmen, sondern etwas tun. Schicken Sie alle Einheiten los! Ich will, dass diese Verbrecher festgenommen und zur Rechenschaft gezogen werden. Und zwar sofort!«
Sie schlug mit ihrer perfekt manikürten Hand so kraftvoll auf die Schaltertheke, dass einige Flugblätter, die orientierungslose Schulabgänger von den Vorzügen einer Polizeikarriere überzeugen sollten, in hohem Bogen durch den Raum flogen.
Der übergewichtige Junge blickte ihnen ungerührt hinterher, während der hinter ihm stehende Mann sich bückte, die Flyer auflas und sie wieder ordentlich auf der Theke platzierte.
Anschließend wandte er sich an die erzürnte Mutter. »Entschuldigen Sie, wären Sie bitte so freundlich, mir zu erklären, um was es hier gerade geht?«
Frau von Wallenbach drehte sich irritiert um und musterte den Mann mit einem prüfenden Blick. Allerdings schien sein Outfit aus Kapuzenpulli, Jeans und klobigen Motorradstiefeln ihn nicht als adäquaten Gesprächspartner zu qualifizieren, denn sie ignorierte seine Frage und wandte sich stattdessen wieder dem jungen Polizeibeamten zu.
Auch dieser hatte das Einmischen des Mannes mit Befremden zur Kenntnis genommen.
»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte er, »wären Sie bitte so freundlich, hinter die rote Markierung zurückzutreten und zu warten, bis Sie an der Reihe sind? Ich kümmere mich gleich um Sie.«
Der Mann zögerte, dann nickte er achselzuckend und trat einen Schritt zurück, während das Kind ihm hinter dem Rücken der Mutter hämisch die Zunge herausstreckte.
»Frau von Wallenbach«, fuhr Kommissar von Werdenfels fort, »bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Wir sind durchaus gewillt, uns Ihrer Angelegenheit anzunehmen. Aber halten wir den Ball doch mal im Dorf! Es geht hier nicht um eine Entführung oder einen Banküberfall, sondern lediglich um ein Handy, das Ihrem Sohn abhandengekommen ist. Und dabei ist noch nicht einmal sicher, dass man es gestohlen hat– der Junge kann es ebenso gut auch verlegt oder verloren haben.«
Der eisige Blick der Frau ließ die gefühlte Raumtemperatur schlagartig um mehrere Grad absinken.
»Abgesehen davon, dass es entweder ›den Ball flach halten‹ oder aber ›die Kirche im Dorf lassen‹ heißt, sollten Sie mir jetzt mal genau zuhören, Herr Polizist…«
»Herr Kommissar, so viel Zeit muss sein!«, korrigierte sie von Werdenfels.
»Es ist mir scheißegal, ob Sie Wachtmeister, Kommissar oder Polizeipräsident sind! Ich bin Marianne Freifrau von Wallenbach!«, zischte die Dame zurück. »Mein Mann ist Rechtsanwalt, arbeitet als juristischer Berater im Bayerischen Wirtschaftsministerium und ist ein ganz enger Freund unseres Ministerpräsidenten. Also kommen Sie mir nicht mit Ihrem albernen Pipifax-Dienstgrad, verstanden?«
Von Werdenfels schnappte kurz nach Luft und hatte bereits eine aus diplomatischer Sicht mehr als bedenkliche Formulierung auf den Lippen, als er sich im letzten Moment auf seine Position und seine aristokratische Herkunft besann und sich die Antwort widerstrebend verkniff.
»Ich sage es Ihnen jetzt noch ein letztes Mal, gnädige Frau, denn der Herr hinter Ihnen wartet nun auch schon seit einiger Zeit: Wir nehmen Ihre Anzeige auf und werden ein Auge darauf haben, ob das Handy in nächster Zeit irgendwo auftaucht. Gleichzeitig bitte ich Sie, noch einmal gründlich zu Hause nachzuschauen, ob sich das Telefon nicht doch noch irgendwo auffinden lässt. Ohne Ihrem Sohn zu nahe treten zu wollen: Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein vermeintlicher Diebstahl als Irrtum erweist und der vermisste Gegenstand später irgendwo in einer Jackentasche wiederauftaucht.«
»Hey, glauben Sie etwa, ich wäre blöd?«, empörte sich das Kind und zeigte von Werdenfels einen Vogel. »Das Ding hat mir irgendein Spacken geklaut! Bestimmt so ein Bauer vom Dorf, weil der sich so’n Teil selbst nicht leisten kann.«
»Verdammt noch mal, jetzt reicht’s!« Die Stimme des Mannes im Kapuzenpullover donnerte durch den Vorraum des Polizeireviers, dass alle Anwesenden erschrocken zusammenzuckten. »Dieser höfliche Beamte hat sich jetzt eine halbe Stunde lang mit einer Engelsgeduld Ihre Lappalie angehört und ist als Dank dafür permanent von Ihnen beleidigt worden. Sie packen sich jetzt Ihr missratenes Balg und setzen es draußen vor die Tür oder von mir aus auch– was besser zu seinem Körperbau passen dürfte– ins McDonald’s gegenüber. Dann geben Sie Ihre Anzeige auf. Und wenn Sie das nicht wollen, dann machen Sie, dass Sie hier verschwinden. Und zwar zügig! Sie stehlen der Polizei nämlich ihre Zeit!«
Frau von Wallenbach entglitten kurzzeitig die so kostspielig gestrafften Gesichtszüge, und auch Kommissar von Werdenfels blickte entgeistert von einem zum anderen.
Just in dem Moment, in dem er seine Fassung wiedergewonnen hatte und zu einer Antwort ansetzen wollte, klingelte plötzlich das Telefon auf seinem Schreibtisch.
Er zögerte kurz, bedeutete dem Mann dann, sich nicht von der Stelle zu rühren, und griff nach dem Hörer.
»Polizei Starnberg, Kommissar von Werdenfels. Was kann ich für Sie–« Er stockte, dann nickte er ernst und griff zu einem Notizblock. »Eine Leiche? Wo gefunden? In Possenhofen? Alles klar! Wir sind sofort da.«
Er wandte sich wieder den drei Personen im Vorraum zu.
»Entschuldigen Sie bitte, wir haben gerade einen wichtigen Einsatz reinbekommen. Ich werde einen Kollegen bitten, Ihre Angelegenheiten zu übernehmen, Frau von Wallenbach. Sie können Ihre Anzeige bei ihm aufgeben, und wir werden uns um die Sache kümmern. Oder aber Sie lassen es bleiben– die Entscheidung liegt jetzt ganz bei Ihnen. Und Sie…«, er deutete auf den Mann in dem Kapuzenpullover, »…halten sich bitte zukünftig mit Ihren Äußerungen etwas zurück. Es gibt keinen Grund, sich hier aufzuspielen, als wären Sie der Chef dieser Inspektion.«
Der Angesprochene lächelte ihn freundlich an.
»Oh doch, Herr Kommissar, den gibt es durchaus. Mein Name ist Madsen. Kriminalrat Mads Madsen. Und ich bin hier tatsächlich der neue Chef.«
* * *
Kommissar von Werdenfels war sichtlich derangiert, als er gemeinsam mit Kriminalrat Mads Madsen den kleinen, am Westufer des Starnberger Sees gelegenen Ort Possenhofen erreichte.
Zuerst das höchst unerfreuliche Gespräch mit dieser renitenten Frau von Wallenbach, anschließend die ebenfalls wenig erbauliche Meldung über den Fund einer Leiche und zu guter Letzt auch noch der mehr als unorthodoxe Amtsantritt des neuen Dienststellenleiters.
All das waren ihm definitiv zu viele ungewöhnliche Ereignisse.
Zumindest für einen gewöhnlichen Mittwochmorgen.
Der junge Beamte warf einen unsicheren Blick auf seinen neuen Vorgesetzten und musterte ihn verstohlen.
Den Auftritt des Kriminalrats in der Dienststelle konnte man mit Fug und Recht als spektakulär bezeichnen, und die Beschreibung des Gesichtsausdrucks der blaublütigen Anwaltsgattin würde vermutlich noch in nachfolgenden Polizistengenerationen zu den Klassikern am Dienststellenstammtisch gehören.
Doch auch der Kleidungsstil des Kriminalrats war bemerkenswert.
Von Werdenfels hatte dem revierinternen Flurfunk zwar entnommen, dass Madsen aus der Weltstadt Hamburg ins beschauliche Starnberg versetzt worden war, und ihm war auch durchaus bewusst, dass ein Kriminalpolizist auf der Reeperbahn anders gekleidet sein mochte als ein Beamter im erzkatholischen Oberbayern, aber dennoch hätte er nicht im Traum daran gedacht, dass ein neuer Polizeiinspektionsleiter seinen Dienst in Bikerstiefeln und Kapuzenpulli antreten würde.
Und als wäre all das noch nicht genug, hatte sich Madsen schließlich auch noch geweigert, gemeinsam mit von Werdenfels im Streifenwagen zum Einsatzort zu fahren. Stattdessen hatte er sich lässig auf eine chromblitzende Harley-Davidson Fat Boy geschwungen und war dem Einsatzfahrzeug mit ohrenbetäubendem Geknatter und einer Zigarette im Mundwinkel Richtung Süden gefolgt.
Kurzum– alles, was von Werdenfels bisher von dem Kriminalrat gesehen und gehört hatte, ließ nur zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder der Neue war völlig durchgeknallt, oder er war die coolste Sau, mit der von Werdenfels je zusammengearbeitet hatte.
Im Hinblick auf seine Karriere hoffte er auf Letzteres.
Die beiden Polizisten hatten inzwischen die rot-weißen Absperrbänder passiert und betraten das Gelände des kleinen Segelhafens in Possenhofen.
Schmale, mit einem rostigen »Durchgang verboten«-Schild versehene Treppenstufen führten von der Straße abwärts zu einem zweistöckigen und verlassen wirkenden Werftgebäude in unmittelbarer Ufernähe.
Es roch nach modrigem Holz, Lack und Dieselkraftstoff.
Madsen drückte seine Stirn gegen eines der verschmutzten und von Spinnweben überzogenen Fenster, um einen Blick in das Innere des Gebäudes zu werfen, doch es ließen sich nur schemenhaft einige aufgebockte Bootsrümpfe, verstaubte Werkbänke sowie eine Wendeltreppe, die ins obere Stockwerk führte, erkennen.
»Wir müssen dort rüber auf die Wiese«, bemerkte von Werdenfels ungeduldig. »Die Leiche wurde im Freigelände gefunden.«
Der Kriminalrat nickte, wischte sich den Staub von der Stirn und folgte seinem Kollegen um das Gebäude herum.
Der Wind blies an der seezugewandten Seite deutlich stärker, und Madsen musste das Gesicht mit den Händen abdecken, weil ihn die Reflexionen der tief stehenden Sonne auf der Wasseroberfläche blendeten. Als sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, pfiff er bewundernd durch die Zähne.
»Donnerwetter! Das sind ja ein paar echte Prachtstücke!«
Von Werdenfels blickte ihn irritiert an.
»Wie bitte?«
»Die Segelboote dort an den beiden Stegen. Die sehen für mich alle ziemlich edel aus.«
Der Kommissar nickte abwesend und rieb sich das glatt rasierte Kinn– eine Geste, die bei den meisten Männern maskulin wirkte, bei ihm aber den Eindruck erweckte, als wollte er mittels Gesichtsmassage seinen spärlichen Bartwuchs beleben.
»Jaja, da sind schon ein paar Exemplare dabei, für die man einen ordentlichen sechsstelligen Betrag hinblättern muss. Aber sollten wir uns nicht lieber um die Leiche kümmern?«
Madsen zuckte mit den Schultern.
»Stimmt! Das sollten wir! Obwohl…«, er deutete auf die Zinkwanne, die just in diesem Moment von zwei schwarz gekleideten Männern die schmale Treppe hinunterbalanciert wurde, »…ich mir fast sicher bin, dass uns das Opfer nicht mehr weglaufen wird.«
Das gesamte Grundstück war keine dreißig Meter breit und vom Seeufer bis zu dem begrenzenden Gebüsch im oberen Bereich etwa siebzig Meter lang. Rechts und links säumten aufgebockte Segelschiffe die Wiese, während sich in der Mitte eine rund zehn Meter breite, kurz gemähte Schneise befand, über die die an Land gelagerten Schiffe ins Wasser gelassen werden konnten. Zu diesem Zweck führte ein fingerdickes Stahlkabel von einer verrosteten elektrischen Winde über eine hölzerne Rampe bis ins Wasser.
Madsen ließ seinen Blick hinaus auf den tiefblauen See und die majestätischen Berggipfel der Werdenfelser Alpen schweifen und sog genussvoll die kühle Luft ein.
Die Szenerie war wunderschön und hätte ihn an Urlaub und grenzenlose Freiheit erinnert– wären da nicht die mit weißen Ganzkörperoveralls bekleideten Ermittlungsbeamten gewesen, die die friedliche Idylle all ihrer Unschuld beraubten.
»Alle mal kurz herhören!«, rief Kommissar von Werdenfels und klatschte dabei in die Hände, als wäre er ein Lehrer, der eine Klasse überdrehter Grundschüler zur Aufmerksamkeit mahnen wollte. »Das hier ist Kriminalrat Mads Madsen, der neue Dienststellenleiter in Starnberg.«
Die Augen aller Anwesenden richteten sich auf die beiden Neuankömmlinge.
Madsen nickte grüßend in die Runde. Dabei registrierte er neben einer verständlichen Neugier auf den neuen Vorgesetzten auch das eine oder andere versteckte Grinsen.
Der Grund des Amüsements war unschwer zu erraten– seine Erscheinung und die des jungen Kollegen an seiner Seite waren einfach zu konträr.
Von Werdenfels war klein, Madsen war groß.
Von Werdenfels war untersetzt, Madsen hatte eine sportliche Figur.
Von Werdenfels hatte schwarze Locken, Madsen kurzes dunkelblondes Haar.
Von Werdenfels trug eine perfekt gebügelte Uniform, Madsen lässige Jeans und Kapuzenpulli.
Und zu guter Letzt war von Werdenfels’ Nervosität unübersehbar, während Madsen eine Aura natürlicher Autorität und Selbstsicherheit verströmte.
Unterschiedlicher konnte ein gemeinsamer Auftritt zweier Ermittlungsbeamter also kaum sein, und Madsen benötigte wenig Phantasie, um sich auszumalen, dass seine neuen Kollegen diesem ungleichen Gespann bei nächster Gelegenheit einen mehr oder weniger angemessenen Spitznamen verpassen würden.
Blieb nur zu hoffen, dass der nicht »Dick und Doof« lautete.
Ein älterer, komplett in einen weißen Overall gehüllter Techniker der Spurensicherung trat auf Madsen zu. In seinen müden, von dunklen Ringen umschatteten Augen lag eine Schon-alles-gesehen-Wachsamkeit, als er seinem Gegenüber die rechte Hand entgegenstreckte.
»Willkommen an Bord, Herr Kriminalrat! Mein Name ist Stefan Bertram, ich bin der Leiter der Spurensicherung in München. Ich hoffe, Sie nehmen es uns nicht übel, dass wir Sie statt mit einem Strauß Blumen mit einer Leiche begrüßen.«
»Geht schon in Ordnung! Hab eh noch keine Vase«, entgegnete Madsen mit einem überschaubaren Maß an Pietät. »Ich schlage vor, wir verschieben die ausführliche Vorstellungsrunde auf später und Sie erzählen uns, was Sie bis jetzt haben.«
»Sehr gerne! Dieser Kajakfahrer…«, Bertram zeigte auf einen in eine Decke gewickelten Mann, der von Mitarbeitern des Kriseninterventionsteams betreut wurde und offensichtlich am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand, »…hat vor etwa einer halben Stunde einen im Wasser treibenden Toten gefunden. Das Opfer…«, er deutete auf die aufgedunsene Leiche auf der Rampe, die in diesem Moment auf den Bauch gerollt wurde und dabei schmatzende Geräusche von sich gab, »…ist polnischer Staatsbürger. Stanislav Wocz, geboren 1972 in Krakau. Das wissen wir deshalb so genau, weil er seine Papiere bei sich trug. Allerdings nur die. Ansonsten befanden sich weder Geld noch Scheck- oder Kreditkarte in dem Portemonnaie. Auch die Armbanduhr fehlt– sofern er denn überhaupt eine getragen hat.«
»Klingt nach Raubmord und anschließender Entsorgung der Leiche im See«, murmelte von Werdenfels.
Bertram nickte zögernd.
»Es ist zwar noch ein wenig zu früh, das mit Bestimmtheit zu sagen, aber für eine solche Vermutung spricht, dass der Mann übelste Schlagverletzungen hat. Sieht so aus, als hätte man ihn totgeprügelt, um an seine Habseligkeiten zu gelangen. Hämatome am gesamten Körper, diverse Frakturen im Gesicht, eine große Platzwunde am Hinterkopf– der arme Kerl hat ordentlich was einstecken müssen, bevor er starb.«
Madsen ließ seinen Blick über die Wiese schweifen und kratzte sich nachdenklich am Kopf.
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Bertram, es liegt mir fern, Ihre Kompetenz anzuzweifeln, aber eigentlich bin ich es gewohnt, solche Informationen von einem Rechtsmediziner zu bekommen. Sie leiten doch, wenn ich das richtig verstanden habe, die Spurensicherung, oder?«
Bertram lachte freudlos.
»Ich kann Ihre Verwirrung durchaus nachvollziehen, Herr Kriminalrat. Theoretisch ist Professor Polt für diesen Bereich verantwortlich. Der Mann ist Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in München und eine absolute Koryphäe in seinem Fachgebiet. Allerdings ist er auch– und jetzt muss ich mich bemühen, meiner Ausdrucksweise ein gewisses Maß an Erziehung zugrunde zu legen– etwas eigenartig.«
»Man könnte auch sagen, der Alte hat nicht mehr alle Latten am Zaun!«, warf der Polizeifotograf ein, der in diesem Moment die kleine Gruppe passierte, während er im Gehen ein Bild nach dem anderen schoss. »Nur weil dieser Höhlenmensch nicht aus seinem Loch rauskommt, darf ich jetzt die ganze Umgebung ablichten. Diese Scheißarbeit könnte ich mir sparen, wenn dieser Eremit mal am Tatort erscheinen würde!«
»Halt den Mund und mach deinen Job, Alex!«, wies Bertram den Fotografen zurecht, bevor er sich wieder den beiden Ermittlern zuwandte. »Man kann es zwar auch etwas diplomatischer ausdrücken als der Kollege, aber es wäre tatsächlich manchmal zielführend, wenn Professor Polt persönlich am Tatort anwesend wäre.«
Er zuckte mit den Achseln.
»Aber da er das nun mal grundsätzlich ablehnt, müssen wir eben die ersten Untersuchungen durchführen, während der Maestro der Leiche dann später im Institut ihre Geheimnisse entlockt. Und glauben Sie mir: Wenn es irgendetwas gibt, was der Tote verbirgt– Professor Polt wird es herausfinden. In dieser Hinsicht ist der Mann ein echtes Genie.«
»Und Genie und Wahnsinn gehen ja bekanntlich häufig Hand in Hand«, ergänzte Madsen trocken und deutete auf das Seeufer. »Sie sagten, der Tote habe im Wasser gelegen. Kann man denn schon sagen, ob er hier reingeworfen oder vielleicht nur angespült wurde?«
»Letzteres glaube ich nicht«, entgegnete Bertram ohne zu zögern. »Ersten Schätzungen zufolge war er höchstens eine Nacht im Wasser. Man hat ihn also demnach gestern Abend oder im Laufe der Nacht erschlagen. Der Kajakfahrer hat ihn in unmittelbarer Nähe des Ufers gefunden, und nachdem heute keinerlei Strömung herrscht und die Hafeneinfahrt durch die beiden seitlichen Stege relativ gut geschützt ist, darf man davon ausgehen, dass er auch hier irgendwo ins Wasser geworfen wurde. Wir haben die Wasserwacht Feldafing verständigt, die momentan mit Tauchern den Seegrund und die nähere Umgebung absucht. Bis jetzt haben sie nur das hier gefunden.«
Er hielt einen Klarsichtbeutel mit einer kleinen Figur in die Höhe.
Madsen und von Werdenfels begutachteten den Gegenstand interessiert.
»Was ist das denn? Eine kleine Marienstatue?«
»Sieht fast so aus. Allerdings können wir bislang noch nicht mit Gewissheit sagen, ob sie in irgendeinem Zusammenhang mit dem Toten steht. Die kann natürlich auch einer der Bootseigner im Wasser verloren haben.«
Bertram rieb sich die Augen und ließ den Kopf kreisen, um seine verspannte Nackenmuskulatur zu lockern. Sein Bartschatten und die Ringe unter seinen Augen zeugten von der hohen Arbeitsbelastung des Mannes.
Oder einem lasterhaften Lebenswandel.
»Die Taucher suchen auch nach möglichen Tatwaffen. Allerdings habe ich da wenig Hoffnung. Soweit ich das als medizinischer Laie beurteilen kann, wurde der Mann ohne Zuhilfenahme von Gegenständen, also nur mit Faustschlägen und vielleicht auch mit Tritten, getötet.«
Madsen schüttelte bekümmert den Kopf.
»Das würde mich nicht wundern. Zu meiner Jugendzeit gab es noch einen gewissen Ehrenkodex bei Schlägereien, aber heute gehen die Gewaltorgien selbst dann weiter, wenn der Gegner bereits wehrlos am Boden liegt. Ich finde das zum Kotzen!«
»Wem sagen Sie das?«, erwiderte Bertram und winkte resigniert ab. »Allerdings muss ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass unser Opfer offensichtlich auch kein Kind von Traurigkeit war. Erstens hat er diverse martialische Tätowierungen auf den Armen, die nicht gerade vermuten lassen, dass er früher oder später für den Friedensnobelpreis nominiert worden wäre. Und zweitens hat er zahlreiche alte Verletzungen, die auf frühere Auseinandersetzungen hindeuten, zum Beispiel diese typischen Schlägernarben auf den Fingerknöcheln. Sie wissen schon: Faust auf Zahn– das hinterlässt ja bekanntlich auf beiden Seiten Spuren.«
Madsen nickte flüchtig und schob seine Hände ein Stück tiefer in die Hosentaschen.
»Vielen Dank für Ihre erste Einschätzung, Herr Bertram. Das hilft uns schon mal weiter. Wir würden uns jetzt gern den Toten anschauen, bevor er abtransportiert wird. Ist das möglich?«
Der Spurensicherer nickte, und Madsen und von Werdenfels traten an die Rampe.
Als die Mitarbeiter der Rechtsmedizin auf ihren Wunsch hin die Leiche auf den Rücken drehten, fuhren beide erschrocken zurück.
Das Gesicht des Mannes war entsetzlich entstellt.
Nahezu jeder Bereich des Kopfes zeugte von massiver Gewalteinwirkung. Die mehrfach gebrochene Nase stand in einem unnatürlichen Winkel vom Gesicht ab, und auch die Augenhöhlen waren an den Rändern so weit eingedrückt, dass sich die Augäpfel auf einer Ebene mit der umliegenden Knochenstruktur befanden. Der Unterkiefer hatte jeden Kontakt zum Oberkiefer verloren, sodass es den Anschein hatte, als grinste der Tote sie trotz seiner wenig erfreulichen Gesamtsituation an.
Doch nicht nur die Knochen waren in Mitleidenschaft gezogen, auch die Haut zeugte von dem Leid, das der Mann kurz vor seinem vermutlich erlösenden Dahinscheiden erlitten haben musste. So changierte die Gesichtsfarbe nahezu flächendeckend zwischen einem hellen Gelbgrün und einem dunklen Schwarzblau, und diverse Risse an den Augenbrauen ließen die Haut aufklaffen wie bei einer Weißwurst, die zu lange im heißen Wasser gelegen hatte.
Und zwar deutlich zu lange.
Das ganze Gesicht wirkte wie eine skurrile Maske aus einem Halloween-Shop, und der empfindsame von Werdenfels schickte ein kurzes Dankgebet an die für persönliche Wünsche zuständige himmlische Instanz, dass die Leiche bereits am Morgen nach der Tat gefunden worden war.
Eine längere Zeit im Wasser, und der leblose Körper hätte zusätzlich die komplette Palette aller Wasserleichencharakteristika aufgewiesen– was das Grauen des Anblicks zweifelsohne potenziert hätte.
»Für einen Raubmord sind mir das fast schon zu viele Verletzungen«, murmelte Madsen nachdenklich. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es auf der Straße rau zugeht, aber die arme Sau sieht aus, als hätte man ihr die Seele aus dem Leib geprügelt. So viele Schläge sind doch nicht normal, wenn man jemandem nur die Kohle klauen will. Ich wette ’ne Portion Labskaus, dass mehr dahintersteckt als nur ein Raubüberfall.«
»Ich würde ja gerne dagegenhalten…«, antwortete von Werdenfels und unterdrückte ein Würgen, »…es gibt nur zwei Probleme: Erstens bin ich der gleichen Meinung wie Sie. Und zweitens habe ich nicht die geringste Ahnung, was Labskaus ist.«
Inzwischen hatte sich Madsen Latexhandschuhe übergezogen und die Hemdsärmel des Toten nach oben geschoben.
»Hat Bertram nicht was von Tätowierungen gesagt? Ah, hier! Schauen Sie mal! Ein Schlagring, ein Bullterrier, irgendein polnisches Vereinslogo, ein ›Hate‹-Schriftzug, ein Totenkopf– ich möchte wirklich keine Vorurteile schüren, aber wer seinen Körper mit solchen Motiven verziert, ist in seiner Freizeit vermutlich nicht als Messdiener oder Seniorenbetreuer tätig. Wir sollten mal checken, ob es einen Bezug zu einem Motorradclub oder zum Rotlichtmilieu gibt. Solche Tattoos sind dort gang und gäbe.«
Von Werdenfels nickte und machte mit seinem Handy einige Fotos der Tätowierungen, während sich der Kriminalrat ächzend aufrichtete.
»Vielleicht nächstes Mal doch der Streifenwagen statt der Harley?«, feixte von Werdenfels und verstummte augenblicklich, als er Madsens strengen Blick sah.
»Merken Sie sich eins, Herr Kommissar: Wer mit mir zusammenarbeitet, sollte gewisse Regeln befolgen. Und die wichtigste lautet: Keine Witze über mein Moped!« Madsen klopfte sich auf die Hüfte, wo eine deutliche Ausbuchtung unter dem Pullover zu erkennen war. »Andernfalls sähe ich mich nämlich gezwungen, von der Dienstwaffe Gebrauch zu machen!«
* * *
»Zigarette?«
Die beiden Polizisten hatten die Leiche freigegeben, sich von den Kollegen verabschiedet und saßen nun, die Beine über dem Wasser baumeln lassend, auf einem der hölzernen Stege.
Der Wind hatte inzwischen merklich aufgefrischt, und die Takelage der vertäuten Segelschiffe klapperte metallisch im Rhythmus des Wellengangs.
Von Werdenfels schüttelte den Kopf.
»Danke. Ich rauche nicht.«
Madsen fischte mit den Lippen eine Zigarette aus der Schachtel, entzündete sie mit einem matt silbernen Zippo, dessen Front ein gravierter Totenkopf zierte, und inhalierte genussvoll.
»Das ist gut! Ich höre jetzt auch auf. Das ist meine letzte Packung, anschließend ist Schluss. So ein Ortswechsel ist eine perfekte Gelegenheit, um mit alten Lebensgewohnheiten abzuschließen.«
»Aber der Umzug ist doch offensichtlich schon erfolgt. Sollten Sie dann nicht…?«
Madsen blickte seinen Kollegen strafend an. »Sind Sie meine Mutter? Ich werde diese Packung noch zu Ende rauchen– wäre doch schade um die Kohle. Aber anschließend ist dann definitiv Feierabend mit der Raucherei.«
Nach diesen Worten zog er abermals so genüsslich an der Zigarette, dass von Werdenfels im Stillen sein kärgliches Monatsgehalt verwettete, dass das keineswegs die letzte Packung seines neuen Vorgesetzten gewesen sein sollte.
Der Kriminalrat begann indes, die vorliegenden Fakten noch einmal zusammenzufassen.
»Also, unser Opfer ist ein Mitte vierzigjähriger polnischer Staatsbürger, den man brutal zu Tode geprügelt hat–«
Weiter kam er nicht, denn von Werdenfels unterbrach ihn mit einem spitzbübischen Grinsen.
»Das ist ja interessant. Demnach gab es bei Ihnen in Hamburg auch Fälle, wo jemand liebevoll zu Tode geprügelt wurde?«
Madsen stutzte.
»Donnerwetter, Kommissar, Sie sind ja ein richtiger kleiner Klugscheißer! Aber natürlich haben Sie recht: Jedes Totprügeln ist brutal. Allerdings gibt es den ungewollten tödlichen Schlag, zum Beispiel im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung…« An dieser Stelle stockte der Kriminalrat kurz, und wäre es nicht so unwahrscheinlich gewesen, dann hätte von Werdenfels geschworen, für den Bruchteil einer Sekunde eine Träne in Madsens Augenwinkel erkannt zu haben. Der räusperte sich kurz und schnäuzte geräuschvoll seine Nase, bevor er fortfuhr: »…und es gibt richtige Prügelorgien, wie sie offensichtlich in unserem Fall vorkam. Den Verletzungen zufolge bewegen wir uns hier schon relativ nahe am Fakt der Übertötung. Haben Sie davon schon mal gehört?«
Von Werdenfels nickte eifrig.
»Als Übertötung bezeichnet man eine unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt«, sagte er. »Gewalt, die eigentlich gar nicht nötig wäre, um ein Opfer zu töten oder zu verletzen.«
»Sehr gut«, lobte Madsen seinen jungen Kollegen und hob einen Daumen. »Das gibt einen Bambi-Stempel im Fleißheft!«
Von Werdenfels lächelte– unsicher, ob er sich über das Lob freuen oder über die offensichtliche Ironie ärgern sollte. Währenddessen setzte Madsen seinen Gedankengang fort.
»Übertötung ist in der Regel ein Zeichen von Hass. Von blindem, ungebremstem Hass. Unser Täter ist kein Durchschnittspsychopath. Er hat seine Wut völlig ungezügelt ausgelebt. Das mag für das Opfer bedauerlich sein, hat für uns aber bei aller Tragik einen großen Vorteil, denn es bedeutet–«
»Dass es irgendeinen Anlass gegeben haben muss, der den Täter zu einem solchen Ausbruch von Wut und Hass bewegt hat«, ergänzte von Werdenfels. »Also quasi der Tropfen, der das Fass zum Brechen gebracht hat.«
Madsen blickte seinen Kollegen irritiert an.
»Sie meinten doch sicher ›das Fass zum Überlaufen gebracht hat‹. Das mit dem Brechen war der Krug. Aber in der Sache haben Sie recht. Und deshalb glaube ich auch immer weniger an die Geschichte mit dem Raubüberfall. Allerdings dürfen wir zu diesem frühen Zeitpunkt noch nichts komplett ausschließen. Unter Umständen hatte der Tote ja doch eine größere Menge Kohle dabei, wobei diese Gewalt aus meiner Sicht trotzdem nicht nötig gewesen wäre, um ihm das Geld abzuknöpfen.«
»Na ja, immerhin war der Mann ein echter Schrank. Dem konnte man seinen Besitz sicherlich nicht einfach so abluchsen, indem man ihn in den Schwitzkasten nahm. Aber vielleicht war es ja auch die Art und Weise, wie das Opfer an das Geld gekommen ist, die den Täter so wütend gemacht hat. Zum Beispiel durch Erpressung?« Von Werdenfels strich sich gedankenverloren eine lockige Strähne aus dem Gesicht.
»Gute Idee! Das wäre durchaus auch eine Möglichkeit.« Madsen nickte, erfreut darüber, dass sich der Kommissar nicht mit der erstbesten Vermutung seines Vorgesetzten zufriedengab, sondern selbstständig mögliche Alternativen durchdachte. Dieses Engagement bestätigte den guten ersten Eindruck, den von Werdenfels bisher bei ihm hinterlassen hatte.
Allerdings war es nicht nur diese kollegiale Komponente, die Madsen den Start seiner neuen Tätigkeit in Starnberg als gelungen bezeichnen ließ, sondern auch nahezu alle anderen Erfahrungen, die er seit seiner Anreise gemacht hatte. Angefangen von der wahrlich atemberaubenden Natur über die überraschend offene, gastfreundliche Mentalität der Oberbayern bis hin zu dem rustikalen Charme seiner neuen, wenn auch nur provisorischen Unterkunft.
Bis er eine richtige Bleibe hatte, logierte er in einem Gästeappartement, das sich in dem Nebengebäude einer alteingesessenen Starnberger Metzgerei befand. Doch Madsen war guter Dinge, zeitnah eine seinen Vorstellungen entsprechende– und dem Starnberger Mietspiegel zum Trotz bezahlbare– Wohnung zu finden. Schließlich hielten sich seine Ansprüche in Grenzen. Ein Bett, eine Dusche, einWC und eine kleine Kochgelegenheit– mehr Ausstattung war aus seiner Sicht nicht nötig. Das Streben der Allgemeinbevölkerung nach häuslichem Luxus hatte er noch nie geteilt. Er investierte sein Einkommen lieber in Motorrad und Sportequipment.
Zumindest war das früher so gewesen.
Früher, als sein Leben noch in geordneten Bahnen verlaufen war.
Bis zu jenem verhängnisvollen Abend in Hamburg, der sein Leben komplett verändert hatte.
Und ihn ebenfalls.
Madsen nahm einen letzten tiefen Zug, drückte seine Zigarette auf dem Steg aus und entsorgte die Kippe in dem schmalen Zwischenraum zweier Holzbohlen.
»Da es sich um ein Tötungsdelikt handelt…«, begann er dann, »…wäre laut meinem Wissensstand eigentlich die Kripo in Fürstenfeldbruck für den Fall zuständig. Ich werde aber mit der Staatsanwaltschaft sprechen und sagen, dass wir die Ermittlungen gerne selbst übernehmen würden– schließlich verfüge ich über eine entsprechende Erfahrung. Währenddessen sollten sich ein paar Kollegen auf die Suche nach Zeugen machen. Segler, Jogger, Spaziergänger: Vielleicht hat ja irgendjemand was Ungewöhnliches gesehen. Anschließend müssen wir uns mit dem persönlichen Umfeld des Opfers beschäftigen. Wie sieht es denn auf dem Starnberger Revier mit Computerkenntnissen und Recherchekompetenz aus? Bekommen wir das selbst hin, oder sollten wir lieber einen EDV-Spezialisten mit ins Boot holen?«
Von Werdenfels blickte ihn entrüstet an, worauf Madsen überrascht die Hände hob.
»Was ist? Seien Sie ganz offen und ehrlich! Wenn es zielführend ist, für bestimmte Tätigkeiten Fachleute hinzuzuziehen, dann machen wir das. Ich habe damit kein Problem.«
»Nein, nein, das ist es nicht«, antwortete Kommissar von Werdenfels kopfschüttelnd. »Ich überlege nur gerade, wie ich es formulieren soll, damit es nicht zu arrogant klingt.«
»Was soll nicht arrogant klingen? Raus damit! Ein wenig Selbstbewusstsein hat noch niemandem geschadet.«
ZWEI
»Kennen Sie den Harvestehuder Weg?«
Kommissar von Werdenfels schüttelte den Kopf, was Kriminalrat Madsen zu einem tiefen Seufzen veranlasste, bevor er sich von dem riesigen Panoramafenster mit Blick auf den Starnberger See löste.
»Der Harvestehuder Weg ist eine relativ kurze Straße in Hamburg. Allerdings liegt sie direkt am nördlichen Ende der Außenalster und ist deshalb auch die teuerste Wohngegend der Stadt. Jil Sander, Michael Stich und etliche andere Promis wohnen da, und wenn man an deren Villen vorbeigeht, dann bleibt einem echt die Spucke weg. Eine größer und schöner als die andere. Luxuriöser können Immobilien nicht sein. Dachte ich zumindest.« Er breitete die Arme aus. »Bis ich diese Hütte hier gesehen habe!«
In der Tat war das Entree der Starnberger Villa, in der die beiden Polizisten sich befanden, eine architektonische Manifestation von Wohlstand und Perfektionismus, und seine vornehmliche Aufgabe bestand zweifelsohne darin, Besucher mehr oder weniger subtil davon in Kenntnis zu setzen, dass man mit Geld zwar nicht alles, aber offensichtlich doch zumindest vieles erreichen konnte.
Dabei war es nicht alleine die Größe der Räumlichkeit, die den Eintretenden in ihren Bann zog, sondern auch der außergewöhnliche innenarchitektonische Stil des Anwesens. Ihm war es zu verdanken, dass das Haus trotz seiner monumentalen Ausmaße und seiner kühlen Modernität nicht wie ein seelenloses Museum wirkte, sondern einen überraschend persönlichen Charme aufwies.
Doch egal, wie außergewöhnlich und hochwertig Architektur und Einrichtung auch waren, das visuelle Highlight der Empfangshalle war das riesige Panoramafenster. Aus einer einzigen, scheinbar rahmenlosen Glasscheibe bestehend, erlaubte es einen freien Blick über den gesamten Starnberger See sowie auf das saftige Grün des zum Wasser hin abfallenden Gartens.
Hätte man Kriminalrat Madsen in diesem Moment nach seiner ganz persönlichen Definition des Paradieses gefragt, so hätte er lediglich schweigend auf die Szenerie vor ihm gedeutet.
Aber auch Kommissar von Werdenfels, der von Kindesbeinen an am Starnberger See gelebt hatte und dem ob der familiären Besitztümer ein gewisser Grad an Luxus durchaus vertraut war, konnte sich der Wirkung des grandiosen Anblicks nicht entziehen.
Und so standen die beiden Polizisten mit großen Augen vor dem Panoramafenster wie zwei pubertierende Teenager vor der Auslage eines Sexshops, als hinter ihnen plötzlich ein Räuspern zu vernehmen war.
»Willkommen in meinem bescheidenen Heim, die Herren. Wie ich sehe, gefällt Ihnen die Aussicht?«
Die beiden Polizisten fuhren herum.
Vor ihnen stand ein Mittvierziger, der einem Hochglanz-Männerjournal entsprungen zu sein schien.
Halblanges, grau meliertes Haar, das akkurat nach hinten gegelt war, ein gesunder bronzefarbener Teint, der die optimale Balance zwischen englischem Weiß und mallorquinischem Braun bildete, sowie ein schwarzer Anzug, der dermaßen perfekt saß, dass man den Eindruck hatte, nicht der Anzug sei dem Körper, sondern der Körper dem Anzug angepasst worden.
Einen zweifelsohne bewussten modischen Stilbruch stellten lediglich die weiß-goldenen Turnschuhe des Mannes dar, auch wenn es sich dabei vermutlich um ein limitiertes Exemplar eines angesagten französischen oder italienischen Modeschöpfers handelte.
»Gefallen? Machen Sie Witze?« Madsen deutete auf das Fenster. »Ich bin normalerweise ein ganz bescheidener Mensch– aber für einen solchen Ausblick würde ich auf der Stelle meinen kompletten Besitz hergeben.«
Sein Gegenüber grinste verschmitzt und entblößte dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne, die man ohne jegliche Retusche für eine Zahnpastawerbung hätte verwenden können.
»Ach ja? Auch die prächtige Fat Boy, die draußen vor dem Haus steht?«
»Na ja, vielleicht alles außer meinem Moped«, antwortete Madsen ertappt und reichte dem Mann lächelnd die Hand. »Ich bin Kriminalrat Madsen. Das ist mein Kollege Kommissar von Werdenfels.«
»Freut mich. Mein Name ist Schiller. Johnny Schiller. Wie kann ich Ihnen denn helfen, meine Herren?«
Madsen zog ein Foto aus der Hosentasche und reichte es Schiller.
»Das ist Stanislav Wocz. Er wurde heute Morgen tot am Seeufer in Possenhofen gefunden. Unseren Recherchen zufolge war er als Bauarbeiter in Deutschland tätig– und zwar zurzeit hier bei Ihnen im Haus. Ist das richtig?«
Der Hausherr betrachtete das Bild bestürzt, bevor er es dem Kriminalrat mit zittrigen Fingern zurückreichte.
»Das ist ja furchtbar! Ja, ich kenne den Mann. Ich wusste zwar nicht, wie er heißt, aber er hat hier bei mir gearbeitet. Wie Sie an dem Gehämmer selbst hören können, lasse ich gerade den hinteren Teil des Hauses komplett umgestalten und habe damit eine Baufirma aus Tutzing beauftragt. Diese Firma arbeitet fast ausschließlich mit polnischen Fachkräften. Und bevor Sie jetzt falsche Schlüsse ziehen: Alles ist völlig legal und offiziell angemeldet! Diese osteuropäischen Jungs machen einfach nur einen richtig guten Job.«
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie unterbreche, Herr Schiller«, meldete sich Kommissar von Werdenfels zu Wort. »Aber weil Sie gerade das Thema ›Job‹ erwähnen: Was sind Sie eigentlich von Beruf?«
»Ich bin Fotograf.«
»Fotograf?«, wiederholte von Werdenfels ungläubig. »Aber dieses Haus…«
Schiller lächelte generös.
»Ich verstehe Ihr Erstaunen, Herr Kommissar. Für die meisten Leute sind Fotografen die Besitzer kleiner Kameraläden, deren gesamte Kreativität sich in Bewerbungsfotos erschöpft. Oder in privaten Aktaufnahmen, bei denen talentfreien Hausfrauen mit lasziver Mimik eine Rose zwischen die Zähne geklemmt wird. Bei mir verhält es sich etwas anders– ich bin Still Lifer mit Schwerpunkt Food und Liquids.« Er bemerkte die ratlosen Gesichter seiner Besucher und erklärte: »Still Life bedeutet das Fotografieren lebloser Gegenstände, und ich besitze ein besonderes Talent für das Ablichten von Lebensmitteln und Getränken. Zumindest sehen das meine Auftraggeber so, und deshalb kann ich bei aller Bescheidenheit behaupten, einer der am meisten gebuchten Food- und Liquidfotografen der gesamten Werbebranche zu sein. Und wenn man sich einen solchen Ruf einmal erarbeitet hat und weiterhin gute Bilder abliefert, dann steigt der Marktwert– und damit die Tagesgage– mit jedem Foto, das man macht.«
»Nur so interessehalber…«, erkundigte sich Madsen neugierig, »…über was für eine Tagesgage sprechen wir hier? Oder ist das ein Geheimnis?«
Schiller lächelte. »Keineswegs! Sie können mich ja jederzeit buchen– zum Beispiel, um Ihr selbst gekochtes Abendessen perfekt ins Bild zu setzen. Mein Tagessatz beträgt sechstausend Euro zuzüglich Reisekosten, Spesen und dem ganzen anderen Drumherum.«
»Sechstausend Euro am Tag?« Kommissar von Werdenfels verschluckte sich hustend. »Ist das Ihr Ernst? Wer zum Teufel bezahlt denn sechstausend Euro für ein Foto von einem Stück Fleisch?«
Schillers Miene verfinsterte sich schlagartig.
»Mag sein, dass Ihnen das hoch vorkommt, Herr Kommissar, aber ich bitte Sie zu bedenken, dass wir Fotografen auch sehr viele Investitionen haben. Alleine der Wert meines Kameraequipments bewegt sich im sechsstelligen Bereich. Außerdem beinhalten solche Honorare auch immer den Verkauf sämtlicher Nutzungsrechte. Und wie gesagt: Ich bin inzwischen so eine Art Star in der Branche und arbeite für die größten Unternehmen weltweit. Außerdem–«
Madsen unterbrach den Hausherrn mit einer beschwichtigenden Geste.
»Sie brauchen sich nicht für Ihr Gehalt zu rechtfertigen, Herr Schiller. Ich bin sicher, mein Kollege wollte Sie nicht angreifen. Außerdem sind wir ja auch nicht hier, um über Ihren Job zu sprechen, sondern über das Todesopfer. Können Sie uns denn etwas über den Mann erzählen? Ist er schon länger hier tätig? Arbeitet er ausschließlich für Sie, oder hat er noch andere Auftraggeber?«
Schiller warf von Werdenfels einen letzten strafenden Blick zu und wandte sich– jetzt wie auf Knopfdruck wieder mit einem verbindlichen Lächeln– an Madsen. Offensichtlich verfügte der Mann über das Anpassungspotenzial eines Chamäleons, was für einen Dienstleister nicht die schlechteste Fähigkeit war.
»Das sind ja gleich drei Fragen auf einmal, Herr Kriminalrat. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich führe Sie zu Herrn Augenthaler. Das ist der Bauunternehmer, der die Arbeiten an meinem Haus durchführt und für den dieser Wocz gearbeitet hat. Herr Augenthaler kann Ihnen sicherlich deutlich besser weiterhelfen als ich, denn ebenso wie meine Frau, die wegen ihrer chronischen Migräne bis morgen in unserem Ferienhaus in Kitzbühel ist, versuche auch ich, dem Lärm und dem Dreck nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen.«
Der Kriminalrat nickte zustimmend. »Gerne. Und seien Sie froh, dass Sie diese Möglichkeit haben. Bei uns Polizisten ist das leider genau andersrum, wir müssen immer dorthin, wo der Dreck am größten ist.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Und das leider auch noch zu einem deutlich geringeren Tagessatz.«
Der Gang durch das Schiller’sche Anwesen glich einem Galeriebesuch.
Während Madsen und von Werdenfels dem Hausherrn durch zahllose Zimmer, Korridore und Treppenhäuser folgten und dabei zunehmend die Orientierung verloren, hatten sie ausreichend Gelegenheit, sich von seinen außergewöhnlichen fotografischen Fähigkeiten zu überzeugen.
Immer wieder zierten großflächige Fotoabzüge mit Schillers Signatur die weißen Rauputzwände, und den Polizisten lief beim Anblick der Motive das Wasser im Munde zusammen.
Da gab es neben ästhetischen Aufnahmen opulenter Menüs auch völlig puristische, aber deshalb keineswegs weniger appetitliche Abbildungen einzelner isolierter Zutaten, dazu Bilder von Wraps, Sandwiches und Burgern, die so stil- und kunstvoll arrangiert waren, als hätte sie Paul Bocuse höchstpersönlich kreiert, und Fotos unterschiedlichster Getränke, bei denen die dynamische Bewegung der Flüssigkeit so brillant in Szene gesetzt war, dass den Beamten schlagartig klar wurde, warum Schillers Beauftragung eine so hohe finanzielle Investition bedingte.
»Coole Aufnahmen!«, lobte Madsen und deutete im Vorbeigehen auf die Bilder. »Wie kommt man eigentlich dazu, sich so einen außergewöhnlichen Beruf auszusuchen?«
Johnny Schiller lächelte.
»Im Prinzip habe nicht ich meinen Beruf gefunden, sondern mein Beruf mich. Oder, wie mein seliger Vater zu sagen pflegte: Beruf kommt von Berufung!« Er lachte. »Aber wem sage ich das? Ich schätze, bei Ihnen als Polizist trifft das in noch deutlich höherem Maße zu, oder?«
Madsen nickte kurz. Und hoffte gleichzeitig, dass weder Schiller noch von Werdenfels ihm in diesem Augenblick in die Augen schauten. Denn seine Entscheidung für den Polizeiberuf hatte mit einer Sache definitiv nichts zu tun.
Und zwar mit Berufung.
* * *
Aus einem streng konservativen Elternhaus kommend, wuchs der junge Mads in St.Georg auf, einem Stadtteil von Hamburg, dessen charakteristischstes Merkmal in seiner extremen soziodemografischen Diskrepanz bestand.
Während der nördliche Teil des Viertels Wohlstand und Eleganz widerspiegelte und den gut situierten Besuchern der dort ansässigen Luxushotels, Starcoiffeure und Werbeagenturen einen traumhaften Blick über die Außenalster bescherte, bildete der südwestliche Bereich zwischen Hauptbahnhof und Hansaplatz eine gänzlich gegensätzliche Welt.
Junkies, Obdachlose, Kleinkriminelle und Straßengangs dominierten das Bild, und wer sich nach Einbruch der Dunkelheit gezwungen sah, St.Georg zu Fuß zu durchqueren, der tat gut daran, einen Hund, Pfefferspray oder einen großen Bruder mitzuführen.
Und im Idealfall alles drei.
Das Problem für Mads bestand darin, dass er ein Einzelkind war, seine Familie keinen Hund besaß und er außerdem nicht über Pfefferspray verfügte.
Vor die Wahl gestellt, sich regelmäßig von anderen Jugendlichen verprügeln zu lassen oder aber selbst Mitglied einer Straßengang zu werden, entschied er sich ohne langes Zögern für Letzteres.
Konfrontationen mit der Polizei ließen sich ob dieses zweifelhaften Lebensstils nur schwerlich vermeiden. Doch während sich zahlreiche seiner Kumpane regelmäßig vor dem Hamburger Jugendgericht für ihre Taten zu verantworten hatten, gelang es Madsen stets, sich dem Zugriff der Exekutive zu entziehen.
Nichtsdestotrotz war es eines Tages ein Zwischenfall mit der Polizei, der Madsens Leben entscheidend beeinflussen sollte.
Nach dem Besuch eines Fußballspiels hatte Madsen allein in einem kleinen, ungepflegten Park Ecke Danziger und Rostocker Straße herumgelungert, als plötzlich das Geräusch schwerer Stiefel auf Kies zu vernehmen war und die Mitglieder einer befeindeten Gang den Park betraten.
Ehe Madsen sich’s versah, war er von mehr als fünfzehn Jugendlichen umzingelt, deren Mimik eindeutig darauf schließen ließ, dass sie nicht gekommen waren, um sich mit freundlichem Geplauder über das politische Weltgeschehen auszutauschen.
Die Situation war mehr als bedrohlich.
In der Luft lag eine gespenstische Ruhe.
Wie vor einem Sturm.
Oder einem Orkan.
Sogar das Zwitschern der Vögel in den umliegenden Baumkronen war verstummt.
»Ey, Alter, so sieht man sich wieder!« Der Anführer der Gang grinste hämisch und baute sich mit verschränkten Armen vor Madsen auf.
Der junge Südeuropäer hatte die Haare mit einer XXL-Portion Pomade nach hinten gegelt, trug eine Jeansweste auf nacktem Oberkörper und roch penetrant nach Alkohol und Fast Food.
»Ey, Alter, das ist voll schlecht für dich. Und weißt du, warum? Weil jetzt kriegst du voll was auf die Fresse!«
Madsen zuckte gleichgültig mit den Achseln, bemüht, sich seine aufkommende Panik nicht anmerken zu lassen. Der kalte Blick seines Gegenübers ließ jede Hoffnung auf Deeskalation vergeblich erscheinen.
Gleichzeitig kramte Madsen hektisch in seinem Gedächtnis, denn er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dem Kerl in der Vergangenheit schon einmal begegnet zu sein.
Aber das musste nichts heißen– während einer Straßenschlägerei blieb naturgemäß selten Zeit, sich seinem Kontrahenten vorzustellen und Visitenkarten auszutauschen.
Madsen beschloss, sein Heil im Angriff zu suchen.
Er deutete mit dem Zeigefinger über die Schulter seines Kontrahenten.
»Tja, Pech gehabt, Arschloch– da kommen meine Jungs!«
Der Pomadenkopf fuhr herum und blickte sich suchend um.
Genau auf diese Reaktion hatte Madsen gehofft, und er nutzte sie, um dem Kerl kraftvoll zwischen die Beine zu treten.
Dieser sackte mit einem erstickten Stöhnen zusammen, woraufhin Madsen ihm zusätzlich das Knie mit aller Wucht ins Gesicht rammte und hakenschlagend losrannte.
Doch seine wilde Hatz endete bereits nach wenigen Metern an einer menschlichen Wand aus drei muskulösen Gegnern, die ihn zu Boden warfen, ihm die Arme auf den Rücken drehten und ihn trotz vehementer Gegenwehr zurück zu ihrem Anführer schleiften.
Der hatte sich inzwischen von dem Tritt in seinen Genitalbereich etwas erholt, auch wenn sein verkniffener Gesichtsausdruck darauf schließen ließ, dass er immer noch starke Schmerzen verspürte.
»Ey, Alter, dafür wirst du büßen, du Wichser!«, zischte er, griff in seine Hosentasche und streifte sich mit einer geschmeidigen, tausendfach perfektionierten Bewegung einen Schlagring über die rechte Hand.
Madsen schluckte und stellte sich gedanklich bereits auf den schmerzvollen Verlust seiner Schneidezähne ein, als plötzlich eine ruhige, aber entschlossen klingende Stimme ertönte.
»Lasst den Jungen los. Sofort!«
Madsen blickte überrascht auf.
In der Mitte des Parks stand ein Streifenpolizist.
Er war jung, von durchschnittlicher Statur und schien völlig allein zu sein.
Die Mitglieder der Gang blickten zwischen dem Beamten und ihrem Anführer hin und her.
Dieser schien mit der Situation kurzfristig überfordert zu sein, doch als er keine polizeiliche Verstärkung erblickte, verzog sich sein Gesicht zu einem überheblichen Grinsen.
»Ey, Alter, du weißt schon, dass wir voll fünfzehn Mann sind? Bis du deine Kollegas gerufen hast, sind wir mit dir und dem Wichser hier fertig. Und zwar voll, Alter!«
Er spuckte auf den Boden.
Die Miene des Polizisten hingegen blieb völlig unverändert. Gemächlich schlenderte er auf den Anführer zu und baute sich keine Handbreit vor dessen Gesicht auf.
»Wie kommst du denn darauf, dass ich meine Kollegen rufen würde? Ich will nur, dass du dir deine Clowns schnappst und dich verziehst. Und zwar pronto!«
Der Pomadenkopf bemühte sich, dem Blick seines Gegenübers standzuhalten, doch das unruhige Zucken seiner Mundwinkel verriet zunehmende Verunsicherung.
»Ey, Alter, und wenn nicht? Was geht dann ab?«
»Was dann abgeht? Ganz einfach!«, antwortete der Polizist leise und klopfte wie beiläufig auf sein Pistolenholster. »Dann jage ich dir eine Kugel in beide Kniegelenke!«
Dabei lächelte er so freundlich, als würde er einer alten Dame einen Schokoladenkeks anbieten.
Madsen, der den Disput ebenso wie alle anderen voller Spannung verfolgt hatte, hielt den Atem an.
Nach einer Zeitspanne, die Madsen endlos vorkam, drehte sich der Anführer schließlich um und gab seinen Leuten das Zeichen, den Park zu verlassen. Dann wandte er sich noch einmal an Madsen und zischte: »Ey, Alter, wenn du glaubst, die Sache hat sich erledigt, dann liegst du voll falsch. Ich schwöre: Irgendwann mache ich dich kalt, du Arschloch! Und zwar voll!«
»Alles in Ordnung?« Der Polizist legte Madsen, der sich mit zittrigen Knien auf eine mit Graffiti und Vogelkot verschmierte Bank gesetzt hatte, beruhigend die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen wegen der Drohung, mein Junge. Solange ich Dienst habe, werde ich dafür sorgen, dass solche Typen dich nicht mehr tyrannisieren. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort!«
Madsen schossen die Tränen in die Augen.
Dieser junge, unerfahrene Polizist hatte seine Gesundheit, vielleicht sogar sein Leben riskiert, um ihn zu schützen.
Weil er ihn für ein Opfer hielt.
Für einen hilflosen Jungen, der dringend seines Schutzes bedurfte.
Dabei war er in Wahrheit jemand, der in ähnlichen Situationen selbst zugeschlagen und anderen Jugendlichen ohne mit der Wimper zu zucken schwere Verletzungen zugefügt hatte.
Sein Verhalten hatte er dabei nie sonderlich hinterfragt.
Zumindest bis zu diesem Augenblick.
Denn plötzlich widerte er sich selbst nur noch an.
Und so ließ er– ein verschämtes Dankeschön murmelnd– den verdutzten Streifenbeamten mitten im Park stehen, rannte nach Hause und schloss sich wortlos in seinem Zimmer ein.
Am darauffolgenden Morgen verkündete der junge Madsen seinen verblüfften Eltern einen Entschluss.
Einen Entschluss, der seine Zukunft betraf.
Er wollte Polizist werden.
* * *
Johnny Schiller führte seine beiden Besucher zu einem Wanddurchbruch, der mit einer dicken blauen Kunststofffolie abgedeckt war. Es roch wie auf jeder Baustelle dieser Welt nach kaltem Stein, verbranntem Staub und Farbe, und das Crescendo der Maschinen war ohrenbetäubend.
»Hier wären wir. Ab jetzt wird’s laut und schmutzig!«
Mit diesen Worten schlug Schiller die Folie zurück, und die beiden Polizisten rissen erstaunt die Augen auf.
»Was zum Teufel…?«
Madsen und von Werdenfels starrten entgeistert auf die verwitterte Berghütte, die auf hydraulischen Zylindern mitten im Zimmer stand, während einige Handwerker unter dem lautstarken Kommando eines grauhaarigen Vorarbeiters mit Bohrhämmern einen Durchbruch zu einem weiteren Raum schlugen.
Schiller breitete die Arme aus wie ein Zauberer, der ein Zwergkaninchen in eine rothaarige Jungfrau verwandelt hatte.
Oder umgekehrt.
»Darf ich Ihnen das Highlight meines Hauses präsentieren? Das Almzimmer.«
»Sie haben eine Almhütte mitten im Haus? Das ist mit Abstand das Verrückteste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe«, schrie Madsen, um den Baulärm zu übertönen. »Und das, obwohl ich vom Hamburger Kiez komme.«
Schiller bedeutete dem Arbeiter mit der Schlagbohrmaschine, einen Moment zu pausieren. Als das Geräusch verstummt war, wandte er sich an die beiden Polizisten.
»Wissen Sie, ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen. Mein Vater hat unter Tage als Steiger gearbeitet. Fernreisen konnten sich meine Eltern nicht leisten, und deshalb haben wir– wenn überhaupt– unsere Urlaube immer nur in den Bergen verbracht. Ich habe den Strand nie vermisst, für mich waren die Aufenthalte in den Bergen die schönste Zeit meines Lebens. Diese Faszination hat mich nie losgelassen, deshalb nutze ich noch heute jede Gelegenheit, um für ein paar Tage nach Tirol zu fahren. Sie können das sicherlich nachvollziehen, oder?«
Madsen nickte, während er sich gleichzeitig um einen möglichst verständnisvollen Blick bemühte. Sein Gesprächspartner musste ja nicht unbedingt wissen, dass die höchsten Berge, die er in seinem Leben bisher gesehen hatte, die Poppenbütteler Müllberge waren– auch wenn man die in Hamburg die Langenhorner Alpen nannte.
Schiller ging indes zu der Hütte, strich mit der Hand so zärtlich über das Holz, als liebkoste er den Körper einer Frau, und fuhr dann fort: »Nun, bei einer dieser Touren habe ich einen alten Senner kennengelernt, der in genau dieser Hütte gelebt hat. Nach seinem Tod habe ich sie gekauft, Bohle für Bohle abbauen und hierhertransportieren lassen. Jetzt lasse ich das Zimmer, in dem wir uns hier gerade befinden, im Tiroler Bauernstil umbauen, und die Außenwand dort vorne wird durch ein genauso großes Panoramafenster ersetzt wie in der Empfangshalle. Dann kann man in der Bauernhütte sitzen, Tiroler Speck essen und dabei auf den gesamten Starnberger See schauen. Ist das nicht genial?«
Schiller blickte mit kindlicher Begeisterung von einem zum anderen, während die Polizisten ihn mit einer Mischung aus Faszination und Fassungslosigkeit betrachteten.
Auch wenn Geld nach landläufiger Meinung– und auch nach Madsens persönlicher Erfahrung– keine Garantie für Glück darstellte, so ermöglichte es ihrem Gegenüber doch offensichtlich, sich seine persönliche Welt nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Und Schiller schien das sehr wohl glücklich zu machen. Zumindest strahlte er wie Lothar Matthäus bei seiner fünften Hochzeit.
»Ah, da ist Augenthaler! Kommen Sie, meine Herren! Er kann Ihnen sicherlich bei Ihren Fragen weiterhelfen.«
Der Fotograf winkte einem gedrungenen schwarzhaarigen Mann zu, dessen bis zum Kinn herunterreichender Schnurrbart ihn wie eine urbane Version von Attila, dem Hunnen, erscheinen ließ. Er war etwa Anfang fünfzig, hatte Hände wie Baggerschaufeln und roch durchdringend nach Schweiß.
Der Bauunternehmer erteilte einem Arbeiter auf Polnisch einige Anweisungen, dann legte er sein Klemmbrett zur Seite und blickte die Besucher fragend an.
»Die Herren sind von der Polizei und möchten mit Ihnen über einen Ihrer Arbeiter sprechen«, erklärte Schiller.
Madsen zeigte ihm das Foto von Wocz.
»Herr Augenthaler, dieser Mann wurde heute Morgen tot aufgefunden. Unseres Wissens und laut Aussage von Herrn Schiller war er für Sie tätig. Können Sie uns vielleicht etwas über ihn erzählen?«
Der Mann erstarrte, blickte bestürzt auf das Bild und fuhr sich mit der Hand mehrmals abwesend über seinen tiefschwarzen Schnauzbart, bevor er antwortete.
»Ja leck mich doch am Arsch! Des ist d’r Stani! Der ist tot? Sakra, was für eine Scheiße! Das war einer von meinen besten Leuten. Ich wollt ihn demnächst zu meinem neuen Vorarbeiter machen. Und jetzt… Wie ist das denn passiert? Ich meine, wo haben Sie ihn denn gefunden?«
Der Kriminalrat warf von Werdenfels einen warnenden Blick zu und antwortete ausweichend: »In Possenhofen am Seeufer. Zur Todesursache können wir leider noch keine Angaben machen, aber es könnte sein, dass er vor seinem Tod eventuell in eine Auseinandersetzung verwickelt war. Uns würde deshalb interessieren, ob es hier auf der Baustelle vielleicht Streit gegeben hat. Oder ob Ihnen in den letzten Tagen irgendwas anderes Außergewöhnliches aufgefallen ist.«
Anstatt sofort zu antworten, holte Augenthaler in aller Ruhe ein Päckchen Tabak aus der Tasche und begann sich eine Zigarette zu rollen. Madsen erkundigte sich erstaunt, ob Rauchen innerhalb des Hauses gestattet sei, und als Schiller das zumindest für den Bereich der Baustelle bejahte, zündete sich auch der Kriminalrat eine Zigarette an.
Währenddessen informierte Augenthaler die Beamten über den persönlichen Hintergrund des Toten. Dabei bemühte er sich dem hanseatischen Kriminalrat zuliebe um eine möglichst dialektfreie Artikulation, wenngleich seine Ausdrucksweise von einem reinen Hochdeutsch immer noch so weit entfernt war wie Nordkorea von einer Demokratie.
»Stanislav Wocz war ein guter Typ. Er hat seit über zehn Jahren für mich gearbeitet. Wie Sie sicherlich wissen, verdienen Handwerker in Osteuropa fast gar nix, das heißt, auch wenn sie hier schlechter bezahlt werden als ihre deutschen Kollegen, ist’s immer noch lukrativ für sie. Die meisten kommen schon seit Jahren hierher und sprechen fließend Deutsch. Und das, sakra di, oft besser als ich!«
Augenthaler lachte rau, wobei seiner Stimme das jahrelange Inhalieren von Zigarettenqualm und Baustellenstaub unschwer anzumerken war.
»Und ich muss sagen, dass die Jungs hier– der Großzügigkeit vom Herrn Schiller sei Dank– sogar noch besser verdienen als bei anderen Auftraggebern. Sie erhalten nämlich nicht nur ihren Lohn, sondern auch noch einen Verpflegungszuschuss und eine Extrapauschale für die Heimfahrten. Da können sie noch ein paar Euro für sich oder ihre Lieben daheim auf die hohe Kante legen.«
»Na ja, ein wesentlicher Teil des Geldes dürfte für die Unterkunft draufgehen«, unterbrach ihn von Werdenfels. »Wir wissen ja alle, dass die Mieten hier in der Gegend dem Fass eins auf den Deckel geben!«
Augenthaler sah den Kommissar verständnislos an, woraufhin Madsen sich beeilte zu erklären: »Mein Kollege hat sich versprochen. Er meint ›dem Fass den Boden ausschlagen‹. Aber in der Tat dürfte der hiesige Mietspiegel den Bauarbeitern einige Probleme bereiten– zumindest dann, wenn sie nicht zu sechst in einem Acht-Quadratmeter-Zimmer hausen möchten.«
»Im Prinzip richtig«, mischte sich Schiller in das Gespräch ein und deutete aus dem Fenster. »Aber genau aus diesem Grund habe ich für die Männer, die hier arbeiten, auch Wohncontainer im Garten aufstellen lassen. Ich fände es unfair, wenn der komplette Verdienst, den diese Jungs sich hart erarbeiten, für irgendeinen Mietwucher draufgehen würde. Die Container sind zwar nicht das ›Waldorf Astoria‹, aber bis zu vier Mann können da ganz bequem drin wohnen. Dazu hat jeder Container seine eigene Dusche und seine eigene Toilette, und die Dinger stehen quasi direkt am Ufer des Starnberger Sees. Es gibt durchaus schlimmere Unterkünfte, meinen Sie nicht?«
Die Anwesenden nickten, wobei Augenthaler den Kopf so dienstbeflissen vor- und zurückwarf, dass er aussah wie ein Wackeldackel auf der Hutablage eines VWKäfers.
»Herr Schiller ist wirklich großzügig zu den Arbeitern, deshalb kommen die auch immer wieder gerne hierher. Es gibt ja bei einem so großen Anwesen ständig was zu tun. Umbauen, ausbauen, renovieren– dieses ganze Glump eben!«
Augenthaler bemerkte Madsens fragenden Blick. »Glump bedeutet in dem Fall so was wie Kram. Tut mir leid, Herr Kriminalrat. Ich tue mich einfach schwer mit Hochdeutsch. Aber ich gebe mir wirklich Mühe, damit Sie mich verstehen!«