Chaotika - John Aysa - E-Book

Chaotika E-Book

John Aysa

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Beschreibung

Als Mischka in der Provinz von Leone einen Zug beobachtet, gerät er unvermutet in einen Schusswechsel und landet im Krankenhaus der Hauptstadt. Dort verliert er sofort die Kontrolle über sein Leben, als er ins Kreuzfeuer zwischen Agenten und Gangstern gerät. Sein Glück ist die Krankenschwester Circe, die ihm mit überraschenden Mitteln beisteht und ihm dabei hilft zu versuchen, das Durcheinander zu klären. Aber auch Mischka hat einige Überraschungen parat - vor allem für sich selbst. Gemeinsam dringen die beiden zu einem Geheimnis vor, das den gesamten Planeten betrifft.

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John Aysa

Chaotika

Der erste Miscatonic Hindin Roman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 00

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Der Autor

Impressum neobooks

Kapitel 00

Eine gewaltige Welle aus Dampf rollte, gleich einem abrupt aufziehenden Sandsturm von der Farbe von frischem Durchfall, die Trasse entlang und bewegte sich in Richtung Bahnstation.

Sie verkündete die unmittelbar bevorstehende Ankunft des nahenden 1700ers.

Scheinbar auf den zischenden Dampfkissen schwebend, unüberhörbar in allen beweglichen Teilen knirschend, knarrend wie knackend, näherte der Zug sich rasch dem Haltebereich. Ein Koloss aus Stahl, Holz und Glas, ähnlich einer mechanischen Schlange auf zahllosen Rädern die Geleise entlangrollend.

Ein Gefährt aus der ersten Periode der technischen Revolution, das sich erhaben, mehr noch, kämpferisch dem Untergang entgegenstemmte, wissend, dass die Dämmerung über seine Art hereingebrochen war, die Dämmerung einer Nacht, der kein Morgen folgen würde.

Mischka wartete.

Er platzierte sich am vorderen Ende des Bahnsteigs, wo die Kraft des Antriebs die träge Masse des Fahrzeugs zum Stillstand bringen würde.

Er kam seit vielen Jahren in regelmäßigen Abständen zum Bahnhof. Sein Interesse an Zügen im Allgemeinen hielt sich in Grenzen, er war ein Bewunderer ausschließlich des 1700er.

Ihm imponierte die veraltete, aus einem durchgehenden Wagen bestehende, auf Gelenken wieauch Dutzenden Achsen ruhende Maschine.

Sie verkörperte, was in den Kolonien als Werk der Pionierzeit betrachtet, mit milder Toleranz für Vergangenes angesehen wurde.

Der aufkommende Wind brachte Wärme und Feuchtigkeit mit, Vorboten des Zuges. Mischka sah sich um. Außer ihm befanden sichbloß fünf Reisende auf dem Bahnsteig. Alle schleppten Gepäck für ihre Reise auf die andere Seite der Berge nach Central City mit, Schmelztiegel und Hauptstadt des Kontinents.

Mehr als einen flüchtigen Blick erübrigte er nicht für die Landflüchtlinge. Er hatte kein Problem damit, wenn jemand den Mühen und der Einsamkeit dieses Landstrichs nicht gewachsen war. Er verstand den Wunsch nach einer Fahrt in ein hoffentlich leichteres Leben.

Das Glück in der Stadt finden zu wollen war seiner Ansicht nach allerdings illusorisch, eine Reise von einem Extrem ins andere.

Mischka nahm den Hut ab, wischte Schweiß in den Ärmel der Jacke und setzte den speckigen, alten Schattenspender auf. Kühlung erhielt er keine, aber die Augen waren halbwegs vor dem grellen Licht der gleißenden Sonne geschützt.

Brillen verursachten ihm Kopfschmerzen, und gegen moderne, vollautomatische Implantate hegte er unfundierte Ressentiments. Von den Umständen und Kosten, die es mit sich brachte, sich die Dinger einsetzen zu lassen, zu schweigen.

Wie sollte das Land prosperieren, wenn es nicht genügend Leute gab, die diese Breitengrade belebten undsich vermehrten, diese Landstriche dauerhaft besiedelten. Natürlich gab es reizvollere Flecken auf der Welt, aber dieses Areal hatte Charme, wenngleich überaus eigenwilligen. Das war nicht zu leugnen.

Ging die Landflucht in diesem Tempo weiter, gab es in wenigen Jahren keinen Stopp mehr für den 1700er. Dornenbüsche und Staubhexen wären die dominierenden Spezies. Dabeiwar der Bahnhof eine in Vergessenheit geratene Berühmtheit.

Der Halt befand sich genau in der Mitte der Strecke, die der Zug zurücklegte. Dummerweise hatte man verabsäumt, aus dem speziellen Standort der Station Kapital zu schlagen, einen Aufschwung herbeizuführen.

Keinerlei Lokalitäten, fehlende Angebote, nicht ein Souvenirstand war zu finden. Niemand hatte mit den Betreibern der Bahn verhandelt, um einem längeren Zwischenstopp zu erreichen, damit Leute aussteigen und ihr Geld anbringen konnten.

Während andere Haltepunkte auf der Strecke nach und nach modernisiert, ausgebaut und kommerzialisiert wurden, versank die Station mit dem größten Potenzial in einen Dämmerschlaf.

Nicht mal ein zweites Gleis gab es im Ortsbereich. Nichts. Seit Gründung von Sweetwater war es selten zu nennenswerten baulichen Erneuerungen gekommen.

Schade und kurzsichtig, da es keiner radikalen Veränderungen bedurft hätte. Modernisierung und Ausbau der Bahnstrecke waren unaufhaltsam. Entweder man war von Anfang an dabei oder man wurde vom Fortschritt überholt, versank in totaler Bedeutungslosigkeit.

Andererseits stellten Touristen eine Plage dar.

Eine Welle heißer Feuchtigkeit überrollte ihn, überzog Mischka mit einer Schicht winziger Tröpfchen. Die Vorboten der nachfolgenden Maschinerie trafen ein. Gleich einem Apparat aus der Hölle, lärmend, Bremsblöcke auf Rädern kreischend, hielt das Fahrzeug aufseinerHöhe. Der Stillstand ließ dennunfadenscheinigen Dampfteppich endgültig zerfasernunddahinschmelzen.

Über Kopfhöhe öffnete sich das Fenster des Fahrerstands, der Kapitän der Maschine streckte den Kopf heraus. Wieschon viele Male zuvor nickte er grüßend in Mischkas Richtung. Der Mann hatte noch nie ein Wort an Mischka gerichtet und dieser hegte den Verdacht, dass er nicht sprechen konnte.

Um den Zug zu steuern, musste man in letzter Konsequenz nicht die Klappe aufreißen können, sondern wissen, welche Hebel, Schalter und Tasten wann bedient werdenmussten.

Mechanik, nicht Grammatik war die Triebfeder des Zuges. Sprechenwurdesowieso überschätzt. Der 1700er war drei Wochen in einer Fahrtrichtung auf Reisen. Am elften Tag zur Mittagszeit stoppte der Zug in Sweetwater. Abgesehen von einigen Worten mit den Zugbegleitern hatte der Fahrer unterwegs kaum Ansprache. Seine Koje befand sich im Führerhaus.

Wahrscheinlich der einsamste Job auf dieser Welt, undirgendwie fand Mischka das beneidenswert. Er redete selbst nicht viel, war nie ein großer Redner gewesen.

Er hielt sichauch für keinen sonderlichen Geistesriesen, was ihm leidtat. Er hätte gern mehr Zeit gehabt, um das Denken zu üben, es ordentlich zu erlernen. Er war zu ziellos, unkonzentriert.

Er grüßte den Kapitän mit einem Nicken und begann mit der nächsten Routine. Er wanderte den Bahnsteig hinab und die Flanke des 1700ers entlang, verschaffte sich einen Eindruck von der Zahl der hinzugekommenen Kratzer und abgesplitterten Stellen im Lack.

Abschnitte des Zuges verfügten über ein zweites Deck, es gab sogar eine Miniaturterrasse. Mischka ließ den Blick schweifen, besah Staub und Schmutz, begutachtete die glänzenden, von Tausenden Kilometern Wüstenfahrt vernarbten Stahlräder.

Er bewunderte die simple Schönheit des an die dreihundert Meter langen Gefährts: die gleich Flügeln aufklappenden Türen, die knirschend aus dem Unterboden des Zuges herausgleitenden Stufen.

Bei diesen Fahrzeugen war von Beginn an auf modische Spielereien verzichtet worden. Man hatte sie simpel und robust gebaut, um die Störanfälligkeit gering zu halten. Sie waren darauf ausgelegt, die Passagiere sicherund bequem an ihr Ziel zu bringen.

Was bei einer derart gewaltigen Strecke, die über eintausenddreihundert Höhenmeter und mehrere Temperaturzonen bezwang, eine Überlebensnotwendigkeit darstellte. Der 1700er vereinte Langlebigkeit und luxuriöse Funktionalität in sichwie kein Zug, der danach gebaut worden war.

Seine Freunde hielten ihn für versponnen. Regelmäßig eine zweistündige Fahrt auf sich zu nehmen, um für eine im Vergleich lächerliche Zeitspanne einen altmodischen Zug zu bewundern, das konnte man getrost als eigenwillig bezeichnen.

Mischka war der Erste, der das zugab.

»Scheiß drauf«, lautete sein Kommentar. Jeder hatte einen Vogel und er war nicht mal ein Trainspotter. Er schätzte die Tier- und Pflanzenwelt, die aufgrund der harten Bedingungen extreme Auswüchse aufwies. Er mochte das Territorium, in dem er lebte, war generell ein zufriedener Mann.

Er ging gern spazieren und bewunderte die Dinge, die er sah. Dazu gehörte der Zug. Manchmal fühlte Mischka sichalt, nicht mehr gewillt, den Entwicklungen der Moderne zu folgen.

Der Zug war eine Art Trostspender, wie er ein Relikt aus einer vergangenen Epoche war.

Züge stellten auf Leone das wichtigste Verkehrsmittel dar. Fliegen war nur in Ausnahmefällen ein Thema, Troposphäre und Stratosphäre wiesen Besonderheiten auf, die den Einsatz komplexer Technologien zum größten Teil unmöglich machten.

Der Planet leistete sich mithilfe eines sogenannten Nadelöhr-Systems einen Raumhafen, damit erschöpften sich die Möglichkeiten der Hochtechnologie. Güter, deren Erstellung ein kniffliges und aufwendiges Prozedere voraussetzte, importierte man, sei es von anderen Welten oder diversen Stationen im Orbit, Fabriken, die Leone sein Eigen nannte. Diese produzierten, was auf dem Planeten nicht machbar war. Der tatsächliche Bedarf war auf diese Weise natürlichniemals zu decken, und so wurde improvisiert.

Man hatte auf uralte Techniken zurückgegriffen, und darum konnte man seit kurzer Zeit Zeppeline durch den Himmel fahren sehen.

Bis jetzt waren es nur ein paar und sie brachten nicht im Ansatz dieselbe Leistung wie Züge. Langsamerundweniger tragfähig. Doch man stand am Beginn einer vielversprechenden Entwicklung.

Von einer Seilbahn zu den Sternen war die Rede, von neuenund abenteuerlichen Wegen des Transports und der Fortbewegung.

Der hochenergetische Biotransfer, der auf einigen Welten testweise in Betrieb genommen worden war, ließ hier noch lang auf sich warten.

In die einzelnen Atome zerlegt durch die Gegend geschossen zu werden, darauf vertrauend, dass ein Zielcomputer die Einzelteile richtigundvollständig zusammensetzte?

Was für ein Wahnsinn! Jeder Transfer war ein Tod. Man wurde in seine Komponenten aufgelöst. Es sollte nur einen Tod geben. Sterben, um von A nach B zu gelangen, welch schwachsinnige Idee. Niemand garantierte, dass nicht der Verstand Stück für Stückdabei verloren ging. Wer wusste nachher zu sagen, ob er Erinnerungen vermisste? Eben.

Im Endeffekt blieb der Zug die wirtschaftlichste und sinnvollste Methode, um auf Leone größere Strecken zu überwinden.

Solang es noch einen der ohnehin nur mehr fünf 1700er gab, hatte er vor, zum Bahnhof zu pilgern, um sich an einem der Wunderwerke zu erfreuen.

Jemand verließ den Zug. Dashatteerlangenichtmehrbeobachtet. Für gewöhnlich stiegen Leutenurein, um sich aus dem Staub zumachen.

Mischka verlangsamte seinen Schritt, während er den Ankömmling einer ferndiagnostischen Musterung unterzog. Der Mann war in einen bodenlangen, senffarbenen Staubmantel gehüllt, trug abgewetzte Stiefel von unbestimmbarer Farbe. Auf seinem Kopf ein Hut mit Krempe, die das Gesicht beschattete, ähnlich Mischkas eigener Kopfbedeckung. Auf der Nase balancierte eine Brille mit runden, getönten Gläsern. Auf den ersten Blick wirkte diese Ausstattung deplatziert. Kein Ansässiger kleidete sich in derartiges Zeug.

Mischka nickte zustimmend. Besonders der Mantel war clever gewählt. Ein praktischer Staubfänger, hielt die Strahlung von Leones Zentralgestirn von der Haut ab, und wenn die Sonne hinterm Horizont verschwand, spendete er Wärme.

Nächtens in der Wüste war es eiskalt.

Was ihn hingegen stutzig werden ließ, war das Fehlen von großem Gepäck. Der Mann transportierte nicht mehr als eine Tasche über der linken Schulter. Ein donnerndes Trompeten erschreckte Mischka. Es knirschte, knallte, die Türen klappten zu, die Treppen verschwanden im Rumpf und der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung.

Dampf quoll unter den Wagen hervor. Für Augenblicke verbarg sich der Bahnhof hinter einer enorm dichten, blütenweißen Nebelwolke, die so rasch abzog, wie sie gekommen war. Dabei nahm sie den Zug mit sich.

EtwasNeues.

Er und der Fremde waren nicht mehr allein. Auf der anderen Seite der Trasse, am Behelfssteig mit den Laderampen, standen drei Personen über die Länge des Bahnsteigs verteilt. Sie marschierten jetzt auf einen Punkt gegenüber dem Mann im Staubmantel zu.

Mischka musterte die Typen undhättebeinahe zufrieden gelächelt. Ja, er lag richtig. Klassische Handlanger. Leute, derer man sich bediente, wenn man eine simple Angelegenheit effektiv und nachhaltig erledigt haben wollte. Ohne sich zu scheuen, die Sache grob geraten zu lassen.

Schwer zu sagen, woher sie stammten. Professionelle Schläger waren entweder sofort als solche zu erkennen oder sie beherrschten ihren Job wirklich.

Mischka erstarrte mitten in der Bewegung und überlegte. Wenn er sich jetzt zu schnell bewegte, könnte er das Pech haben, die ungewollte Aufmerksamkeit dieser Typen auf sich zu ziehen und in Schwierigkeiten zu geraten. Blieb er hingegen reglos stehen, bekam er eventuell als unerwünschter Zeuge Ärger.

Großartig. Er hatte die Wahl zwischen beschissen, beschissenerund total beschissen.

Besser, er sah zu, dass er dezent und gemütlich verschwand, in der Hoffnung, als unwichtig ignoriert zu werden.

»Habt ihr ein Pferd für mich?«, fragte der Unbekannte.

Die drei stutzten, dann kicherte einer von ihnen.

Scheiße.

»Wie es aussieht, haben wir einen Gaul zu wenig«, lachte er. Seine Kumpane fielen in das blöde Gelächter ein. Plumpe, aufgesetzte Belustigung, erzwungen vom Leitbullen, so echt wie Rosenduft beim Kacken. Obwohl ...

Der Mann im Staubmantel schien davon nicht beeindruckt.

»Oh nein«, sagte er. »Ihr habt zwei zu viel.«

Doppelte Scheiße.

Das Lachen hörte schlagartig auf.

Absolute Scheiße.

Die Sache geriet noch beschissener, als der Fremde mit einer scheinbar gemächlichen Bewegung den langen Mantel zurückschob und Mischka den Gürtel mit Holster sah. Den Haken, der das Wams aus dem Weg hielt. Er sah, wie die Hand sich auf den mit Perlmutt beschlagenen Griff der Schusswaffe legte, der Daumen den Verschluss aufflippteund der Neuankömmling die Knarre zog.

Die Waffe war ein mächtiges Teil, ein ihm unbekanntes Modell. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die drei Handlanger auseinanderhechtetenund gleichfalls ihre Pistolen zogen. Das sah übel aus.

Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, irgendeine Aktion zu setzen. Aber er war nicht in der Lage, viel anderes zu tun als gebannt zu starren, während der Fremde den Abzug des Schießeisens durchzog.

Er war unglaublichschnell.

Die Knarre furzte.

Was soll das, fragte sich Mischka, das antwortende Knallen der gegnerischen Waffen vernehmend. Anstelle einer Erklärung bekam er einen heftigen Schlag in die Rippen, der ihn herumschleuderte und von den Füßen riss.

Verdammter Mist, ich bin getroffen, dachte er. Dann hörte er erneut das verdächtig nach Fürzen klingende Geräusch, ehe er zu müde wurde, irgendetwas zu beachten. Der Schmerz ließ nach, als der Schlaf ihn zu übermannen begann.

In einer Schießerei einzuschlafen ist schwachsinnig, ging es ihm durch den Sinn. Im letzten bewussten Moment stellte sich noch eine bedeutsame Frage.

Welche Pferde?

Kapitel 01

Eine weibliche Stimme rief nach ihm.

»Miscatonic Hindin.«

Er schlug die Augen auf und starrte auf kirschrote Lippen. Feucht glänzend, unmittelbar vor seinem Gesicht waren sie, leicht geöffnet, erwartungsvoll und ... wie, was? Wieso hockte da ...?

Es dauerte ein paar Momente der Orientierungslosigkeit, bis Mischka den Irrtum erkannte. Diese Lippen gehörten zu einem Mund.

Das war ihm augenblicklich vor sichselbst peinlich.

Endlich klärte sichsein Blick, und er war in der Lage, richtig zu fokussieren. Eindeutig eine kirschrote Schnute. Welch Erleichterung.

Er war desorientiert, ohne Idee, was los war. War er nicht vorhin mitten in einer Schießerei weggepennt?

Jetzt, wieder bei Sinnen, verspürte er mörderische Kopfschmerzen. Ihm war beschissen zumute. Das Zeitgefühl war durcheinander. Es verlangte ihn danach, die Augen zu schließen und Grimassen zu schneiden. Er gewann den Eindruck, sich schon seiteiniger Zeit hier zu befinden - wo auchimmer das war.

La-la-land, Träume von rosa Hüpfzwirblern, die eine blütenblaue Luftrutsche hinunter in den Archipel des großkopfigen Eierbechers nahmen, um zusammen mit fraktalen Wundertüten Vanillekoks zu mampfen.

Eingeschlafen, sehr witzig.

Er war angeschossen worden, als Unbeteiligter. In eine derart dämliche Situation war er nicht mehr geraten, seit Fanny ... egal. Dieses Kapitel lag verdammt lang zurück und war in den dunklen, feucht-moosigen Schluchten des Vergessens abgelagert.

Konzentration und Wiederherstellung.

Er hatte den 1700er bewundert. Der Unbekannte war ausgestiegen, der Zug abgefahren, und da hatten noch drei Kerle gestanden.

Alle Ingredienzien für einen klassischen, altmodischen Showdown. Die Pistole des Fremden hatteüberaus merkwürdige Geräusche von sich gegeben, es war lautgeworden, er hatte einen Treffer kassiert.

Eigentlich, so diktierte die Logik, sollte er jetzt blutend auf dem Bahnsteig liegen, Schmerzen habenund darauf warten, dass irgendein Tierarzt/Hausarzt/Hobbymediziner an ihm herumdokterte.

Genau das war nicht der Fall, so viel war gewiss. Seine Sinneseindrücke vermittelten ihm eine andere Realität.

Mischka versuchte, einen Blick auf das Gesicht jenseits der Lippen zu erhaschen. Was war das für ein merkwürdiger Farbton, kirschrot?

Sexy? Absolut. Gefährlich? Unbedingt. Was wiederum zur Folgefrage führte: Weshalb schminkten Frauen sich mit derart giftigen Farben?

Wahrscheinlich war er verwirrt, vielleicht ein Trottel. Auf jeden Fall bar jeglicher Idee und Orientierung. Ein nicht unvertrauter Zustand. Einer der Gründe, warum er dort lebte, wo er es tat.

Mischka öffnete den Mund, bekam keinen Laut über die Lippen. Gaumen und Rachen staubtrocken wieseine Heimat. Der Geschmack schrecklich, geradezu grauenhaft. Der Atem roch sicher übel, wieetwas, das sein nächster Nachbar, der einen halben Tagesmarsch von ihm entfernt wohnte, vorigen Herbst in seiner Sickergrube gefunden hatte.

Meine Güte, wie unangenehm.

Innerhalb von Augenblicken zwei beträchtliche Peinlichkeiten verbrochen. In einer ihm unbekannten Statistik gewiss ein Rekord.

Die Frau musterte ihn intensiv und durchdringend, wurde nicht ohnmächtig und schien mit ihm zufrieden. Sie griff mit einer Hand außer Sichtweite.

Momente darauf hielt sie ihm einen Becher unter die Nase und flößte ihm eine Flüssigkeit ein, die nach gesundem Tee schmeckte undentsprechend roch.

Gegen schlechten Atem vermochte das Gebräu nicht viel auszurichten, es gesellte sich eher hinzu, um eine Party zu feiern. Die Miscatonic-Maul-Feier!

Immerhinwurde er sich nach und nach seiner Lage bewusst. Er hatte Schmerzen, was ein gutes Zeichen war, bedeutete es doch, dass er am Leben war. Tote kannten weder Beschwerden noch trugen sie Karos.

Er lag in einem Bett. Über sich, hinter den Kirschlippen und dem dazugehörigen Gesicht, konnte er ein Stück Decke erkennen. Weiß. Wände in der Farbe von Eierschalen. Freilandeierschalen, von Kaldon Harz, dem störrischen, mürrischen und genialen Farmer südlich von Sweetwater. Was der Mann der trockenen Erde abzuringen imstande war, einfachunglaublich. Seine Tiere lieferten das beste Fleisch im gesamten Bezirk, seine Feldfrüchte ließen Nahrung zum Genussmittel werden.

Mischka tat einen bewussten Atemzug. Ah - diese Melange, vage vertraut, eine Ewigkeit nicht mehr gerochen und trotzdem unvergessen. Ein eindeutiger Geruch.

Ein Klinikum.

Das war überausinteressant. Vom Bahnsteig in Sweetwater aus gesehen war das nächstgelegene Krankenhaus in Central City zu finden, eine beträchtliche Distanz. Was wiederum die Fragen nach dem wer, wann, wie, warum zum Vorschein brachte.

Es gab einen halbwegs fähigen Arzt in seinem Heimkatkaff, einen Generalmediziner, der sich auf die Behandlung von Menschen und zahlreiche Tiere verstand. Er machteseine Sache recht ordentlich, solange man sich keine komplizierte Krankheit einfing.

Apropos Viecher. Was war das für eine Geschichte mit den Pferden? Ein Witz unter Eingeweihten? Das waren doch sogenannte Klepper, diese unterarmlangen, merkwürdigen Raupentiere mit den haarigen Antennen, die in der Erde lebten und Verputz von Hausmauern nagten. Was fing man mit solchen Biestern an?

Er erhaschte eine Bewegung und fokussierte den Blick in den Vordergrund. Zeit, die wirren Gedanken für Augenblicke allein zu lassen undsich der Realität des Hierund Jetzt zu widmen.

Die Lippen entfernten, das Blickfeld weitete sich. Er erfasste ein Gesicht. Ein weibliches Antlitz von bemerkenswerter Schönheit. Ein blasser Teint, umrahmt von schwarzem Haar. Sah er tatsächlich einen glänzenden Ring in ihrem linken Nasenflügel?

Uh. Mit der Zunge darüberlecken.

Aus.

Die Erscheinung wich noch ein Stück zurück und er erkannte auf der streng geschnittenen, weißen Bluse ein ihm vertrautes Logo. Jeder Bewohner dieses Kontinents kannte das Symbol.

Wie gesagt, das Krankenhaus in Central City. Schlussfolgerung: Die Schöne war eine Krankenschwester ... mit atemberaubenden Brüsten. Herrje. Die Dinger muteten geradezu grotesk an, waren unmöglich natürlichen Ursprungs.

Es war ein Leichtes, den Körper umzubauen, wie es beliebte, aber warum wollte jemand so bizarr aussehen? Angeblich war man in der Lage, das Hirn in einen Roboter einzupflanzen. Wenn die riesigen Möpse Ersatzhirne darstellten, war die Schwester eine Intelligenzbestie.

»Hallo, Miscatonic Hindin«, sagte sie mit angenehmer Stimme, die ein Prickeln über die Wirbelsäule wandern ließ. »Freut mich, dass Sie aufgewacht sind.«

»Hi«, krächzte er und erschrak darüber, wie er sich anhörte. Alshätte er seit Jahren nicht mehr gesprochen. Er sprach wie ein Toter, der auf seine endgültige Abfertigung wartete.

Gruselig, eine weitere Peinlichkeit.

»Das Rätsel aus dem Outback ist bei Sinnen. Das wirdeinige Menschen freuen. Andere vielleichtweniger. Wir werden sehen. Nun, Miscatonic Hindin, ich bin Circe DeBeer, Ihre persönliche Pflegerin.«

»Mischka«, keuchte er. »Leute, die ich mag, dürfen mich Mischka nennen.« Undnatürlich Frauen mit derartigem Vorbau, bei denen ich im ersten Moment Schritt und Gesicht verwechselt habe.

Eine eigene Krankenschwester?

»Das freut mich. Immerhin kennen wir uns inzwischennäher.«

»Ich bin total ahnungslos. Tut mir wirklichsehrleid, Circe.« Das tat es.

»Ach, halbsowild. Dafür bist du mir doppelt so vertraut«, antwortete sie fröhlich. »Schließlich habe ich dich all die Zeit über gesäubert, mich um deine Schläuche gekümmert und deinen Nachttopf entleert.«

»Nachttopf? Gewaschen? Was? Überall?«, ächzte er.

Nachtgeschirr? Was meinte sie damit? Warum sah sie so unverschämt amüsiert drein? Wie war das nochmal mit dem Rekord an Peinlichkeiten? So, wie es aussah, brach er gerade stellare Bestmarken.

»Klar. Niemand mag müffelnde Patienten, und Männer stinken schnell. Du kannst dir nicht vorstellen, was sich unter der Vorhaut für Käse ansammelt. Zum Glück bist du beschnitten. Das hat meine Arbeit beträchtlich erleichtert, glaub mir.«

Nachttopf?

Beschnitten?

Derart geniert wie in den letzten Minuten hatte er sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht. Welch ein unangenehmes Gefühl. Zuletzt war er in solche Verlegenheit geraten, als Katinka mit einem ... naja, möglichst nicht daran denken. Das war noch heute eine hochnotpeinliche Sache und verblieb besser in den kühlen Schatten der Never-ever-Schluchten.

»Seit wann bin ich hier?«

Nicht die originellste aller Fragen, aber brauchbar, um das Thema zu wechseln. Die Krankenschwester durchschaute die Taktik sofort. Sie zwinkerte ihm erheitert zu.

Natürlich, dachte er mürrisch, ich bin nicht der Erste, der sich mit einem solchen Manöver vor ihrer brutalen Direktheit zu retten versucht.

Mischka fand sogar diesen Gedanken peinlich. Was gäbe er nicht für ein rettendes Koma und eine Reise in der Zeit, um das Erwachen neu beginnen zu können.

»Zwei Wochen«, gab sie zur Antwort und beugte sich verschwörerisch zu ihm herab, als sie den fassungslosen Blick sah.

Diese Brüste. Wiekonnte sie mit den Dingern das Gleichgewicht halten? Weshalb war sie in der Lage zu atmen? Bekam sie nicht nach wenigen Stunden mörderische Rückenschmerzen? Musste sie im Sitzen schlafen, um nicht zu ersticken? Seit wann war er derart auf Titten fixiert? Was war im Narkosemittel gewesenund warum war er so ... hmpf, geil?

»Unter uns, Mischka. Deine Schussverletzung war eine echt beschissene Angelegenheit. Ein Ausnahmetreffer, der eine Ausnahmebehandlung benötigte. Der Hufschmied, der als Erster an dir herumgepfuscht hat, war komplett überfordert. Er hat sogar noch den einen oder anderen zusätzlichen Schaden verursacht. Da die Neuzüchtung eines Atemorgans ein paar Tage dauert, sahen wir uns gezwungen, dich stillzulegen, bis alle Umstände für eine Operation optimal waren.«

Eine Lunge gezüchtet?

»Äh?« Das musste er ebenso verdauen wie ihr begeistertes Nicken. Schön zu sehen, wie viel Freude ein inneres Organ bei anderen Leuten auszulösen imstande war. Gekröse-Glück.

»Genau«, stimmte sie ihm zu. »Eine Hochleistungslunge aus flexiblen Verbundstoffkomponenten. Schicht für Schicht auf unzerstörbarem Netzgewebe gewachsen. Eine tolle Sache. Damit läufst du niemalswieder Gefahr, zu ersticken oder zu ertrinken.«

»Großartig«, ächzte Mischka. Ersaufen im Outback? Er fühlte sich von der Fülle der Nachrichten, nein, mehr von der Art der Mitteilungen, erschlagen, niedergeprügelt. Ein bisschen Ruhe zum Nachdenken und Verdauen dieser Neuigkeiten hätte ihm gefallen.

All diese Informationen kamen unerwartet und direkt nach dem Aufwachen, prasselten auf sein wehrloses Gehirn ein und verwirrten es.

Aber da war noch ein anderes, vordringliches Problem, das er zur Sprache bringen musste.

»So eine Züchtung kostet eine Menge Flocken, nicht wahr?«

»Verflucht viel Geld«, bestätigte sie.

»Wieso wurde mir dann diese Lunge eingepflanzt?«

»Du hastdafür bezahlt.«

»Echt?«

»Ja.«

»Undwie?«

»Mit dem Schotter, den du bei dir hattest.«

»Von welchem Geld sprichst du?«

»Du erinnerst dich nicht?«

»Sonstmüsste ich nicht nachfragen, oder?«

»Stimmt. Du bist stolzer Eigentümer des prallst gefüllten Krankenkontos plus Extraversicherung, das ich jemals gesehen habe.«

»Aha.«

Tatsächlich? Über sowas verfügte er? Daran erinnerte er sich nicht. Ein immenser Kontostand? Auch das war unwahrscheinlich.

Er kannte seine Liste der demnächst vorgesehenen Anschaffungen, die getätigt werden sollten, wenn mehr Geld zur Verfügung stand. Diese Aufstellung war lang.

Komisch, wie das Gedächtnis funktionierte. Warum hatte er diesen Wunschzettel in Gedanken präsent, nicht aber sein