Charakter - David Brooks - E-Book

Charakter E-Book

David Brooks

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Wir leben in einer Gesellschaft, die zielorientierte Egoisten hervorbringt. Sie belohnt Verhalten, das zum Erfolg führt, und befördert Kalkül und Eigennutz: eine regelrechte Ich-an-erster-Stelle-Kultur, die uns wettbewerbsfähig machen soll.

Aber macht sie uns auch zu wertvollen Persönlichkeiten?

Nein, sagt David Brooks. Vielmehr müssen wir wieder lernen, die Welt nicht zu erobern, sondern uns ihr zu verpflichten. Der amerikanische Bestseller-Autor folgt damit der Spur einer großen moralischen Tradition und beweist, dass wir alle nur gewinnen können, wenn wir eine einfache Wahrheit verinnerlichen: Willst du dich selbst verwirklichen, musst du dich auch selbst vergessen können.

Eine packende Lektüre für alle, die der oberflächlichen Selfie-Kultur überdrüssig sind.

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Seitenzahl: 593

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ÜBER DAS BUCH

Die moderne Gesellschaft hat ein Faible für zielorientierte Egoisten. Sie belohnt Verhalten, das zum Erfolg führt, befördert Kalkül und Eigennutz. Aber macht sie uns auch zu wertvollen Persönlichkeiten?

Nein, sagt David Brooks. Es geht nicht darum, die Welt zu erobern, sondern uns ihr zu verpflichten. Er folgt damit der Spur einer großen moralischen Tradition und beweist, dass wir alle nur gewinnen können, wenn wir uns eine einfache Wahrheit zu eigen machen: Willst du dich selbst verwirklichen, musst du dich auch selbst vergessen können.

ÜBER DEN AUTOR

David Brooks, geboren 1961 in Toronto, wuchs in New York auf. Nach seinem Geschichtsstudium und Stationen bei der Washington Times und dem Wall Street Journal ist er heute die konservative Stimme der New York Times. Für Das soziale Tier (2012) wurde der populäre Kolumnist in der internationalen Presse viel gelobt.

www.theroadtocharacter.com

DAVID BROOKS

Charakter

Die Kunst Haltung zu zeigen

Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt

Kösel

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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel The Road to Character © 2015 Random House, Penguin Random House LLC. This translation published by arrangement with Random House, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © 2015 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Weiss Werkstatt, München, unter Verwendung eines Motivs © Shutterstock, Bildnr. 29275768 / Myvector

ISBN 978-3-641-18058-4

Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter

www.koesel.de

Für meine ElternLois und Michael Brooks

Inhalt

Einleitung Adam II

EINS Der Wandel

ZWEI Das in die Pflicht genommene Selbst

DREI Selbsteroberung

VIER Das Ringen mit sich

FÜNF Selbstbeherrschung

SECHS Würde

SIEBEN Liebe

ACHT Geordnete Liebe

NEUN Selbstprüfung

ZEHN Das Große Ich

Danksagung

Anmerkungen

Register

EINLEITUNG

Adam II

In letzter Zeit habe ich über den Unterschied nachgedacht zwischen den Tugenden, die in Lebensläufen erwähnt werden, und jenen Tugenden, die in Trauerreden herausgestellt werden. Die Lebenslauf-Tugenden sind diejenigen, die wir in unserer Vita auflisten, die Kompetenzen und Qualifikationen, mit denen wir uns um eine Stelle bewerben und die zu unserem Erfolg in einem äußeren Sinne beitragen. Die in einer Trauerrede hervorgehobenen Tugenden hingegen reichen tiefer. Es sind die persönlichen Vorzüge, über die bei unserer Beerdigung gesprochen wird und die das Wesen unserer Person ausmachen – ob wir liebenswürdig, mutig, aufrichtig oder treu gewesen sind und welche Beziehungen wir aufgebaut und gepflegt haben.

Die meisten von uns würden sagen, dass die Trauerrede-Tugenden wichtiger sind als die Lebenslauf-Tugenden, aber ich muss gestehen, dass ich über lange Phasen meines Lebens mehr über letztere als über erstere nachdachte. Unser Bildungssystem fördert Lebenslauf-Tugenden zweifellos stärker als Trauerrede-Tugenden. Und das gilt auch für die Lebensratgeber-Literatur – die Selbsthilfetipps in Zeitschriften, die Ratgeber-Bestseller. Die meisten von uns haben eine klare Strategie für den beruflichen Erfolg, nicht dagegen für die Entwicklung eines tiefgründigen Charakters.

Ein Buch, das mir geholfen hat, über diese beiden Arten von Tugenden nachzudenken, ist Lonely Man of Faith (1965) von Rabbi Joseph Soloveitchik.1 Soloveitchik wies dort darauf hin, dass das Buch Genesis (1. Buch Mose) zwei Schöpfungserzählungen enthalte und dass diese von den beiden gegensätzlichen Seiten der menschlichen Natur handelten, die er Adam I und Adam II nannte.

Wenn wir Soloveitchiks Kategorien ein wenig modernisieren, könnten wir sagen, dass Adam I die karriereorientierte, ehrgeizige Seite unserer Natur ist. Adam I ist der äußere Adam, wie er in unserem Lebenslauf zum Vorschein kommt. Adam I will aufbauen, erschaffen, herstellen und Entdeckungen machen. Er strebt nach einem hohen sozialen Status und will sich im Wettbewerb gegen andere durchsetzen.

Adam II ist der innere Adam. Adam II will gewisse moralische Eigenschaften verkörpern. Adam II strebt nach innerer Gelassenheit, einem ruhigen, aber gefestigten Bewusstsein von Recht und Unrecht – nicht nur um Gutes zu tun, sondern auch um gut zu sein. Adam II will innig lieben, sich für andere aufopfern, gemäß einer transzendenten Wahrheit leben, eine Seele besitzen, die mit sich selbst in Einklang steht und ihre schöpferischen Kräfte und Möglichkeiten entfaltet.

Während Adam I die Welt erobern will, will Adam II der Berufung folgen, der Welt zu dienen. Während Adam I kreativ ist und aus dem, was er leistet, ein tiefes Gefühl der Befriedigung zieht, verzichtet Adam II um eines höheren Zieles willen manchmal bewusst auf weltlichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung. Während Adam I fragt, wie Dinge funktionieren, fragt Adam II, weshalb Dinge existieren und was der tiefere Sinn unseres Daseins ist. Während Adam I sich ins Unbekannte vorwagt, will Adam II zu seinen Wurzeln zurückkehren und die Wärme eines Mahls im Kreis der Familie genießen. Während das Motto von Adam I »Erfolg« ist, erlebt Adam II das Leben als ein moralisches Drama. Sein Motto lautet »Barmherzigkeit, Liebe und Erlösung«.

Soloveitchik behauptete, unser Leben werde durch den Widerstreit zwischen diesen beiden Adamen bestimmt. Der äußere, selbstherrliche Adam und der innere, demütige Adam lassen sich nicht völlig miteinander versöhnen. Wir sind zeit unseres Lebens in einem inneren Konflikt gefangen. Wir sind dazu berufen, beide Personae zu verwirklichen, und wir müssen die Kunst beherrschen, fortwährend im Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Naturen zu leben.

Ich möchte hinzufügen, dass das Schwierige an diesem Widerstreit die Tatsache ist, dass Adam I und Adam II unterschiedlichen Logiken folgen. Adam I lebt nach einer einfachen utilitaristischen Logik. Es ist die wirtschaftliche Logik. Input führt zu Output. Anstrengung führt zu Belohnung. Übung macht den Meister. Handle egoistisch. Maximiere deinen Nutzen. Beeindrucke die Welt.

Adam II lebt nach der entgegengesetzten Logik – einer moralischen, keiner ökonomischen. Du musst geben, um zu bekommen. Du musst dich einer Sache hingeben, die außerhalb von dir ist, um in dir selbst zu erstarken. Du musst deine Begierde überwinden, um das zu bekommen, wonach du dich sehnst. Erfolg führt zum schlimmsten Scheitern – Stolz. Scheitern führt zum größten Erfolg – Demut und Lernen. Um dich selbst zu verwirklichen, musst du dich selbst vergessen. Um dich selbst zu finden, musst du dich selbst verlieren.

Um deine Adam-I-Karriere zu fördern, ist es sinnvoll, deine Stärken zu entwickeln. Um deinen moralischen Adam-II-Kern zu fördern, musst du deinen Schwächen ins Auge sehen.

Das schlaue Tier

Wir leben in einer Kultur, die Adam I fördert, den äußeren Adam, und Adam II vernachlässigt. Wir leben in einer Gesellschaft, die uns dazu ermuntert, darüber nachzudenken, wie wir eine großartige Karriere hinbekommen, die viele von uns aber ratlos zurücklässt, wenn es darum geht, das innere Selbst zu entwickeln. Der Konkurrenzkampf um Erfolg und soziale Anerkennung ist so unerbittlich, dass er all unsere Kräfte aufzehrt. Der Konsummarkt ermuntert uns dazu, nach einem utilitaristischen Kalkül zu leben, unsere Wünsche zu befriedigen und die moralischen Dimensionen von Alltagsentscheidungen aus den Augen zu verlieren. Der Lärm rascher und seichter Mitteilungen erschwert es, die leiseren Töne, die aus der Tiefe aufsteigen, zu vernehmen. Wir leben in einer Kultur, die uns beibringt, wie man sich selbst vermarktet und anpreist und die für den beruflichen Erfolg notwendigen Kompetenzen aneignet, aber diese fördert nicht die Demut, das Mitgefühl und die ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst, die für die Charakterbildung erforderlich sind.

Wenn Sie nur Adam I sind, werden Sie ein »schlaues Tier«, ein raffiniertes Geschöpf mit starkem Überlebensinstinkt, das weiß, wie es durchkommt und alles in ein Spiel verwandelt. Wenn Sie nur das haben, verbringen Sie viel Zeit damit, sich berufliche Qualifikationen anzueignen, aber Sie haben keine klare Vorstellung davon, welches die Quellen eines sinnerfüllten Lebens sind, und daher wissen Sie nicht, in welchem Bereich Sie Ihre Fähigkeiten einsetzen sollten, welcher Berufsweg Sie am weitesten bringt und am besten für Sie geeignet ist. Jahre vergehen, und die tiefsten Bereiche Ihres Selbst bleiben unerforscht und unstrukturiert. Sie sind beschäftigt, aber Sie haben die unbestimmte Angst, dass Ihr Leben seine höchste Sinnbestimmung und Bedeutung verfehlen könnte. Sie leben mit einer unbewussten Langweile, ohne wirklich zu lieben und ohne echte Bindung an die moralischen Zwecke, die dem Leben seinen Wert verleihen. Es fehlt Ihnen der innere Kompass, um unerschütterliche Verpflichtungen einzugehen. Sie entwickeln keine innere Beständigkeit und nicht jene Integrität, die allgemeiner Missbilligung oder einem schweren Schicksalsschlag widerstehen kann. Sie ertappen sich selbst dabei, wie Sie Dinge tun, die andere Menschen gutheißen, unabhängig davon, ob diese Dinge für Sie richtig sind oder nicht. Sie beurteilen andere Menschen törichterweise nach ihren Fähigkeiten, nicht nach ihrem moralischen Wert. Sie haben keine Strategie, um Ihren Charakter zu formen, und ohne eine solche wird nicht nur Ihr Innenleben, sondern auch Ihr äußeres Leben schließlich aus den Fugen geraten. In diesem Buch geht es um Adam II. Es geht um die Frage, wie es einigen Menschen gelungen ist, einen starken Charakter zu entwickeln. Es geht um eine geistige Haltung, die sich Menschen durch die Jahrhunderte hindurch zu eigen gemacht haben, um ihren inneren Wesenskern zu härten und Herzensweisheit zu erlangen. Ehrlich gesagt, ich habe es geschrieben, um meine eigene Seele zu retten.

Ich wurde mit einer natürlichen Neigung zu Oberflächlichkeit geboren. Heute arbeite ich als Kommentator und Kolumnist. Ich werde dafür bezahlt, ein narzisstischer Wichtigtuer zu sein, meine Meinungen herauszuposaunen, so zu tun, als wäre ich fester von diesen überzeugt, als ich es tatsächlich bin, schlauer zu erscheinen, als ich in Wirklichkeit bin, und besser und Respekt einflößender, als ich es bin. Ich muss härter arbeiten als die meisten Menschen, um nicht ein Leben selbstgefälliger Oberflächlichkeit zu führen. Mir ist auch klar geworden, dass ich wie viele Menschen in unserer Zeit ein Leben geführt habe, das vagen moralischen Ansprüchen genügen sollte – ich wollte irgendwie gut sein, irgendwie einem höheren Ziel dienen, während mir ein konkretes moralisches Vokabular fehlte, eine klare Vorstellung davon, wie man ein reiches Innenleben entwickelt, oder auch nur ein klares Wissen darüber, wie man seinen Charakter formt und Tiefe erreicht.

Ich habe festgestellt, dass wir ohne eine strikte Ausrichtung auf die Adam-II-Seite unserer Natur leicht in eine selbstzufriedene moralische Mittelmäßigkeit abgleiten. Man lässt große Nachsicht gegen sich walten. Man folgt seinen Wünschen, wohin sie einen auch führen, und man heißt sein eigenes Verhalten gut, solange man niemand anderem offensichtlich schadet. Sie glauben, dass Sie ganz in Ordnung sein müssen, wenn die Leute in Ihrem Umfeld Sie anscheinend mögen. Dabei werden Sie langsam und kaum merklich zu einer Person, die etwas weniger beeindruckend ist, als Sie es ursprünglich hofften. Zwischen Ihrem tatsächlichen Selbst und Ihrem gewünschten Selbst tut sich eine beschämende Lücke auf. Sie erkennen, dass die Stimme Ihres Adams I laut ist, während die Stimme Ihres Adams II gedämpft ist; der Lebensplan von Adam I ist klar, während der Lebensplan von Adam II unscharf ist; Adam I ist hellwach, während Adam II schlafwandelt.

Als ich dieses Buch schrieb, war ich nicht sicher, ob ich selbst den Weg der Charakterbildung beschreiten könnte, aber ich wollte wenigstens wissen, wie dieser Weg aussieht und wie ihn andere Menschen gegangen sind.

Der Aufbau

Der Aufbau dieses Buches ist einfach. Im nächsten Kapitel werde ich eine ältere ethische Lehre darlegen. Es handelt sich um eine kulturelle und intellektuelle Tradition, deren Leitmetapher »das krumme Holz« (aus dem der Mensch gemacht sein soll) ist und die unsere Gebrochenheit betont. Es war eine Tradition, die angesichts unserer Begrenzungen Demut forderte. Aber sie vertrat zugleich die Auffassung, dass jeder von uns die Fähigkeit besitze, sich seinen Schwächen zu stellen und sich von Sünden abzuwenden, und dass wir im Zuge dieser Auseinandersetzung mit uns selbst unseren Charakter formen. Dadurch, dass wir uns erfolgreich mit unseren moralischen Vergehen und Schwächen auseinandersetzen, haben wir die Chance, unsere Rolle in einem großen moralischen Drama zu spielen. Wir können nach etwas Höherem streben als Glück. Wir haben die Chance, alltägliche Gelegenheiten zu nutzen, um unsere Tugendhaftigkeit zu stärken und der Welt zu dienen.

Anschließend schildere ich, wie diese Methode der Charakterbildung im wirklichen Leben funktioniert. Ich werde dies anhand biografischer Essays tun, die zugleich ethische Essays sind. Seit Plutarch haben Moralisten versucht, gewisse Maßstäbe anhand mustergültiger Beispiele zu vermitteln. Man kann ein reiches Adam-II-Leben nicht einfach dadurch verwirklichen, dass man Predigten liest oder abstrakte Regeln befolgt. Das Beispiel ist der beste Lehrer. Moralische Besserung geschieht am zuverlässigsten dann, wenn das Herz erwärmt wird, wenn wir in Kontakt mit Menschen kommen, die wir bewundern und lieben, und wenn wir unser Leben bewusst und unbewusst nach ihrem Vorbild gestalten.

Diese Wahrheit wurde mir unmissverständlich klargemacht, nachdem ich eine Kolumne geschrieben hatte, in der ich meine Enttäuschung darüber zum Ausdruck brachte, wie schwierig es ist, mithilfe üblicher Unterrichtsmethoden Menschen moralisches Handeln beizubringen. Ein Tierarzt namens Dave Jolly schickte mir eine E-Mail, die die Sache auf den Punkt brachte:

Herzensbildung kann man im Unterricht nicht rein verstandesmäßig vermitteln, wo Schüler sich auf mechanische Weise Notizen machen […]. Herzensgüte und -weisheit sind die Früchte lebenslanger beflissener Anstrengungen, sich tief ins eigene Innere vorzuarbeiten und lebenslange Narben zu heilen […]. Das kann man nicht unterrichten, mailen oder tweeten. Man muss es in den Tiefen des eigenen Herzens entdecken, und zwar wenn eine Person schließlich bereit ist, danach zu suchen – nicht eher.

Der weise Mensch vermag Enttäuschungen zu verwinden und mit seinem eigenen Leben ein Beispiel für Fürsorglichkeit, Selbstvertiefung und Gewissenhaftigkeit zu geben. Das, was der Weise lehrt, ist der kleinste Teil dessen, was er seinen Mitmenschen schenkt. Er gibt die Gesamtheit seines Lebens, die konkrete Weise seines Lebensvollzugs bis ins kleinste Detail weiter.

Das sollten Sie nie vergessen. Die Botschaft ist der Mensch, der sich durch lebenslange Anstrengungen, die ihrerseits von einer anderen weisen Person in Gang gesetzt wurden, die jetzt durch die undurchdringlichen Nebel der Zeit vor dem Empfänger verborgen wird, selbst vervollkommnet. Das Leben ist viel größer, als wir meinen, Ursache und Wirkung sind in einem riesigen moralischen Geflecht eng miteinander verwoben. Und diese Struktur drängt uns dazu, besser zu handeln und besser zu werden, selbst wenn wir von der schmerzlichsten, verwirrendsten Finsternis umhüllt sind.

Diese Worte erklären die Methodik dieses Buches. Die Personen, die in den Kapiteln 2 bis 10 porträtiert werden, sind sehr unterschiedlich: Es sind Weiße und Schwarze, Männer und Frauen, Gläubige und Ungläubige, Literaten und Nicht-Literaten. Keine von ihnen ist auch nur annähernd vollkommen. Aber sie praktizierten eine Lebensweise, die heute selten geworden ist. Sie waren sich ihrer eigenen Schwächen deutlich bewusst. Sie führten einen inneren Kampf gegen die Sünde und gingen mit einem gewissen Maß an Selbstachtung daraus hervor.

Und wenn wir an sie denken, erinnern wir uns nicht so sehr an das, was sie vollbracht haben – so bedeutend dies auch gewesen sein mag –, als an das, was sie gewesen sind. Ich hoffe, ihr Beispiel wird diese furchtsame Sehnsucht, die wir alle in uns tragen, befeuern, ein besserer Mensch zu werden, indem wir ihrem Vorbild nacheifern.

Im Schlusskapitel werde ich diese Themen zusammenführen. Ich beschreibe, auf welche Weise unsere Kultur es uns heute schwerer macht, gut zu sein, und ich fasse die ethische Sichtweise des Menschen als eines »krummen Holzes« in einer Reihe konkreter Punkte zusammen. Wenn Sie es nicht erwarten können, die Quintessenz dieses Buches zu erfahren, sollten Sie gleich den Schluss nachschlagen.

Hin und wieder begegnet man auch heute noch Menschen, die eine eindrucksvolle innere Geschlossenheit zu besitzen scheinen. Sie führen kein fragmentiertes, plan- und zielloses Leben. Sie haben eine innere Integration erreicht. Sie sind ruhig, ausgeglichen und verwurzelt – aus einem Guss. Sie werden durch Stürme nicht aus der Bahn geworfen. Sie lassen sich von Widrigkeiten nicht unterkriegen. Sie besitzen Gleichmut und Verlässlichkeit. Ihre Tugenden sind nicht die strahlenden Tugenden intelligenter Studenten; es sind die gereiften Tugenden von Menschen, die Lebenserfahrungen gesammelt und aus Freude und Leid gelernt haben.

Manchmal bemerkt man diese Menschen nicht einmal, denn sie wirken zwar liebenswürdig und heiter, aber sie sind zugleich reserviert. Sie besitzen jene Tugenden der Zurückhaltung, wie sie Menschen auszeichnen, die bereitwillig helfen, aber der Welt nichts beweisen müssen: Bescheidenheit, Unaufdringlichkeit, Verschwiegenheit, Besonnenheit, Rücksichtnahme und sanfte Selbstdisziplin.

Sie strahlen eine Art Heiterkeit aus. Sie antworten ruhig, wenn sie scharf angegriffen werden. Sie schweigen, wenn sie beschimpft werden. Ihre Würde tritt umso deutlicher hervor, wenn andere sie zu erniedrigen suchen; und durch Provokationen lassen sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Aber sie bewegen etwas. Wenn sie sich aufopferungsvoll für andere einsetzen, tun sie dies mit der gleichen unaufgeregten Bescheidenheit, mit der sie Lebensmittel einkaufen würden. Sie denken nicht daran, was für ein eindrucksvolles gutes Werk sie vollbringen. Sie denken überhaupt nicht an sich. Die vielen unzulänglichen Menschen um sie herum scheinen ihnen ein Ansporn zu sein. Sie urteilen nicht. Sie erkennen, was getan werden muss, und sie tun es einfach.

Gespräche mit ihnen heitern uns auf und bereichern uns intellektuell. Sie bewegen sich mit der größten Selbstverständlichkeit durch verschiedene soziale Schichten und bleiben dabei immer sie selbst. Nachdem Sie sie eine Zeit lang kennen, fällt Ihnen vielleicht auf, dass Sie sie nie prahlen gehört, sie nie selbstgerecht oder in verbissener Weise von sich selbst überzeugt erlebt haben. Sie geben nicht durch versteckte Winke zu verstehen, für wie besonders und großartig sie sich eigentlich halten.

Sie haben kein Leben konfliktfreier Beschaulichkeit geführt, sondern um Reife gerungen. Sie haben das zentrale Problem des menschlichen Lebens ein Stück weit gelöst – jenes Problem, das nach der Aussage von Alexander Solschenizyn darin besteht, dass »die Grenze zwischen Gut und Böse nicht zwischen Staaten, Klassen oder Parteien verläuft, sondern quer durch das Herz des Menschen«2.

Diese Menschen haben einen starken inneren Charakter ausgebildet und eine gewisse Tiefe erreicht. Bei ihnen ist am Ende dieses Kampfes das Streben nach weltlichem Erfolg dem Ringen um seelische Vertiefung unterlegen. Nachdem Adam I lebenslang nach dem inneren Gleichgewicht suchte, gab er sich schließlich Adam II geschlagen. Nach diesen Menschen suchen wir.

EINS

Der Wandel

Sonntag abends wiederholt meine lokale National-Public-Radiostation alte Sendungen. Vor ein paar Jahren hörte ich auf dem Nachhauseweg ein Programm namens Command Performance, ein Bunter Abend, der während des Zweiten Weltkriegs für die US-Truppen ausgestrahlt wurde. Die Folge, die ich zufälligerweise hörte, wurde am Tag nach der Kapitulation Japans, am 15. August 1945, ausgestrahlt.

An dieser Folge wirkten einige der berühmtesten Stars der Zeit mit: Frank Sinatra, Marlene Dietrich, Cary Grant, Bette Davis und viele andere. Aber das Bemerkenswerteste an dieser Sendung war der zurückhaltende, demütige Ton, der hier angeschlagen wurde. Die Alliierten hatten gerade einen der größten militärischen Siege in der Geschichte errungen. Und dennoch klopfte sich niemand auf die Brust. Niemand errichtete Triumphbögen.

»Na ja, sieht so aus, als wäre es vorbei«, lauteten die einleitenden Worte von Bing Crosby, der moderierte. »Was kann man in einer Zeit wie dieser sagen? Man kann wohl kaum seinen Hut in die Luft werfen. Das ist für gewöhnliche Festtage. Ich glaube, das Einzige, was man tun kann, ist Gott dafür zu danken, dass es vorbei ist.« Die Mezzosopranistin Risë Stevens trat auf und sang mit getragener Stimme »Ave Maria«, und anschließend meldete sich Crosby wieder zu Wort, um die Stimmung auf den Punkt zu bringen: »Heute empfinden wir tief in unserem Innern eine große Demut.«

Und dieses Gefühl wurde während der Sendung immer wieder betont. Der Schauspieler Burgess Meredith las einen Abschnitt aus einem Text des Kriegskorrespondenten Ernie Pyle vor. Pyle war ein paar Monate zuvor ums Leben gekommen, doch er hatte einen Artikel geschrieben, in dem er vorwegnahm, was dieser Sieg bedeuten würde: »Wir haben diesen Krieg gewonnen, weil unsere Männer tapfer waren und wegen vieler anderer Dinge – wegen Russland, England und China und des Verstreichens der Zeit und weil uns die Natur reich mit Rohstoffen beschenkt hat. Wir haben nicht deshalb gewonnen, weil uns das Schicksal als allen anderen überlegene Menschen erschaffen hätte. Ich hoffe, dass wir im Sieg weniger stolz als vielmehr dankbar sind.«3

Diese Sendung spiegelte die Reaktion des Landes insgesamt wider. Es gab Freudentaumel, gewiss. Matrosen in San Francisco entführten Kabelbahnen und plünderten Schnapsläden. Die Straßen des New Yorker Textilviertels versanken gut zehn Zentimeter hoch unter Konfetti.4 Aber die Stimmung war geteilt. Die Freude wich Ernst und Selbstzweifeln.

Dies war zum Teil darauf zurückzuführen, dass der Krieg ein derart epochales Ereignis gewesen war und solche Ströme von Blut vergossen worden waren, dass sich der Einzelne im Vergleich dazu ganz klein und unbedeutend fühlte. Und da war auch die Art und Weise, wie der Krieg im Pazifik zu Ende gegangen war – mit der Atombombe. Weltweit hatte man gesehen, zu welchen Grausamkeiten der Mensch imstande ist. Und jetzt gab es eine Waffe, mit der diese Grausamkeit apokalyptische Ausmaße annehmen konnte. »Das Wissen um den Sieg war in gleicher Weise mit Sorgen und Zweifeln wie mit Freude und Dankbarkeit verbunden«, schrieb James Agee in einem Leitartikel für das Magazin Time in jener Woche.5

Aber der zurückhaltende Ton von Command Performance war nicht nur eine Frage der Stimmung oder des Stils. Die Personen, die an dieser Sendung mitwirkten, waren Teil eines der bedeutendsten Siege in der Geschichte. Aber sie liefen nicht herum und erzählten allen, was für tolle Hechte sie waren. Sie druckten keine Autoaufkleber, die ihrer eigenen Großartigkeit gedachten. Ihr erster Impuls war es, sich selbst daran zu erinnern, dass sie nicht allen anderen moralisch überlegen waren. Sie warnten sich vor Stolz und Selbstverherrlichung. Sie widersetzten sich intuitiv der natürlichen menschlichen Neigung zu übermäßiger Selbstliebe.

Ich kam zu Hause an, ehe die Sendung vorbei war, und blieb im Auto sitzen, um noch eine Zeit lang zuzuhören. Dann ging ich ins Haus und schaltete den Fernseher ein, um mir ein Footballspiel anzusehen. Ein Quarterback warf einen Kurzpass zu einem Wide Receiver, der sofort für einen 2-Yards-Gain angegriffen wurde. Der Defensivspieler tat das, was heutzutage alle professionellen Athleten in Momenten des persönlichen Erfolgs tun. Er führte einen Siegestanz auf, mit dem er sich selbst rühmte, während die Kamera auf ihm verweilte.

Mir fiel auf, dass ich gerade nach einem kleinen Punktgewinn bei einem Footballspiel mehr selbstgefälligen Jubel gesehen hatte, als es in der Radiosendung nach dem Sieg der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg gegeben hatte.

Diese Beobachtung löste eine Folge von Gedanken in mir aus. Ich fragte mich, ob diese Verhaltensänderung vielleicht einen kulturellen Wandel symbolisierte, einen Übergang von einer Kultur der Zurückhaltung, gemäß der Devise »Niemand ist besser als ich, aber auch ich bin nicht besser als jeder andere«, zu einer Kultur der Eigenwerbung nach dem Motto: »Würdige meine Leistungen, ich bin etwas Besonderes«. Dieser Gegensatz, der an sich nicht weiter von Belang ist, weckte mein Interesse an den verschiedenen Weisen, wie man in dieser Welt sein Leben leben kann.

Das Kleine Ich

In den Jahren nach dieser Command Performance-Folge begann ich mich eingehender mit dieser Zeit und den damals prominenten Personen zu befassen. Die Recherchen erinnerten mich zunächst an all das, was in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu unserer Kultur gehörte und was wir uns nicht zurückwünschen sollten: ihren Rassismus, Sexismus und Antisemitismus. Die meisten von uns hätten nicht die Chancen gehabt, die sie heute haben, wenn sie damals gelebt hätten. Es war auch eine langweiligere Kultur, mit fadem Essen und homogeneren Lebensformen. Und es war eine emotional kalte Kultur. Insbesondere Väter waren oft unfähig, ihre Liebe zu ihren Kindern zum Ausdruck zu bringen. Ehemänner waren unfähig, die Persönlichkeit ihrer Frauen in ihrer ganzen Breite und Tiefe zu verstehen. In vielerlei Hinsicht ist das Leben heute besser, als es damals gewesen ist.

Aber mir drängte sich der Gedanke auf, dass eine gewisse Demut damals vielleicht weiter verbreitet war als heute, dass es eine kollektive »moralische Ökologie« gab, die Jahrhunderte zurückreichte, heutzutage aber an Einfluss verloren hat. Diese ermunterte die Menschen dazu, ihren Begierden mit größerer Skepsis zu begegnen, sich ihre Schwächen bewusst zu machen, Charakterfehler entschlossener zu bekämpfen und Schwächen entschiedener in Stärken zu verwandeln. Menschen, die in dieser Tradition aufwuchsen, neigen meiner Meinung nach weniger dazu, jeden Gedanken, jedes Gefühl und jeden Erfolg sofort der ganzen Welt mitteilen zu wollen.

Im Zeitalter der Command Performance schien die Populärkultur diskreter und zurückhaltender zu sein. Es gab damals keine Motto-T-Shirts, keine Ausrufezeichen auf den Schreibmaschinentastaturen, keine Sympathie-Armbänder für verschiedene Krankheiten, keine Wunsch-Autokennzeichen, keine Autoaufkleber mit persönlichen oder moralischen Erklärungen. Leute prahlten nicht auf kleinen Stickern an den Heckscheiben ihrer Autos mit den Universitäten, an denen sie studierten, oder ihren Urlaubsorten. Wer sein Eigenlob sang, größenwahnsinnig wurde oder die Bodenhaftung verlor, musste mit strengeren gesellschaftlichen Sanktionen rechnen.

Der gesellschaftliche Verhaltenskodex kam in dem zurückhaltenden Stil von Schauspielern wie Gregory Peck oder Gary Cooper oder der Figur des Joe Friday aus der Krimiserie Dragnet zum Ausdruck. Als Franklin Roosevelts enger Berater Harry Hopkins im Zweiten Weltkrieg einen seiner Söhne verlor, wollten hochrangige Militärs seine übrigen Söhne in Sicherheit bringen. Hopkins lehnte dies ab; er schrieb, mit dem in der damaligen Zeit weit verbreiteten Understatement, seine anderen Söhne sollten keine sicheren Posten bekommen, nur weil ihr Bruder »im Pazifik Pech gehabt hat«6.

Von den 23 Männern und Frauen, die in den Kabinetten Dwight Eisenhowers dienten, veröffentlichte nur einer, der Landwirtschaftsminister, später seine Memoiren, und diese waren ebenso diskret wie einschläfernd. Nachdem die Regierung Reagan abgetreten war, veröffentlichten 12 seiner dreißig Kabinettsmitglieder Memoiren, fast alle, um Werbung in eigener Sache zu machen.7

Als George Bush der Ältere, der in dieser Zeit aufwuchs, als Präsident kandidierte, vermied er es, über sich selbst zu sprechen, so sehr hatte er die Werte seiner Kindheit verinnerlicht. Wenn ein Redenschreiber in einer von Bushs Reden das Wort »ich« verwendete, hat er es instinktiv gestrichen. Seine Mitarbeiter beknieten ihn: Sie kandidieren als Präsident. Sie müssen von sich reden. Schließlich stimmten sie ihn um. Aber am nächsten Tag rief ihn seine Mutter an. »George, du wirst doch nicht von dir reden!«, sagte sie. Und Bush kam zur Besinnung. Keine »Ichs« mehr in den Reden. Keine Eigenwerbung mehr.

Das Große Ich

Im Lauf der nächsten Jahre sammelte ich Daten, die darauf hindeuteten, dass wir einen grundlegenden Wandel von der Kultur der Demut zu einer Kultur des Großen Ichs durchlaufen haben, von einer Kultur, die Menschen dazu ermunterte, sich in Bescheidenheit zu üben, zu einer Kultur, die Menschen dazu ermunterte, sich als den Nabel der Welt zu betrachten.

Es war nicht schwer, solche Daten zu finden. So fragte das Meinungsforschungsinstitut Gallup im Jahr 1950 Highschool-Zwölftklässler, ob sie sich für eine sehr wichtige Person hielten. Damals antworteten 12 Prozent mit »Ja«. Als im Jahr 2005 dieselbe Frage gestellt wurde, waren es keine 12 Prozent, die sich für sehr wichtig hielten, sondern 80 Prozent.

Psychologen sind in der Lage, mithilfe eines Tests den Grad des Narzissmus von Menschen zu messen. Sie lesen ihren Probanden bestimmte Aussagen vor und fragen sie, ob diese auf sie zutreffen. Aussagen wie »Ich stehe gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit … Ich ziehe eine Show ab, wenn ich die Gelegenheit dazu habe, weil ich etwas Besonderes bin … Jemand sollte meine Biografie schreiben«. Der mittlere Narzissmus-Wert ist in den letzten zwanzig Jahren um 30 Prozent gestiegen. 93 Prozent der jungen Menschen übertreffen heute den Mittelwert von vor zwanzig Jahren.8 Die höchsten Zugewinne gab es bei der Zahl der Personen, die den folgenden Aussagen zustimmen: »Ich bin eine außergewöhnliche Person« und »Ich betrachte gern meinen Körper«.

Mit dem offenkundigen Anstieg des Selbstwertgefühls ging eine enorme Zunahme des Wunsches einher, berühmt zu werden. Ruhm rangierte früher für die meisten Menschen als Lebensziel niedrig. Bei einer Umfrage im Jahr 1976, bei der die Befragten gebeten wurden, ihre Lebensziele aufzulisten, landete Ruhm an 15. Stelle von 16. Im Jahr 2007 gaben 51 Prozent aller befragten jungen Menschen an, berühmt zu werden sei eines ihrer höchsten persönlichen Ziele.9 In einer Studie wurden Mittelschülerinnen gefragt, mit wem sie am liebsten zu Abend essen würden. Jennifer Lopez kam an erster Stelle, Jesus Christus an zweiter und Paris Hilton an dritter. Anschließend wurden die Mädchen gefragt, welche der folgenden Arbeitsstellen sie gerne hätten. Fast doppelt so viele sagten, sie wären lieber die persönliche Assistentin eines Stars – zum Beispiel von Justin Bieber – als Präsidentin von Harvard. (Auch wenn man gerechterweise sagen muss, dass der Präsident von Harvard vermutlich auch lieber persönlicher Assistent von Justin Bieber wäre.)

Als ich mich in der Populärkultur umsah, fand ich überall dieselben Botschaften: Du bist etwas Besonderes. Vertrau auf dich. Sei dir selbst treu. Kinofilme von Pixar und Disney erzählen Kindern in einem fort, wie großartig sie sind. Die traditionell von Berühmtheiten gehaltenen Reden vor Universitätsabsolventen sind von denselben Klischees durchzogen: Folge deiner Leidenschaft. Finde dich nicht mit Grenzen ab. Geh deinen eigenen Weg. Du hast die Verantwortung, Großes zu vollbringen, weil du so großartig bist. Das ist das Evangelium des Selbstvertrauens.

Fernsehmoderatorin Ellen DeGeneres formulierte es in ihrer Rede vor Universitätsabsolventen im Jahr 2009 folgendermaßen: »Mein Rat an Sie lautet: Bleiben Sie sich treu, und alles wird gut.« Der TV-Koch Mario Batali riet Hochschulabsolventen, sie sollten »ihrer Wahrheit folgen und diese konsequent in ihrem Leben zum Ausdruck bringen«. Autorin Anna Quindlen riet Absolventen, den Mut zu haben, »Ihren Charakter, Ihren Intellekt, Ihre Neigungen und, ja, auch Ihre Seele zu ehren, indem Sie ihrer sauberen und klaren inneren Stimme lauschen, statt den trüben Botschaften einer verzagten Welt zu folgen«.

In ihrem Bestseller Eat, Pray, Love (ich bin wohl der einzige Mann, der dieses Buch zu Ende gelesen hat) schrieb Elizabeth Gilbert, Gott manifestiere sich durch »meine eigene Stimme aus […] meinem tiefsten Innern […]. Gott wohnt in dir als du selbst, als genau die, die du bist.«10

Ich sah mir die Art und Weise, wie wir unsere Kinder erziehen, näher an und fand Belege für diesen moralischen Wandel. So predigten zum Beispiel die ersten Handbücher für Pfadfinderinnen eine Ethik der Selbstaufopferung und Selbstverleugnung. Das größte Glückshindernis, so hieß es, rühre von dem überstarken Wunsch her, andere Menschen sollten an einen denken.

James Davison Hunter hat darauf hingewiesen, dass der Ton im Jahr 1980 ein ganz anderer war. You Make the Difference: The Handbook for Cadette and Senior Girl Scouts forderte Pfadfinderinnen auf, mehr auf sich zu achten: »Wie kannst du besser mit dir selbst in Verbindung treten? Was empfindest du? […] Jede Option, die dir im Zuge dieses Pfadfinder-Lehrgangs vermittelt wird, kann dir auf die eine oder andere Weise helfen, dich selbst besser zu verstehen. Rück dich selbst ins ›Zentrum‹ deiner Gedanken, um deine Gefühle, dein Denken und dein Verhalten besser einordnen zu können.«11

Dieser Wandel lässt sich sogar in den Worten erkennen, die von der Kanzel gepredigt werden. Joel Osteen, einer der populärsten Mega-Kirchen-Prediger unserer Zeit, schreibt in seinem Buch Become a Better You: »Gott hat dich nicht erschaffen, um durchschnittlich zu sein. Du wurdest erschaffen, um etwas Besonderes zu leisten. Du wurdest erschaffen, um dieser Generation deinen Stempel aufzudrücken […]. Du musst dir sagen: ›Ich wurde auserkoren. Ich bin dazu bestimmt, im Leben Erfolg zu haben.‹«12

Der Pfad der Bescheidenheit

Als die Jahre verstrichen und die Arbeit an diesem Buch weiterging, kehrten meine Gedanken zu erwähnter Folge von Command Performance zurück. Die Demut, die ich in diesen Stimmen hörte, ließ mich nicht mehr los.

Die Zurückgenommenheit der Personen, die an dieser Sendung mitwirkten, hatte etwas Schönes im eigentlichen ästhetischen Sinne dieses Wortes. Der sich selbst zurücknehmende Mensch ist wohltuend und gütig, während der sich selbst anpreisende Mensch fragil und misstönend ist. Demut ist Freiheit von dem Bedürfnis, sich ständig als überlegen beweisen zu müssen, während Egoismus ein unbändiger Hunger auf kleinstem Raum ist – um sich selbst besorgt, konkurrenzbetont und statusgetrieben. Demut ist durchdrungen von angenehmen Gefühlen wie Bewunderung, Kameradschaft und Dankbarkeit. »Dankbarkeit«, sagte der Erzbischof von Canterbury, Michael Ramsey, »ist ein Boden, in dem Stolz nicht leicht gedeiht«13.

Diese Art von Bescheidenheit hat auch etwas intellektuell Beeindruckendes. Wie der Psychologe Daniel Kahneman schreibt, haben wir eine »beinahe unbegrenzte Fähigkeit, die eigene Unwissenheit zu ignorieren«14. Demut ist das Bewusstsein, dass es vieles gibt, was wir nicht wissen, und dass ein Großteil dessen, was wir zu wissen glauben, verzerrt oder falsch ist.

Auf diese Weise führt Demut zu Weisheit. Montaigne schrieb einmal: »Auch wenn uns die Gelehrsamkeit andrer gelehrt machen sollte – weise sein können wir nur durch unsere eigene Weisheit.«15 Das ist darauf zurückzuführen, dass Weisheit nicht aus einem Schatz von Wissen besteht. Es ist die moralische Qualität, die darin besteht, zu wissen, dass man nicht weiß, und einen Weg zu finden, um mit seiner Unwissenheit, seinen Zweifeln und seinen Begrenzungen zurechtzukommen.

Menschen, die wir für weise halten, haben, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, die Voreingenommenheiten und den Hang zu übersteigertem Selbstbewusstsein überwunden, die unserer Natur innewohnen. In ihrer umfassendsten Bedeutung ist intellektuelle Demut zutreffende Selbsterkenntnis aus einer gewissen Distanz. Es ist so, wie wenn man die Nahansicht von sich selbst, die typisch für den Heranwachsenden ist und in der man die gesamte Leinwand ausfüllt, im Lauf seines Lebens hinter sich lässt und zu einer Fernansicht übergeht, in der man, aus einer höheren Warte, seine Stärken und Schwächen, seine Beziehungen und Abhängigkeiten und die Rolle, die man in einer größeren Geschichte spielt, erkennt.

Schließlich imponiert Demut auch als eine moralische Eigenschaft. Jede Epoche hat ihre eigenen bevorzugten Methoden der Selbstkultivierung, ihre eigenen Strategien der Charakterbildung. Die Personen, die an der Command Performance-Sendung mitwirkten, hüteten sich vor einigen ihrer unschönsten Neigungen – der Tendenz zu Stolz, Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit.

Heute betrachten viele von uns ihr Leben als eine Reise im metaphorischen Sinne – eine Reise durch die äußere Welt und die Erfolgsleiter hinauf. Wenn wir darüber nachdenken, wie wir etwas bewirken oder ein sinnerfülltes Leben führen können, fällt uns oft irgendeine äußere Leistung ein – etwas, das die Welt verändert, der Aufbau eines erfolgreichen Unternehmens oder ein Dienst für die Gemeinschaft.

Auch wahrhaft demütige Menschen nutzen diese Reise-Metapher, um ihr eigenes Leben zu beschreiben. Aber parallel dazu nutzen sie noch eine andere Metapher, die mehr mit dem Innenleben zu tun hat. Dies ist die Metapher der Konfrontation mit sich selbst. Sie gehen von der Annahme aus, dass unser Selbst tief gespalten ist, dass es einerseits hervorragend begabt und andererseits zutiefst mangelhaft ist – dass jeder von uns gewisse Fähigkeiten, aber auch bestimmte Schwächen hat. Und wenn wir diesen Versuchungen gewohnheitsmäßig verfallen und nicht gegen die Schwächen in uns ankämpfen, dann werden wir allmählich den Kern unseres Wesens beschädigen. Wir werden innerlich nicht so gut sein, wie wir es sein wollen. Wir werden in einer grundlegenden Weise scheitern.

Für Menschen dieses Schlags ist das äußere Drama, das aus dem Streben nach Erfolg und Aufstieg resultiert, wichtig, aber der innere Kampf gegen die eigenen Schwächen ist das zentrale Drama des Lebens. Wie schrieb der Geistliche Harry Emerson Fosdick doch in seinem 1943 erschienenen Buch On Being a Real Person: »Das wahre Leben beginnt mit der Konfrontation mit sich selbst.«16

Wahrhaft demütige Menschen bemühen sich intensiv darum, die besten Seiten in sich zu befördern, die schlechtesten Seiten zu überwinden und in ihren Schwachpunkten stark zu werden. Ausgangspunkt ist dabei die klare Erkenntnis der eigenen Mängel und Unzulänglichkeiten. Unser Grundproblem besteht darin, dass wir selbstbezogen sind, eine Schwäche, die David Foster Wallace 2005 in seiner berühmten Rede an die Absolventen des Kenyon College auf sehr ansprechende Weise auf den Punkt brachte:

Meine unmittelbare Erfahrung stützt meine tief sitzende Überzeugung, dass ich der absolute Mittelpunkt des Universums bin, der echteste, lebendigste und bedeutendste existierende Mensch. Wir denken selten über diese natürliche, grundlegende Selbstzentriertheit nach, weil sie sozial so abstoßend ist, aber im Grunde ist sie bei uns allen so ziemlich gleich. Sie ist unsere Standardeinstellung, die mir der Geburt in unseren psychischen Festplatten vedrahtet wird. Überlegen Sie mal: Sie haben nie eine Erfahrung gemacht, bei der Sie nicht im absoluten Mittelpunkt standen. Die Welt, die Sie erfahren, liegt vor Ihnen oder hinter Ihnen, links oder rechts von Ihnen, auf Ihrem Fernseher, Ihrem Monitor oder sonst wo. Die Gedanken und Gefühle anderer Leute müssen Ihnen irgendwie kommuniziert werden, aber Ihre eigenen sind unmittelbar, zwingend und wirklich.17

Diese Selbstbezogenheit führt in mehrere unerfreuliche Richtungen. Sie führt zu Selbstsucht, dem Verlangen, andere Menschen als Mittel einzusetzen, um sich Dinge zu verschaffen. Sie führt auch zu Stolz, dem Wunsch, sich allen anderen überlegen zu fühlen. Sie führt zu der Fähigkeit, die eigenen Unzulänglichkeiten zu ignorieren und zu rationalisieren und die eigenen Vorzüge zu überhöhen. Im Lauf unseres Lebens vergleichen wir uns in einem fort mit anderen Menschen und fühlen uns ihnen durchweg leicht überlegen – wir glauben, wir wären tugendhafter, hätten ein besseres Urteilsvermögen und einen besseren Geschmack. Wir streben unentwegt nach Bestätigung, und wir reagieren höchst empfindlich auf jede Brüskierung und jeden Angriff auf den Status, den wir unseres Erachtens wohl verdient haben.

Irgendeine Pervertiertheit unserer Natur veranlasst uns dazu, niedrige Wünsche über höhere Wünsche zu stellen. Wir alle lieben und begehren eine Vielzahl von Dingen: Freundschaft, Familie, Bekanntheit, Heimat, Geld und so weiter. Und wir alle spüren ganz deutlich, dass einige Dinge, die wir begehren, höherwertig oder wichtiger sind als andere. Ich vermute einmal, dass wir diesbezüglich alle mehr oder minder die gleiche Rangordnung der Werte haben. Wir alle wissen, dass die Liebe zu unseren Kindern oder Eltern höher rangieren sollte als die Liebe zum Geld. Wir alle wissen, dass uns die Liebe zur Wahrheit wichtiger sein sollte als die Liebe zur Popularität. Selbst im Zeitalter des Relativismus und Pluralismus ist die moralische Hierarchie des Herzens etwas, das wir im Allgemeinen teilen, zumindest meistens.

Aber oftmals verstoßen wir gegen diese Rangordnung moralischer Werte. Wenn Ihnen jemand etwas im Vertrauen mitteilt und Sie plaudern es anschließend bei einer Dinnerparty als Klatschgeschichte aus, stellen Sie Ihren Wunsch nach Popularität über Ihre Wertschätzung der Freundschaft. Wenn Sie bei einer Sitzung mehr reden als zuhören, räumen Sie Ihrem Wunsch, andere zu überstrahlen, vielleicht Vorrang ein vor kollegialem Geist und der Gelegenheit, etwas dazuzulernen. Wir tun dies ständig.

Menschen, die um ihre Charakterschwächen wissen, werden moralische Realisten genannt. Moralische Realisten gehen davon aus, dass wir alle aus »krummem Holz« gemacht sind – entsprechend dem berühmten Diktum von Immanuel Kant: »Aus dem krummen Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.«18 Menschen, die diese Sicht der menschlichen Natur als eines »krummen Holzes« teilen, sind sich ihrer eigenen Fehler deutlich bewusst und glauben, dass sich der Charakter im Ringen mit den eigenen Schwächen bildet. Wie Thomas Merton schrieb: »Seelen sind wie Athleten, die Gegner brauchen, die ihnen ebenbürtig sind, wenn sie auf die Probe gestellt, gefordert und dazu gedrängt werden sollen, ihre Fähigkeiten voll auszuschöpfen.«19

In den Tagebüchern dieser Menschen finden sich Belege für ihr inneres Ringen. Sie frohlocken an den Tagen, an denen sie einen kleinen Sieg über Selbstsucht und Hartherzigkeit errungen haben. Sie sind bedrückt an jenen Tagen, an denen sie sich selbst enttäuschen, an denen sie aus Faulheit oder Erschöpfung eine wohltätige Handlung unterlassen oder sich nicht um eine Person kümmern, die auf ihre Hilfe wartet. Sie sehen ihr Leben eher als eine moralische Abenteuergeschichte. Der britische Schriftsteller Henry Fairlie formulierte es folgendermaßen: »Wenn wir zugeben, dass unsere Neigung zur Sünde Teil unserer Natur ist und wir diese niemals völlig ausmerzen können, können wir in unserem Leben zumindest etwas tun, damit dieses am Schluss nicht einfach nur vergeblich und sinnlos erscheint.«20

Ich habe einen Freund, der jeden Abend im Bett kurz seine Verfehlungen des Tages Revue passieren lässt. Seine schwerwiegendste moralische Schwäche, aus der viele seiner anderen Untugenden hervorgehen, ist eine gewisse Hartherzigkeit. Er ist ein vielbeschäftigter Mann, und viele Leute beanspruchen seine Zeit. Manchmal ist er für Menschen, die ihn um Rat fragen oder eine Schwäche zu erkennen geben, nicht uneingeschränkt da. Manchmal ist ihm mehr daran gelegen, einen guten Eindruck zu hinterlassen, als anderen aufmerksam zuzuhören. Vielleicht dachte er bei einem Meeting mehr darüber nach, wie er die anderen beeindrucken könnte, als über das, was sie sagen. Vielleicht schmeichelte er Menschen zu salbungsvoll.

Jeden Abend katalogisiert er seine Verfehlungen. Er listet seine wiederkehrenden »Hauptsünden« und die anderen Fehltritte auf, die womöglich aus jenen hervorgegangen sind. Anschließend entwickelt er Strategien dafür, wie er es morgen besser machen könnte. Morgen wird er sich bemühen, Menschen mit anderen Augen zu sehen, mehr Pausen für kurze Gespräche mit ihnen einzulegen. Er will Zuwendung über Prestige stellen, das Höhere über das Geringere. Wir alle haben die moralische Pflicht, jeden Tag etwas moralischer zu handeln, und er wird sich anstrengen, in dieser wichtigsten Sphäre Tag für Tag wenigstens kleine Fortschritte zu erzielen.

Menschen, die so leben, glauben, dass Charakter nicht angeboren oder von Natur aus vorhanden ist. Man muss ihn mühsam und kunstfertig bilden. Man kann nicht zu dem guten Menschen werden, der man sein will, wenn man diesen Kampf nicht führt. Ohne einen soliden moralischen Kern wird man nicht einmal bleibenden äußeren Erfolg haben. Ohne innere Integrität werden wir über kurz oder lang unser Watergate, unseren Skandal, unseren Verrat erleben. Adam I hängt letztlich von Adam II ab.

Ich habe in den vorangehenden Absätzen die Wörter »Ringen« und »Kampf« verwendet. Es ist jedoch ein Irrtum zu glauben, der moralische Kampf gegen innere Schwächen sei ein Kampf im Sinne eines Krieges oder eines Boxkampfs – gleichsam eine gewaltsame, bewaffnete Auseinandersetzung. Moralische Realisten verlangen sich manchmal größte Anstrengungen ab, etwa wenn es darum geht, dem Bösen zu widerstehen oder die eigenen Begierden in strenger Weise zu zügeln. Aber Charakterbildung basiert nicht nur auf Strenge und Härte gegen sich selbst, sondern auch auf Liebe und Freude. Wenn Sie mit guten Menschen tiefe Freundschaften verbinden, ahmen Sie einige ihrer besten Charakterzüge nach, die so Teil Ihrer eigenen Persönlichkeit werden. Wenn man einen Menschen tief liebt, will man ihm zu Diensten sein und seine Hochachtung gewinnen. Das Erlebnis großer Kunst erweitert unser Repertoire an Gefühlen. Durch die Hingabe an eine Sache sublimiert man seine Begierden und strukturiert seine Energien.

Zudem ist der Kampf gegen die eigenen Schwächen niemals ein einsamer Kampf. Niemand kann von sich aus Selbstbeherrschung erreichen. Der Wille, die Vernunft, das Mitgefühl und der Charakter des Einzelnen sind nicht stark genug, um durchweg Selbstsucht, Stolz, Gier und Selbsttäuschung zu überwinden. Jeder benötigt Unterstützung von außen – von der Familie, Freunden, Vorfahren, Regeln, Traditionen, Institutionen, Vorbildern und – für Gläubige – von Gott. Wir alle brauchen Menschen, die uns sagen, wenn wir im Unrecht sind, uns beraten, wie wir richtig handeln, und die uns ermuntern, unterstützen, aufrütteln, mit uns kooperieren und uns immer wieder beflügeln.

Diese Sichtweise des Lebens hat etwas Demokratisches. Es spielt demnach keine Rolle, ob man an der Wall Street oder bei einer Wohltätigkeitsorganisation arbeitet, die Medikamente an die Armen verteilt. Es spielt keine Rolle, ob man an der Spitze der Einkommensskala steht oder an ihrem unteren Ende. In allen Welten gibt es Helden und Schwachköpfe. Das Wichtigste ist, ob man bereit ist, diesen moralischen Kampf mit der richtigen Einstellung – unbeschwert und voller Mitgefühl – aufzunehmen. Fairlie schreibt: »Wenn wir wenigstens begreifen, dass wir sündigen, wissen, dass sich jeder einzelne von uns im Krieg befindet, dann ziehen wir vielleicht so in den Krieg, wie es Krieger tun – mit Tapferkeit und Elan und sogar Fröhlichkeit.«21 Der Erfolg von Adam I besteht darin, andere zu besiegen. Während Adam II seinen Charakter formt, indem er die Schwächen in sich selbst besiegt.

Die U-Kurve

Die in diesem Buch vorgestellten Menschen haben sehr unterschiedliche Leben geführt. Jeder von ihnen veranschaulicht eine der Betätigungen, die den Charakter formen. Aber es gibt ein wiederkehrendes Muster: Sie alle mussten erst eine Niederlage erleiden, ehe sie emporstreben konnten. Sie mussten in die Täler der Demut hinabsteigen, um die Höhen des Charakters zu erklimmen.

Der Weg zum Charakter geht oft mit Momenten einer moralischen Krise, Auseinandersetzung und Besserung einher. Als diese Menschen vor einer entscheidenden Bewährungsprobe in ihrem Leben standen, waren sie plötzlich in der Lage, ihre eigene Natur deutlicher zu erkennen. Die alltäglichen Selbsttäuschungen und Illusionen der Selbstbeherrschung waren zerstört worden. Sie mussten sich in Selbsterkenntnis demütigen, wenn sie die geringste Hoffnung haben wollten, sich verwandelt daraus zu erheben. Alice konnte erst ins Wunderland gelangen, als sie klein genug war. Oder, wie es Kierkegaard formuliert: »Nur wer in die Unterwelt hinabsteigt, rettet die Liebste.«22

Aber dann erschloss sich ihnen das Schöne. Im Tal der Demut lernten sie, das Selbst zu besänftigen. Erst als es ihnen gelang, ihr Selbst zum Verstummen zu bringen, konnten sie andere Menschen verstehen und das annehmen, was sie anboten.

Dadurch, dass ihr Selbst verstummt war, hatten sie in sich einen Freiraum geschaffen, den Güte und Wohlwollen ausfüllen konnten. Dabei halfen ihnen Menschen, von denen sie dies nie erwartet hätten. Sie erlebten, wie andere sie in einer Weise verstanden und umsorgten, die sie sich zuvor nicht hätten vorstellen können. Sie erlebten, dass sie in einer Weise geliebt wurden, die sie nicht verdienten. Sie mussten nicht mit den Armen rudern, weil sie von Händen gestützt wurden.

Bald schon fühlen sich Menschen, die in das Tal der Demut hinabgestiegen sind, wieder in das Hochland der Freude und Verbindlichkeit zurückversetzt. Sie haben sich in Arbeit gestürzt, neue Freundschaften geschlossen und pflegen neue Liebesbeziehungen. Erschüttert erkennen sie, dass sie seit den ersten Tagen ihrer Schicksalsprüfung einen weiten Weg zurückgelegt haben. Sie drehen sich um und sehen, wie groß die Wegstrecke ist, die sie hinter sich gelassen haben. Diese Menschen gehen nicht geheilt aus dieser Erfahrung hervor; sie gehen gewandelt daraus hervor. Sie finden eine Berufung oder Bestimmung. Sie verpflichten sich zu langem Gehorsam und verschreiben sich einer scheinbar aussichtslosen Sache, die dem Leben Sinn gibt.

Jede Phase dieser Erfahrung hat in der Seele eines solchen Menschen Spuren hinterlassen. Die Erfahrung hat seinen inneren Wesenskern verwandelt und ihm größere Kohärenz, Beständigkeit und Gewicht verliehen. Menschen mit Charakter mögen laut oder leise sein, aber sie haben im Allgemeinen immer ein gewisses Maß an Selbstachtung. Selbstachtung ist nicht das Gleiche wie Selbstbewusstsein oder ein hohes Selbstwertgefühl. Selbstachtung basiert nicht auf dem IQ oder irgendeiner der besonderen geistigen oder körperlichen Fähigkeiten, die einem helfen, einen Studienplatz an einer renommierten Universität zu ergattern. Selbstachtung basiert nicht auf Vergleichen. Man erlangt Selbstachtung nicht dadurch, dass man bei irgendetwas besser ist als andere. Man erwirbt sie dadurch, dass man besser ist, als man war, indem man in Zeiten der Bewährung verlässlich und in Zeiten der Versuchung ehrlich ist. Sie entsteht in demjenigen, der moralisch integer ist. Selbstachtung ist die Frucht innerer, nicht äußerer Siege. Nur die Person kann sie erlangen, die einer inneren Versuchung widerstanden, sich mit ihren eigenen Schwächen konfrontiert hat und die weiß: »Selbst wenn es ganz schlimm kommen sollte, kann ich das durchstehen. Ich kann es überwinden.«

Der gerade beschriebene Prozess kann sich in bedeutenden Ereignissen verdichten. In jedem Leben gibt es schicksalhafte Herausforderungen, entscheidende Bewährungsproben, die einen entweder zum Erfolg oder zum Scheitern führen. Aber dieser Prozess kann sich auch ganz allmählich, auf eine unspektakuläre Weise vollziehen. Man kann jeden Tag kleine Fehler entdecken, anderen eine helfende Hand reichen und versuchen, Verfehlungen zu korrigieren. Sowohl dramatische als auch alltägliche Erfahrungen bilden den Charakter.

Was in der Command Performance-Sendung vorgeführt wurde, war mehr als nur eine Ästhetik oder ein Stil. Je eingehender ich mich mit dieser Zeit beschäftigte, umso deutlicher erkannte ich, dass damals in den Vereinigten Staaten eine andere moralische Gesinnung herrschte. Es war eine andere Sicht der menschlichen Natur, eine andere Einstellung dazu, was im Leben wichtig ist, eine andere Formel für ein Leben im Zeichen von Charakterbildung und Seelentiefe. Ich weiß nicht, wie viele Menschen sich damals an diese andere moralische Werteordnung hielten, aber einige taten es jedenfalls, und ich bewunderte sie zutiefst.

Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass wir diese moralische Tradition unabsichtlich hinter uns gelassen haben. In den letzten Jahrzehnten haben wir diese Sprache verloren, diese Methode, unserem Leben Struktur zu geben. Wir sind nicht schlecht. Aber wir haben unsere moralische Ausdrucksfähigkeit verloren. Wir sind nicht egoistischer oder korrupter als Menschen in anderen Zeiten, aber wir wissen heute nicht mehr, wie man seinen Charakter bildet. Die moralische Tradition des »krummen Holzes« – die auf der Einsicht in die eigene moralische Unzulänglichkeit und der Auseinandersetzung damit basiert – war ein Erbe, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Sie vermittelte den Menschen eine deutliche Vorstellung davon, wie sie die Trauerrede-Tugenden kultivieren und die Adam-II-Seite ihrer Natur entwickeln können. Ohne sie weist die moderne Kultur insbesondere in der moralischen Sphäre eine gewisse Oberflächlichkeit auf.

Der zentrale Irrglaube des modernen Lebens besteht darin, Erfolge in der Adam-I-Sphäre könnten eine tiefe Zufriedenheit hervorbringen. Das ist falsch. Die Wünsche von Adam I kennen keine Grenzen und werden durch das, was man gerade erreicht hat, nur immer weiter angefacht. Nur Adam II kann eine tiefe Befriedigung erleben. Adam I strebt nach Glück, aber Adam II weiß, dass Glück nicht genügt. Die höchsten Freuden sind moralische Freuden. Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, anhand einiger konkreter Beispiele zu verdeutlichen, wie man ein solches Leben führen kann. Wir können nicht in die Vergangenheit zurückkehren und sollten dies auch gar nicht wollen. Aber wir können diese moralische Tradition wiederentdecken, die Sprache der Charakterbildung wieder lernen und sie in unser Leben integrieren.

Sie können den Adam II nicht nach einem bestimmten Rezept zielgerichtet in sich aufbauen, es gibt hierzu kein 7-Punkte-Programm. Aber wir können in das Leben herausragender Menschen eintauchen und versuchen, die Weisheit ihres Lebensvollzugs zu verstehen. Ich hoffe, Sie können den folgenden Seiten einige Lehren entnehmen, die für Sie wichtig sind, auch wenn es nicht die gleichen sind, die mir wichtig erscheinen. Ich hoffe, Sie und ich werden aus den neun Kapiteln ein wenig zum Besseren gewandelt hervorgehen.

ZWEI

Das in die Pflicht genommene Selbst

Heute ist der Washington Square Park in Lower Manhattan von Gebäuden der New York University, teuren Apartmenthäusern und exklusiven Läden umgeben. Doch im Jahr 1911 standen an der Nordseite des Parks elegante Stadthäuser, während sich an der Ost- und Südseite Fabriken erstreckten, die junge, überwiegend jüdische und italienische Arbeitsemigranten anlockten. Eines der hübschen Häuser gehörte Frau Gordon Norrie, einer Dame der besseren Gesellschaft und Nachfahrin zweier der Männer, die die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet hatten.

Am 25. März begab sich Frau Norrie gerade mit einer Gruppe von Freundinnen zum Tee an den Tisch, als sie von draußen Schreie hörten. Einer ihrer Gäste, Frances Perkins, damals 31 Jahre alt, entstammte einer alten Mittelschichtfamilie aus Maine, deren Stammbaum bis in die Zeit der Amerikanischen Revolution zurückreichte. Sie hatte das Mount Holyoke College besucht und arbeitete bei der Verbraucherorganisation Consumers’ League in New York, wo sie sich für die Abschaffung der Kinderarbeit einsetzte. Perkins sprach mit dem schrecklich vornehmen Zungenschlag, der ihrer Erziehung geziemte – ähnlich wie Margaret Dumont in den alten Marx-Brothers-Filmen oder Frau Thurston Howell III von Gilligans Insel mit langen, flachen A’s, ausgelassenen R’s und runden Vokalen, sodass sie zum Beispiel »tomato« als »tomaahhhto« aussprach.

Ein Butler stürmte herein und verkündete, unweit des Squares sei ein Feuer ausgebrochen. Die Damen rannten hinaus. Perkins raffte ihr Kleid und spurtete zum Ort des Geschehens. So wurden sie zu Augenzeugen des Brandes der Triangle Shirtwaist Factory, einer der schlimmsten Feuerkatastrophen in der amerikanischen Geschichte. Perkins sah, dass das achte, neunte und zehnte Stockwerk des Gebäudes in Flammen stand und dass sich Dutzende von Arbeiterinnen an die offenen Fenster drängten. Sie gesellte sich zu der Schar entsetzter Schaulustiger auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude.

Einige sahen vermeintliche Stoffballen aus den Fenstern stürzen. Sie glaubten, die Fabrikbesitzer versuchten ihre wertvollste Habe zu retten. Als weitere Ballen zu Boden fielen, erkannten die Schaulustigen, dass es gar keine Stoffbündel waren. Es waren Menschen, die sich in den Tod stürzten. »Als wir dort ankamen, hatten Menschen gerade erst begonnen, zu springen«, erinnerte sich Perkins später. »Sie hatten bis zu diesem Zeitpunkt gewartet. Sie standen auf den Fensterbänken, bedrängt von anderen hinter ihnen, während Flammen und Rauch näher und näher kamen.«23

»Sie begannen zu springen. Das Gedränge in den Fenstern war zu groß. Sie sprangen und schlugen auf dem Gehsteig auf«, erinnerte sie sich. »Alle waren tot, alle, die sprangen, stürzten zu Tode. Es war ein entsetzlicher Anblick.«24

Die Feuerwehrmänner spannten Netze auf, aber unter der Wucht des Aufpralls entglitten die Netze ihren Händen oder sie rissen. Eine Frau leerte ihren Geldbeutel pathetisch über den Schaulustigen unter ihr aus und stürzte sich dann in den Abgrund.

Perkins und die anderen schrien zu ihnen hinauf: »Springt nicht! Hilfe kommt.« Aber sie kam nicht. Die Flammen versengten sie von hinten. Insgesamt sprangen 47 Menschen. Eine junge Frau hielt eine Rede, bevor sie sich fallen ließ, sie gestikulierte leidenschaftlich, aber niemand konnte sie hören. Ein junger Mann half zärtlich einer jungen Frau auf die Fensterbank. Dann packte er sie mit beiden Händen, hob sie, wie ein Balletttänzer, von sich und dem Gebäude weg und ließ sie fallen. Das Gleiche tat er mit einer zweiten und dritten. Schließlich stand ein viertes Mädchen auf der Fensterbank; sie umarmte ihn, und sie küssten sich lange. Dann hielt er sie ebenfalls nach draußen und ließ sie fallen. Im nächsten Moment sauste er selbst durch die Luft. Als sich seine Hose im Sturz blähte, bemerkten die Schaulustigen, dass er modische hellbraune Schuhe trug. Ein Reporter schrieb: »Ich sah sein Gesicht, bevor sie es bedeckten. Man konnte darin sehen, dass er ein echter Mann war. Er hatte sein Bestes getan.«25

Der Brand war gegen 16.40 Uhr an diesem Nachmittag ausgebrochen, als irgendjemand im achten Stockwerk eine Zigarette oder ein Streichholz auf einen Berg von Stoffresten warf, die als Abfälle bei der Herstellung der Kleidungsstücke anfielen. Der Haufen stand sofort lichterloh in Flammen.

Jemand alarmierte den Betriebsleiter, Samuel Bernstein, der sich einige bereitstehende Eimer Wasser packte und sie auf die Flammen schüttete. Sie richteten so gut wie nichts aus. Die Baumwollabfälle waren leicht entzündlich und brannten explosionsartig, wie trockenes Stroh, und allein im achten Stockwerk waren ungefähr eine Tonne dieser Abfälle zu Haufen aufgeschichtet.26

Bernstein schüttete weitere Eimer Wasser auf das rasch um sich greifende Feuer, aber mittlerweile hatten sie überhaupt keine Wirkung mehr. Schon sprangen die Flammen auf die Schnittmuster aus Seidenpapier über, die über den hölzernen Arbeitstischen hingen. Er befahl den Arbeitern, einen Feuerwehrschlauch von einem nahen Treppenhaus herbeizuholen. Sie öffneten den Wasserhahn, aber der Wasserdruck war zu gering. Der Chronist dieser Feuerkatastrophe, David Von Drehle, schreibt, Bernstein habe in diesen ersten drei Minuten eine fatale Fehlentscheidung getroffen. Er hätte die fast 500 Arbeiterinnen in Sicherheit bringen können. Stattdessen bekämpfte er vergeblich das sich rasend schnell ausbreitende Feuer. Hätte er die Zeit zum Evakuieren genutzt, wäre an diesem Tag vielleicht kein einziges Todesopfer zu beklagen gewesen.27

Als Bernstein seinen Blick schließlich von der Feuerwand abwandte, erstaunte ihn das, was er sah. Viele der Frauen im achten Stockwerk nahmen sich die Zeit, um den Umkleideraum aufzusuchen und dort ihre Mäntel und Habseligkeiten zu holen. Einige suchten sogar nach ihren Stechkarten, weil sie ausstempeln wollten.

Schließlich wurden die beiden Fabrikbesitzer im zehnten Stockwerk vor dem Brand gewarnt, der bereits das achte Stockwerk zerstört hatte und sich rasch dem ihren näherte. Einer der beiden, Isaac Harris, versammelte eine Gruppe von Arbeiterinnen um sich und sagte ihnen, es sei wahrscheinlich Selbstmord, durch das Feuer hindurch hinuntersteigen zu wollen. »Mädchen, lasst uns aufs Dach hinaufgehen! Los, aufs Dach!«, brüllte er. Der zweite Fabrikant, Max Blanck, war vor Angst wie gelähmt. Er stand wie versteinert da, den Ausdruck panischen Schreckens im Gesicht. Er hielt seine jüngste Tochter auf einem Arm und seine ältere Tochter an der anderen Hand.28 Ein Büroangestellter, der sich mit dem Auftragsbuch der Firma in Sicherheit bringen wollte, warf es kurzentschlossen weg und rettete stattdessen seinem Chef das Leben.

Die meisten der Arbeiterinnen im achten Stockwerk kamen unversehrt aus dem Gebäude heraus, aber die Arbeiterinnen im neunten Stockwerk wurden von dem Feuer überrascht. Wie ein verängstigter Fischschwarm rannten sie von einem Ausgang zum nächsten. Es gab zwei Aufzüge, aber sie waren langsam und überladen. Es gab keine Sprinkleranlage. Es gab eine Feuertreppe, aber sie war wacklig und blockiert. An normalen Arbeitstagen wurden die Arbeiterinnen durchsucht, ehe sie sich auf den Heimweg machten, um Diebstahl zu verhindern. Das Fabrikgebäude war so geplant worden, dass sie nur durch einen Engpass nach draußen gelangen konnten. Einige der Türen waren verschlossen. Als sie von den Flammen eingekreist waren, mussten die Arbeiterinnen ohne hinlängliche Informationsgrundlage und inmitten wachsender Panik Entscheidungen über Leben und Tod treffen.

Drei Freundinnen, Ida Nelson, Katie Weiner und Fanny Lansner, hielten sich gerade im Umkleideraum auf, als sie durch Schreie vor dem Feuer gewarnt wurden. Nelson rannte zu einem der Treppenhäuser. Weiner lief zu den Aufzügen und sah, dass ein Fahrkorb den Schacht hinunterfuhr. Sie stürzte sich hinterher und landete auf dessen Dach. Lansner tat weder das eine noch das andere und schaffte es nicht nach draußen.29

Mary Bucelli schilderte später, wie sie sich durch das brutale Gedränge Richtung Ausgang durchkämpfte. »Ich kann es Ihnen eigentlich nicht erzählen, denn ich habe so viele Stöße und Tritte versetzt. Ich teilte aus und kassierte. Ich stieß sie um, wo immer sie mir in die Quere kamen«, sagte sie über ihre Arbeitskolleginnen. »Ich wollte nur mit heiler Haut davonkommen […]. In einem Moment wie diesem herrscht große Verwirrung, und Sie müssen verstehen, dass man nichts erkennen kann […]. Man sieht eine Vielzahl von Dingen, aber man kann nichts klar erkennen. In dieser Verwirrung und diesem ganzen Gerangel kann man nichts klar erkennen.«30

Joseph Brenman war einer der wenigen Männer in der Fabrik. Zwischen ihm und dem Aufzug drängte sich eine dichte Schar von Frauen. Aber sie waren klein und die meisten von ihnen waren schwach. Er schob sie beiseite und schlug sich zum Aufzug durch, der ihn in Sicherheit brachte.

Die Feuerwehr traf zwar schnell ein, aber ihre Leitern reichten nicht bis zum achten Stockwerk. Das Löschwasser in ihren Schläuchen stand nicht unter ausreichendem Druck, um diese Höhe zu erreichen, und so konnten sie lediglich die Außenseite des Gebäudes ein wenig besprengen.

Schande

Das Grauen der Triangle-Shirtwaist-Brandkatastrophe traumatisierte die Stadt. Die New Yorker waren nicht nur wütend auf die Fabrikbesitzer, sondern fühlten sich mitschuldig. Im Jahr 1909 hatte eine russische Immigrantin namens Rose Schneiderman die Frauen, die bei Triangle und in anderen Fabriken arbeiteten, in einen Streik geführt, der sich gegen eben jene Probleme richtete, die die Ursachen der Feuerkatastrophe waren. Die Streikposten wurden von Wachleuten der Firmen drangsaliert. Die Stadt schaute dem gleichgültig zu. Nach dem Brand gab es einen kollektiven Wutausbruch, der von einem kollektiven Schuldgefühl darüber genährt wurde, dass die Menschen einfach selbstbezogen vor sich hin gelebt hatten und von den Lebensumständen und dem Leid der Menschen um sie herum nichts wissen wollten. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie verstört die Menschen überall waren«, erinnerte sich Frances Perkins. »Es war so, als hätten wir alle etwas Unrechtes getan. Es hätte nicht passieren dürfen. Es tat uns leid. Mea culpa! Mea culpa!«31

Ein großer Gedenkmarsch wurde abgehalten und anschließend eine Versammlung mit allen führenden Bürgern der Stadt. Perkins stand als Vertreterin der Consumers’ League auf dem Podium, als die Gewerkschafterin Rose Schneiderman die Menschenmenge elektrisierte: »Ich würde Verrat an diesen armen verbrannten Leichen begehen, wenn ich hierherkommen würde, um von enger Verbundenheit zu sprechen. Wir haben euch, liebe und ehrenwerte Mitmenschen, auf die Probe gestellt – und ihr habt euch als unzulänglich erwiesen!«

Die alte Inquisition hatte ihre Streckbank und ihre Daumenschrauben und ihre Folterwerkzeuge mit Eisenzacken. Wir wissen, was diese Dinge heute sind: die Eisenzacken sind unsere lebensnotwendigen Güter, die Daumenschrauben sind die leistungsstarken, rasend schnellen Maschinen, neben denen wir arbeiten müssen, und die Folterbank ist hier in den Feuerfallen der Gebäude, die uns in derselben Minute vernichten, in der sie Feuer fangen […]

Wir haben euch auf die Probe gestellt, Mitbürger! Wir stellen euch jetzt auf die Probe, und ihr habt als mildtätige Gabe ein paar Dollar für die trauernden Mütter und Brüder und Schwestern übrig.

Aber jedes Mal, wenn die Arbeiterinnen in Streik treten, weil dies die einzige Möglichkeit ist, die sie kennen, um gegen unerträgliche Verhältnisse zu protestieren, lässt man es zu, dass uns die starke Hand des Gesetzes gewaltsam niederdrückt […] Ich kann zu euch, die ihr hier versammelt seid, nicht von Kameradschaft sprechen. Zu viel Blut ist vergossen worden!32

Der Brand und seine Nachbeben hinterließen tiefe Spuren in Frances Perkins. Bis dahin hatte sie sich für Arbeitnehmerrechte und die Armen eingesetzt, aber sie hatte einen konventionellen Lebensweg eingeschlagen, der sie, vielleicht, zu einer konventionellen Ehe und einem Leben vornehmer guter Werke geführt hätte. Jedoch nach dem Brand wurde das, was eine Karriere gewesen war, zu einer Berufung.