Charles Dickens: Oliver Twist - Charles Dickens - E-Book

Charles Dickens: Oliver Twist E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Als Waisenkind läuft der kleine Oliver aus dem Armenhaus fort und taucht in den düsteren Gassen Londons unter, wo Armut und Verbrechen regieren. Dort gerät er in die Fänge des undurchsichtigen Fagin und seiner Diebesbande – doch selbst in dieser Schattenwelt bewahrt sich Oliver seine unerschütterliche Menschlichkeit. In den unbarmherzigen Straßen der Metropole prallen zwei Welten aufeinander: die harte Realität des viktorianischen London und die reine Seele eines Jungen, der trotz aller Widrigkeiten an das Gute glaubt. Zwischen kriminellen Machenschaften und moralischen Abgründen sucht Oliver seinen Weg, getragen von der Hoffnung auf wahre Zuneigung und einem besseren Leben. In seinem Meisterwerk "Oliver Twist" erschafft Charles Dickens nicht nur ein faszinierendes Porträt der englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sondern erzählt auch eine zeitlose Geschichte über die Kraft der Menschlichkeit und den Triumph des Guten über alle Hindernisse hinweg.

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Charles Dickens

Oliver Twist

Vollständige deutsche Original-Ausgabe

Copyright © 2024 Novelaris Verlag

ISBN: 978-3-68931-092-9

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Neununddreißigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Vierundvierzigstes Kapitel

Fünfundvierzigstes Kapitel

Sechsundvierzigstes Kapitel

Siebenundvierzigstes Kapitel

Achtundvierzigstes Kapitel

Neunundvierzigstes Kapitel

Fünfzigstes Kapitel

Einundfünfzigstes Kapitel

Zweiundfünfzigstes Kapitel

Dreiundfünfzigstes und letztes Kapitel

Cover

Table of Contents

Text

Erstes Kapitel

Handelt von dem Orte, an dem Oliver Twist geboren wurde, und von den seine Geburt begleitenden Umständen.

Eine Stadt, die ich aus gewissen Gründen nicht näher bezeichnen will, der ich aber auch keinen erdichteten Namen beilegen möchte, besitzt unter anderen öffentlichen Gebäuden gleich den meisten anderen Städten, sie mögen groß oder klein sein, von altersher ein Armenhaus, und in diesem wurde an einem Tage, dessen genaues Datum für den Leser kein besonderes Interesse hat, das Mitglied der sterblichen Menschheit geboren, dessen Name in der Überschrift dieses Kapitels angegeben ist.

Lange Zeit, nachdem der Geburtsarzt ihn in diese Welt der Mühen und Sorgen befördert hatte, blieb es äußerst zweifelhaft, ob er lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es war nämlich tatsächlich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, Oliver dahin zu bringen, daß er sich der Aufgabe, Atem zu holen, selbst unterzog – einem mühsamen Geschäfte, das die Gewohnheit uns aber freilich zu einer notwendigen Lebensbedingung gemacht hat; eine Zeitlang lag er nach Luft schnappend auf einer kleinen Matratze aus Schafwolle und schien sich in der Schwebe zwischen dieser und jener Welt zu befinden, wobei die Wage sich entschieden zugunsten der letzteren neigte. Wenn Oliver während dieser kurzen Zeit von sorglichen Großmüttern, geschäftigen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelahrten Doktoren umgeben gewesen wäre, so würde er natürlich die Stunde nicht überlebt haben; allein es war niemand in seiner Nähe, außer einer alten Frau, die sich infolge des ungewohnten Genusses von Bier in einer etwas angeheiterten Stimmung befand, und dem Kirchspielwundarzte, der die Geburtshilfe kontraktmäßig leistete. Oliver und die Natur fochten also die Sache zwischen sich ganz allein aus, und die Folge davon war, daß nach kurzem Kampfe Oliver atmete, nieste und endlich den Insassen des Armenhauses die Tatsache ankündigte, daß dem Kirchspiele eine neue Last aufgebürdet worden sei, indem er ein so lautes Geschrei erhob, wie man es füglicherweise von einem neugeborenen Knaben erwarten konnte.

Als Oliver diesen ersten Beweis von der freien und selbständigen Tätigkeit seiner Lungen gab, bewegte sich die geflickte Decke, die nachlässig über die eiserne Bettstelle gebreitet war; das bleiche Antlitz einer jungen Frau erhob sich matt von dem harten Pfühle, und eine schwache Stimme brachte mühsam die Worte hervor: „Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.“

Der Wundarzt, der vor dem Kamine saß und seine Hände abwechselnd an dem Feuer wärmte und rieb, erhob sich bei den Worten der jungen Frau, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit im Tone, als man ihm zugetraut haben würde: „O, Sie dürfen jetzt nicht vom Sterben sprechen.“

„Der Herr segne ihr gutes Herzchen, nein!“ unterbrach ihn die Wärterin, indem sie eine grüne Glasflasche, von deren Inhalt sie in einer verschwiegenen Ecke mit sichtlichem Behagen gekostet hatte, rasch in die Tasche steckte. „Der Herr segne ihr gutes Herzchen; wenn sie erst so alt geworden ist wie ich und dreizehn Kinder gehabt hat und alle sind tot bis auf zwei, die zusammen mit mir im Armenhause sind, so wird sie schon auf andere und vernünftigere Gedanken kommen; der Herr segne ihr gutes Herzchen. Bedenken Sie nur, Frauchen, was es heißt, Mutter eines so süßen kleinen Lämmchens zu sein.“

Diese tröstlichen Worte schienen ihre Wirkung zu verfehlen. Die Wöchnerin schüttelte den Kopf und streckte die Arme nach dem Kinde aus. Der Wundarzt reichte es ihr, sie küßte es, heftig erregt, mit den kalten weißen Lippen auf die Stirn, fuhr mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild umher, schauderte, sank zurück – und starb.

„‘s ist aus mit ihr,“ sagte der Wundarzt nach einigen vergeblichen Bemühungen, sie wieder zum Leben zurückzubringen.

„Das arme Kind!“ sagte die Wärterin, indem sie den Pfropfen der grünen Flasche aufhob, der auf das Kissen gefallen war, als sie sich niederbeugte, um das Kind aufzunehmen. „Armes Kind!“

„Sie brauchen nicht zu mir zu schicken, wenn das Kind schreit,“ fuhr der Wundarzt fort, während er kaltblütig seine Handschuhe anzog. „Es wird wahrscheinlich sehr unruhig sein; geben Sie ihm dann ein wenig Hafergrütze.“

Er setzte den Hut auf, trat aber noch einmal an das Bett und sagte: „Die Mutter sah gut aus; woher kam sie?“

„Sie wurde gestern abend gebracht,“ erwiderte die Wärterin, „auf Befehl des Direktors. Man hatte sie auf der Straße liegend gefunden, und sie muß ziemlich weit hergewandert sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen; aber woher sie kam, oder wohin sie wollte, das weiß niemand.“

Der Wundarzt beugte sich über die Verblichene, hob die rechte Hand derselben empor und bemerkte kopfschüttelnd: „Die alte Geschichte; kein Trauring, wie ich sehe. Hm! gute Nacht!“

Er ging zu seinem Abendessen, und die Wärterin setzte sich, nachdem sie sich noch einmal an der grünen Flasche erlabt hatte, auf einen Stuhl in der Nähe des Feuers und begann das Kind anzukleiden. Bis zu diesem Augenblicke hätte man nicht sagen können, ob es das Kind eines Edelmanns oder eines Bettlers sei; das dürftige, verwaschene Kinderzeug des Armenhauses bezeichnet indes sogleich seine gegenwärtige und zukünftige Stellung in der Welt, sein ganzes Schicksal, als Kirchspielkind – Waise des Armenhauses, halb verhungert und unter Mühe und Plackerei, verachtet von allen, bemitleidet von niemand, durch die Welt geknufft und gestoßen zu werden.

Oliver schrie mit kräftiger Stimme; hätte er wissen können, daß er eine Waise war, überliefert der zärtlichen Fürsorge von Kirchenältesten und Kirchenvorstehern, so würde er vielleicht noch lauter geschrien haben.

Zweites Kapitel

Handelt von Oliver Twists Heranwachsen und kümmerlicher Ernährung sowie von einer Sitzung des Armenkollegiums.

Während der nächsten acht bis zehn Monate war Oliver das Opfer einer systematischen Gaunerei und Betrügerei. Er wurde aufgepäppelt. Die elende und verlassene Lage der kleinen Waise wurde von der Behörde des Armenhauses pflichtschuldigst der des Kirchspiels gemeldet. Die letztere forderte von der ersteren würdevoll einen Bericht darüber ab, ob sich nicht in „dem Hause“ eine Frauensperson befände, die dem Kinde seine natürliche Nahrung reichen könnte. Die Behörde des Armenhauses beantwortete die Anfrage untertänigst mit nein, und daraufhin faßte die Kirchspielbehörde den hochherzigen Entschluß, Oliver in ein etwa drei Meilen entferntes Filialarmenhaus bringen zu lassen, wo zwanzig bis dreißig andere kleine Übertreter der Armengesetze unter der mütterlichen Aufsicht einer ältlichen Frau, welche für jeden derselben wöchentlich sieben und einen halben Penny erhielt, aufwuchsen, ohne zu gut genährt oder zu warm gekleidet und verzärtelt zu werden. Mit sieben und einem halben Penny läßt sich nicht viel beschaffen, und die Matrone war klug und erfahren. Sie wußte, wie leicht sich Kinder den Magen überladen können und was ihnen dient, ebenso genau aber auch, was ihr selbst gut war; sie verwendete daher einen beträchtlichen Teil des für die Kinder Bestimmten in ihrem eignen Nutzen, fand demnach in der tiefsten noch eine tiefere Tiefe und bewies somit, daß sie es in der Experimentalphilosophie wirklich weit gebracht hatte.

Jedermann kennt die Geschichte eines anderen Experimentalphilosophen, nach dessen ruhmwürdiger Theorie ein Pferd imstande war, ohne Nahrung zu leben, und der jene so vortrefflich demonstrierte, daß er sein eignes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte, und ohne Frage ein äußerst mutiges, kräftiges und gar nicht fressendes Tier aus ihm gemacht haben würde, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor seinem ersten komfortablen vollkommenen Hungertage gestorben wäre. Die mehrerwähnte Matrone wendete dasselbe System nicht selten mit gleichem Unglücke auf die Kirchspielkinder an, deren nicht wenige vor Kälte oder Hunger, oder weil sie einen Fall getan oder sich verbrannt hatten, starben und zu ihren Vätern in jener Welt, die sie in dieser nicht gekannt, versammelt wurden, wenn sie sie eben mit vieler Mühe so weit gebracht hatte, daß sie von der möglichst geringen Quantität möglichst schwacher Nahrungsmittel leben konnten.

Stellten die Direktoren unangenehme Untersuchungen über den Verbleib eines Kindes an oder taten die Geschworenen lästige Fragen, so schützten das Zeugnis und die Aussage des Wundarztes und des Kirchspieldieners gegen diese Zudringlichkeiten. Der erstere hatte stets die Leichen geöffnet und nichts darin gefunden (was sehr natürlich zuging), und der letztere beschwor stets, was dem Kirchspiel angenehm war, und gab damit einen großen Beweis von Selbstaufopferung und Hingebung. Das Armenkollegium besuchte von Zeit zu Zeit die Filialanstalt und schickte tags zuvor den Kirchspieldiener, um seine Ankunft zu verkünden. Und dann sahen die Kinder stets gut und reinlich aus, und was konnte man mehr verlangen?

Es war nicht zu verlangen, daß die in der Filiale herrschende Hausordnung ein allzu üppiges Gedeihen der Kinder beförderte, und so war auch Oliver Twist an seinem neunten Geburtstage ein blasses, schwächliches, im Wachstum zurückgebliebenes Kind, von sehr geringem Leibesumfange; doch wohnte in ihm ein gesunder, kräftiger Geist, der auch, dank der strengen Diät des Hauses, hinreichenden Raum hatte, sich auszudehnen. Oliver feierte seinen Geburtstag im Kohlenkeller in der erlesenen Gesellschaft zweier anderer junger Herren, die nach einer tüchtigen Tracht Schläge hier mit ihm eingesperrt worden waren, weil sie sich erkühnt hatten, hungrig zu sein, als Frau Mann, die gutherzige Pflegerin, durch die Erscheinung Mr. Bumbles, des Kirchspieldieners, der dem Gartenpförtchen zuschritt, in Schrecken gesetzt wurde.

„Du meine Güte, sind Sie es, Mr. Bumble?“ rief sie ihm aus dem Fenster, anscheinend hoch erfreut, entgegen. – „Susanne, bring’ gleich den Oliver und die andern beiden Buben herauf und wasch’ sie. Ach, Mr. Bumble, wie lange haben Sie sich nicht sehen lassen!“

Mr. Bumble war ein wohlbeleibter und dazu cholerischer Mann, und so rüttelte er, anstatt auf diese freundliche Begrüßung in höflicher Weise zu antworten, wütend an der kleinen Pforte und gab ihr dann einen Stoß, wie ihn nur ein Kirchspieldiener versetzen konnte.

„Herr des Himmels!“ rief Mrs. Mann, indem sie aus dem Zimmer stürzte – denn die drei Knaben waren inzwischen entfernt worden –, „daß ich es auch dieser lieben Kinder wegen vergessen mußte, daß die Tür von innen verriegelt ist. Treten Sie ein, Sir, bitte, treten Sie ein, Mr. Bumble! Haben Sie die Güte.“

Obgleich diese Einladung von einem freundlichen Lächeln begleitet war, das sogar das Herz eines Kirchenältesten erweicht haben würde, besänftigte es den Kirchspieldiener doch keineswegs.

„Nennen Sie das einen respektvollen oder schicklichen Empfang, Mrs. Mann,“ fragte Bumble, indem er seinen Stab fester in die Hand nahm, „wenn Sie die Kirchspielbeamten an Ihrer Gartenpforte warten lassen, wenn sie in Parochialangelegenheiten in betreff der Parochialkinder hierher kommen?“

„Ich kann Sie versichern, Mr. Bumble, daß ich nur ein paar der lieben Kinder bei mir hatte, wegen deren Sie so freundlich sind, herzukommen,“ erwiderte Mrs. Mann mit großer Unterwürfigkeit.

Mr. Bumble hegte eine hohe Meinung von seiner oratorischen Begabung und seiner Wichtigkeit. Er hatte die eine bewiesen und die andere gewahrt. Er war in milderer Stimmung.

„Nun, nun, Mrs. Mann,“ sagte er, „es mag sein, wie Sie sagen, es mag sein. Lassen Sie mich hinein, Mrs. Mann; ich komme in Geschäften und habe Ihnen etwas zu sagen.“

Mrs. Mann nötigte den Kirchspieldiener in ein kleines Sprechzimmer, bot ihm einen Stuhl an und legte dienstbeflissen seinen dreieckigen Hut und seinen Stab auf den Tisch vor ihm. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn, blickte freundlich auf den dreieckigen Hut und lächelte. Ja, er lächelte. Kirchspieldiener sind auch nur Menschen, und Mr. Bumble lächelte.

„Nehmen Sie es mir nicht übel, was ich Ihnen sagen will,“ bemerkte Mrs. Mann mit bezaubernder Liebenswürdigkeit. „Sie wissen, Sie haben einen weiten Weg hinter sich; wollen Sie nicht ein Gläschen nehmen?“

„Nicht einen Tropfen, nicht einen Tropfen,“ versetzte Mr. Bumble, indem er mit seiner rechten Hand in würdevoller, aber freundlicher Weise abwinkte.

„Ich denke, Sie werden mir schon den Gefallen tun,“ sagte Mrs. Mann, die den Ton der Weigerung und die diese begleitende Gebärde bemerkt hatte. „Nur ein ganz kleines Gläschen mit einem Schluck kalten Wassers und einem Stück Zucker.“

Mr. Bumble hustete.

„Nur ein ganz kleines Gläschen,“ wiederholte Mrs. Mann in dringendem Tone.

„Was ist es denn?“ fragte der Kirchspieldiener.

„Nun, es ist das, von dem ich etwas im Hause zu halten verpflichtet bin, um es den lieben Kindern in den Kaffee gießen zu können, wenn sie nicht wohl sind, Mr. Bumble,“ entgegnete Mrs. Mann, während sie ein Eckschränkchen öffnete und eine Flasche und ein Glas herausnahm. „Es ist Genever, ich will Sie nicht hintergehen, Mr. Bumble. Es ist Genever.“

„Geben Sie den Kindern Kaffee, Mrs. Mann?“ fragte Bumble, der mit seinen Augen den interessanten Vorgang der Mischung verfolgte.

„Ach, gesegne es ihnen Gott, ich tue es, so kostspielig es auch sein mag,“ versetzte die Wärterin. „Ich könnte sie vor meinen leiblichen Augen nicht leiden sehen, Sir, Sie wissen es ja.“

„Nein,“ sagte Mr. Bumble beistimmend; „nein, Sie könnten es nicht. Sie sind eine menschlich denkende Frau, Mrs. Mann.“ (Hier setzte sie das Glas vor ihn hin.) „Ich werde sobald wie möglich Gelegenheit nehmen, es dem Kollegium gegenüber zu erwähnen, Mrs. Mann.“ (Er zog das Glas näher zu sich heran.) „Sie empfinden wie eine Mutter.“ (Er ergriff das Glas.) „Ich – ich trinke mit Vergnügen auf Ihre Gesundheit, Mrs. Mann“; und er trank es zur Hälfte aus.

„Und nun zu den Geschäften!“ rief der Kirchspieldiener, indem er eine lederne Brieftasche hervorzog. „Der Knabe, der halb auf den Namen Oliver Twist getauft wurde, ist heut neun Jahre alt.“

„Des Himmels Segen über das liebe Herzchen!“ rief Mrs. Mann aus und mußte die Augen mit der Schürze abtrocknen.

Mr. Bumble fuhr fort: „Trotz ausgebotener Belohnung von zehn Pfund, ja nachher von zwanzig Pfund – trotz der übernatürlichen Anstrengungen des Kirchspiels, sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater ausfindig zu machen oderseiner Mutter Wohnung, Namen oder Stand in Erfahrung zu bringen.“

„Wie geht es denn aber zu, daß er einen Namen hat?“ fragte die Waisenmutter.

Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und erwiderte „Ich erfand ihn.“

„Sie, Mr. Bumble!“

„Ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsere Findlinge nach dem Alphabet. Der letzte war ein S – Swubble: ich benannte ihn. Dieser war ein T – Twist: ich gab ihm abermals den Namen. Der nächste, der kommen wird, wird Unwin heißen, der nächstfolgende Vilkins. Ich habe Namen im Vorrat von A bis Z; und wenn ich beim Z angekommen bin, fang’ ich beim A wieder an.“

„Sie sind wirklich ein Gelehrter, Mr. Bumble!“

„Mag sein, mag sein, Mrs. Mann. Doch genug davon. Oliver ist jetzt zu alt geworden zum Hierbleiben, das Kollegium hat beschlossen, ihn zurückzunehmen, ich bin selbst gekommen, ihn abzuholen; – wo ist er?“

Mrs. Mann eilte hinaus und erschien gleich darauf mit Oliver wieder, der unterdes gewaschen und bestens gekleidet war.

„Mach ‘nen Diener vor dem Herrn, Oliver,“ sagte sie.

Oliver verbeugte sich tief vor dem Kirchspieldiener auf dem Stuhle und dem dreieckigen Hute auf dem Tische.

„Willst du mit mir gehen, Oliver?“ redete ihn Mr. Bumble in feierlichem Tone an.

Oliver war im Begriff, zu antworten, daß er auf das bereitwilligste mit jedermann fortgehen würde, hob aber zufällig die Augen zu Mrs. Mann empor, die hinter des Kirchspieldieners Stuhl getreten war und mit grimmigen Mienen die Faust schüttelte. Er wußte nur zu gut, was das bedeutete.

„Geht sie auch mit?“ fragte er.

„Das ist unmöglich; sie wird aber bisweilen kommen und dich besuchen,“ erwiderte Bumble.

Das war kein großer Trost für Oliver; allein er hatte trotz seiner Jugend Verstand genug, sich anzustellen, als verließe er das Haus nur sehr ungern; ohnehin standen ihm die Tränen infolge des Hungers und soeben erfahrener harter Züchtigung nahe genug. Mrs. Mann umarmte ihn wiederholt und gab ihm, was er am meisten bedurfte, ein großes Stück Butterbrot, damit er im Armenhause nicht zu hungrig anlangte. Die Sache war natürlich abgemacht. Sein Butterbrot in der Hand, verließ er die Stätte, wo kein Strahl eines freundlichen Blickes das Dunkel seiner ersten Kinderjahre erhellt hatte. Und doch brach er in Tränen kindlichen Schmerzes aus, als das Gartentor sich hinter ihm schloß. Verließ er doch seine Leidensgefährten, die einzigen Freunde, die er in seinem Leben gekannt hatte; und zum erstenmal, seit dem Erwachen seines Bewußtseins, empfand er ein Gefühl seiner Verlassenheit in der großen weiten Welt. Mr. Bumble schritt kräftig vorwärts; der kleine Oliver trabte neben ihm her und fragte am Ende jeder Meile, ob sie nicht bald „da“ sein würden. Auf diese Fragen gab Mr. Bumble sehr kurze und mürrische Antworten; denn die zeitweilige Milde, die der Genuß von Genever und Wasser in manchen Gemütern erzeugt, war längst verflogen, und er war wiederum Kirchspieldiener.

Oliver war noch nicht eine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Armenhauses gewesen und hatte kaum ein zweites Stück Brot vertilgt, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau übergeben hatte, zurückkehrte. Er erklärte ihm, daß heut abend eine Sitzung des Armenkollegiums stattfände und daß er sofort vor diesem zu erscheinen habe.

Oliver, der keine allzu klare Vorstellung von dem hatte, was ein Armenkollegium zu bedeuten habe, war von dieser Mitteilung wie betäubt und wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er hatte jedoch keine Zeit, über diesen Punkt nachzudenken; denn Mr. Bumble versetzte ihm mit seinem Stabe einen Schlag auf den Kopf, um ihn aufzuwecken, und einen anderen über den Rücken, um ihn munter zu machen. Dann befahl er ihm, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, in dem acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch herumsaßen. Oben am Tische saß in einem Armstuhl, der höher war als die übrigen, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte.

„Mache dem Kollegium eine Verbeugung,“ sagte Bumble. Oliver zerdrückte zwei oder drei Tränen in seinen Augen, und da er kein Kollegium, sondern nur den Tisch sah, so machte er vor diesem eine wohlgelungene Verbeugung.

„Wie heißt du, Junge?“ begann der Herr auf dem großen Stuhle.

Oliver zitterte, denn der Anblick so vieler Herren brachte ihn gänzlich außer Fassung; Bumble suchte ihn durch eine kräftige Berührung mit dem Kirchspieldienerstabe zu beleben, und er fing an zu weinen. Er antwortete daher leise und zögernd, worauf ihm ein Herr in weißer Weste zurief, er wäre ein dummer Junge, was ein vortreffliches Mittel war, ihm Mut einzuflößen.

„Junge,“ sagte der Präsident, „höre, was ich dir sage. Du weißt doch, daß du eine Waise bist?“

„Was ist denn das, Sir?“ fragte der unglückliche Oliver.

„Er ist in der Tat ein dummer Junge – ich sah es gleich,“ sagte der Herr mit der weißen Weste sehr bestimmt.

„Du wirst doch wissen,“ nahm der Herr wieder das Wort, der zuerst gesprochen hatte, „daß du weder Vater noch Mutter hast und vom Kirchspiel erzogen wirst?“

„Ja, Sir,“ antwortete Oliver, bitterlich weinend.

„Was heulst du?“ fragte der Herr mit der weißen Weste; und es war in der Tat höchst auffallend, daß Oliver weinte. Was konnte er denn für eine Veranlassung dazu haben?

„Ich hoffe doch, daß du jeden Abend dein Gebet hersagst,“ fiel ein anderer Herr in barschem Tone ein, „und für diejenigen, die dir zu essen geben und für dich sorgen, betest, wie es sich für einen Christenmenschen ziemt.“

„Ja, Sir,“ stotterte Oliver.

„Wir haben dich hierher bringen lassen,“ sagte der Präsident, „damit du erzogen werden und ein nützliches Geschäft lernen sollst. Du wirst also morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen.“

Für die Vereinigung dieser beiden Wohltaten in der einfachen Beschäftigung des Wergzupfens machte Oliver unter Nachhilfe des Kirchspieldieners eine tiefe Verbeugung und ward dann eiligst in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einem rauhen, harten Bette in den Schlaf weinte. Welch ein ehrenvolles Licht fällt hierdurch auf die milden Gesetze Englands! Sie gestatten den Armen, zu schlafen!

Armer Oliver! Als er so in glücklicher Unbewußtheit seiner ganzen Umgebung schlafend dalag, dachte er nicht daran, daß das Kollegium an ebendemselben Tage zu einer Entscheidung gelangt war, die den größten Einfluß auf seine künftigen Geschicke ausüben sollte. Die Sache verhielt sich nämlich folgendermaßen: Die Mitglieder des Kollegiums waren sehr weise, den Dingen auf den Grund gehende, philosophisch gebildete Männer, und als sie dazu kamen, ihre Aufmerksamkeit dem Armenhause zuzuwenden, fanden sie mit einem Male, was gewöhnliche Sterbliche niemals entdeckt hatten. Den Armen gefiel es darin nur zu gut! Es war ein regelrechter Unterschlupfsort für die ärmeren Klassen, ein Gasthaus, in dem man nichts zu bezahlen hatte – ein Ort, an dem man das ganze Jahr hindurch auf öffentliche Kosten das Frühstück, das Mittagessen, den Tee und das Abendbrot einnehmen konnte – ein Elysium aus Ziegeln und Mörtel, in dem nur gescherzt und gespielt, aber nicht gearbeitet wurde. „Oho,“ sagte das Kollegium, „wir sind die richtigen Männer, um hier Ordnung zu schaffen!“ So ordneten sie denn an, daß alle Armen die Wahl haben sollten (denn sie wollten um alles in der Welt niemand zwingen), langsam in oder rasch außer dem Hause zu verhungern. In dieser Absicht schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und mit einem Getreidehändler einen ebensolchen über die in großen Zwischenräumen erfolgenden Lieferungen von kleinen Mengen Hafermehl ab und gaben täglich drei Portionen eines dünnen Mehlbreis aus; außerdem wurde zweimal wöchentlich eine Zwiebel und des Sonntags eine halbe Semmel gereicht.

Die ersten sechs Monate nach der Aufnahme Oliver Twists war das System in vollem Gange. Das Gemach, in welchem die Knaben gespeist wurden, war eine Art Küche, und der Speisemeister, unterstützt von ein paar Frauen, teilte ihnen aus einem kupfernen Kessel am unteren Ende ihre Haferbreiportionen zu, einen Napf voll und nicht mehr, ausgenommen an Sonn- und Feiertagen, wo sie auch noch ein nicht eben zu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht gewaschen zu werden, denn sie wurden mit den Löffeln der Knaben so lange poliert, bis sie wieder vollkommen blank waren; und auch an den Löffeln und Fingern blieben Speisereste niemals hängen. Kinder pflegen eine vortreffliche Eßlust zu besitzen. Oliver und seine Kameraden hatten drei Monate die Hungerdiät ausgehalten, vermochten sie nun aber nicht länger mehr zu ertragen. Ein für sein Alter sehr großer Knabe, dessen Vater ein Garkoch gewesen, erklärte den übrigen, daß er, wenn er nicht täglich zwei Näpfe Haferbrei bekomme, fürchten müsse, über kurz oder lang seinen Bettkameraden, einen kleinen, schwächlichen Knaben, aufzuessen. Seine Augen waren verstört und rollten wild. Die halbverhungerte Schar glaubte ihm, hielt einen Rat, loste darum, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle, und das Los traf Oliver Twist.

Der Abend kam, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, der Haferbrei wurde ausgefüllt und ein breites Gebet über der schmalen Kost gesprochen. Die letztere war verschwunden, die Knaben flüsterten untereinander, winkten Oliver, und die zunächst Sitzenden stießen ihn an. Der Hunger ließ ihn alle Bedenklichkeiten und Rücksichten vergessen. Er stand auf, trat mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hin und sagte, freilich mit ziemlichem Beben: „Bitt’ um Vergebung, Sir, ich möchte noch ein wenig.“

Der wohlgenährte, rotwangige Speisemeister erblaßte, starrte den kleinen Rebellen wie betäubt vor Entsetzen an und mußte sich am Kessel festhalten. Die Frauen waren vor Erstaunen, die Knaben vor Schreck sprachlos. „Was willst du?“ fragte der Speisemeister endlich mit schwacher Stimme. Oliver wiederholte unter Furcht und Zittern seine Worte, und nunmehr ermannte sich der Speisemeister, schlug ihn mit dem Löffel auf den Kopf und rief laut nach dem Kirchspieldiener.

Das Armenkollegium war eben versammelt, als Mr. Bumble in großer Erregung hereinstürzte und, zu dem Herrn auf dem hohen Stuhle gewandt, sagte: „Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir! Oliver Twist hat mehr gefordert.“

Das Kollegium war starr. Entsetzen über eine solche Frechheit malte sich auf allen Gesichtern.

„Mehr!“ erwiderte Mr. Limbkins. „Fassen Sie sich, Bumble, und antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht, daß er mehr gefordert hat, nachdem er die von dem Direktorium festgesetzte Portion verzehrt hatte?“

„Jawohl, Sir,“ entgegnete Bumble.

„Denken Sie an mich, Gentlemen,“ sagte der Herr mit der weißen Weste, „der Knabe wird dereinst gehängt werden.“

Niemand widersprach dieser Prophezeiung. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Oliver wurde auf Befehl des Kollegiums sofort eingesperrt und am nächsten Morgen wurde ein Anschlag an die Außenseite des Tores geklebt, in dem jedermann, der Oliver Twist zu sich nehmen wollte, die Summe von fünf Pfund zugesprochen wurde – mit anderen Worten, man bot Oliver Twist um fünf Pfund an jedermann aus, sei es Mann oder Frau, der einen Lehrling oder Laufburschen brauchte, gleichviel wer und in welchem Handwerke oder Geschäfte.

Drittes Kapitel

Berichtet, wie Oliver Twist nahe daran war, eine Anstellung zu bekommen, welche keine Sinekure gewesen wäre.

Wenn es Oliver darum zu tun gewesen wäre, die Prophezeiungen des Herrn mit der weißen Weste selbst wahr zu machen, so hätte er zum wenigsten Zeit genug dazu gehabt; denn er blieb acht Tage lang eingesperrt. Allein um sich im Gefängnis zu erhängen, fehlte ihm erstlich ein Taschentuch – denn Taschentücher waren als Luxusartikel verpönt – und zweitens war er noch zu sehr Kind. Er weinte daher nur den langen Tag über, und wenn die lange, grausige Nacht kam, so deckte er seine Händchen über seine Augen, um nicht in die Dunkelheit starren zu müssen, kroch in einen Winkel und versuchte zu schlafen. Aber immer und immer wieder fuhr er vor Angst und Entsetzen aus seinem unruhigen Schlummer empor und drängte sich dichter und dichter an die Wand heran, als wäre selbst ihre kalte, harte Fläche ein Schutz für ihn in der Finsternis und Einsamkeit, die ihn rings umgaben.

Es war indes dafür gesorgt, daß es ihm an Leibesbewegung, Gesellschaft und religiösem Troste nicht mangelte.

Was die Leibesübungen betrifft, so war es schönes, kaltes Wetter, und er durfte seine Waschungen jeden Morgen unter der Pumpe in einem gepflasterten Hofe vornehmen in der Gegenwart Herrn Bumbles, der durch wiederholte Anwendungen seines Stabes dafür sorgte, daß er sich nicht erkältete und daß eine prickelnde Empfindung seinen Körper durchlief. Was die Gesellschaft betrifft, so wurde er jeden zweiten Tag in den Saal geführt, wo die Knaben ihr Mittagbrot verzehrten und wo er vor deren Augen zum warnenden Beispiel ausgepeitscht wurde. Und weit entfernt, daß ihm die Segnungen des religiösen Zuspruchs vorenthalten worden wären, wurde er vielmehr jeden Abend zur Gebetsstunde in denselben Raum gestoßen; hier durfte er zuhören und seinem Gemüte Tröstung zuführen, da auf Anordnung des Kollegiums ein allgemeines Gebet der Knaben eingefügt worden war, das eine besondere Klausel enthielt, in der sie zu Gott flehten, er möge sie gut, tugendhaft, zufrieden und gehorsam machen und vor der Sündhaftigkeit und Lasterhaftigkeit Oliver Twists bewahren.

Während Olivers Angelegenheiten sich in diesem vielversprechenden und günstigen Zustande befanden, ereignete es sich eines Morgens, daß der Schornsteinfegermeister Mr. Gamfield auf der Landstraße langsam seines Weges zog, in tiefem Sinnen über die Mittel und Wege, wie er seine Miete, wegen deren er von seinem Hauswirt schon zu wiederholten Malen gemahnt worden war, bezahlen sollte. Mr. Gamfield mochte den Stand seiner Finanzen noch so sanguinisch betrachten: es fehlten ihm immer noch fünf Pfund an der nötigen Summe, und in einer Art arithmetischer Verzweiflung zermarterte er sein Gehirn und mißhandelte seinen Esel, als er am Armenhause angelangt, den Anschlag am Tore erblickte.

„Brrr!“ sagte Mr. Gamfield zu dem Esel.

Der Esel war ebenfalls in tiefes Nachdenken versunken und beschäftigte sich wahrscheinlich gelegentlich mit der Frage, ob er einen oder zwei Kohlstrünke erhalten würde, wenn er die beiden Säcke Ruß, mit denen der kleine Karren beladen war, an Ort und Stelle gebracht hätte, und so trottete er denn weiter, ohne auf den Zuruf seines Herrn zu achten.

Mr. Gamfield stieß halblaut einen schweren Fluch aus, rannte dem Esel nach und gab ihm einen Schlag auf den Kopf, der jeden anderen Schädel, ausgenommen den eines Esels, zertrümmert haben würde. Dann ergriff er den Zügel und riß scharf an dem Kinnbacken des Tieres, um ihm in zarter Weise zu Gemüte zu führen, daß er nicht sein eigner Herr sei; durch diese Mittel gelang es ihm, den Esel herumzulenken. Dann gab er ihm einen zweiten Schlag auf den Kopf, um ihn bis zu seiner Rückkehr zu betäuben, und schritt, nachdem er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte, auf das Tor zu, um den Anschlag zu lesen.

Der Herr mit der weißen Weste stand, die Arme auf dem Rücken gekreuzt, vor dem Tore, nachdem er in dem Beratungszimmer einige tiefempfundene Wahrheiten zum besten gegeben hatte. Er hatte den kleinen Zwist zwischen Mr. Gamfield und dem Esel beobachtet und lächelte höchst vergnügt, als der Mann näher trat, um den Anschlag zu lesen, da er auf den ersten Blick sah, daß Mr. Gamfield gerade der richtige Lehrherr für Oliver sei. Auch Mr. Gamfield lächelte, als er das Schriftstück las, denn fünf Pfund waren gerade die Summe, die er brauchte, und was den Knaben betrifft, den er dazunehmen sollte, so wußte Mr. Gamfield, dem es bekannt war, welcher Art die Kost im Armenhause war, daß es sich um einen ganz kleinen, schmächtigen Kerl handeln würde, wie geschaffen für die neuen Patentschornsteine. Daher las er den Anschlag noch einmal von Anfang bis zu Ende durch, faßte als Beweis für seine Höflichkeit an seine Pelzmütze und wandte sich an den Herrn in der weißen Weste.

„Dieser Junge hier, den das Armenhaus als Lehrling vergeben will …“ begann Mr. Gamfield.

„Ach, lieber Mann,“ erwiderte der Mann in der weißen Weste herablassend, „was ist mit ihm?“

„Wenn das Kirchspiel ihn ein leichtes, angenehmes Handwerk, das achtungswerte Schornsteinfegerhandwerk, erlernen lassen will, so brauche ich einen Lehrling und bin bereit, ihn zu nehmen.“

„Treten Sie näher,“ entgegnete der Mann in der weißen Weste. Mr. Gamfield lief erst noch einmal zurück, um dem Esel noch einen Schlag vor den Kopf zu versetzen und am Zaume zu reißen, als Warnung, er möge es sich nicht etwa einfallen lassen, in seiner Abwesenheit durchzugehen, und folgte dann dem Herrn mit der weißen Weste in das Zimmer, wo Oliver diesen zuerst gesehen hatte.

„Es ist ein schmutziges Gewerbe,“ erwiderte Mr. Limbkins, als Mr. Gamfield seinen Wunsch abermals vorgebracht hatte.

„Es ist auch schon vorgekommen, daß Knaben in den Schornsteinen erstickt sind,“ sagte ein anderer Herr.

„Das kam nur daher,“ versetzte Gamfield, „daß man das Stroh naß machte, ehe man es im Kamin anzündete, um die Jungen herunterzuholen; es gab nur Rauch, aber keine Flamme. Rauch aber ist ganz unzweckmäßig, um einen Jungen herunterzuholen, denn er veranlaßt ihn nur zum Schlafen, und das eben ist es, was er will. Jungens sind widerspenstig und faul, meine Herren, und ein gutes Feuer ist das beste Mittel, sie rasch zum Herunterkommen zu bringen. Es ist auch ein ganz humanes Mittel, denn wenn sie in der Esse stecken geblieben sind, so arbeiten sie, wenn sie sich die Füße verbrennen, aus Leibeskräften, sich loszumachen.“

Der Herr in der weißen Weste schien sich über diese Erklärung höchlich zu belustigen, aber seine Heiterkeit wurde durch einen strafenden Blick, den ihm Mr. Limbkins zuwarf, sofort gedämpft. Die Direktoren berieten nun ein paar Minuten miteinander, aber in so leisem Tone, daß nur die Worte „Ersparnis“ und „guten Eindruck bei der Abrechnung“, die mit großem Nachdruck mehrmals wiederholt wurden, hörbar waren. Endlich hörte das Geflüster wieder auf, und Mr. Limbkins begann, nachdem die Herren mit feierlicher Miene wieder ihre Plätze eingenommen hatten: „Wir haben Ihren Vorschlag in Erwägung gezogen, können ihn aber nicht annehmen.“

„Unter keinen Umständen,“ fiel der Herr in der weißen Weste ein.

„Ganz entschieden nicht,“ erklärten die übrigen Mitglieder des Kollegiums.

Da auf Mr. Gamfield der leise Verdacht ruhte, daß schon drei bis vier Knaben in seinem Geschäfte das Leben eingebüßt hatten, so kam ihm der Gedanke, das Kollegium könnte vielleicht in einer ganz unbegreiflichen Laune daran Anstoß genommen haben. Bei der Art ihrer Geschäftsführung war dies zwar ganz unwahrscheinlich; da er aber keinen besonderen Wunsch hegte, diesem Gerüchte neue Nahrung zuzuführen, so drehte er seine Mütze in den Händen und entfernte sich langsam von dem Tische.

„So wollen Sie mir ihn also nicht überlassen, meine Herren?“ fragte Gamfield, an der Tür stehen bleibend.

„Nein,“ erwiderte Mr. Limbkins; „wenigstens sind wir der Meinung, Sie müßten mit einer geringeren als der ausgesetzten Summe zufrieden sein, da es doch ein gar zu schmutziges Gewerbe ist.“

Mr. Gamfields Gesicht strahlte, als er rasch an den Tisch zurückkehrte und sagte: „Was wollen Sie geben, meine Herren? Seien Sie doch nicht zu hart gegen einen armen Mann!“

„Ich sollte meinen, drei Pfund zehn Schillinge wären übergenug,“ gab Mr. Limbkins zur Antwort.

„Zehn Schilling zu viel,“ warf der Herr in der weißen Weste ein.

„Nun,“ versetzte Gamfield, „sagen wir vier Pfund, meine Herren. Sagen wir vier Pfund, und Sie sind ihn auf immer los.“

„Drei Pfund zehn Schilling,“ versetzte Mr. Limbkins fest.

„Wir wollen den Unterschied teilen, meine Herren, drei Pfund fünfzehn Schillinge.“

„Nicht einen Pfennig mehr,“ lautete die feste Entgegnung Mr. Limbkins’.

„Sie sind verdammt hart gegen mich, meine Herren,“ versetzte Gamfield niedergeschlagen.

„Ach, Unsinn,“ erwiderte der Herr in der weißen Weste. „Es ist ein gutes Geschäft, selbst wenn Sie gar nichts dazu bekommen. Nehmen Sie ihn nur, guter Mann. Er ist gerade der richtige Junge für Sie. Er braucht ab und zu den Stock; das wird ihm sehr gesund sein, und seine Beköstigung braucht auch nicht sehr kostspielig zu werden, denn er ist nicht sehr verwöhnt worden, seit er hier geboren wurde. Ha, ha, ha!“

Mr. Gamfield blickte scheu auf die Herren rund um den Tisch, und da er auf den Gesichtern aller ein Schmunzeln bemerkte, lächelte er ebenfalls. Der Handel wurde geschlossen, und Mr. Bumble erhielt sofort den Befehl, Oliver Twist am Nachmittag dem Friedensrichter zur amtlichen Bestätigung des Lehrvertrages vorzuführen.

Demgemäß wurde der kleine Oliver zu seinem maßlosen Erstaunen aus seinem Kerker befreit und erhielt den Befehl, ein frisches Hemd anzuziehen. Er hatte kaum diese ungewohnte gymnastische Übung beendet, als Mr. Bumble ihm eigenhändig einen Napf Hafergrütze und das sonntägliche Deputat Brot brachte. Bei diesem furchtbaren Anblick begann Oliver bitterlich zu weinen, denn er dachte ganz natürlich nicht anders, als daß ihn das Kollegium zu irgendeinem nützlichen Zwecke schlachten lassen wolle, denn sonst hätte es wohl schwerlich angefangen, ihn in dieser Weise fett zu machen.

„Heul’ dir die Augen nicht rot, Oliver, sondern iß und sei dankbar,“ sagte Mr. Bumble in würdevollem Tone. „Du sollst in die Lehre gegeben werden.“

„In die Lehre?“ fragte das Kind zitternd.

„Jawohl, Oliver,“ erwiderte Mr. Bumble. „Die gütigen Herren, die ebenso viele Eltern für dich sind, da du keine eigenen hast, wollen dich in die Lehre geben, damit du im Leben auf deinen eigenen Füßen stehen kannst, und wollen einen Mann aus dir machen, obgleich die Summe, die das Kirchspiel dafür zu bezahlen hat, drei Pfund zehn Schilling beträgt – drei Pfund zehn Schilling, Oliver! siebzig Schillinge – einhundertundvierzig Sixpences! und all das für so ein ungeratenes Waisenkind, das niemand leiden kann.“

Als Mr. Bumble in seiner Rede innehielt, um Atem zu schöpfen, rollten die Tränen dem armen Kinde die Wangen hinunter, und es schluchzte bitterlich.

„Nun, laß gut sein, Oliver,“ sagte Mr. Bumble etwas weniger würdevoll, denn er war mit der Wirkung seiner Beredsamkeit zufrieden. „Wisch dir die Augen mit den Ärmeln deiner Jacke und weine nicht in deine Hafergrütze. Das ist Dummheit.“ Das war es sicherlich, denn es befand sich schon genügend Wasser darin.

Auf dem Wege zum Friedensrichter schürfte Bumble Oliver auf das eindringlichste ein, daß alles, was er zu tun hätte, darin bestünde, recht glücklich auszusehen, und wenn der alte Herr ihn frage, ob er in die Lehre gehen wolle, zu antworten, er freue sich schon sehr darauf. Oliver versprach, beiden Weisungen nachzukommen, um so mehr als Mr. Bumble ihm in einem freundlichen Hinweise androhte, es würde ihm sonst sehr schlecht ergehen. An Ort und Stelle angelangt, wurde er in ein kleines Zimmer eingeschlossen, und Mr. Bumble sagte ihm, er solle hier bleiben, bis er wiederkäme und ihn abholte.

So blieb denn der Knabe mit klopfendem Herzen eine halbe Stunde allein. Nach deren Verlauf steckte Bumble seinen bloßen, nicht mit dem dreieckigen Hut geschmückten Kopf herein und sagte laut: „Nun Oliver, mein Kind, komme jetzt zu dem Herrn!“

Während Mr. Bumble dies sagte, warf er dem Knaben einen grimmigen, drohenden Blick zu und fügte leise hinzu: „Erinnere dich an das, was ich dir gesagt habe, infamer Bengel!“

Oliver starrte bei diesem verschiedenen Ton der Anrede Mr. Bumble unschuldig in das Gesicht, aber dieser Herr führte ihn in das anstoßende Zimmer, dessen Tür offen stand, und schnitt ihm dadurch jede weitere Bemerkung ab. Es war ein geräumiges Zimmer mit einem großen Fenster. Hinter einem Pulte saßen zwei alte Herren mit gepuderten Perücken, von denen der eine eine Zeitung las, während der andere mit Hilfe einer Schildpattbrille ein kleines vor ihm liegendes Stück Pergament prüfte. Mr. Limbkins stand vor dem Pulte auf der einen Seite, Mr. Gamfield mit teilweise gewaschenem Gesichte auf der anderen.

Der alte Herr mit der Brille schlief über dem Stück Pergament allmählich ein, und es entstand eine kurze Pause, nachdem Oliver, von Mr. Bumble geführt, sich vor das Pult hingestellt hatte.

„Dies ist der Knabe, Euer Edlen,“ sagte Mr. Bumble.

Der alte Herr, der die Zeitung las, erhob einen Augenblick den Kopf und stieß den anderen alten Herrn an, worauf dieser erwachte.

„Ah, das ist also der Knabe?“ fragte er.

„Ja, dies ist er, Euer Edeln,“ erwiderte Mr. Bumble. „Mache dem Herrn Friedensrichter eine Verbeugung, mein Kind.“

Oliver gehorchte und machte sein schönstes Kompliment, das um so tiefer ausfiel, da er noch nie Herren mit gepuderten Perücken gesehen hatte.

„Der Knabe wünscht also Schornsteinfeger zu werden?“ sagte der Friedensrichter.

„Mit Gewalt,“ sagte Bumble, „will’s mit Gewalt werden, Euer Edeln; würde übermorgen wieder entlaufen, wenn wir ihn morgen in ein anderes Geschäft gäben.“

Der Friedensrichter wendete sich zu dem Schornsteinfeger.

„Und Sie versprechen, ihn gut zu behandeln, ordentlich zu speisen, zu kleiden und was weiter dazu gehört?“

„Wenn ich’s einmal gesagt habe, daß ich’s will, so ist’s auch meine Meinung, daß ich’s will,“ erwiderte Gamfield barsch.

„Ihre Rede ist eben nicht fein, mein Freund; doch Sie scheinen ein ehrlicher, geradsinniger Mann zu sein,“ bemerkte der alte Herr und richtete seine Brille auf den Meister, auf dessen häßlichem Gesichte die Brutalität deutlich zu lesen stand. Aber der Friedensrichter war halb blind und halb kindisch, und so konnte man füglicherweise nicht verlangen, daß er das bemerke, was anderen auf den ersten Blick auffiel.

„Ich hoffe, ich bin es, Sir,“ erwiderte Mr. Gamfield grinsend.

„Ich hege daran nicht den mindesten Zweifel, mein Freund,“ erwiderte der alte Herr, setzte seine Brille fester auf die Nase und suchte nach dem Tintenfaß.

Es war der kritische Augenblick in Olivers Schicksal. Hätte das Tintenfaß dort gestanden, wo es der alte Herr vermutete, so würde er seine Feder eingetaucht und den Vertrag unterzeichnet haben, und Oliver wäre dann auf der Stelle fortgeschleppt worden. Da es sich aber unmittelbar vor seiner Nase befand, so folgte daraus mit Notwendigkeit, daß er überall auf dem Pulte nach ihm suchte, ohne es zu finden, und da er nun beim Suchen auch gerade vor sich hinblickte, so fiel sein Auge auf das bleiche, verstörte Antlitz Oliver Twists, der trotz aller ermahnenden Blicke und Püffe Bumbles das abstoßende Äußere seines zukünftigen Lehrmeisters mit einem aus Grauen und Furcht gemischten Ausdruck betrachtete.

Der alte Herr hielt inne, legte die Feder aus der Hand und blickte von Oliver zu Mr. Limbkins hinüber, der mit unbefangener, heiterer Miene eine Prise Schnupftabak zu nehmen versuchte.

„Mein liebes Kind!“ sagte der alte Herr, sich über sein Pult lehnend. Oliver fuhr beim Klang seiner Stimme zusammen. Dies läßt sich entschuldigen, denn die Worte wurden in freundlichem Tone gesprochen, und ungewohnte Laute erschrecken jeden. Er zitterte heftig und brach in Tränen aus.

„Mein liebes Kind,“ begann der alte Herr von neuem, „du siehst bleich und geängstet aus. Was ist dir?“

„Treten Sie ein wenig von ihm weg,“ sagte der andere Beamte, das Papier weglegend und sich mit einem Ausdrucke reger Teilnahme vorbeugend.

„Nun, mein Kind, sage uns, was dir ist. Habe keine Furcht!“

Oliver fiel auf die Knie nieder, hob die gefalteten Hände empor und flehte schluchzend, man möge ihn in das finstereGemach zurückbringen, hungern lassen, schlagen, ja totschlagen – nur aber mit dem schrecklichen Manne nicht fortschicken.

„Nun,“ sagte Mr. Bumble, indem er seine Hände mit der eindrucksvollsten Feierlichkeit erhob und seine Augen emporschlug, „von allen hinterlistigen, niederträchtigen Waisenkindern, die ich je gesehen habe, bist du der erbärmlichste Kerl, Oliver.“

„Halten Sie Ihren Mund, Kirchspieldiener,“ rief ihm der zweite alte Herr zu, als Mr. Bumble seine Rede beendet hatte.

„Ich bitte Euer Edeln um Verzeihung,“ erwiderte Bumble, der nicht recht gehört zu haben glaubte. „Haben Euer Edeln zu mir gesprochen?“

„Jawohl. Halten Sie Ihren Mund!“

Mr. Bumble war starr vor Entsetzen. Einem Kirchspieldiener zu befehlen, den Mund zu halten! Das war ja wirklich eine Umwälzung aller sittlichen Begriffe!

Der Friedensrichter blickte auf seinen Kollegen, der in bezeichnender Weise nickte.

„Ich muß dem Vertrage die Bestätigung versagen,“ erklärte er dann, das Pergament unwillig zur Seite schiebend.

„Ich hoffe,“ stotterte Mr. Limbkins, „Sie werden nicht geneigt sein, lediglich auf das Zeugnis eines Kindes der Meinung Raum zu geben, daß das Verfahren des Direktoriums einem Tadel unterliege.“

„Ich bin als Friedensrichter nicht berufen, eine Meinung darüber auszusprechen,“ entgegnete der alte Herr. „Nehmen Sie den Knaben wieder mit sich und behandeln Sie ihn gut. Er scheint es zu bedürfen.“

Man hatte den Anschlag heruntergenommen, am folgenden Morgen wurde jedoch Oliver abermals um fünf Pfund ausgeboten.

Viertes Kapitel

Oliver Twist, dem eine neue Stellung angeboten wird, tritt in das bürgerliche Leben ein.

Die Direktoren hatten Bumble befohlen, Erkundigungen einzuziehen, ob nicht etwa ein Stromschiffer eines Knabenbedürfe, wie man denn die jüngeren Söhne und ebenso die Waisenkinder gern zur See schickt, um sich ihrer zu entledigen. Gerade als der Kirchspieldiener zurückkehrte, trat Mr. Sowerberry aus dem Hause, der Leichenbestatter des Kirchspiels, der es trotz seiner Beschäftigung doch nicht wenig liebte, zu scherzen.

„Ich habe soeben das Maß zu den beiden gestern abend gestorbenen Frauenzimmern genommen, Mr. Bumble,“ rief er ihm entgegen und bot ihm zugleich seine Dose, ein artiges kleines Modell eines Patentsarges.

„Sie werden noch ein reicher Mann werden, Mr. Sowerberry,“ bemerkte Bumble.

„Möcht’s wünschen; aber die Direktoren zahlen nur gar zu geringe Preise.“

„Ihre Särge sind auch gar zu klein, Mr. Sowerberry.“

„Größere tun auch nicht not, Mr. Bumble, bei der neuen Speiseordnung.“

Bumble mißfiel die Wendung, welche das Gespräch genommen; er suchte es daher auf einen anderen Gegenstand zu lenken, spielte mit einem seiner großen Rockknöpfe mit dem Kirchspielsiegelemblem – dem barmherzigen Samariter – und begann von Oliver Twist zu sprechen.

„Beiläufig,“ fing er an, „wissen Sie niemand, der einen Knaben braucht? Einen Parochiallehrling, der gegenwärtig eine bloße Last, ein dem Kirchspiel am Halse hängender Mühlstein, möchte ich sagen, ist. Sehr günstige Bedingungen, Mr. Sowerberry, sehr günstige Bedingungen!“

Bei diesen Worten erhob Mr. Bumble seinen Stab zu dem Anschlage über ihm und schlug dreimal auf die Worte „fünf Pfund“, die mit riesengroßen Buchstaben gedruckt waren. Dann fuhr er fort: „Nun, wie denken Sie darüber?“

„O,“ erwiderte der Leichenbestatter; „nun, Sie wissen, Mr. Bumble, ich bezahle eine anständige Summe zu den Armenlasten.“

„Hm!“ bemerkte Mr. Bumble. „Nun?“

„Nun,“ antwortete der Leichenbestatter, „ich glaubte, daß, wenn ich so viel für die Armen bezahle, ich auch das Recht habe, so viel wie möglich aus ihnen herauszuschlagen, Mr. Bumble, und so – und so beabsichtige ich denn, den Knaben selber zu nehmen.“

Mr. Bumble faßte den Leichenbestatter beim Arme und führte ihn in das Haus. Mr. Sowerberry blieb fünf Minuten bei den Direktoren, und es wurde abgemacht, daß Oliver noch am selbigen Abend „auf Probe“ zu ihm gehen sollte, was soviel sagen will, als daß der Meister, dem ein Kirchspielknabe als Lehrling übergeben wird, denselben auf eine Anzahl Lehrjahre haben soll, um mit ihm zu tun, was ihm beliebt, wenn er nach kurzer Probezeit ersieht, daß ihm der Knabe genug arbeitet, ohne zu eßlustig und also zu kostspielig zu sein. Dem kleinen Oliver wurde gesagt, wenn er nicht gutwillig ginge oder sich im Armenhause wieder blicken ließe, so würde man ihn nach gebührender Züchtigung zur See schicken, wo er unfehlbar ertrinken müsse. Er zeigte wenig Rührung und wurde nunmehr für gänzlich verhärtet erklärt. Er hatte freilich in Wahrheit nicht zu wenig, sondern eher zu viel Gefühl, war aber durch die erfahrene Behandlung betäubt und für den Augenblick vollkommen abgestumpft. Auf dem Wege zu Mr. Sowerberry ermahnte ihn Bumble in seinem gewöhnlichen Tone. Oliver traten die Tränen in die Augen.

„Was weinst du, Schlingel? Hab’ ich’s nicht immer gesagt, daß du die schlechteste, undankbarste Kreatur von der Welt bist? Was hast du? Sprich!“

„Ich bin so verlassen, Sir – so ganz verlassen! Jedermann ist so schlimm gegen mich. Es ist mir, als wenn ich hier blutete und mich totbluten müßte“; – und er preßte die Hand auf das Herz und blickte mit nassen Augen seinem Führer in das Gesicht.

Bumble hustete, sagte endlich: „Trockne nur deine Augen und sei ein guter Junge,“ und ging schweigend weiter.

Der Leichenbestatter, der soeben die Fensterladen seines Geschäftes geschlossen hatte, machte gerade bei dem Scheine einer elenden Kerze einige Eintragungen in sein Rechnungsbuch, als Mr. Bumble eintrat.

„Aha!“ sagte er, von dem Buche aufblickend und mitten in einem Worte aufhörend, „sind Sie es, Bumble?“

„Niemand anders!“ erwiderte der Kirchspieldiener. „Hier ist er! Ich habe Ihnen den Knaben gebracht.“ Oliver machte eine Verbeugung.

„Ah, dies ist also der Knabe?“ fragte der Leichenbestatter, indem er die Kerze in die Höhe hob, um Oliver besser betrachten zu können. „Liebe Frau,“ rief er dann, „wolltest du vielleicht die Freundlichkeit haben, einmal herzukommen?“

Mrs. Sowerberry tauchte aus einem kleinen Zimmer hinter dem Laden auf und zeigt sich in der Gestalt einer kleinen hageren Frau mit zänkischem Gesichtsausdruck.

„Liebe Frau,“ sagte der Leichenbestatter, „dies ist der Knabe aus dem Armenhause, von dem ich dir erzählt habe.“ Oliver machte abermals eine Verbeugung.

„Mein Himmel, wie klein er ist!“ rief Mrs. Sowerberry aus.

„Er ist allerdings klein,“ sagte Bumble, Oliver sehr unwillig anblickend, als ob es des Knaben Schuld gewesen wäre, daß er nicht größer war; „er wird aber größer werden, Mrs. Sowerberry.“

„O ja, auf unsere Kosten,“ entgegnete sie verdrießlich. „Ich sehe keine Ersparnis mit Kirchspielkindern; sie kosten allezeit mehr, als sie wert sind. Die Männer glauben aber immer, alles am besten zu wissen.“

Bei diesen Worten öffnete sie eine Seitentür und stieß Oliver eine Treppe hinunter in ein finsteres, dumpfes Gelaß, den Vorraum des Kohlenkellers und „Küche“ genannt, und befahl einer schlumpigen Dienstmagd, ihm zu geben, was für den nicht nach Hause gekommenen Trip zurückgestellt wäre.

O daß doch so mancher, dessen Blut von Eis und dessen Herz von Stein ist und der dennoch eine Stimme sich anmaßt, eine Stimme hat, wo es der Beurteilung der Lage, dem Wohl oder Wehe der Armen gilt, den Knaben hätte verschlingen sehen können, was der Haushund verschmäht! Wie sehr wäre so vielen Menschenfreunden dieselbe und keine andere Diät zu wünschen!

Frau Sowerberry hatte dem Knaben in stummem Entsetzen und mit trüben Ahnungen in betreff seines künftigen Appetits zugeschaut; er hörte auf zu essen, als er nichts mehr fand.

„Bist du endlich fertig?“ sagte sie. „Nun komm, dein Bett ist unter dem Ladentische. Du wirst dich doch nicht grauen, zwischen Särgen zu schlafen? Aber wenn du auch nicht wolltest, du bekommst keine andere Schlafstelle.“

Oliver folgte schüchtern und geduldig seiner neuen Herrin.

Fünftes Kapitel

Oliver unter neuen Umgebungen und bei einem Leichenbegängnisse.

Sobald Oliver im Laden des Leichenbestatters allein gelassen war, setzte er seine Lampe auf eine Bank, und Furcht und Grauen durchschauerte ihn. Mitten im Gemach stand ein neuer, fast fertiger Sarg; die schon zugeschnittenen, an die Wände umher gelehnten Bretter erschienen ihm beim matten Lampenlichte wie Geister. Auf dem Boden lagen große Nägel, Holzspäne, Stücke schwarzen Tuchs und Sargembleme, und an der Wand über dem Ladentische hing das grauenhafte Bild eines Leichenzugs. Die Luft war drückend heiß; sie däuchte Oliver wie Grabesluft, die Öffnung zu seiner Ruhestätte unter dem Ladentische wie ein gähnendes Grab.

Er fühlte sich allein und verlassen in der Welt, und obwohl er keinen Schmerz über Trennung von Freunden oder Angehörigen empfand, so war ihm das Herz dennoch schwer; und als er in sein enges Bett hineinkroch, wünschte er, daß es sein Sarg sein und daß er darin hinaus auf den Kirchhof getragen werden möchte, wo das hohe stille Gras über ihm wüchse und im Winde säuselte und das Läuten der alten traurigen Turmglocke ihm schöne Träume zuführte in seinem süßen Schlummer.

Er wurde am folgenden Morgen durch ein lautes Pochen an der Ladentür aus seinem unruhigen Schlafe geweckt; dasselbe wiederholte sich, ehe er in seine Kleider schlüpfen konnte, ungefähr fünfundzwanzigmal und in ungestümer Weise. Als er die Kette zu lösen begann, hörten die Beine zu stoßen auf, und eine Stimme ließ sich vernehmen.

„Öffne die Tür, wird’s bald?“ rief die Stimme, die zu den Beinen gehörte.

„Sofort, Sir,“ erwiderte Oliver, indem er die Kette losmachte und den Schlüssel umdrehte.

„Ich vermute, du bist der neue Lehrjunge, nicht wahr?“ sprach die Stimme durch das Schlüsselloch.

„Ja, Sir,“ antwortete Oliver.

„Wie alt bist du?“ fragte die Stimme weiter.

„Zehn Jahre, Sir,“ entgegnete Oliver.

„Dann werde ich dich prügeln, wenn ich hineinkomme,“ sagte die Stimme; „du wirst gleich sehen, daß ich es tue, du Armenhäusler!“

Oliver hatte schon zu oft das angedrohte Schicksal über sich ergehen lassen müssen, um den leisesten Zweifel zu hegen, daß der Besitzer der Stimme, wer es auch sein mochte, sein Versprechen wahr machen würde. Er schob den Riegel mit zitternder Hand zurück und öffnete die Tür.

Ein paar Sekunden lang blickte Oliver die Straße auf und ab, weil er glaubte, der unbekannte Besucher, der ihn durch das Schlüsselloch angeredet hatte, habe sich einige Schritte entfernt, um sich zu erwärmen; denn es war niemand zu sehen, außer einem großen Armenknaben, der auf einem Pfosten vor dem Hause saß und ein Butterbrot verzehrte.

„Verzeihen Sie, Sir,“ sagte Oliver endlich, da er keinen anderen Besucher erblicken konnte, „haben Sie geklopft?“

„Ja, ich habe mit den Füßen an die Tür gestoßen,“ erwiderte der Armenknabe.

„Wünschen Sie einen Sarg, Sir?“ fragte Oliver unschuldig.

„Es wird nicht lange währen, bis du selbst einen brauchst,“ war die zornige Antwort, „wenn du Scherz mit Leuten treibst, die dir zu befehlen haben. Weißt du nicht, wer ich bin? Noah Claypole, und du bist mir untergeben, Musjö Ohnevater. Öffne die Fensterläden, Faulpelz!“

Oliver tat, wie ihm geheißen war, und gleich darauf erschien Mr. und Mrs. Sowerberry. Oliver und sein neuer Tyrann wurden in die Küche geschickt, um ihr Frühstück zu erhalten. Charlotte, die Köchin, bedachte Noah gut und Oliver desto schlechter, der obenein von jenem sehr unsanft in einen dunkelen Winkel gestoßen und vielfach gehänselt wurde.

Noah war ein Freischüler, aber doch keine Waise aus dem Armenhause. Sein Stammbaum war ihm sehr wohl bekannt; seine Eltern wohnten in der Nachbarschaft. Seine Mutter war eine Waschfrau und sein Vater ein pensionierter, täglich betrunkener Soldat. Die Ladenburschen nannten ihn verächtlich „Lederhose“ und so fort, was er schweigend duldete, dagegen aber nunmehr mit desto größerem Übermut einen Schwächeren und Elternlosen behandelte, den er als solchen tief unter sich sah. – Welch’ ein köstlicher Stoff zu Betrachtungen über die liebenswürdige menschliche Natur, deren vortreffliche Eigenschaften sich beim hochstehenden Lord wie beim Armenknaben offenbaren!

Oliver hatte sich drei bis vier Wochen bei Mr. Sowerberry befunden, als derselbe einst gegen seine Hausehre die Rede auf ihn brachte. „Der Knabe sieht wirklich gut aus,“ bemerkte er.

„Kein Wunder,“ entgegnete sie, „denn er ißt genug.“

„Er hat ein äußerst melancholisches Gesicht und sieht immer so trübselig aus, daß er wirklich einen vortrefflichen Stummen [Fußnote] abgeben würde.“

Seine Gattin sah ihn verwundert an, und er fuhr fort: „Ich meine nicht bei Erwachsenen, sondern bei Kinderbegräbnissen. ‘s ist etwas Neues, auch zu dergleichen kleine Stumme zu stellen, und man kann sich etwas davon versprechen.“

Mrs. Sowerberry, die für Geschäftssachen ein gutes Verständnis besaß, war von der Neuheit des Gedankens überrascht; da es aber gegen ihre Würde verstoßen haben würde, wenn sie dies zugegeben hätte, so fragte sie nur mit großer Schärfe im Ton, warum ihr einfältiger Eheherr denn nicht schon längst daran gedacht habe, und Mr. Sowerberry, der dies richtig als Zustimmung auslegte, beschloß, Oliver in die Mysterien des Leichenbestattergeschäfts einzuweihen und sich daher von ihm zum ersten besten vorkommenden Begräbnisse begleiten zu lassen. Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten, denn eine halbe Stunde darauf erschien Bumble mit dem Aufträge zu einem Kirchspielbegräbnisse.

Mr. Sowerberry ordnete die erforderlichen Vorbereitungen an und befahl Oliver, mit ihm zu gehen. Sie begaben sich nach dem bezeichneten Hause, um das Maß zum Sarge zu nehmen, wo sich ihren Blicken eine Szene des grauenvollsten Elends darbot, die auf Oliver, obgleich er an Elend so wohl gewöhnt war, den peinlichsten Eindruck machte.

Am folgenden Tage, der rauh und regnerisch war, wiederholten sie ihren Besuch, die Leiche wurde in den Sarg gelegt, jede Anordnung war getroffen. Mr. Sowerberry sagte den Trägern, sie möchten sich sputen und den Geistlichen nicht warten lassen; es wäre schon spät. Die Träger setzten sich in eine Art von Trab, und Oliver mußte fast laufen, um mitkommen zu können. Der Geistliche war noch nicht angelangt, der Sarg wurde in einem entfernten Winkel des Kirchhofs neben der Gruft einstweilen niedergesetzt, und Mr. Sowerberry und Bumble setzten sich zum Küster in die Sakristei an das Feuer und nahmen die Zeitungen zur Hand.

Nach einer halben Stunde erschien der Geistliche, Bumble verjagte die Gassenbuben, die sich damit unterhielten, her- und hinüber über den Sarg zu springen, der Geistliche las eilend die Gebete, entfernte sich wieder, der Sarg wurde eingesenkt, die Grube zugeworfen, und alle begaben sich auf den Heimweg.

„Nun, Oliver, wie hat dir’s gefallen?“ fragte Mr. Sowerberry.

„Recht gut, bedanke mich, Sir,“ antwortete Oliver zögernd: „aber doch eigentlich nicht sehr gut.“

„Wirst dich schon daran gewöhnen,“ sagte der Leichenbesorger; „und ‘s ist gar nichts, wenn du’s erst gewohnt bist.“

Oliver hätte gern gewußt, wie lange es gedauert, ehe Mr. Sowerberry sich daran gewöhnt, wagte jedoch nicht zu fragen und kehrte gedankenvoll mit seinem Herrn nach Hause zurück

Sechstes Kapitel

In welchem Oliver kräftig auftritt.

Es trat gerade eine sehr ungesunde Zeit ein, und Oliver sammelte daher in wenigen Wochen viel Erfahrung. Die Erfolge der scharfsinnigen Spekulation Mr. Sowerberrys übertrafen alle seine Erwartungen. Die ältesten Leute wußten sich nicht zu erinnern, daß so viele Kinder an den Masern gestorben waren, und Oliver mit schwarzen, bis an die Knie herunterreichenden Hutbändern führte einen Leichenzug nach dem anderen an. Die Mütter bewunderten ihn über die Maßen und waren unbeschreiblich gerührt. Da er seinen Herrn auch zu den meisten Begräbnissen von Erwachsenen begleiten mußte, um sich die für einen vollkommenen Leichenbestatter so notwendige gemessene Ruhe und Selbstbeherrschung anzueignen, so hatte er häufig Gelegenheit, die schöne Ergebung und Seelenstärke zu bemerken, welche so viele Leute bei ihren schmerzlichen Prüfungen und Verlusten beweisen.

Hatte Sowerberry zum Beispiel das Begräbnis einer reichen alten Dame oder eines reichen alten Herrn zu besorgen, der von einer großen Anzahl von Neffen und Nichten umgeben war, welche sich während seiner Krankheit vollkommen untröstlich gezeigt und ihren Schmerz nicht einmal vor den Augen des großen und größten Publikums hatten bemeistern können, so blieb es selten aus, daß sie unter sich so heiter waren, als man es nur wünschen konnte, und so froh und zufrieden miteinander redeten oder auch lachten, als wenn sie ganz und gar keine Trübsal erlebt hätten. Ehemänner ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmütigsten Ruhe, und Ehefrauen legten die Trauerkleider um ihre Männer auf eine Weise an, als wenn sie dadurch nicht etwa Schmerz andeuten, sondern so anziehend als möglich erscheinen wollten. Viele Damen und Herren, welche bei der Beerdigung der Verzweiflung nahe zu sein schienen, beruhigten sich schon auf dem Heimwege und waren vollkommen gefaßt, bevor die Teestunde vorüber war. Dieses alles war sehr angenehm und lehrreich anzuschauen, und Oliver sah es mit großer Bewunderung.

Daß das Beispiel so vieler Leidtragenden ihn zur Ergebung und Geduld gestimmt hätte, kann ich mit Bestimmtheit nicht behaupten, sondern vermag nur so viel zu sagen, daß er wochenlang mit Sanftmut die Tyrannei und üble Behandlung ertrug, die er von seiten Noahs erfuhr, der um so erbitterter gegen ihn wurde, weil sein Neid gegen ihn erregt worden war. Charlotte mißhandelte ihn, weil es Noah tat, und Mrs. Sowerberry war seine erklärte Feindin, weil ihr Gatte sich ihm ziemlich freundlich erwies. Und so befand sich denn Oliver bei diesen Feindschaften und fortwährender Leichenbegleitungslast nicht ganz so behaglich wie das hungrige Ferklein, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen war.

Es muß aber jetzt ein an sich unbedeutender Vorfall erzählt werden, der jedoch eine bedeutende Veränderung mit Oliver selbst wie mit seinen Lebensschicksalen zur Folge hatte.

Sein Peiniger trieb seine gewöhnlichen Neckereien weiter als gewöhnlich und hatte es offenbar darauf angelegt, ihn außer Fassung und zürn Weinen zu bringen, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Endlich sagte Noah scherzend, er werde nicht verfehlen zuzuschauen, wenn Oliver gehängt würde, und fügte hinzu: „Was wird aber deine Mutter dazu sagen und wie geht’s ihr denn?“

„Sie ist tot,“ entgegnete Oliver; „untersteh’ dich aber nicht, mir etwas Schlechtes über sie zu sagen.“

Oliver wurde feuerrot, als er das sagte; er atmete rasch, um Mund und Nase zuckte es ihm eigentümlich, und Claypole hielt dies für ein untrügliches Anzeichen, daß Oliver bald heftig weinen werde. In dieser Überzeugung ging er in seiner Quälerei weiter.

„Woran starb sie denn, Armenhäusler?“ fragte er.

„An Kummer und Herzleid, wie mir eine unserer alten Wärterinnen gesagt hat,“ erwiderte Oliver, mehr, wie wenn er mit sich selbst redete, als Noahs Frage beantwortend. „Ich glaube, daß ich’s weiß, was es heißt, daran zu sterben!“

Über seine Wange rollte eine Träne hinab, Noah pfiff eine muntere Weise und sagte darauf: „Was hast du denn zu plärren – um deine Mutter?“

„Daß du mir kein Wort mehr von ihr sagst – sonst nimm dich in acht!“ rief Oliver.

„Ich soll mich in acht nehmen – ich – mich in acht nehmen vor einem solchen unverschämten Tunichtgut? Und von wem soll ich kein Wort mehr sagen? Von deiner Mutter? Die mag auch die rechte gewesen sein – ha, ha, ha!“

Oliver verbiß seine Pein und schwieg. Noah nahm den Ton spöttischen Mitleids an.

„Nun, nun, sei nur ruhig: ‘s ist nichts mehr dran zu ändern, und ich bedaure dich, wie’s alle tun. Indes ist das wahr, ich weiß es, deine Mutter taugte nichts; sie ist eine ganz verworfene Person gewesen.“

„Was sagst du?“ rief Oliver rasch aufblickend.

„Eine ganz verworfene Person,“ erwiderte Noah kühl, „und es war nur gut, daß sie starb, denn es würde ihr jetzt schlecht genug ergehen in der Tretmühle, wenn sie anders nicht deportiert oder gehängt worden wäre. Hab’ ich nicht recht, Armenhäusler?“

Olivers Geduld war zu Ende; purpurrot vor Wut sprang er auf, warf seinen Stuhl samt dem Tische um, faßte Noah bei der Kehle, schüttelte ihn so stark, daß ihm die Zähne im Munde klapperten, sammelte seine ganze Kraft und schlug hin mit einem einzigen Schlage zu Boden.

Eine Minute vorher hatte er das Aussehen des stillen, sanftmütigen, eingeschüchterten Kindes noch gehabt, zu dem harte Behandlung ihn gemacht hatte. Aber sein Mut war endlich erwacht; die tödliche Beleidigung, die Noah seiner toten Mutter zugefügt, hatte sein Blut in Wallung gebracht. Seine Brust hob sich, er stand aufrecht da wie ein Held, sein Auge strahlte lebhaft; sein ganzes Wesen war verändert, als er funkelnden Blickes vor dem feigen Quäler stand, der jetzt zusammengekrümmt zu seinen Füßen lag.

„Er ermordet mich!“ heulte Noah. „Charlotte, Fräulein! Der neue Lehrjunge ermordet mich! Zu Hilfe, zu Hilfe! Oliver ist verrückt geworden! Char–lotte!“