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Der ergreifende Roman eines viel zu kurzen Lebens - der Todestag von Charlotte Salomon jährt sich am 10.10. zum 60ten Mal.
»Das ist mein ganzes Leben« – mit diesen Worten übergibt Charlotte Salomon einem Vertrauten 1942 einen Koffer voller Bilder. Sie erzählen ihre Geschichte: von der Kindheit im Berlin der Zwanzigerjahre, dem frühen Tod der Mutter, dem Zugang zu Berlins Künstlerkreisen durch die neue Frau des Vaters, dem Studium an der Kunstakademie, dem Leben als Malerin. Und dann: Flucht vor den Nationalsozialisten nach Südfrankreich, Leben im Exil, aber auch Liebe und Hochzeit. Nur ihre Bilder überleben – und damit ihre Geschichte, die David Foenkinos anrührend erzählt.
Mit Leichtigkeit und Tiefgang, setzt David Foenkinos in diesem ergreifenden Roman über Leben, Liebe und Tod der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon ein Denkmal.
Zeile für Zeile, in einer fast schon poetischen, reduzierten Sprache schreibt er über sie in seiner ganz eigenen Weise.
»Charlotte« ist das Porträt eines verheißungsvollen Lebens, das viel zu früh beendet wurde.
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Seitenzahl: 206
David Foenkinos
Charlotte
Roman
Aus dem Französischen von Christian Kolb
Deutsche Verlags-Anstalt
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Originaltitel: Charlotte
Originalverlag: Éditions Gallimard, Paris
Copyright © 2014 by David Foenkinos
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: any.way, Hamburg nach einem Entwurf von Designbüro Lübbeke, Maumann, Thoben
Covermotiv: Selbstbildnis (Detail) der Charlotte Salomon / Collection Jewish Historical Museum/© Charlotte Salomon Foundation/Charlotte Salomon®
ISBN 978-3-641-17252-7V003www.dva.de
»Derjenige, der mit dem Leben nicht lebendig fertig wird, braucht die eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren …«
KAFKA, Tagebücher 1910–1923, 19.Oktober1921
Der folgende Roman beruht auf dem Leben der deutschen Malerin Charlotte Salomon. Sie war sechsundzwanzig und schwanger, als sie ermordet wurde. Ihr autobiografisches Werk Leben? Oder Theater? ist die Quelle, auf die ich mich hauptsächlich beziehe.
An einem Grabstein lernt Charlotte ihren Namen lesen.
Es hat also schon eine andere Charlotte vor ihr gegeben.
Ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter Franziska.
Charlotte und Franziska waren ein Herz und eine Seele.
Bis zu einem Abend im November 1913.
Die beiden Schwestern singen, tanzen und lachen zusammen.
Sie treiben es nicht allzu wild.
Es geht bei diesen Glücksbestrebungen gesittet zu.
Das hat vielleicht auch mit der Persönlichkeit des Vaters zu tun.
Einem Kunst- und Antiquitätenliebhaber, einem steifen Intellektuellen.
Er hat nichts anderes als römische Staubkörner im Sinn.
Die Mutter ist von eher sanftmütiger Natur.
Doch in ihrer Sanftmut liegt etwas Trauriges.
Ihr Leben war eine einzige Aneinanderreihung von Katastrophen.
Davon wird wohl besser später die Rede sein.
Bleiben wir erst einmal bei Charlotte.
Der anderen Charlotte.
Einer Schönheit mit verheißungsvollem langem schwarzem Haar.
Es fängt alles ganz langsam an.
Das heißt, es fängt damit an, dass sie immer langsamer wird.
Dass sie so lange braucht: fürs Essen, fürs Lesen, für ihre täglichen Gänge.
Bestimmt lastet irgendetwas auf ihr.
Langsam breitet sich die Melancholie in ihrem Körper aus.
Eine rasende Melancholie, von der sie nicht mehr loskommt.
Das Glück ist jetzt eine unerreichbare Insel in der Vergangenheit.
Niemand bekommt davon etwas mit.
Die Krankheit ist hinterhältig.
Man stellt höchstens Vergleiche zwischen den beiden Schwestern an.
Die eine sei schlicht fröhlicher als die andere.
Die andere, so sagt man, sei nur manchmal ein wenig verträumt.
Doch die Umnachtung schreitet voran.
Sie wartet auf die Nacht, die ihre letzte sein soll.
Eine kalte Novembernacht.
Während alles schläft, steht Charlotte auf.
Sie packt ein paar Sachen ein, als würde sie auf Reisen gehen.
Die Stadt scheint stillzustehen, erstarrt im frühen Wintereinbruch.
Charlotte ist gerade achtzehn geworden.
Mit schnellen Schritten geht sie ihrer Bestimmung entgegen.
Ihre Bestimmung ist eine Brücke.
Ihre geliebte Brücke.
Der geheime Ort ihrer finsteren Gedanken.
Dass ihr letzter Gang dorthin führen wird, steht schon lange für sie fest.
Sie zögert keine Sekunde.
Springt unbemerkt in die schwarze Nacht.
Sie fällt ins eisige Wasser und stirbt einen qualvollen Tod.
Im Morgengrauen wird ihre Leiche ans Ufer getrieben.
Als sie geborgen wird, ist sie zum Teil schon ganz blau angelaufen.
Die Familie wird von der schrecklichen Nachricht aus dem Bett geholt.
Der Vater versinkt in Schweigen.
Die Schwester weint.
Die Mutter schreit ihren Schmerz aus sich heraus.
Tags darauf berichten die Zeitungen über die junge Frau.
Die sich ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen das Leben nahm.
Das ist vielleicht der größte Skandal.
Ein zusätzlicher Akt der Gewalt.
Warum nur?
Die Schwester begreift den Selbstmord als Affront.
Meist fühlt sie sich für Charlottes Tod verantwortlich.
Sie hat das Unheil nicht geahnt, die Zeichen der Langsamkeit nicht erkannt.
Nun geht sie mit dem Gefühl der Schuld durchs Leben.
2
Weder die Eltern noch die Schwester sind auf der Beerdigung.
Sie ziehen sich zerstört zurück.
Sicher schämen sie sich auch ein bisschen.
Und meiden die Blicke der anderen.
So vergehen einige Monate.
Ausgeschlossen, am Leben teilzunehmen.
Für lange Zeit kehrt Stille ein.
Wer spricht, könnte ja Charlotte erwähnen.
Sie lauert hinter jedem Wort.
Der Weg der Überlebenden führt nur über das Schweigen.
Bis zu dem Augenblick, in dem Franziska sich ans Klavier setzt.
Ein Stück spielt und leise zu singen beginnt.
Die Eltern kommen herbei.
Überrascht von einem solchen Aufzug des Lebens.
Deutschland tritt in den Krieg ein, und vielleicht ist es besser so.
Für die Familie sind die Wirren der Zeit die passende Kulisse des Leids.
Erstmals in der Geschichte nimmt ein Konflikt weltweite Ausmaße an.
Das Attentat von Sarajevo bringt einst mächtige Reiche zu Fall.
Millionen von Männern rennen in ihr Verderben.
Die Zukunft wird in den Schützengräben verhandelt.
Da beschließt Franziska, Krankenschwester zu werden.
Sie will Verwundete versorgen, Kranke heilen, Tote zum Leben erwecken.
Und sich nützlich machen, klar.
Das Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit hat sie jeden Tag.
Die Mutter erschreckt dieser Entschluss.
Es kommt zu Reibereien und Streit.
Zu einem regelrechten Krieg im Krieg.
Er ändert nichts daran, Franziska meldet sich freiwillig.
Und begibt sich in Gefahr.
Manche halten sie für mutig.
Aber ihr macht der Tod einfach keine Angst mehr.
Auf dem Schlachtfeld lernt sie Albert Salomon kennen.
Einen ganz jungen Chirurgen.
Er ist sehr groß und immer auf seine Arbeit konzentriert.
Selbst wenn er sich überhaupt nicht bewegt, wirkt er noch gehetzt.
Er ist der Oberarzt in dem Lazarett.
An der französischen Front.
Seine Eltern sind tot, der Beruf dient ihm als Familienersatz.
Er geht voll in seiner Aufgabe auf, nichts lenkt ihn ab von seiner Mission.
Für Frauen scheint er sich nicht sonderlich zu interessieren.
Die neue Krankenschwester fällt ihm nicht weiter auf.
Doch diese lächelt ihm andauernd zu.
Die Ereignisse nehmen eine glückliche Wendung.
Während einer Operation muss Albert niesen.
Seine Nase läuft, er muss sich schnäuzen.
Aber er hat die Hände im Gedärm eines Soldaten.
Franziska führt also ein Taschentuch zu seiner Nase.
In dem Moment sieht er sie endlich an.
Ein Jahr später nimmt Albert sein Herz in beide Hände.
In beide Chirurgenhände.
Und spricht bei Franziskas Eltern vor.
Deren Empfang ist so eisig, dass er ganz den Faden verliert.
Was wollte er gleich noch mal?
Ach ja … um die Hand Ihrer Tochter an … hal … ten …
Was anhalten?, fragt der Vater mürrisch.
Er will diesen langen Lulatsch nicht zum Schwiegersohn.
Der es gewiss nicht verdient hat, eine Grunwald zu heiraten.
Doch Franziska gibt sich nicht so leicht geschlagen.
Sie sagt, sie sei sehr verliebt.
Schwer zu überprüfen.
Doch sich Launen hinzugeben ist nicht ihre Art.
Seit Charlottes Tod beschränkt man sich aufs Wesentliche.
Schließlich willigen die Eltern doch ein.
Sie zwingen sich zu ein wenig Freude.
Ihr Lächeln flackert auf.
Sie kaufen sogar Blumen.
Schon lange hat das Wohnzimmer keine solche Farbenpracht mehr gesehen.
Die Blumen zeugen von einer Form von Wiedergeburt.
Doch zur Hochzeit setzen sie wieder ihre Beerdigungsmienen auf.
3
Von Anfang an ist Franziska viel allein.
Soll das etwa die traute Zweisamkeit sein?
Albert ist zurück an der Front.
In einem festgefahrenen Grabenkrieg, der sich endlos hinzuziehen scheint.
Es ist das reinste Gemetzel.
Hoffentlich kehrt Albert überhaupt wieder heim.
Sie will nicht als Witwe enden.
Sie ist ja schon …
Hm, wie sagt man, wenn man seine Schwester verloren hat?
Es gibt gar kein Wort, man sagt gar nichts.
Das manchmal dezente Schweigen der Wörterbücher.
Als würden selbst sie erschaudern.
Die Jungvermählte irrt in ihrer großen Wohnung umher.
Im gutbürgerlichen Charlottenburg.
Dem Charlottenviertel sozusagen.
Die Wohnung liegt in der Wielandstraße 15, nicht weit vom Savignyplatz.
Ich bin diese Straße oft entlanggegangen.
Ich mochte das Viertel schon, als ich Charlotte noch gar nicht kannte.
2004 hätte ich einem Roman beinahe den Titel Savignyplatz gegeben.
Auf eine seltsame Art brachte dieser Name in mir etwas zum Klingen.
Irgendetwas zog mich an, ohne dass ich hätte sagen können was.
Durch die Wohnung führt ein langer Gang.
Hier setzt Franziska sich gern zum Lesen hin.
Der Gang ist so etwas wie die Grenze ihres Zuhauses.
Jetzt klappt sie ihr Buch allerdings recht schnell wieder zu.
Ihr ist schwindlig, sie geht ins Badezimmer.
Und lässt sich ein bisschen Wasser übers Gesicht laufen.
Sie braucht nur ein paar Sekunden, um zu begreifen, was mit ihr los ist.
Albert verarztet gerade einen Verwundeten, als ihn ein Brief erreicht.
Sein Gesicht wird so blass, dass sich ein Sanitäter schon Sorgen macht.
Meine Frau ist schwanger, seufzt Albert schließlich.
In den folgenden Monaten reist er so oft wie möglich nach Berlin.
Doch die meiste Zeit ist Franziska mit ihrem dicken Bauch allein.
Wenn sie im Flur auf und ab geht, spricht sie bereits zu ihrem Kind.
Sie kann es kaum erwarten, nicht mehr allein zu sein.
Am 16. April 1917 wird sie entbunden.
Eine Heldin ist geboren.
Aber auch ein Kind, das Tag und Nacht schreit.
Als wäre es gar nicht mit seiner Geburt einverstanden.
Im Andenken an Franziskas Schwester soll es Charlotte heißen.
Albert ist dagegen, man könne ihm doch nicht den Namen einer Toten geben.
Und den Namen einer Selbstmörderin schon gar nicht.
Franziska ist aufgebracht und weint, steigert sich in die Sache hinein.
So werde ihre Schwester in ihrer Tochter weiterleben, findet sie.
Ich bitte dich, sei doch vernünftig, redet Albert auf sie ein.
Es ist zwecklos, er weiß, sie ist unvernünftig.
Normalerweise liebt er gerade ihre leichte Verrücktheit.
Ihre Eigenschaft, nicht jeden Tag dieselbe zu sein.
Mal ist sie frei und getrieben, mal treu ergeben und strahlend schön.
Er spürt, dass es sinnlos ist, sich mit ihr zu streiten.
Außerdem, wer will schon streiten, wenn Krieg ist?
Dann soll das Kind eben Charlotte heißen.
4
Was für Erinnerungen hat Charlotte an ihre frühe Kindheit?
Sind es Farben oder Gerüche?
Wahrscheinlich hauptsächlich Töne.
Die Lieder, die ihre Mutter gesungen hat.
Franziska hat eine Engelsstimme und spielt auf dem Klavier.
Die Musik begleitet Charlotte von ihrem zartesten Alter an.
Später blättert sie die Seiten der Partituren um.
So vergehen die ersten Jahre, musikalisch untermalt.
Gern unternimmt Franziska Spaziergänge mit ihrer Tochter.
Sie führt sie in den Tiergarten, den Park im Herzen Berlins.
Jenseits dieser Insel des Friedens spürt man den verlorenen Krieg überall.
Die kleine Charlotte beobachtet die Ausgemergelten und Versehrten.
Erschreckend, wie viele Hände sich nach ihr ausstrecken.
Eine ganze Armee von Bettlern.
Sie blickt zu Boden, um all die gebrochenen Gestalten nicht sehen zu müssen.
Erst als sie den Tiergarten erreichen, schaut sie wieder auf.
Jetzt rennt sie den Eichhörnchen hinterher.
Anschließend laufen die beiden noch zum Friedhof.
Um das Andenken zu bewahren.
Charlotte lernt früh, dass der Tod ein Teil des Lebens ist.
Sie greift nach den Tränen ihrer Mutter.
Die um ihre Schwester trauert wie am ersten Tag.
Manche Wunden heilen nie.
Am Grabstein liest Charlotte ihren Namen.
Sie fragt, was passiert sei.
Deine Tante ist ertrunken.
Konnte sie nicht schwimmen?
Es war ein Unfall.
Franziska wechselt schnell das Thema.
So weit die vorläufige Übereinkunft mit der Wirklichkeit.
Das Theater beginnt.
Albert kann diesen Friedhofspartien nichts abgewinnen.
Wieso gehst du mit Charlotte so oft dorthin?
Das ist doch morbid.
Er verlangt, dass sie die Grabbesuche einschränkt.
Und Charlotte aus der Sache heraushält.
Aber wie soll er nachprüfen, ob Franziska gehorcht?
Er ist ja nie da.
Die Schwiegereltern sagen, er denke immer nur an seine Arbeit.
Albert will ein großer deutscher Arzt werden.
Wenn er gerade nicht im Hospital ist, steckt er seine Nase in ein Buch.
Man wird leicht misstrauisch, wenn ein Mann so viel arbeitet.
Wovor flieht er?
Entweder hat er Angst oder ihn beschleicht eine dumpfe Ahnung.
Der seelische Zustand seiner Frau wird immer labiler.
Manchmal, fällt ihm auf, ist sie vollkommen geistesabwesend.
Man könnte fast sagen, sie mache Urlaub von sich selbst.
Er redet sich ein, sie sei eben verträumt.
Man reimt sich da gern etwas zusammen.
Beschönigende Deutungen für sonderbare Verhaltensweisen.
Dabei hat er allen Grund, in Sorge zu sein.
Franziska steht tagelang überhaupt nicht mehr aus dem Bett auf.
Sie holt nicht mal mehr Charlotte von der Schule ab.
Doch dann ist sie plötzlich wieder ganz die Alte.
Von einem Moment zum anderen streift sie ihre Lethargie ab.
Und geht zu allen möglichen Unternehmungen über.
Sie führt Charlotte in die Stadt, in die Parks, in den Zoo und ins Museum.
Lass uns spazieren gehen, lesen, Klavier spielen, singen …
Du musst noch so viel lernen.
Wenn sie so auflebt, gibt sie gern Gesellschaften.
Sie will Leute um sich haben.
Albert genießt diese Abende.
Fühlt sich wie befreit.
Franziska setzt sich ans Klavier.
Es ist schön, wie sie die Lippen bewegt.
Es sieht aus, als rede sie mit den Tönen.
Charlotte empfängt durch die Stimme der Mutter eine Form von Zärtlichkeit.
Wessen Mutter so herrlich singt, dem kann doch gar nichts mehr passieren.
Charlotte sitzt im Wohnzimmer, steif wie eine Puppe.
Zur Begrüßung der Gäste hat sie ein strahlendes Lächeln aufgesetzt.
Ein Lächeln, das sie mit ihrer Mutter eingeübt hat.
Bis zur Erschöpfung der Kiefermuskulatur.
Wie geht das alles zusammen?
Wochenlang schließt die Mutter sich ein.
Und dann schlägt auf einmal ihr Gesellschaftstrieb durch.
Charlotte macht sich lustig über diese Stimmungsschwankungen.
Ihr ist jede Stimmung recht.
Alles nur nicht diese Apathie.
Lieber Überschwang als Leere.
Jetzt überkommt Franziska wieder die Leere.
Sie kommt so schnell, wie sie geht.
Franziska legt sich grundlos erschöpft hin.
Verloren schaut sie in die Ferne im hinteren Teil des Zimmers.
Die Unberechenbarkeit der Mutter macht aus Charlotte ein braves Mädchen.
Sie hält ihre eigene Melancholie im Zaum.
Wird man so zur Künstlerin?
Indem man sich an den Wahnsinn der anderen gewöhnt?
5
Charlotte ist acht Jahre alt, als sich der Zustand der Mutter verschlechtert.
Die depressiven Phasen dauern immer länger.
Sie hat zu nichts mehr Lust, kommt sich überflüssig vor.
Albert beschwört seine Frau.
Aber die Finsternis kriecht bis unter ihre Bettdecke.
Er sagt, ich brauche dich doch.
Charlotte hat dich auch nötig, setzt er hinzu.
Franziska schläft ein, fürs Erste.
Doch sie steht wieder auf.
Albert reißt die Augen auf, seine Blicke folgen ihr.
Franziska geht auf das Fenster zu.
Ich möchte nur den Himmel sehen, beruhigt sie ihren Mann.
Sie erzählt Charlotte oft, dass im Himmel oben alles schöner sei.
Und fügt an: Wenn ich da bin, werde ich dir Briefe schreiben und berichten.
Sie ist wie besessen vom Gedanken an den Tod.
Wie fändest du es, wenn Mama ein Engel wäre?
Wäre das nicht wundervoll?
Charlotte antwortet nicht.
Ein Engel.
Einen solchen Engel kennt Franziska ja schon: ihre Schwester.
Die sich getraut hat, einen Schlussstrich zu ziehen.
Die einfach aus der Welt gegangen ist, ohne ein Wort.
In einem vollkommenen Akt der Gewalt.
Der Tod eines achtzehnjährigen Mädchens.
Das Ende eines verheißungsvollen Beginns.
Franziska ist der Ansicht, dass es verschiedene Stufen des Grauens gibt.
Der Selbstmord einer Mutter steht auf einer höheren Stufe.
Sie könnte sich an die Spitze der Familientragödie setzen.
Wer würde an ihrem Sieg zweifeln?
Eines Nachts steht sie leise auf.
Sie hält sogar den Atem an.
Dies eine Mal entwischt sie ihrem Mann.
Sie geht ins Badezimmer.
Greift zum Opiumfläschchen und trinkt es leer.
Schließlich wird Albert von einem Röcheln wach.
Er will zu Hilfe eilen, doch die Tür geht nicht auf.
Franziska hat sich eingeschlossen.
Ihre Kehle brennt, es sind unerträgliche Schmerzen.
Aber sie stirbt nicht.
Und ihr panischer Ehemann verdirbt ihr den Abgang.
Bekommt Charlotte mit, was vor sich geht?
Wacht sie auf?
Endlich gelingt es Albert, die Tür zu öffnen.
Er erweckt Franziska wieder zum Leben.
Die Dosis war nicht stark genug.
Doch nun ist er gewarnt.
Der Tod ist keine Ausgeburt der Fantasie mehr.
6
Am Morgen sucht Charlotte ihre Mutter.
Deine Mama ist über Nacht krank geworden.
Sie darf nicht gestört werden.
Zum ersten Mal verabschiedet sich die Mutter am Morgen nicht von ihrem Kind.
Es muss ohne Kuss in die Schule.
Bei ihren Eltern ist Franziska in Sicherheit.
Das denkt zumindest Albert.
Wenn sie alleine ist, versucht sie nur sich umzubringen.
Dass sie Vernunft annimmt, erscheint ausgeschlossen.
Franziska kehrt in ihr Mädchenzimmer zurück.
Zu den Kulissen ihrer Kindheit.
Wo sie so glücklich mit ihrer Schwester zusammen war.
In der elterlichen Umgebung kommt sie wieder ein wenig zu Kräften.
Die Mutter bemüht sich, ihre Nervosität zu verbergen.
Wie kann das sein?
Erst setzt die eine Tochter ihrem Leben ein Ende, nun versucht es die andere.
Die Mutter kommt nicht zur Ruhe.
Sie fragt überall um Rat.
Ein Freund der Familie wird hinzugezogen, ein Nervenarzt.
Nur eine harmlose Krise, beschwichtigt er, das geht vorüber.
Stark ausgeprägte Sensibilität, extreme Gefühlslagen, sonst nichts.
Charlotte ist in Sorge.
Wo ist ihre Mama?
Sie ist krank.
Sie hat die Grippe.
Die Krankheit ist hoch ansteckend, heißt es.
Man soll sie vorerst lieber nicht besuchen.
Bald kommt sie wieder nach Hause, verspricht Albert.
Und wirkt dabei nicht unbedingt überzeugend.
Er ist wütend auf seine Frau.
Vor allem, wenn er sich seiner verunsicherten Tochter gegenübersieht.
Aber er geht Franziska jeden Abend besuchen.
Die Schwiegereltern bereiten ihm einen eisigen Empfang.
In ihren Augen trägt er die Schuld an allem.
Nie ist er zu Hause, immer arbeitet er nur.
Ein Selbstmordversuch ist eindeutig ein Ausdruck von Verzweiflung.
Die durch allzu große Einsamkeit entsteht.
Irgendeiner muss die Schuld ja tragen.
Und der Tod der anderen?
Ist das etwa auch meine Schuld?, möchte er am liebsten schreien.
Doch Albert schweigt.
Beachtet die Schwiegereltern nicht weiter und setzt sich ans Bett seiner Frau.
Wenn er mit ihr allein ist, lässt er gemeinsame Erinnerungen wieder aufleben.
So endet es immer, mit gemeinsamen Erinnerungen.
Man könnte fast meinen, alles würde gut werden.
Franziska nimmt seine Hand und deutet ein Lächeln an.
Es sind tröstliche Augenblicke, auch zärtliche.
In denen zwischen finsteren Gedanken kurz das Leben aufscheint.
Eine Krankenschwester wird angestellt, die sich um Franziska kümmern soll.
So lautet die offizielle Version.
Aber eigentlich soll sie Franziska natürlich überwachen.
Unter der Aufsicht der fremden Frau vergehen die Tage.
Nach ihrer Tochter erkundigt Franziska sich nie.
Charlotte existiert nicht mehr für sie.
Sie wendet den Blick ab, als Albert ihr ein von Charlotte gemaltes Bild zeigt.
7
Die Grunwalds sitzen im großen Speisezimmer beim Abendbrot.
Die Krankenschwester kommt herein und gesellt sich einen Moment zu ihnen.
Auf einmal hat die Mutter ein Gesicht.
Franziska allein in ihrem Zimmer, sie geht auf das Fenster zu.
Die Hausangestellte fängt sich einen vernichtenden Blick ein.
Die Mutter springt auf und rennt hinüber zu ihrer Tochter.
Als sie die Tür aufmacht, fällt jemand aus dem Fenster.
Zu spät, sie stößt einen schrillen Schrei aus.
Dann das dumpfe Geräusch des Aufpralls.
Die Mutter tritt nach vorn, sie bebt.
Da liegt Franziska in einer Blutlache.
Als Charlotte die Nachricht erhält, sagt sie kein Wort.
Eine mörderische Grippe habe ihre Mutter dahingerafft.
Sie denkt nach: Eine Grippe.
Ein Wort und alles ist vorbei.
Jahre später wird sie die Wahrheit erfahren.
Als die Welt im allgemeinen Chaos versinkt.
Erst einmal muss sie ihren Vater trösten.
Das ist nicht so schlimm, meint sie.
Mama hat es mir verraten.
Sie ist jetzt ein Engel.
Sie hat mir immer erzählt, wie schön es im Himmel oben ist.
Albert weiß nicht, was er darauf antworten soll.
Gern würde er glauben, dass Franziska ein Engel ist.
Doch er kennt die Wahrheit.
Seine Frau hat ihn allein gelassen.
Mit der gemeinsamen Tochter allein.
Die Erinnerungen verfolgen Albert auf Schritt und Tritt.
In jedem Zimmer, das er betritt, bei jedem Gegenstand, den er anfasst.
Franziska ist immer da.
Es liegt noch ein Hauch von ihr in der Luft.
Er möchte umräumen, alles auf den Kopf stellen.
Am besten gleich umziehen.
Doch wenn er solche Pläne mit Charlotte bespricht, ist sie dagegen.
Ihre Mutter habe versprochen, ihr zu schreiben.
Sobald sie im Himmel oben angekommen ist.
Man dürfe daher nicht umziehen.
Sonst weiß Mama nicht, wo sie uns finden kann, meint das kleine Mädchen.
Jeden Abend sitzt es auf dem Fensterbrett.
Und wartet Stunde um Stunde.
Der Himmel ist düster und verhangen.
Vielleicht findet der Brief der Mutter ja deswegen seinen Weg nicht.
Die Tage gehen vorüber, ohne Brief.
Charlotte möchte auf den Friedhof gehen.
Dort kennt sie jeden Winkel.
Sie tritt an das Grab ihrer Mutter.
Dass du mir dein Versprechen nicht vergisst: Du wolltest mir alles berichten.
Aber es kommt kein Brief.
Kein einziger.
Charlotte kann das Schweigen der Mutter nicht mehr ertragen.
Ihr Vater versucht, ihr gut zuzureden.
Die Toten können den Lebenden gar keine Briefe schreiben.
Und das ist auch besser so.
Deine Mutter ist glücklich da, wo sie ist.
Über den Wolken gibt es jede Menge Klaviere.
Er redet ein bisschen wirres Zeugs.
Er ist ziemlich durcheinander.
Charlotte begreift schließlich, dass es keinen Brief geben wird.
Sie ist ihrer Mutter schrecklich böse.
2
Als Nächstes geht es darum, das Alleinsein zu lernen.
Charlotte vertraut sich niemandem an.
Ihr Vater flüchtet sich in die Arbeit.
Jeden Abend sitzt er über seine Bücher gebeugt am Schreibtisch.
Die Bücher stapeln sich zu Türmen.
Charlotte beobachtet ihn.
Wie ein Irrer murmelt er irgendwelche Formeln vor sich hin.
Unaufhaltsam geht er seinen Weg des Wissens.
Und den Weg des Ruhms.
Gerade hat man ihn zum außerordentlichen Professor ernannt.
Das ist eine große Ehre, ein Traum wird wahr.
Aber Charlotte scheint sich gar nicht darüber zu freuen.
Es fällt ihr offenbar schwer, Gefühle auszudrücken.
Am Fürstin-Bismarck-Lyzeum wird hinter ihrem Rücken getuschelt.
Sie hat ihre Mutter verloren, wir sollen nett zu ihr sein.
Sie hat ihre Mutter verloren, sie hat ihre Mutter verloren.
Die breiten Treppenaufgänge des Gebäudes haben etwas Beruhigendes.
Etwas Schmerzstillendes.
Charlotte ist froh, jeden Tag zur Schule gehen zu können.
Auch ich bin diesen Weg etliche Male gegangen.
Ich wollte auf den Spuren der kleinen Charlotte wandeln.
Ihrer Fährte folgen, hin und zurück.
Einmal bin ich in die Schule hineingegangen.
Im Eingangsbereich tummelten sich ein paar Mädchen.
Eine von ihnen könnte Charlotte sein, dachte ich mir.
Ich machte mich auf ins Sekretariat und erklärte den Grund meines Besuchs.
Man stellte mir die pädagogische Koordinatorin vor.
Sie hieß Gerlinde.
Die überaus freundliche Frau wirkte nicht weiter überrascht.
Charlotte Salomon, wiederholte sie für sich.
Wir kennen sie hier natürlich.
Dann folgte eine ausgedehnte, gründliche Führung durch das Gebäude.
Jedes Detail könnte schließlich von Bedeutung sein.
Gerlinde rühmte die Vorzüge des Hauses.
Und beobachtete nebenbei meine Gemütsregungen.
Aber das Beste sollte noch kommen.
Sie wollte mir Anschauungsmaterial für den Biologieunterricht zeigen.
Wieso?
Das sei alles noch von damals.
Ich könnte in das vorherige Jahrhundert eintauchen.
In die noch erhaltenen Kulissen dieser Zeit.
Wir liefen einen staubig-finsteren Gang entlang.
Und gelangten auf einen Dachboden.
Wo lauter ausgestopfte Tiere untergebracht waren.
Auch Insekten, die hinter einer Glasscheibe auf die Ewigkeit warteten.
Mein Blick fiel auf ein menschliches Skelett.
Der Tod, immer wiederkehrender Refrain meiner Recherchen.
Gerlinde meinte:
Sicher hat Charlotte anhand dieses Skeletts die menschliche Anatomie studiert.
Da stand ich nun, fast hundert Jahre später.
Und analysierte ebenfalls die Anatomie des menschlichen Körpers.
Zum Abschluss besichtigten wir die prachtvolle Aula.
Eine Mädchenklasse posierte für das Klassenfoto.
Angefeuert vom Fotografen, machten die jungen Damen allerhand Faxen.
Erfolgreich verewigte er einen Augenblick der Freude.
Ich musste an das Klassenfoto von Charlotte denken.
Die Aufnahme ist nicht in der Aula entstanden, sondern draußen im Hof.
Es ist ein sehr seltsames Foto.
Alle Mädchen schauen in die Kamera.
Alle bis auf eines.
Charlotte schaut in eine andere Richtung.
Was sieht sie?
3
Einige Zeit wohnt Charlotte bei ihren Großeltern.
Im Kinderzimmer ihrer verstorbenen Mutter.
Die Großmutter ist irritiert.
Sie bringt die Zeiten durcheinander.
Ein Kind, das die Züge ihrer ersten Tochter trägt.
Und den Namen der zweiten.
Nachts, wenn die Großmutter die Angst in ihrem Bauch spürt, steht sie auf.
Und sieht nach, ob die kleine Charlotte auch friedlich schläft.
Das Temperament des Mädchens wird immer stürmischer.
Es vergrault sämtliche Kindermädchen, die sein Vater anstellt.
Hasst jeden, der auf es aufzupassen versucht.
Am schlimmsten ist Fräulein Stargard.
Eine fette, ordinäre Gans.
Charlotte sei das ungezogenste Kind, das sie je gesehen habe, meint sie.
Zum Glück fällt sie bei einem Ausflug in eine Grube.
Sie schreit vor Schmerz, bricht sich das Bein.
Charlotte wähnt sich im siebten Himmel, endlich ist sie sie los.
Doch bei Fräulein Hase wird alles besser.
Charlotte schließt sie sofort ins Herz.
Da Albert nie Zeit hat, ist sie so gut wie immer da.
Charlotte beobachtet sie heimlich, wenn sie sich wäscht.
Sie ist fasziniert von ihrem großen Busen.
So einen sagenhaften Busen hat sie noch nie gesehen.
Der ihrer Mutter war klein.
Und der ihre, wie wird der wohl einmal sein?
Sie will wissen, was vorteilhafter ist.
Und zieht den Nachbarsjungen zurate, der ihr im Treppenhaus begegnet.