Das Leben meiner Schwester - David Foenkinos - E-Book

Das Leben meiner Schwester E-Book

David Foenkinos

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»David Foenkinos versteht es wie kein anderer, das Seelenporträt einer zurückgewiesenen Frau in einen psychologischen Thriller zu verwandeln. Atemberaubend.« Version Femina

Die Hochzeit ist schon geplant, da bricht über Nacht für die sensible Lehrerin Mathilde die Welt zusammen. Ihr Freund Etienne hat beschlossen, sie zu verlassen. Waren alle Versprechen Lügen, war die gemeinsame Zeit nur Illusion? Mathilde ist zutiefst verletzt. Erst als ihre Schwester Agathe sie bei sich in ihrer Wohnung aufnimmt, findet Mathilde langsam wieder zu sich selbst: Da ist Lili, ihre süße Nichte, mit der sie spielt, und da ist Frédéric, Agathes liebevoller, verlässlicher Ehemann, mit dem sie angeregt diskutiert. Doch zugleich beginnt Neid an ihr zu nagen, stetig und gnadenlos. Hat es Agathe wirklich verdient, all das zu haben, was sich Mathilde immer gewünscht hat? Mathilde sieht die Welt plötzlich wie in einem Zerrspiegel – mit fatalen Folgen ....

Das faszinierend-verstörende Psychogramm einer zurückgewiesenen Frau.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 175

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Autor:

David Foenkinos, 1974 geboren, lebt als Schriftsteller und Drehbuchautor in Paris. Neben den Romanbiografien, Charlotte (2015) und Lennon (2018), finden auch seine Komödien begeisterte Leserinnen und Leser, darunter die Bestseller Nathalie küsst (2011) und Das geheime Leben des Monsieur Pick (2017). Sein Roman Das Leben meiner Schwester, erklomm in Frankreich den ersten Platz der Bestsellerliste und wurde von der Presse sehr gelobt.

Zum Buch:

Die Hochzeit ist schon geplant, da bricht über Nacht für die sensible Lehrerin Mathilde die Welt zusammen. Ihr Freund Etienne hat beschlossen, sie zu verlassen. Waren alle Versprechen Lügen, war die gemeinsame Zeit nur Illusion? Mathilde ist zutiefst verletzt. Erst als ihre Schwester Agathe sie bei sich in ihrer Wohnung aufnimmt, findet Mathilde langsam wieder zu sich selbst: Da ist Lili, ihre süße Nichte, mit der sie spielt, und da ist Frédéric, Agathes liebevoller, verlässlicher Ehemann, mit dem sie angeregt diskutiert. Doch zugleich beginnt Neid an ihr zu nagen, stetig und gnadenlos. Hat es Agathe wirklich verdient, all das zu haben, was sich Mathilde immer gewünscht hat? Mathilde sieht die Welt plötzlich wie in einem Zerrspiegel – mit gefährlichen Folgen ....

Das Leben meiner Schwester in der Presse:

»David Foenkinos zeichnet das messerscharfe Porträt einer Frau, die in ihren eigenen Qualen gefangen ist. Eine erschreckende Nahaufnahme.«

Le Figaro Littéraire

»Düster und unerbittlich, reiht sich der Roman in die Linie von Leïla Slimanis ›Dann schlaf auch du‹ ein, Romane, die ebenso grausam wie unwiderstehlich sind.«

Le Journal du Dimanche

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook

David Foenkinos

Das Leben meiner Schwester

Roman

Aus dem Französischen von Christian Kolb

Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel Deux Sœurs bei Éditions Gallimard, Paris, erschienen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © der Originalausgabe 2019 by David Foenkinos

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2024 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Magdalena Russocka / Trevillion Images, www.buerosued.de

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-25876-4V001

www.penguin-verlag.de

ERSTERTEIL

1

Es begann damit, dass Mathilde am Blick von Étienne etwas Merkwürdiges auffiel. Die Sache war jedoch nicht der Rede wert. Fängt nicht jedes Unglück mit etwas Unscheinbarem an?

2

Hätte sie dieses Etwas genauer beschreiben sollen, hätte sie wohl gesagt, es liegt ein Schatten über seinem Gesicht, ohne zu wissen, was sie eigentlich damit meinte. Es gibt ja unterschiedliche Arten von Schatten. Sie hatte eben so ein dumpfes Gefühl. Was hatte sie gespürt? Hatte er schlicht schlechte Laune oder zog ein gewaltiges Unwetter auf? Am Ende fragte sie doch:

»Schatz, alles Ordnung mit dir?«

»Nein, mir geht’s zurzeit nicht so gut.«

Sie waren seit fünf Jahren zusammen, und Mathilde war nach wie vor wahnsinnig verliebt. Es war das erste Mal, dass er in trockenem Ton ein Unbehagen zum Ausdruck brachte. Mathilde war verunsichert und überlegte, was sie sagen sollte. Sie hatte sich bemüht, ihre Frage möglichst beiläufig zu stellen, so wie man sich halt bei den Leuten erkundigt, wie es ihnen geht, manchmal wartet man die Antwort gar nicht ab. Ihr Gefühl hatte also nicht getrogen. Étienne war seit ein paar Tagen irgendwie seltsam, fand sie, geistesabwesend. Natürlich stand er in seinem Job mächtig unter Druck, sein neuer Chef setzte ihm gehörig zu. Doch er war an die Härten des Berufs an sich gewöhnt. Und er trug die Schrecken der Arbeit sonst nie mit nach Hause. Auf bewundernswerte Weise brachte er es fertig, die Dinge voneinander zu trennen. Das zeichnete ihn aus. Er teilte sein Leben gern in verschiedene Bereiche auf. Mathilde machte sich plötzlich Gedanken, welchem Bereich sie selbst zugeordnet war. Ja, welchem? Sie beschlich die finstere Ahnung, dass sie auf ein raues, verlassenes Gelände gelangt war, wo es stark nach Trennung roch.

3

Étienne blieb den ganzen Abend über recht schweigsam, erklärte sich Mathilde nicht, spannte sie auf die Folter. Sie sagte sich, ich muss das akzeptieren. Es kam ja auch vor, dass es ihr selbst nicht gut ging und sie nicht darüber reden konnte. In der Hinsicht hatten sie etwas gemeinsam. Schweigen heilte ihre Wunden.

Sie zwang sich, ein freundliches Gesicht zu machen, und ließ ihn brüten über das, worüber er offenbar zu brüten hatte und was ihm keine Ruhe ließ. Sie setzte eine Miene auf, in der zu lesen war: Wenn du mich brauchst, ich bin da. Nun hatte er aber schon die Nachttischlampe ausgeschaltet. Und bevor er sich auf seine Seite gelegt hatte, hatte er ihr mit der Hand über den Rücken gestrichen, eine distanzierte, geradezu absurde Geste. Mathilde hätte am liebsten das Licht wieder angeschaltet, ihm gesagt, dass sie nicht einschlafen kann nach einem solchen Abend, sie brachte nur kein Wort heraus. Zur Entspannung schwelgte sie in Erinnerungen, ließ im Geiste die Bilder des vergangenen Sommers vorüberziehen. Sie waren zwei Wochen in Kroatien gewesen und hatten ein paar Tage auf einer einsamen Insel verbracht. In diesem Paradies hatten sie vom Heiraten gesprochen. Étienne fühlte sich bereit, Kinder mit ihr zu haben. Alles war groß und wunderbar. Eine ewig währende Liebe schien sich anzudeuten.

4

Étienne war auch am nächsten Morgen nicht besonders gesprächig. Er ging etwas früher aus dem Haus als sonst, nachdem er Mathilde erneut mit der Hand über den Rücken gestrichen hatte, das war jetzt anscheinend schon Routine. Diesmal hatte sie den unbestimmten Eindruck, als hätte er Mitleid mit ihr. Sie hatte ihm ein strahlendes Lächeln geschenkt, aber er hatte sich schnell umgedreht. Als sie dann allein war, hätte sie gern eine Zigarette geraucht, es war bloß keine da. Einen Augenblick stand sie reglos am Frühstückstisch, den sie liebevoll gedeckt hatte. Den sie in der Hoffnung, dass sich mit Schönheit alles zum Guten wenden ließe, mit Rosenblättern geschmückt hatte. Doch Étiennes Augen waren blind gewesen für diese dezenten Schönheitstupfer, er hatte sie nicht bemerkt. Immer nett und positiv sein, dieses Verhalten war ganz typisch für Mathilde. Bis vor Kurzem war Étienne noch jeden Morgen freudig neben ihr aufgewacht.

5

Mathilde kam nie zu spät zur Schule, einem Lycée in einem Pariser Vorort. Sie galt als sehr gewissenhafte Lehrerin, die die Kinder liebte, als wären es ihre eigenen. Bei einer Klassenkonferenz hatte das tatsächlich einmal jemand zu ihr gesagt. Auch an dem Tag war sie pünktlich. Sie blieb einen Augenblick im Auto sitzen und dachte sich, ich muss meine Sorgen vertreiben, bevor ich mich in Gesellschaft begebe. Was Étienne gesagt hatte, ließ sie nicht los. Es gehe ihm zurzeit nicht so gut. Dieser Satz wog schwer wie ein russischer Roman. Sie betrachtete sich im Rückspiegel. Seltsam, es dauerte mehrere Sekunden, bis sie sich selbst wiedererkannte.

Nachdem sie schließlich ausgestiegen war, lief ihr auf dem Parkplatz Monsieur Berthier, der Direktor, über den Weg. Er war lang und dünn, ein wenig so wie einer der Männer, die auf dem Bild von Magritte vom Himmel fallen. Er bewunderte Mathilde und hatte sich vehement für ihren Verbleib eingesetzt, als sie im Jahr zuvor ein Angebot von einer Pariser Privatschule vorliegen hatte. Obwohl es ziemlich attraktiv war, hatte sie es letztlich ausgeschlagen. Sie hing an ihren Schülern und wollte sich ihnen gegenüber loyal verhalten, außerdem wusste sie es zu schätzen, einen Direktor zu haben, der ihr wohlgesinnt war. Doch als er nun ein Gespräch eröffnete, fiel ihr plötzlich ein, dass sie etwas im Auto vergessen hatte. Eine Ausrede, um die wenigen Schritte zum Gebäude nicht mit ihm gehen zu müssen. Eine morgendliche Unterhaltung kam für Mathilde nicht infrage.

6

Beim Anblick ihrer Klasse gelang es ihr, ihren Kummer abzustreifen. Oder vielleicht sollte man eher sagen: Ihre innere Unruhe legte sich.

Vor der Stunde redete sie noch kurz mit Mateo, dessen Leistungen nach der Scheidung seiner Eltern deutlich nachgelassen hatten. Mathilde hatte immer ein paar aufmunternde Worte für ihn übrig, manchmal saß sie nach Unterrichtsschluss mit ihm da und half ihm mit den Textaufgaben. Ihr Engagement schien sich auszuzahlen, denn in letzter Zeit machte er sichtlich Fortschritte. Vielleicht konnte sie seinem Schicksal ja eine Wendung geben. Das würde sich zeigen.

In Französisch behandelte sie einen Ausschnitt aus Die Erziehung der Gefühle. Sie hatte eine große Schwäche für diesen Roman, der in ihren Augen Flauberts schönster war, und teilte ihre Begeisterung Jahr für Jahr mit ihren Schülerinnen und Schülern. Dieses Buch hatte einmal alles verändert, als sie es selbst in der Schule durchgenommen hatte. Seitdem konnte sie ohne Literatur gar nicht mehr leben. Sie war für ihren Beruf wie geschaffen. Gerade trug sie jene berühmte Stelle vor, an der Frédéric Moreau zum ersten Mal Madame Arnoux sieht. Seine Leidenschaft entflammt. Flaubert beschreibt die Gefühlsregungen des jungen Mannes so: »Es war wie eine Erscheinung.« Doch als Mathilde den Satz vorlas, unterlief ihr ein Versprecher. Sie sagte: »Es war wie eine Entscheidung.«

7

In der Mittagspause stellte sie ihr Handy an. Um ihre Chancen auf neue Nachrichten zu erhöhen, hatte sie es den Vormittag über absichtlich ausgelassen. Sie starrte das Display an, manchmal dauerte es ein wenig, bis die Verbindung zustande kam, aber das Gerät zeigte keine Nachrichten an. Mathilde war tief getroffen.1

Sabine, eine Lehrerin, mit der sie sich ganz gut verstand, auch wenn man nicht behaupten konnte, dass die beiden Frauen Freundinnen waren, wartete auf Mathilde, um gemeinsam essen zu gehen. Sie verbrachten die Mittagspause oft zusammen und plauderten dabei, wie Arbeitskolleginnen eben plaudern. Mathilde gab ihr ein Zeichen, das so viel bedeutete wie: Ich kann heute nicht. Oder: Ich komme gleich nach. Oder: Ich habe überhaupt keinen Hunger. Man weiß im Grunde nie genau, was Zeichen bedeuten. Sabine begriff immerhin, dass sie sich allein in die Kantine aufmachen musste.

Mathilde blieb mit ihrem Smartphone in der Hand auf dem Gang stehen. Sie war richtig sauer auf Étienne, der sich einfach in Schweigen hüllte. Sonst telefonierten sie immer oder schrieben sich wenigstens ein paar Nachrichten tagsüber; vor allem, wenn das Verhältnis angespannt war. Sie hatte seinen Unmut ertragen, aber irgendwann musste er doch die Situation aufklären, wenn nicht aus Liebe, dann zumindest aus Höflichkeit. Aber nur eine Minute später war sie ihm auf einmal nicht mehr böse, sah sie die Sache wieder anders und schrieb: »Schatz, ich denk dauernd an dich. Hoffentlich geht’s dir heute besser. Vergiss nicht, ich bin für dich da. Ich kann’s kaum erwarten, dich zu sehen.« Nachmittags schaute sie in den Pausen auf ihr Handy, aber er hatte nicht geantwortet. Keine Nachricht, nur erbarmungsloses Schweigen.

8

Abends fasste er endlich in Worte, was ihn umtrieb. Mit reichlich zitternder Stimme verkündete er: »Ich ziehe aus.« Mathilde kapierte nicht recht. Er drückte sich komisch oder ungeschickt aus. Warum sagte er nicht gleich, dass er sie verließ? Er redete vom Ausziehen, um das, was er nicht über die Lippen brachte, anhand einer konkreten Folge zu erläutern. Trennungen sind oft kompliziert, man macht vage Andeutungen, rückt nicht mit der Sprache heraus oder lügt, weil man dem anderen nicht wehtun möchte. Mathilde musste die Unterhaltung ankurbeln, um Genaueres zu erfahren, ihm das Verdikt aus der Nase ziehen:

»Was meinst du damit? Willst du, dass wir getrennte Wohnungen haben?«

»Nein, das ist nicht der Punkt.«

»Was dann? Étienne, bitte rede mit mir!«

»Das ist ein heikles Thema.«

»Du kannst mir alles sagen.«

»Glaub nicht, dass ich das kann.«

»Na doch.«

»Ich will dich verlassen. Es ist aus.«

Mathilde war fassungslos. Sie fühlte sich entsetzlich schwach und blieb fürs Erste stumm. Er ging auf sie zu und wollte ihr wieder mit der Hand über den Rücken streichen. Sie hatte es also schon richtig gedeutet, es war eine scheußliche Geste des Mitleids. Sie stieß ihn heftig zurück und stammelte dann mehrmals:

»Das kann doch nicht wahr sein. Das kann überhaupt nicht wahr sein.«

»Tut mir leid.«

»Im Sommer … haben wir noch vom Heiraten geredet.«

»Ja, ich weiß.«

»Was ist denn auf einmal passiert?«

»Nichts. Ich hab einfach das Gefühl, dass es vorbei ist. So ist es nun mal.«

»Aber man kann doch nicht plötzlich aufhören zu lieben. Das kann nicht sein.«

»…«

»Gib uns doch noch eine Chance, ich flehe dich an.«

»Meine Entscheidung ist gefallen. Ich werde so lange bei meinem Cousin unterkommen, bis ich eine neue Wohnung gefunden habe. Du musst nicht ausziehen.«

»Ich muss nicht ausziehen? Ich darf ruhig bleiben?«, brauste Mathilde schließlich doch auf. »Aber was soll ich denn hier? Wo mich alles an dich erinnert. Alles. Hier geh ich zugrunde. Du meinst, ich soll allein in unserem Bett schlafen? Meinst du das wirklich?«

»Ich weiß nicht. Ich will dir doch bloß keine Schwierigkeiten machen, sonst nichts.«

»Ach so? Du interessierst dich für meine Probleme? Echt? Erklär mir das mal näher!«

»So kenn ich dich ja gar nicht …«

»Ach, jetzt komm mir nicht damit! Nicht mit dem Scheiß!«

Sie sank aufs Sofa, krümmte sich vor Schmerz. Étienne war wie gelähmt von ihrem Anblick. Ihr leidender Gesichtsausdruck hatte geradezu etwas Entmenschlichtes. Er bewegte sich auf sie zu, doch sie stieß ihn erneut zurück, anscheinend mit letzter Kraft. Es sah aus, als wäre sie gerade dabei, ihren Körper zu verlassen. Nach einer Weile, schwer zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, befahl sie ihm, ihr aus den Augen zu gehen. »Hau ab«, wiederholte sie ständig, »hau ab, ja, jetzt gleich.« Er wollte sie nicht allein lassen, doch ihr Blick war so streng, so unerbittlich, dass er sie noch einmal fest ansah und dann die Tür hinter sich zuzog.

Als ihr kurz darauf klar wurde, dass er tatsächlich fort war, schrieb sie ihm eine Mitteilung: »Bitte tu mir das nicht an, ich sterbe.«

9

Später am Abend, sie lag nach wie vor niedergeschmettert auf dem Sofa, dachte sie sich: Es darf niemand erfahren. Dieser Gedanke beruhte auf einer eigenartigen Logik: Wenn niemand davon wusste, war es auch nicht so. Sie stellte sich den nächsten Tag in der Schule vor. Ausgeschlossen, dass sie Sabine oder sonst jemandem von dem Vorfall erzählte. Für die Außenwelt hatte Étienne vergangenen Sommer in Kroatien praktisch um ihre Hand angehalten, würden sie bald heiraten. Im Laufe des Abends schickte sie ihm mehrere Nachrichten, in denen sie abwechselnd eine Erklärung verlangte und ihn beschwor, zu ihr zurückzukommen. All diese Nachrichten blieben unbeantwortet, Mathilde hätte sich am liebsten aus dem Fenster gestürzt.

Gegen Mitternacht ging sie in eine Bar und trank Wein. Sie hatte den unwiderstehlichen Drang, ihren Schmerz mit Alkohol zu betäuben, wer hätte geglaubt, dass ihr so etwas einmal passieren würde. Ein Mann sprach sie an. Sie sagte sich, ich könnte mit ihm schlafen, ich bin ja an niemanden mehr gebunden. Das heißt, ich brauche nicht gleich mit ihm ins Bett zu steigen, es genügt, ihn zu bezirzen, um sich die Finger schmutzig zu machen, sich selbst zu entfliehen oder sich umzubringen. Doch sie wankte wieder nach Hause, der Rausch erlöste sie nicht. Das Leid schärfte ihre Sinne. Eine Strafe, bei hellwachem Verstand zu sein.

10

Der Morgen graute und fühlte sich an wie eine Verlängerung der Nacht. Oder auch: wie die Ankündigung der nächsten Nacht.

11

Mathilde duschte ausgiebig und seifte sich ordentlich ein, als könnte sie sich so von den Geschehnissen reinigen. Sie warf alles weg, was sie am Vortag getragen hatte (eine spontane Idee). Sie wollte das Zeug, das sie angehabt hatte, als Étienne mit ihr Schluss gemacht hatte, nie mehr sehen. All diese Handgriffe führte sie instinktiv und auch ein bisschen rabiat aus, wie eine Kriegerin. Aber sie lieferte sich selbst eine Schlacht. Ihr fehlte das Gegenüber. Sie kämpfte mit einer Schattenarmee.

12

Als sie auf dem Schulparkplatz aus dem Auto stieg, begegnete ihr der Direktor. Wie immer eigentlich. Ihr Herz war gebrochen, und trotzdem blieb alles beim Alten, drehte das Karussell sich weiter, ungerührt von ihrer Tragödie. Monsieur Berthier sah wie jeden Morgen aus, lächelte freundlich und gab die üblichen Banalitäten von sich. Mathilde ließ sich auf das Spiel ein. »Ja, mir geht’s gut. Und Ihnen?« Sie merkte, wie leicht es war, sich zu verstellen. Sie hatte geglaubt, man könnte ihr ihr Unglück vom Gesicht ablesen, doch dem war anscheinend nicht so. Berthier fiel nichts Außergewöhnliches auf, keiner ihrer flüchtigen Bekanntschaften sollte etwas auffallen. Das verstärkte ihren Kummer. Natürlich wollte sie ihre Gefühle nicht zeigen, aber das Theater, das die anderen veranstalteten, hielt ihr vor Augen, wie unendlich einsam man im Grunde ist.

13

Vor dem Klassenzimmer wartete Mateo auf sie. Er überreichte ihr ein Päckchen.

»Ist das für mich?«, erkundigte sie sich, obwohl das an sich offensichtlich war.

»Ja, meine Eltern möchten sich bei Ihnen bedanken.«

»Wofür?«

»Für alles, was Sie für mich getan haben.«

»Ich habe nicht viel getan.«

»Doch, Madame. Sie haben mir sehr geholfen. Und Sie sind immer so nett zu mir.«

»…«

»Machen Sie jetzt das Geschenk auf?«

»Ja …«

Vorsichtig öffnete Mathilde die Verpackung, um nichts zu beschädigen. Ein goldener Bilderrahmen kam zum Vorschein.

»Ich hoffe, Ihnen gefällt’s. Habe ich gestern zusammen mit meiner Mutter ausgesucht. Sie können da ein schönes Foto reintun.«

»…«

»Gefällt’s Ihnen?«

»Ja. Danke, Mateo. Ich bin ganz ergriffen …«, sagte Mathilde, die spürte, wie ihr die Tränen aufstiegen.

Sie betrachtete den leeren Rahmen, der etwas Symbolisches hatte. Er verkörperte ihr neues Leben. Ein inhaltsloser Rahmen. Was für eine grausame Ironie des Schicksals. Sie fing an zu weinen, dicke Tränen liefen ihr übers Gesicht, all die Tränen, die sie bislang zurückgehalten hatte. Die der Schock gelähmt hatte. Sie rannen, als ihr eine kleine Aufmerksamkeit zuteilwurde. Mateo stotterte verdutzt: »Aber … es ist doch bloß ein Bilderrahmen …« Mathilde bedankte sich erneut und versuchte vergeblich, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, die einem unabhängigen Königreich zu unterstehen schienen, das von einer verheerenden Sintflut heimgesucht wurde.

Unter den verwunderten Blicken der Kinder betrat sie schließlich das Klassenzimmer. Ein Mädchen flüsterte einem anderen ins Ohr: »Sie ist bestimmt schwanger. Als meine Mutter mit meiner Schwester schwanger war, hat sie auch dauernd geheult. Wegen jeder Kleinigkeit.«

14

Mathilde wandte sich Flaubert zu, und der Schultag verlief ohne weitere Zwischenfälle.

15

Am Abend lag sie auf dem Sofa. Ins Bett gehen und schlafen kam überhaupt nicht infrage. Sie hatte die ganze Zeit nichts gegessen. Und Étienne hatte sich noch immer nicht gemeldet. Dafür hatte sie einige Nachrichten von Freunden und Verwandten erhalten. Er hatte also sämtlichen Leuten Bescheid gegeben. Wahrscheinlich hatte er alle gebeten, ein bisschen nach dem Opfer zu sehen. Das war doch mehr als lächerlich. Seine Schwester hatte geschrieben: »Mein Bruder hat mir erzählt, dass er dich verlassen hat. Das tut mir leid. Wenn du irgendwas brauchst, ich bin für dich da. Eure Trennung ändert nichts an unserer Freundschaft …« Natürlich änderte das etwas. Mathilde würde keinen Menschen ertragen, der sie an Étienne erinnerte. Aber nach fünf Jahren Beziehung war ihr gesamtes gesellschaftliches Umfeld von ihm befallen. Sie würde niemanden mehr treffen können. Sie hatte nicht nur den Mann verloren, den sie liebte, ihr ganzes Leben war zerstört. Langsam stieg Wut in ihr auf. Die Schuldigen mussten doch zur Rechenschaft gezogen werden. Ein ungeheurer Zorn erfüllte sie, dann beruhigte sie sich, anschließend erfasste sie erneut der Groll. So ging es immer weiter. Sie schwankte zwischen Tobsucht und Trübsal hin und her. Anstrengend, aber sie fand einfach keine Ruhe. Als wäre sie dazu verurteilt, ihren eigenen Niedergang mit anzusehen.

16

Sie hätte sich bei ihrer Mutter ausheulen können. Wenn sie noch am Leben gewesen wäre.

17

Oft dachte Mathilde an den 12. Oktober 2002. In zwei Wochen hatte sie Geburtstag, würde sie vierzehn werden. Es war spät abends. Sie konnte nicht einschlafen. Der Atem ihrer Schwester im oberen Bett ging gleichmäßig, sie röchelte ein wenig. Agathe war fünfzehn. Wenn man die Schwestern sah, war es schwer zu sagen, welche von beiden die Ältere war. Man konnte meinen, dass sie Zwillinge waren.

Da hörte Mathilde einen Schrei. Einen gellenden Schrei, so mancher hätte sich bestimmt die Ohren zugehalten. Sie sprang auf, zögerte dann aber. Womöglich war ein Einbrecher in der Wohnung, und ihre Mutter hatte geschrien, weil sie ihre Töchter warnen wollte. Also musste Mathilde schleunigst die Tür verrammeln, sich verbarrikadieren. Sie sah damals im Fernsehen viele Berichte über Kriminalfälle, die ihre krankhafte Fantasie beflügelten. Tatsächlich war es jedoch wieder still geworden nach dem schrillen Schrei. Mucksmäuschenstill. Es gab wohl doch keinen Eindringling. Mathilde vernahm ein anhaltendes leises Stöhnen, das aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern zu kommen schien. Sie beschloss, der Sache nachzugehen, bewegte sich jedoch nur langsam vorwärts, unheimliche Entdeckungen können immer noch ein wenig warten. Der Schrei und ihre Mutmaßungen dazu hallten in ihr wider. Sie fand ihre Mutter, die tränenüberströmt am Schlafzimmerboden lag und nach Luft rang. Sie hielt das Telefon in der Hand. Dieser Anblick sollte Mathilde nie mehr loslassen.