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Very British - drei England-Krimis in einem Band!
Diese E-Book-Sonderausgabe beinhaltet die Fälle 31 - 33 der Cosy-Crime-Serie "Cherringham - Landluft kann tödlich sein" - ein Muss für Fans von Miss Marple und Sherlock Holmes!
Folge 31: Drei Mädchen und ein großes Abenteuer: Die Wanderung zum Abschluss der Highschool hat Tradition in Cherringham. Auch Holly, Amy und Jasmine beschließen, fünf Tage lang durch die dichten Wälder der Cotswolds zu wandern und nachts unter dem Sternenhimmel zu zelten. Doch dann verschwindet eines der Mädchen mitten in der Nacht und wird am nächsten Morgen tot aufgefunden. Zunächst sieht alles nach einem schrecklichen Unfall aus. Doch Jack und Sarah sind davon nicht überzeugt. Schon bald finden sie heraus, dass Lügen furchtbare Folgen haben können ... und immer Spuren hinterlassen.
Folge 32: Edward Townes, berühmter Autor historischer Romane, gibt eine mittelalterliche Party anlässlich der Veröffentlichung seines neuesten Bestsellers. Jede Menge illustre Gäste sind eingeladen. Obwohl während der Feier ein schlimmer Schneesturm über Cherringham hereinbricht, macht sich der angetrunkene Edward spät in der Nacht allein auf den Heimweg. Als der Schriftsteller am nächsten Morgen tot auf dem Marktplatz aufgefunden wird, beginnen Jack und Sarah zu ermitteln. Durch das Unwetter ist Cherringham von der Außenwelt abgeschnitten - das heißt der Mörder muss immer noch im Dorf sein ...
Folge 33: Auf einer Wanderung auf dem Cotswolds Way stürzt eine der Teilnehmerinnen von einem hohen Felsen - war es ein Unfall? Oder ein Mordversuch? Jack und Sarah nehmen die Wanderer genauer unter die Lupe. Und diese Gruppe hat es in sich ... Doch wer von ihnen ist der Täter? Und hat er sein Ziel schon erreicht oder plant er weitere Anschläge? Aber auch das Opfer scheint ein Geheimnis zu haben ...
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!
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Seitenzahl: 441
Cover
Weitere Serien der Autoren
Über diesen Sammelband
Über die Autoren
Sammelband XI
Impressum
Ein jähes Ende
Mord in eisiger Nacht
Geheimnisvolle Zeugen
Mydworth. Ein Fall für Lord und Lady Mortimer
Ein jähes Ende
Drei Mädchen und ein großes Abenteuer: Die Wanderung zum Abschluss der Highschool hat Tradition in Cherringham. Auch Holly, Amy und Jasmine beschließen, fünf Tage lang durch die dichten Wälder der Cotswolds zu wandern und nachts unter dem Sternenhimmel zu zelten. Doch dann verschwindet eines der Mädchen mitten in der Nacht und wird am nächsten Morgen tot aufgefunden. Zunächst sieht alles nach einem schrecklichen Unfall aus. Doch Jack und Sarah sind davon nicht überzeugt. Schon bald finden sie heraus, dass Lügen furchtbare Folgen haben können … und immer Spuren hinterlassen.
Mord in eisiger Nacht
Edward Townes, berühmter Autor historischer Romane, gibt eine mittelalterliche Party anlässlich der Veröffentlichung seines neuesten Bestsellers. Jede Menge illustre Gäste sind eingeladen. Obwohl während der Feier ein schlimmer Schneesturm über Cherringham hereinbricht, macht sich der angetrunkene Edward spät in der Nacht allein auf den Heimweg. Als der Schriftsteller am nächsten Morgen tot auf dem Marktplatz aufgefunden wird, beginnen Jack und Sarah zu ermitteln. Durch das Unwetter ist Cherringham von der Außenwelt abgeschnitten – das heißt der Mörder muss immer noch im Dorf sein …
Geheimnisvolle Zeugen
Auf einer Wanderung auf dem Cotswolds Way stürzt eine der Teilnehmerinnen von einem hohen Felsen – war es ein Unfall? Oder ein Mordversuch? Jack und Sarah nehmen die Wanderer genauer unter die Lupe. Und diese Gruppe hat es in sich … Doch wer von ihnen ist der Täter? Und hat er sein Ziel schon erreicht oder plant er weitere Anschläge? Aber auch das Opfer scheint ein Geheimnis zu haben …
Matthew Costello ist Autor erfolgreicher Romane wie Vacation (2011), Home (2014) und Beneath Still Waters (1989), der sogar verfilmt wurde. Er schrieb für verschiedene Fernsehsender wie die BBC und hat dutzende Computer- und Videospiele gestaltet, von denen The 7th Guest, Doom 3, Rage und Pirates of the Caribbean besonders erfolgreich waren. Er lebt in den USA.
Neil Richards hat als Produzent und Autor für Film und Fernsehen gearbeitet sowie Drehbücher für die BBC, Disney und andere Sender verfasst, für die er bereits mehrfach für den BAFTA nominiert wurde. Für mehr als zwanzig Videospiele hat der Brite Drehbuch und Erzählung geschrieben, u.a. The Da Vinci Code und, gemeinsam mit Douglas Adams, Starship Titanic. Darüber hinaus berät er weltweit zum Thema Storytelling. Bereits seit den späten 90er Jahren schreibt er zusammen mit Matt Costello Texte, bislang allerdings nur fürs Fernsehen.
Cherringham ist die erste Krimiserie des Autorenteams in Buchform; inzwischen schreiben sie außerdem regelmäßig Fälle für ihre neue historische Cosy Crime-Serie »Mydworth. Ein Fall für Lord und Lady Mortimer«.
Matthew CostelloNeil Richards
CHERRINGHAM
LANDLUFT KANN TÖDLICH SEIN
Sammelband XI
Folge 31: Ein jähes EndeFolge 32: Mord in eisiger NachtFolge 33: Geheimnisvolle Zeugen
beTHRILLED
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe von »Ein jähes Ende«:
Copyright © 2018 by Neil Richards & Matthew Costello, Titel der englischen Originalausgabe: »Trail of Lies«
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Für die Originalausgabe von »Mord in eisiger Nacht«:
Copyright © 2018 by Neil Richards & Matthew Costello, Titel der englischen Originalausgabe: »Death Trap«
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Für die Originalausgabe von »Geheimnisvolle Zeugen«:
Copyright © 2018 by Neil Richards & Matthew Costello, Titel der englischen Originalausgabe: »Cliffhanger«
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Für diese Ausgabe:Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt
Covergestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-1583-6
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Matthew CostelloNeil Richards
CHERRINGHAM
LANDLUFT KANN TÖDLICH SEIN
Ein jähes Ende
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
»Du schaffst das, Holly! Guck einfach nicht nach unten. Sieh mich an! Gleich habe ich deine Hand.«
Holly Wilson starrte geradeaus und fixierte ihre Freundin Amy, die bereits auf der anderen Seite der wackligen Hängebrücke war. Dort wirkte sie ziemlich klein neben den hohen Bäumen.
Dabei lächelte Amy so zuversichtlich, so beruhigend.
Nur noch wenige Schritte bis zu ihr. Eigentlich war es so, als würde man ein Zimmer durchqueren. Was könnte einfacher sein?
Dann aber sah sie nach unten, durch das Knotenraster der schwankenden Brücke, von der man – im Grunde nicht sehr tief, vielleicht etwa sechs Meter – in einen seichten Fluss fallen konnte.
Was allerdings immer noch reichte, um sich bei einem Sturz zu verletzen, falls man falsch landete. Verstauchter Knöchel, gebrochenes Bein. Oder gar Schlimmeres …
Und in dem Fall würde sich diese Wanderung komplett verändern.
Zudem könnten es statt der sechs Meter ebenso gut dreißig sein, wenn man solche Höhenangst hatte wie Holly.
Sie fühlte bereits, wie ihre Herzfrequenz in die Höhe ging und ihre Atmung schneller wurde.
Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war eine ihrer Panikattacken.
Es war schon schlimm genug, wenn sie eine in den Korridoren ihrer Schule erlitt.
Aber hier … und jetzt?
Sie schloss die Augen und dachte an die Bewältigungsstrategien, die sie gelernt hatte und die – manchmal – das Schlimmste verhinderten.
Tief und langsam atmen. Konzentriere dich! Kontrolliere die Angst, mach sie dir zu eigen. Versuch nicht, sie zu verdrängen.
»Ach, jetzt mach schon, Holly! Mein Gott, das ist ja wohl nicht der dämliche Amazonas-Regenwald, oder?«
Jasmines Stimme war direkt hinter ihr. »Und du fällst garantiert nicht durch die Lücken nach unten, klar?«
Jasmine.
Diese Stimme in ihrem Ohr hatte ihr jetzt gerade noch gefehlt.
Holly drehte sich um – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Jasmine ihre Augen verdrehte, die Hände in die Hüften stemmte und höhnisch grinste.
»Ups, entschuldige. Ich meine natürlich, mit deinem Rucksack und allem anderen kannst du da nicht durchfallen, klar?«
Holly entging nicht, dass Jasmine abermals die Augen verdrehte und ihr fieses Grinsen noch breiter wurde.
Netter Versuch, das zu retten, dachte Holly. Aber ich weiß, was du gemeint hast, Jasmine.
Du hast gemeint: Holly, du bist so eine verdammt fette Kuh, dass du nicht mal durch diese Brücke hinunterfallen könntest, wenn du es wolltest.
Im nächsten Moment lenkte sie eine andere Stimme von Jasmines grausamen Worten ab.
»Komm jetzt, Holly«, sagte Amy. »Du kannst das.«
Holly drehte sich wieder zu Amy um. Die nette Amy auf der anderen Seite des Flusses, die ihr Mut machte.
»Denk an all die anderen gruseligen Sachen, die wir schon hinter uns gebracht haben. Bei denen du klasse warst. Und das hier ist das letzte Stück, okay? Hiernach sind es nur noch Waldwege, ein paar Hügel –«
»Und noch eine Nacht in dem beschissenen Zelt«, fiel Jasmine ihr ins Wort.
»Und noch ein Abend, an dem wir das Essen ertragen müssen, für das du zuständig bist«, entgegnete Amy.
»Uuh, wie gemein, Amy! Da gibt es für dich heute Abend keine Schokolade oder Kekse«, konterte Jasmine.
»Behalte deine Schokolade«, sagte Amy. »Was juckt mich das?«
»Hast wohl was Besseres bei dir versteckt, was?«, fragte Jasmine.
»Na, das werde ich auch gerade dir auf die Nase binden«, antwortete Amy.
Holly blickte von einem Mädchen zum anderen, bemühte sich, mitzubekommen, worum es bei diesem kleinen Streit ging, und hatte das Gefühl, dass zwischen den beiden Dinge abliefen, von denen sie keine Ahnung hatte.
Zugleich aber ließ ihre Panik nach, weil nicht mehr sie selbst, sondern Amy im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.
Es ist immer so schwierig, wenn Leute mich ansehen.
Dann stelle ich mir vor, was sie wohl über mich denken, was sie untereinander tuscheln.
Und gleichzeitig ist mir dabei bewusst, dass das meiste von alldem bloß in meinem Kopf existiert.
Sie holte tief Luft, überprüfte die Riemen ihres Rucksacks … obwohl die nicht überprüft werden mussten.
Und dann, da es keinen Grund mehr gab, weiterhin zu zögern, trat sie auf der wackligen Brücke einen Schritt vor.
Der erste mutige Schritt.
»Hey, super!«, rief Amy. »Weiter so, Holly! Sehr gut!«
Ein Schritt. Dann noch einer. Die Augen unentwegt auf Amy gerichtet.
Die Hände umklammerten fest die Taue zu beiden Seiten.
Nun schwankte die Brücke mit jedem Schritt, und unter ihr rauschte Wasser über Steine.
Die Panik kam zurück – mit voller Wucht.
Oh Gott, ich werde stürzen. Ich werde fallen und sterben.
»Nur noch zwei Schritte, und du bist da, Holly. Sieh mich an! Guck zu mir!«, forderte Amy sie auf.
Holly zwang sich, ihre Augen von dem tosenden Wasser abzuwenden und wieder zu Amy zu schauen, die so verlässlich, so selbstsicher wie eine echte Naturforscherin war. Sie stützte eine Hand an einen Baumstamm und streckte Holly die andere entgegen.
Mechanisch setzte Holly noch einen Fuß vor den anderen, bewegte ihre Hände an den Tauen entlang. Fast da, nur noch ein Schritt …
Sie ließ mit der Rechten das Seil los und streckte sie nach vorn.
Dann wurde ihre Hand von Amys umklammert, und Holly trat auf den Felsen. Als Nächstes fühlte sie Amys Arme um sich, ihre Wange an ihrer. Amys wunderschönes langes Haar in ihrem Gesicht.
»Sehr gut!«, lobte Amy und wich zurück.
Holly blickte in ihr grinsendes Gesicht, in die dunklen, vertrauensvollen Augen, und erwiderte das Lächeln.
»Wurde aber auch Zeit«, sagte Jasmine, die hinter ihr herbeigeeilt kam.
Holly drehte sich zu Jasmine um, die schon die Brücke überquert hatte.
»Oh, Entschuldigung, war nur ein Scherz«, sagte sie. »Ähm, nicht schlecht, Holly. Jetzt sieh mal auf der blöden Karte nach, wo wir hinmüssen.«
Holly öffnete den Reißverschluss der Plastikhülle, die sie an einer Schnur um ihren Hals trug, und zog die Karte hervor. Sie alle hatten ihre Aufgaben, und Holly war unter anderem für die Karte zuständig.
Sie faltete sie auseinander, legte sie auf ein flaches Felsstück und zog den Kompass aus ihrer Tasche. Dann legte sie ihren Rucksack ab und hockte sich hin, um sich zu orientieren.
Ihr war bewusst, dass die zwei anderen neben ihr standen und warteten.
Diese eine Fähigkeit hatte sie ihnen voraus.
Sie stand auf, blickte zurück zu der Brücke und dem Fluss, dann in den Wald hinein, der sich vor ihnen bis zum grauen Horizont erstreckte.
»Okay, wir gehen da lang«, sagte sie und zeigte auf einen teils überwucherten Trampelpfad, der sich im dichten Unterholz verlor.
Dann nahm sie ihren Rucksack auf, schwang ihn zurück auf ihre Schultern und marschierte los.
Sie hatte den Hängebrückentest bestanden, und jetzt war sie die Anführerin.
»Das ist hoffentlich richtig«, sagte Jasmine hinter ihr.
»Karten? Navigation? Da hat Holly immer recht«, entgegnete Amy.
Holly hörte es und lächelte vor sich hin, als sie weiter durch die Büsche ging, die über den Pfad wuchsen.
Ich liebe dich, Amy, dachte sie. Andererseits, wer liebt Amy nicht?
Jasmine lehnte sich mit dem Rücken an ihren Rucksack, öffnete eine Brotdose aus Plastik und sah hinein.
Den Abend zuvor hatten sie mit anderen Gruppen aus der Schule in einer Jugendherberge übernachtet und heute Morgen Proviantpakete für die Wanderung mitbekommen.
»Uärgs«, sagte sie. »Käsesandwiches – schon wieder? Holly, willst du?«
Sie beobachtete, wie Holly sich aufrichtete und zu ihr kam.
Mann, das ist, als würde man zugucken, wie ein Tier aus einem Wasserloch steigt, dachte sie. Watschel, watschel …
»Ähm, willst du die wirklich nicht?«, fragte Holly.
»Wir haben das einundzwanzigste Jahrhundert, Holly. Keiner isst mehr Käsesandwiches.«
»Ich schon«, erwiderte Holly. »Ich mag die gerne.«
Was isst du nicht gerne?, dachte Jasmine.
»Ja, das sehe ich«, sagte sie, als Holly nach den Sandwiches griff.
»Ich nehme auch eines«, sagte Amy. »Die erinnern mich an die Mittagessen in der Grundschule.«
Jasmine sah, wie sie herüberkam und Holly eines abnahm.
Auf dieser Tour spielt sich Amy plötzlich als Hollys Beschützerin auf.
»Weißt du noch, wie wir in der Grundschule immer Kekse getauscht haben?«, fragte Amy.
»Du hattest immer die besten, Amy! Von deiner Mum, nicht? Die Bäckerin bei Huffington’s ist«, sagte Holly.
Was gibt sie sich überhaupt mit der ab?, dachte Jasmine. Ist ja nicht so, als würden wir je wieder mit Holly reden, wenn dieses Schuljahr zu Ende ist und das richtige Leben anfängt!
Sie nahm ein schlaffes Salatblatt aus ihrer Brotdose und blickte zu den beiden anderen, die auf dieser kleinen Waldlichtung hockten und aßen.
Was für eine Zeitverschwendung diese ganze Tour gewesen ist – und dabei hätte sie so cool sein sollen!
Insgesamt wanderten sie fünf Tage durch die Cotswolds; sie campten eine Nacht, und die nächste verbrachten sie in einer Jugendherberge. Fünfzig Meilen, und das ohne Lehrer. Nur drei Mädchen.
Dies war eine Herausforderung – und ein Ritual im letzten Jahr an der Cherringham High: eine Wanderung, die sie vollständig selbst organisierten, um Spenden einzuwerben.
Gott, es hätte total fantastisch werden können.
Aber Freya war kurz vorher krank geworden, und deshalb hatten Amy und sie nun die Loserin Holly am Hals.
Loserin Holly. Ich meine – im Ernst? Wie zur Hölle konnte das passieren?
Und das Schlimmste von allem war, dass Amy sich jetzt tatsächlich mit ihr zu verstehen schien! Was war das – irgendeine Mitleidsnummer? Wie die Suche nach einem verirrten Welpen?
Je eher wir wieder in Cherringham sind und den Klops loswerden, desto besser, dachte sie.
Sie blickte hinüber zu Amy, die auf ihrem Handy tippte. Eine Weile beobachtete Jasmine sie und fragte sich, wem sie schrieb.
Sie waren Freundinnen, doch in letzter Zeit schien Amy einige Geheimnisse zu haben.
Jasmine bekam ein wenig Angst. Amys beste Freundin zu sein war, nun ja … alles.
Sie holte ihre Wasserflasche hervor und trank einen großen Schluck.
»Und, Holly, weißt du, wo wir sind?«, fragte sie.
»Ich glaube, ja.«
»Du glaubst, aber du weißt es nicht?«
»Na ja, ich bin mir ziemlich sicher.«
»Ach so, da bin ich doch unglaublich beruhigt«, erwiderte Jasmine und blickte zu Amy in der Hoffnung, von ihr Unterstützung zu erhalten.
»Ist ja gut, Jas. Holly hat es doch bisher super gemacht«, sagte Amy und steckte endlich ihr Handy wieder ein.
»Was anderes behaupte ich ja auch gar nicht.«
»Und was meinst du, Holly?«, erkundigte sich Amy. »Noch zehn Meilen heute Nachmittag, dann sind wir in Shipton Woods, was?«
»Ja, das denke ich«, antwortete Holly.
»Shipton Woods?«, fragte Jasmine. »Von dem entzückenden Flecken habe ich noch nie gehört.«
»Da zelten wir heute Nacht«, sagte Holly. »Dann bleiben nur noch ungefähr fünf Meilen bis Cherringham. Morgen wird es also eine lässige Tour.«
»Dem Himmel sei Dank!«, stöhnte Jasmine. »Ich könnte eine Nacht in einem richtigen Bett vertragen.«
»Und ich einen Tag im Spa«, meinte Amy.
»Massage mit heißen Steinen!«, ergänzte Jasmine.
»Eine Flasche Prosecco!«
»Und einen Braten zum Dinner!«, warf Holly ein.
Jasmine sah zu Amy.
Braten? Dauernd nur Essen.
Auf welchem Planeten lebt Holly?
»Wasserpause?«, fragte Jasmine, als sie hintereinander einen Übertritt über eine Trockenmauer neben einem schmalen Sträßchen bewältigten.
Sie griff nach der Flasche in ihrem Rucksack und trank einen kräftigen Schluck.
Die letzten zwei Stunden waren hart gewesen: im Gänsemarsch schlammige, rutschige Feldwege hinunter, dann über weite, hügelige Felder, wo bei jedem Schritt in der durchgepflügten Erde die Beine schmerzten.
Sie beobachtete, wie Holly wieder die Karte hervornahm und ihren Standort überprüfte.
»Sag mir bitte, dass wir fast da sind«, flehte Jasmine.
Holly kam mit der Karte zu ihr und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle.
»Hier sind wir«, sagte sie und tippte dann auf einen anderen Punkt auf der Karte. »Und da ist Cherringham – hinter dem Hügel.«
Jasmine sah in die Richtung, in die Holly nun wies – eine Weide hinauf und zu einem dunklen Wald oben auf einer Erhöhung.
»Hügel?«, wiederholte sie. »Für mich sieht das wie ein weiterer fieser Berg und eine Klippe aus.«
»Na ja, im Prinzip ist es bloß ein Hügel«, erwiderte Holly.
»Und was soll das sein?«, fragte Jasmine und tippte auf einen blauen Klecks auf der Karte, der direkt neben Hollys »Hügel« war.
»›Blackwater Lake‹ steht hier.«
»›Schwarzes Wasser‹ – klingt unheimlich«, sagte Amy, die zu ihnen kam und auf die Karte blickte.
»Es ist eine Art alte Kiesgrube«, erklärte Holly. »Die sich mit Wasser gefüllt hat.«
»Sieht man«, meinte Jasmine. »Da müssen wir rumgehen, oder?«
»Es sei denn, du willst rüberschwimmen«, antwortete Holly lachend.
»Nacktbaden!«, rief Jasmine.
»Auf keinen Fall«, sagte Amy. »Nicht in schwarzem Wasser – iih!«
»Mit Monstern in der Tiefe!«, fügte Jasmine hinzu.
»Ich glaube, der See heißt Blackwater, weil er so tief ist«, vermutete Holly. »Nicht, weil er wirklich schwarz ist.«
Jasmine sah sie an.
Werd doch endlich mal erwachsen, Holly, dachte sie. Sie sah, dass Holly blinzelte und dann wieder auf die Karte schaute.
»Jedenfalls, wenn wir den Wald da oben durchquert haben und oberhalb vom See angelangt sind, wird es flacher, also …«
»Hol, sollen wir da zelten?«, fragte Amy.
»Ich denke, ja. Auf der anderen Seite von Shipton Woods. Gleich … hier«, antwortete Holly und zeigte auf einen grünen Flecken im Wald auf der Karte. »Oben ist es schön und eben. Und wir sind noch im Hellen da, können die Zelte aufbauen, ein Feuer machen …«
»Was für ein Spaß«, sagte Jasmine und sah Amy an. »Unsere letzte Nacht im Paradies.«
Hierfür fing sie sich einen bösen Blick von Amy ein.
»Streicht mich nur bitte für das Trällern am Lagerfeuer, ja?«, erklärte Jasmine, steckte ihre Wasserflasche ein und schnallte ihren Rucksack zu.
Dann machte sie sich auf den Weg über das Feld.
»Kommt jetzt!«, rief sie, ohne sich nach den anderen umzusehen.
Je eher das hier vorbei ist, umso besser, dachte sie.
Amy packte einen überhängenden, bemoosten Ast und zog sich den schlammigen Hang hinauf, ehe sie ihren Stiefel gegen einen Baumstumpf stemmte, damit sie Holly zu sich hochziehen konnte.
»Fast geschafft«, sagte sie lächelnd. Hollys Gesicht war schweißglänzend, von Schlamm verschmiert und sehr rot.
Das hier ist heftig für sie.
»Danke, Amy!« Holly beugte sich vor, um zu verschnaufen. »Auf der Karte … sah es einfacher aus.«
»Dieser viele Regen«, erklärte Jasmine, die weiter vorn stehen blieb und sich zu ihnen umdrehte. »War eigentlich klar. Super Pfadfinderin!«
»Es ist nicht Hollys Schuld«, erwiderte Amy, während sie an Jasmine vorbei den Weg hinaufblickte. Sie waren bereits eine knappe halbe Stunde durch diesen dunklen Wald gewandert, wo der Weg immer wieder im Unterholz und Schlamm verschwand, weshalb sie mehrmals anhalten und in die Karte schauen mussten.
Die einzige Konstante war das dunkle Wasser des Sees, der sich ein Stück weit unterhalb von ihnen befand und durch die Bäume gerade noch sichtbar war.
Manchmal mussten sie tiefer in den Wald, um steile Hänge und Felskanten zu meiden.
Jetzt allerdings schien der Wald vor ihnen lichter zu werden. Durch die Baumkronen war endlich der Himmel zu erkennen.
»Beinahe da«, sagte Amy und legte eine Hand auf Hollys Schulter. »Weiter geht’s.«
Holly lächelte. Sie trottete an ihr vorbei und hinter Jasmine her.
Amy blickte ihr nach – und plötzlich bemerkte sie an einer Seite eine Bewegung in der Dunkelheit zwischen den Bäumen.
Dann … erspähte sie ein winziges Aufblitzen, wie Sonnenlicht, das von einem Glas widergespiegelt wurde …
Sie wirbelte herum und blickte in die Ansammlung von dicht beieinanderstehenden Eichen und Kiefern.
Da! Ja! Da ist was. Ein Tier?
Oder … jemand …?
Ein dunkler Umriss, der nur für einen Moment sichtbar war, ein Muster, das sich von der Finsternis drum herum abhob. Und es schien hinter dem dicken Stamm einer Eiche weiter weg zu verschwinden.
Ein fernes Rascheln, das Knacken eines Zweigs …
Und es war fort.
Amy blieb stehen und horchte. Doch das einzige Geräusch, das sie hörte, war ihr eigener Atem.
Plötzlich hatte sie ein beklemmendes Gefühl in der Brust, und ihr Herz pochte.
Ihr Verstand kam zu dem offensichtlichen Schluss.
Der Umriss hatte ausgesehen wie …
Ein Mensch!
Sie schaute den Hang hoch: Jasmine war nicht mehr in Sicht, und Holly erreichte gerade den Hügelkamm.
Ich will hier unten nicht alleine sein, dachte sie.
Und sie trat zurück auf den Weg. Ihre Stiefel rutschten noch mehr in dem Matsch, als sie eilig den Hügel hinaufstapfte.
Holly prüfte die letzte Halteleine von Amys Zelt, bevor sie zu dem von Jasmine ging. Mit der einfallenden Dunkelheit wurde es zunehmend schwieriger, etwas zu sehen.
Und wie üblich waren Jasmines Zeltleinen alle locker.
Mal wieder typisch, dachte sie.
Sie sah hinüber zu den beiden Mädchen, die am flackernden Lagerfeuer hockten und über einen kleinen Topf gebeugt waren, in dem sie heiße Schokolade machten.
»Trinkt nicht alles ohne mich«, sagte sie, zog einen von Jasmines Heringen weiter weg vom Zelt und hämmerte ihn in den Boden.
»Da würden wir nicht im Traum dran denken«, antwortete Amy.
»Aber beeil dich mal«, forderte Jasmine sie auf.
Holly trat von dem Zelt zurück und betrachtete ihr kleines Lager.
Nicht schlecht.
Die drei kleinen Ein-Personen-Zelte standen vollkommen symmetrisch an drei Kompasspunkten mit den Eingängen zueinander, sodass sie sich gegenseitig sehen konnten, wenn sie schlafen gingen.
Was beruhigend war.
Hier auf dieser grasbewachsenen Lichtung waren sie geschützt, und es bestand keine Gefahr, dass nachts irgendwelche Äste herabfielen, sollte es windig werden.
Vorn an jedem Zelt hingen Gaslaternen – wie aus einem Abenteuerbuch für Kinder, dachte Holly.
Ich liebe das.
Die letzten Nächte hatte sie so gut geschlafen, eingemummelt in ihren Schlafsack und in dem Wissen, dass Amy ganz in der Nähe war, in Reich- und Hörweite.
Und auch Jasmine – obwohl Holly mit ihr nicht viel anfangen konnte.
Sie wusste, dass Jasmine sie nicht mochte, vielleicht sogar verachtete, dennoch war sie die Woche über entschlossen gewesen, sich davon nicht kränken zu lassen.
Und das tat sie nicht.
Sie war stolz auf das, was sie geschafft hatte. Fünfzig Meilen zu Fuß – wobei sie darauf geachtet hatte, dass sie sich nie verirrten –, zwei Nächte in einer Jugendherberge, drei im Zelt, einige Panikattacken, das ja …
Doch sie hatte nicht aufgegeben, hatte nicht geweint.
Sie konnte es nicht erwarten, Mum alles zu erzählen.
Zeit für Kakao.
Dann jedoch …
Ein Rascheln in den Bäumen hinter ihr.
Sie drehte sich herum, konnte aber nichts sehen.
»Merkt ihr das? Es wird windig«, sagte Amy, die vom Lagerfeuer aufstand und mit einem dampfenden Becher zu Holly kam. »Hier – ohne Zucker, richtig?«
Holly nickte und nahm den Becher. »Danke! Darf ich dir etwas zeigen?«
»Klar.«
»Hier entlang.« Holly ging am Lagerfeuer vorbei und schritt vor ihrer Freundin aus dem Lichtkreis heraus. »Kannst du noch genug sehen?«
»Ja, prima«, antwortete Amy, die sie einholte. Holly fühlte, wie Amy sich bei ihr einhakte.
Nach einer Minute blieb sie stehen und zeigte durch eine Lücke zwischen den Bäumen, die sie vorhin entdeckt hatte. Weit unten im Tal war eine warm anmutende Ansammlung von Lichtern zu sehen … und eine Linie von Straßenlaternen, die an der Schule vorbei aus dem Dorf führte.
»Cherringham«, sagte Holly.
»Wow, das sieht so nahe aus! Als könnte man den Arm ausstrecken und es anfassen!«
»Es sind nur noch ein paar Stunden morgen. Und die werden leicht, weil es bergab geht.«
»Wie du versprochen hast«, sagte Amy.
»Ja, wie ich es versprochen habe«, bekräftigte Holly.
In diesem Moment trennten sich die Wolken, und der Halbmond erhellte das Tal.
Nun konnte Holly die Themse sehen, die sich silbern durch die Ebene zwischen ihnen und dem Dorf schlängelte.
»Ist das nicht wunderschön?«, fragte Holly, die Amys Arm an ihrem spürte.
»Fantastisch. Wenn man bedenkt, dass wir unser ganzes Leben zusammen da unten verbracht haben«, sinnierte Amy laut. »Und bald, im September, werden wir alle einfach … ausfliegen und vollkommen andere Leben beginnen.«
»Wie Schmetterlinge.« Holly hatte das Gefühl, als würde sie sich an diesen Moment mit Amy für immer und ewig erinnern.
»Iih!«, entfuhr es ihrer Freundin. »Schmetterlinge. Das würde ja bedeuten, dass wir jetzt Raupen sind!«
Holly lachte. »Manchmal glaube ich, dass ich eine bin«, offenbarte sie. »Und hoffe, dass sich für mich so einiges ändert. Dass … ich mich verändere. Also, ja, vielleicht bin ich eine Raupe. Sicher denkt Jasmine das von mir.«
»Ach, wen interessiert denn, was Jasmine denkt«, entgegnete Amy. »Mich schon mal nicht.«
Holly fröstelte. »Komm, gehen wir zurück zum Feuer. Ich friere!«
Sie wandten sich zum Gehen, aber da hörte Holly, wie Amys Handy in ihrer Tasche piepte. Sie wartete, während Amy es hervorholte und auf das Display schaute.
»Ähm, eine Minute«, sagte Amy. »Geh du schon vor. Ich komme gleich nach.«
»Ist gut.« Holly ging zurück zum Lagerfeuer, wo sie Jasmine mit ihrer heißen Schokolade sitzen sah.
Wahrscheinlich hat sie nicht mal bemerkt, dass der Mond zum Vorschein gekommen ist.
Hinter sich konnte sie Amy leise telefonieren hören.
Wird Zeit, das Abendessen zuzubereiten, dachte sie.
Jasmine wird es garantiert nicht machen.
»Gute Nacht, Amy! Gute Nacht, Jasmine!«, sagte Holly, schaltete ihre Taschenlampe aus und legte sie neben ihren Schlafsack.
Nun kam das einzige Licht von der sterbenden Glut des Lagerfeuers, die sie durch die geschlossene Zeltklappe sah.
»Nacht, Holly! Nacht, Amy!«, erklang Jasmines Stimme.
»Nacht, Jasmine! Nacht, Holly!«
Holly lächelte, kuschelte sich tiefer in ihren Schlafsack und wartete, dass die anderen beiden Zeltlichter erloschen.
Sie schloss die Augen und dachte an den Tag – an seine Höhepunkte, an seine Tiefpunkte.
Und schließlich an den letzten schönen Abend am Lagerfeuer, als sie zu dritt über die Vergangenheit und die Zukunft gesprochen hatten.
Jasmine würde nach St. Andrews gehen, Amy nach Cambridge.
Holly stellte sich vor, wie Amy in einem Umhang und einem Doktorhut auf dem Rad zu ihren Vorlesungen fuhr, mit Freunden Stockkahnfahrten auf dem Fluss machte, Sektkorken knallen ließ, so klug in ihren Seminaren war, einen erstklassigen Abschluss schaffte …
So würde Amys Leben sein.
Witzig. Und genial. Sie würde sich gegen jeden behaupten, der sie kleinzumachen versuchte.
Und Sekunden später schlief Holly mit diesen Bildern im Kopf ein.
Irgendwann, es war vielleicht zwei oder drei Uhr nachts – sie war sich nicht ganz sicher –, glaubte sie, etwas in der Ferne zu hören.
Das Geräusch hatte sie geweckt.
Und ihr erster, beängstigender Gedanke war:
Es klang wie ein Schrei.
Dann überlegte sie. Der kreischende Schrei eines Fuchses? Oder vielleicht von einem Vogel? Eine Eule, die sie noch nie zuvor gehört hatte?
Ja. Ein Vogel, ein Tier, dachte sie.
Muss es gewesen sein. Doch was, wenn es etwas Größeres ist?
Sie schrak auf, bekam Herzklopfen vor Angst.
Aufmerksam lauschte sie, starrte in die Dunkelheit ihres Zelts, hörte aber nichts mehr.
Es klang weit weg. Und überhaupt – wahrscheinlich war es nur ein Traum.
Holly legte sich wieder hin, zurrte den Schlafsack fest um sich … und schlief bald wieder ein.
Wenig später wachte sie erneut auf.
Diesmal war es kein Schrei, kein Vogelkreischen gewesen … Aber sie hatte eindeutig ein Geräusch direkt vor ihrem Zelt gehört.
Bewegung. Das Knacken eines Zweiges, auf den jemand getreten war.
Sie setzte sich auf und strengte sich an, etwas zu erkennen.
Viel konnte sie durch den Zeltstoff nicht sehen, denn das Feuer war mittlerweile vollständig erloschen und der Mond hinter Wolken verborgen.
Holly lehnte sich in ihrem Schlafsack nach vorn und linste durch einen Spalt in der Zeltklappe. Jasmine kletterte gerade in ihr Zelt zurück.
Sie muss pinkeln gewesen sein, dachte Holly.
Stumm beobachtete sie, wie Jasmine ihre Zeltklappe schloss – Lasche für Lasche.
Sie blickte zu Amys Zelt. Die Klappe war fest verschlossen.
Kein Grund zur Sorge, dachte sie und schlummerte langsam wieder ein. Kurz vor dem Einschlafen hoffte sie, vom nächsten Tag zu träumen, von der triumphalen Rückkehr der drei Mädchen zur Schule, nachdem sie das große Abenteuer bestanden hatten.
Doch am nächsten Tag kehrten nur zwei Mädchen zur Cherringham High zurück.
Sarah Edwards schlüpfte leise hinten in die St. James’ Church und quetschte sich auf einen kleinen freien Platz in der letzten Bank.
Sie blickte sich in der Kirche um. Es war voller, als Sarah es hier je erlebt hatte.
Schwerer Lilienduft erfüllte den Raum, und die gemessenen Töne von Pachelbels Kanon unterlegten das Gemurmel der Leute, die sich leise unterhielten.
Hier und da wurde geschluchzt.
Vorn am Altar stand ein aufgebockter Sarg, auf dem sich eine Unmenge an Kränzen und Blumensträußen türmte.
Der Altar selbst war ebenfalls über und über mit Blumen in leuchtenden Farben geschmückt: Symbole des Lebens, die seltsam wirkten in diesen traurigen Momenten, da man des Todes gedachte.
Die meisten Trauergäste trugen Schwarz, doch einige hatten sich gegen die Konvention entschieden und Kleidungen in strahlenden Farben angezogen – in Rot-, Pink- und Grüntönen.
Sarah sah, dass die ersten zwei oder drei Reihen für die Familie reserviert waren: die Eltern, ältere Verwandte, Cousins, Cousinen und so weiter.
In den Reihen dahinter waren lauter junge Leute. Teenager. Sie waren kaum noch Jungen und Mädchen, sondern fast schon Männer und Frauen.
Sie hatten ihr ganzes Leben vor sich – bis auf eine Ausnahme.
Auch viele Lehrer saßen in den Kirchenbänken, von denen Sarah die meisten wiedererkannte. Einige von ihnen hatten ihre beiden Kinder, Daniel und Chloe, unterrichtet.
Und unter ihnen befand sich auch Louise James, die Schulleiterin, die in den letzten Jahren zu einer Freundin geworden war – zumindest so weit, wie sie es sein durfte, solange Daniel noch ihre Schule besuchte.
Daniel …
Wieder blickte Sarah sich in den Reihen um und versuchte, ihn zu entdecken. Die Mädchen sahen alle so gleich aus. War das Absicht? Die gleiche Frisur, das gleiche Make-up, sogar die gleichen Stimmen.
Und die Jungen wirkten linkisch. Sie drängten sich auf den schmalen Plätzen. Die meisten von ihnen wirkten ernst, hatten die Köpfe gesenkt, waren eindeutig betroffen. Ein oder zwei rutschten unruhig hin und her, fast zappelig, als wäre dieser furchtbare und unerwartete Übertritt ins Erwachsenenleben irgendwie zu viel für sie.
Ah, dort ist Daniel.
Er saß aufrecht, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Er war nicht religiös – das wusste Sarah –, hatte jedoch definitiv eine spirituelle Ader. Jetzt auf jeden Fall.
Armer Junge. Die letzten Wochen waren schwierig für ihn gewesen. Eine Menge Tränen. Und Wut.
Sarah und ihre ältere Tochter Chloe waren so einfühlsam wie möglich gewesen – waren für ihn da gewesen, wenn er eine Umarmung brauchte oder reden wollte, und hatten ihn in Ruhe gelassen, wenn er sich zurückzog.
Vielen anderen Eltern war es genauso ergangen, wie Sarah wusste. Und als sie sich abermals umschaute, sah sie vertraute Gesichter und Leute, die ihr stumm zunickten.
Dieser Verlust hat das Dorf schwer getroffen.
Auch die Eltern hatten in den letzten Wochen oft spätabends miteinander telefoniert, sich spontan getroffen und gemeinsam zu Abend gegessen.
Dieser Todesfall hatte bewirkt, dass sie näher zusammengerückt waren, um sich gegenseitig zu stützen. Sarah hatte einige Kontakte zu alten Freunden neu geknüpft, die sie seit Daniels Grundschulzeit kaum mehr gesehen hatte.
Sarah sah nun, dass die Tür zur Sakristei aufging, und der Chor kam herein, um sich zu beiden Seiten des Altars aufzustellen.
Hinter ihnen trat Reverend Hewitt langsam hervor und stellte sich vor den Sarg.
In der Kirche wurde es vollkommen still.
Eine lange Pause trat ein.
Es bricht einem das Herz, dachte Sarah und fragte sich, wie irgendein Elternteil dies hier ertragen konnte.
Und sie betete, dass sie niemals einen solchen Schicksalsschlag erleiden würde.
Dann begann Reverend Hewitt ruhig zu sprechen.
»Liebe Familie … Freunde … wir haben uns heute hier versammelt, um einen großen Verlust zu betrauern, aber auch, um ein Leben zu feiern. Unsere Amy Roberts, die uns erst vor wenigen Wochen so plötzlich und tragisch genommen wurde …«
Sarah stand am Rand des Friedhofs und zog ihren Mantel fester zu, weil ein kalter Wind wehte.
Die Beisetzung neigte sich dem Ende zu, und Sarah sah, wie sich die Schüler, unter ihnen Daniel, aufreihten, um eine Handvoll Erde aufzunehmen und ins Grab zu werfen.
So traurig …
»Wie entsetzlich, ein Kind zu verlieren«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und sah Tony Standish; der Anwalt und gute Freund ihrer Familie trat gerade auf sie zu.
Er beugte sich vor und küsste sie auf beide Wangen.
Tony, der stets mitfühlend war, hatte offenbar auch einige Tränen vergossen.
»I-ich konnte es nicht ertragen, nahe am Grab zu stehen, Tony.«
»Ja, ich weiß.«
»Sie hatte noch solch ein wundervolles Leben vor sich.«
»Ich kann nicht mehr zählen, bei wie vielen Beerdigungen ich im Laufe der Jahre gewesen bin. Und wenn es Leute in meinem Alter sind, nun ja, das kann ich ertragen. Manchmal freue ich mich sogar, bei solchen Anlässen alte Freunde wiederzusehen und ein erfülltes, ein schönes Leben zu feiern. Aber dies hier? Ein Kind …«
»Kennst du die Familie?«, fragte Sarah.
»Peter und Christine, ja, beruflich. Ich kann nicht behaupten, sie gut zu kennen, falls du verstehst, was ich meine. Daniel war in ihrem Jahrgang, nicht?«
Sie nickte. »Eine gute Freundin von ihm war mit Amy recht eng befreundet.«
»Wie verkraftet er es?«
»In mancher Hinsicht besser, als ich zu hoffen wagte«, antwortete Sarah. »In anderer … Ah, sieh mal, da kommen sie. Du kannst ihn begrüßen.«
Sarah sah, dass die Trauernden nun über den Hauptweg auf sie beide zukamen, vorbei an uralten Grabsteinen und knorrigen Bäumen.
Sie wartete mit Tony, während die Leute an ihnen vorbeigingen, zumeist stumm und nachdenklich.
Dann erblickte sie Daniel in der Menge mit seiner Freundin Holly. Er hatte tröstend einen Arm um ihre Schultern gelegt.
Das ist mein Daniel, dachte sie.
Er sah sie und kam mit Holly zu ihnen. »Mum …«
»Holly, es tut mir so leid«, sagte Sarah.
Das Mädchen konnte kaum sprechen; das Gesicht war tränenüberströmt, und die Hände zitterten.
»Ich bringe Holly am besten gleich nach Hause, Mum«, teilte Daniel ihr mit.
»Ja, natürlich, Schatz. Mach das. Bis später!«
Sie sah den beiden nach, als sie den Weg hinunter ins Dorf gingen.
Als sie sich wieder umwandte, kamen die Eltern herbei – Peter und Christine Roberts – und schüttelten Tony die Hand.
Sarah sah die beiden an. Peter war ein großer Mann, trug einen schwarzen Wollmantel und Hut, und seine Züge gaben keinerlei Gefühle preis. Wie kalt seine Augen sind. Und Christine – elegant, gleichfalls tadellos gekleidet – hatte ein abgehärmtes, graues Gesicht und wirkte benommen, als stünde sie unter Beruhigungsmitteln.
Wird sie wahrscheinlich auch, dachte Sarah. Wer würde es nicht!
Sie hielt sich zurück, solange die beiden leise mit Tony sprachen. Dann drehte sich plötzlich der Vater zu ihr um.
»Sarah Edwards, nicht wahr?«
Seine Stimme war leise und matt.
»Ja«, antwortete sie und fragte sich, woher er ihren Namen kannte.
»Ich sah Daniel eben bei Ihnen«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Ihr Verlust tut mir unsagbar leid.«
»Hm, ja, danke!«
Wie oft hat der arme Mann diese Worte schon gehört?
»Nun, es gibt etwas … worüber ich mit Ihnen sprechen möchte.«
»Ach ja?« Sarah hatte keine Ahnung, worum es gehen könnte.
Der Mann schaute sich um und sprach anschließend noch leiser: Die Unterhaltung zwischen ihnen beiden war eindeutig nicht für andere Ohren bestimmt.
»Ich bin nicht zufrieden damit, wie alles gehandhabt wurde.« Er blickte kurz zu seiner Frau. »Besser gesagt, wir sind nicht zufrieden damit.«
»Ich verstehe nicht …«
»Na, es ist doch ziemlich offensichtlich, oder?« Auf einmal wurde er lauter. »Ich meine, die Polizei ist die Ermittlungen zu Amys Tod vollkommen falsch angegangen.«
Sarah verhielt sich abwartend. Ihr war nicht wohl dabei, dieses Gespräch zu führen, während Trauergäste und Kinder an ihnen vorbeigingen.
Die Leute könnten mithören.
»Mr Roberts«, sagte sie schließlich, »dies ist eventuell nicht der richtige Ort …«
Sie beobachtete, wie er überlegte und sich umschaute, als hätte er tatsächlich vergessen, wo sie waren.
»Oh, ja, gut. Sie kommen noch mit zum Haus, nehme ich an?«
»Leider nein«, antwortete Sarah. »Ich muss zurück zur Arbeit.«
Selbst wenn sie vorgehabt hätte, zum Haus der trauernden Eltern zu gehen, hätte sie die Einladung unter diesen Umständen wohl ausgeschlagen. Solche Anlässe waren für die Angehörigen und die engsten Freunde gedacht.
»Ah«, sagte Peter. »Das ist, ähm, sehr ungünstig.«
Sarah schwieg. Menschen reagierten unterschiedlich auf Stress, und bei Peter wirkte er sich offenbar so aus, dass er jedwedes Taktgefühl verlor.
Sie holte eine Karte aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm.
»Wie wäre es, wenn Sie mich im Büro anrufen und wir einen Termin vereinbaren?«
Er nahm die Karte, starrte sie an und sah wieder zu Sarah, als verstünde er nicht recht, was sie ihm gerade vorgeschlagen hatte.
»Dann können Sie – und Ihre Frau – erklären, was Ihnen Sorge bereitet. Und ich bitte meinen Kollegen Jack Brennan hinzu. Wir werden sehen, ob wir irgendwie helfen können.«
Sie sah, wie er die Schultern hängen ließ, als er einsah, dass die Unterhaltung verschoben werden musste.
»Na gut«, antwortete er, »ich rufe Sie an. Vielleicht … heute noch. Wenn die Leute gegangen sind …«
Dann wandte er sich zu seiner Frau um, die sich mit Tony unterhielt.
»Christine.«
Sarah beobachtete, wie sie sich benommen zu ihm umdrehte, dann Tony die Hand schüttelte. Amys Eltern nickten anschließend Sarah zum Abschied zu.
»Ich melde mich«, versprach Peter Roberts, während er den Arm seiner Frau nahm und langsam mit ihr zu den Wagen vor dem Friedhof ging.
Sarah sah Tony an.
»Hast du etwas davon mitgehört, was Peter zu mir gesagt hat?«, fragte sie.
»Musste ich nicht«, antwortete Tony. »Peter spricht mich schon seit zwei Wochen immer wieder darauf an. Mich wundert nicht, dass er sich an dich wendet.«
»Warum?«
»Er glaubt nicht, dass der Tod seiner Tochter ein Unfall war«, erklärte er. »Er denkt, dass etwas passiert ist. Dass sie ermordet wurde.«
Jack rannte die Treppe zu Sarahs Büro hinauf.
Er öffnete die Tür und sah sie an ihrem Schreibtisch sitzen; zwei Leute hatten auf der anderen Seite Platz genommen. Die Nachmittagssonne schien grell durchs Fenster hinein.
Die beiden Besucher blickten sich zu ihm um, als er ins Büro trat.
»Entschuldigung, auf der Goose gab es einen Rohrbruch, um den ich mich sofort kümmern musste.«
»Die Grey Goose«, erklärte Sarah, »ist Jacks Boot.«
Das Paar nickte, während Jack sich einen Stuhl heranzog und zu ihnen setzte.
»Jack, Mr und Mrs Roberts erzählen gerade die ›Polizeiversion‹ dessen, was mit ihrer Tochter geschehen ist.«
Jack nickte.
Eine Version – so nennen sie es also.
Er war versucht, seinen kleinen Spiralnotizblock hervorzuholen.
Aber dies war noch kein Fall.
In seinen Jahren bei der New Yorker Polizei hatte er eine Menge trauernde Eltern gesehen.
Trauer kann Seltsames bei Menschen auslösen.
Das Grübeln darüber, was gewesen wäre, wenn … darüber, was hätte sein sollen … Gedanken an alles Mögliche, um die immense, überwältigende Realität ihres Verlustes zu verdrängen.
In diesem konkreten Fall – soweit Sarah es ihm am Telefon erklärt hatte – glaubte das verzweifelte Paar nicht, dass ihre Tochter nur wenige Monate vor Beginn des Studiums und ihres neuen Lebens einen furchtbaren Unfall gehabt hatte.
Jack nickte und blieb vorerst still.
Peter Roberts fuhr fort zu erzählen.
Jack fragte sich, ob seine Frau seine Ängste und seinen Verdacht teilte …
… oder seine Paranoia womöglich?
Manchmal taten sich die Männer – die Ehemänner, die Väter – besonders schwer damit, die Wahrheit zu akzeptieren.
Manche konnten es nie.
»Ja, ähm, die Polizeimannschaft …«
»Die SOCO?«, hakte Jack nach. Bewusst wählte er die Abkürzung der britischen Bezeichnung für die Tatortermittler.
»Ja, genau die. Nachdem man … Amys Leiche in dem See gefunden hatte … sah sich der hiesige Polizist, Alan Rivers, dort um. Dann kam ein ganzes Team aus Oxford. Sie blieben tagelang. Weiß der Himmel, was sie da gemacht haben. Dann sagte der leitende Beamte, was ihrer Meinung nach geschehen war. Und meines Wissens hat es niemand infrage gestellt. Niemand.«
Jack sah zu Sarah. Da sie durch Daniel einen engen Bezug zu der Schule hatte, war ihm klar, dass sie dieser Tod sehr bedrückte.
Die letzten Wochen war Sarah anders gewesen, merklich erschüttert.
Solch ein Verlust ist für alle Eltern ein Schlag.
»Der Polizist erzählte …« – der Mann streckte den Arm aus und umklammerte die Hand seiner Frau –, »meine Tochter müsse in der Nacht wach geworden sein, dann ihr Zelt verlassen haben und irgendwie …«
Er holte tief Luft.
Es ist so schwer für ihn.
»Er sagte … es war dunkel; sie müsse sich verlaufen, die Orientierung verloren haben.«
Jack hatte die ganze Geschichte in den Artikeln der Lokalzeitung verfolgt und zunächst gedacht, dass es wirklich wie ein tragischer Unfall klang.
Doch nun hörte er Peter Roberts deutlich an, dass er – und vielleicht auch seine Frau – dies keineswegs glaubte.
»Dass meine Amy – angeblich – irgendwie zu dieser Felskante geirrt ist!«
Seine Stimme bebte.
»Irgendwie einen Schritt zu weit gegangen und hinuntergestürzt sei, sich den Kopf an den Felsen gestoßen habe. Dann sei sie noch ein Stück gerutscht … in den See gerutscht … und ertrunken.«
Hierauf begann seine Frau zu weinen.
Jack fragte sich, wie viele Tränen die beiden bereits vergossen hatten.
Die Eltern dachten vermutlich: Wann hört das auf? Der Schmerz. Die Tränen.
Sarah schob ihnen eine kleine Schachtel mit Papiertaschentüchern hin.
Für einen Moment war es still.
Jack sprach so ruhig wie möglich.
»Und was ist mit der gerichtlichen Untersuchung? Ich schätze, es wird eine geben, nicht wahr?«
»Die wird einen Dreck bringen«, antwortete Roberts und ächzte auf. »Die Polizei hat doch schon entschieden, was passiert ist.«
»Und Sie sind überzeugt, dass sie sich irrt?«
Peter Roberts sah zu seiner Frau.
Als Jack dies beobachtete, fragte er sich, ob sie mit all dem einverstanden war, was ihr Mann tat. Oder war sie eine Geisel dieser Obsession, die ihren Gatten antrieb?
Als Reaktion auf seinen Blick schaute Christine Roberts nach unten.
Paare …, dachte Jack. Verblüffend, auf welche Art und Weise sie zu kommunizieren lernen. Bisweilen wortlos, nur durch einen Blick oder eine Berührung.
Seine Frau Katherine und er waren auch so gewesen. Und es verging kein Tag, an dem Jack sie nicht vermisste.
»Meine Amy.« Roberts holte tief Luft. Dies war immer noch extrem schwierig für ihn. »Unsere Amy … war ein kluges Mädchen. Und die erzählen uns, dass sie einfach loswandert, mitten in der Nacht …«
Nun sah Jack zu Sarah. Sie musste dies vollkommen anders verarbeiten. Immerhin hatte sie einen Sohn im selben Alter. Und eine Tochter, die nicht viel älter war.
Was er tunlichst im Kopf behalten sollte.
»Klassenbeste … und so clever. Sie sollte Jura studieren, wissen Sie? Cambridge hatte ihr ein fantastisches Angebot gemacht, und …«
Seine Frau legte ihre Hand auf seine.
Gab ihm Halt.
»Sie steht auf, also nimmt sie doch ihre Taschenlampe mit, oder? Sie ist nicht blöd. Wir waren schon zusammen zelten. All diese Mädchen hatten Taschenlampen. Sie hätte ihre mitgenommen, um aus dem Zelt in den Wald zu gehen – und um mithilfe des Lichts wieder zurückzufinden.«
Die Stimme des Mannes war zunächst leise gewesen, begann nun jedoch, lauter zu werden, als nähme seine Wut auf das Geschehene immer noch zu.
»Ähm, Peter …«
Sarah sprach sanft, als könnte sie den Sturm beruhigen.
»Und die Polizei … hat sie Amys Taschenlampe gefunden?«
Peter Roberts sah Sarah an, als wäre ihre Frage völlig absurd. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Nein, das hat sie nicht. Keine Taschenlampe. Nicht in dem verdammten Zelt, nirgends!«
Dann wandte er sich wieder zu Jack. »Können Sie das erklären?«
Der Mann wartete. Seine Frage war einzig an Jack gerichtet.
Und Jack reagierte darauf, indem er sich nach dem erkundigte, was offensichtlich passiert war.
»Und das Gebiet wurde abgesucht?«
»Ja. Mehrere Tage. Und wissen Sie, was die Polizisten am Ende sagten?«
Nun war es an Jack zu warten.
»Sie sagten, dass da draußen in dem Wald überall Pfade seien. Falls sie sich verirrt und die Taschenlampe fallen gelassen hatte, die Batterien vielleicht leer waren … könnte sie überall sein.«
Sarah schaltete sich erneut ins Gespräch ein. »Und der See, in dem sie …«
»In dem sie ihre Leiche fanden? Ja, den haben sie auch abgesucht. Sogar mit Tauchern. Nichts. Jetzt verraten Sie mir – ergibt das irgendeinen Sinn?«
Wieder blickte Jack zu Sarah. Er tippte, dass sie dasselbe dachte wie er.
Dass nichts, was Peter Roberts bisher gesagt hatte, einen Mord nahelegte.
»Tut mir leid«, sagte Jack. »Doch eine fehlende Taschenlampe – für sich genommen …«
»Aber es kommt doch eines zum anderen, oder nicht? Und da ist noch etwas. Sie fanden ihre Leiche nicht in der Nähe der Felswand – oh nein –, sondern auf der anderen Seite, verfangen unter umgestürzten Bäumen. Also, wie ist sie da hingekommen?«
Der Mann nickte, als wäre offensichtlich, was das bedeutete.
In New York hatte Jack allerdings gesehen, was Strömungen und Tiden mit einer Leiche anstellen konnten – sie mal hierhin, mal dorthin treiben ließen, bis sie schließlich herausgefischt wurde.
Nie ein schöner Anblick.
Jack blickte zu Sarah und zurück zu Peter.
»Wenn jemand ertrinkt, wird die Leiche oft … nun ja … abgetrieben. Das ist nicht ungewöhnlich, Mr Roberts.«
»Nein, nein, nein. Etwas ist passiert. In jener Nacht. In jenem Wald. Und wir haben keinen verfluchten …«
Die Unterlippe des Mannes zitterte ein wenig. Er war kurz davor zusammenzubrechen.
Den Satz beendete er nicht.
Dann sprach seine Frau. Ihre Stimme klang extrem matt. Die Art Stimme, die Jack in New York so oft gehört hatte, flüsternd und entkräftet vom Schluchzen und Weinen.
»Erzähl es ihm, Peter! Die andere Sache.«
Peter Roberts blickte wieder zu Jack, dann zu Sarah.
»Und wissen Sie was? Was sie auch nicht gefunden haben?«
Jack sah ihn erwartungsvoll an.
»Das Handy von meiner Amy! Da oben mitten in der Nacht. Ohne Taschenlampe. Ohne Handy?«
Der Mann schaute zur Seite. Jack vermutete, dass er sich vielleicht gerade daran erinnerte, wie seine Tochter oftmals über ihr Handy gebeugt gewesen war. Ein solch vertrautes Bild für alle Eltern.
Noch ein furchtbarer Gedanke, der diesen Verlust, diesen Kummer so schwer machte.
Zu denken: Könnten wir doch nur die Zeit zurückdrehen …
Nun blickte die Mutter des Mädchens auf. Ihre Augen glänzten feucht und füllten sich mit Tränen. Sie sah Jack für einen Moment an, dann zu Sarah.
Jack wartete und wandte sich schließlich wieder dem Ehemann zu.
»Mr Roberts, abgesehen von diesem … Polizeiversagen … das Sie erwähnten – gibt es noch etwas, das Sie zu der Annahme verleitet, jemand hätte Amy etwas antun wollen?«
Die Frage schien den Mann zu überraschen.
»Was meinen Sie damit?«, hakte Roberts nach.
»Ärger in der Schule. Drohungen vielleicht? Streit in jüngster Zeit, Auseinandersetzungen? Irgendwelche Veränderungen im Verhalten Ihrer Tochter, bevor sie auf diese Wanderung ging?«
Jack sah beide an, und für einen Moment war da ein Flackern in den Augen des Mannes.
Er verschweigt etwas, dachte Jack.
Dann versteinerte Peter Roberts’ Miene wieder.
»Nein, nichts. Jeder hat Amy gemocht.«
Er sah zu seiner Frau, die bestätigend nickte.
»Und es ist ausgeschlossen …«, begann Sarah und stockte. »Verzeihen Sie, dass ich das fragen muss. Es ist ausgeschlossen, dass sie sich das Leben genommen haben könnte?«
»Niemals«, erwiderte Christine Roberts.
Die Antwort kam sehr schnell – und wütend.
»An dem Tag, als sie aufbrach«, ergänzte Amys Vater, »hätte sie gar nicht glücklicher sein können.«
Jack beobachtete, wie seine Frau erneut seine Hand nahm und sie drückte.
»Also, werden Sie uns helfen?«, fragte sie Jack und Sarah. »Helfen Sie uns, herauszufinden, was tatsächlich passiert ist?«
Hierauf wandte Sarah – von der Jack glaubte, dass sie auch gleich in Tränen ausbrechen könnte – sich zu ihm.
Einer dieser Momente …
Wo es unnötig war, dass sie ein Wort wechselten.
Jack beugte sich vor. Es war nur eine kleine Geste, um seine Worte zu untermauern.
»Nun, wir werden es versuchen.« Wieder blickte er zu Sarah, und sie nickte zustimmend. »Wir werden uns bemühen, so viel wie möglich herauszubekommen. Allerdings können wir nichts verspre–«
Hier brach er ab, denn das Paar fiel sich in die Arme vor Erleichterung: ein Gefühl, das sich selbst in einem solch schrecklichen Moment einstellen konnte.
Und die zwei blieben minutenlang so.
Sarah nahm sich einen Notizblock von ihrem Schreibtisch.
Sie sah, dass Jack es ihr gleichtat, und dann notierten sie rasch alle Einzelheiten, die ihnen das Paar geben konnte, angefangen mit den Namen der beiden anderen Mädchen auf der Wanderung.
Die Strecke, die sie gegangen waren. Und was wann geschehen war.
Kurz dachte Sarah an ihre Partnerin Grace, die nicht im Büro, sondern mit den Vorbereitungen für ihre Hochzeit beschäftigt war. Der große Tag rückt näher! Daher waren sie im Moment unter sich.
Schließlich klappten sie ihre Blöcke zu, und Sarah stand auf.
Wenn Jack und sie helfen wollten, klärten sie am besten so rasch wie möglich alles auf, was sie nur irgendwie konnten.
Hatte die Polizei erst mal entschieden, dass es sich um einen Unfalltod handelte … Nun, dann war es das für gewöhnlich.
Und wie wahrscheinlich war, dass sie sich irrten?
Das Paar stand ebenfalls auf. Jack und der Mann schüttelten sich die Hände, und Christine Roberts umarmte Sarah.
Sarah war sich nicht sicher, ob sie sich jemals zuvor derart verpflichtet gefühlt hatte, jemandem zu helfen.
Jacks letzte Worte, als das Paar die Holztreppe hinunterging, die bei jedem Schritt knarrte, waren: »Wir sagen Ihnen Bescheid … falls … wenn wir etwas herausfinden.«
Dann waren die beiden fort.
Sarah wandte sich zu Jack um. Verdammt, sie war selbst den Tränen nahe!
Ihr Notizblock war voll mit Namen, Zeitangaben, Ereignissen.
Und sie konnte rein gar nichts Verdächtiges erkennen.
»Worauf haben wir uns eben eingelassen?«, fragte sie.
Jack hatte vorgeschlagen, dass sie an der Kirche vorbei und einen kleinen Weg hinunter zu einer Wiese gingen.
Es war ein stiller, beruhigender Spaziergang, an einem Ort, wo sie in Ruhe Dinge klären konnten – nur wenige Meter entfernt vom sommerlichen Gewimmel in der High Street von Cherringham.
»Was denkst du?«, fragte Sarah.
Jack sah sie an, ging aber weiter.
»Ich denke … ich war schon mal in einer vergleichbaren Situation. Damals verschwand ein zehnjähriger Junge in Bay Ridge.«
Dann ergänzte er: »Jenem Teil von Brooklyn nahe am Meer und der Verrazano Bridge. Ich war noch Anfänger – zumindest als Detective. Erst seit wenigen Jahren dabei. Und ich hasste es, Dinge einfach auf sich beruhen zu lassen. Aber es war alles getan worden – mit allen Leuten geredet, alle Geschichten überprüft. Es wurde Zeit, sagte man mir, die Sache abzuhaken.«
Sarah gelangte zu einer wackligen Holzpforte in einer moosbedeckten Steinmauer. Sie hob den Riegel, und sie ging mit Jack hindurch.
»Aber du hast es nicht ›abgehakt‹.«
»Nein. Ich blieb dran. In meiner Freizeit. Was definitiv gegen die Regeln verstieß. Aber ich wollte nicht, dass dieses Kind zu einem weiteren Gesicht auf einer Milchtüte würde.«
Jack verstummte kurz. Der Boden, auf dem sie gingen, war trocken, der einstige Matsch auf dem Pfad hart geworden. Es hatte längere Zeit nicht geregnet.
»Dann fand ich etwas. Eine kleine … Diskrepanz. Die zu einer weiteren führte. Und Stück für Stück …«
Er blieb stehen und hielt das Gesicht in die Sonne. Sarah erkannte, dass er sich in jene Tage zurückversetzt fühlte. Als wäre es erst gestern gewesen, nicht vor dreißig Jahren.
»Ich fand heraus, was geschehen war.« Er atmete tief ein. »Leider gab es keine Milchtüte für jenes Kind.« Er sah zur Seite. »Aber eine Beerdigung.«
»Und hast du hier das gleiche Gefühl?«
»Weiß ich nicht, Sarah. Die Tatortermittler … sind hervorragend. Wahrscheinlich haben sie den Wald so gründlich nach der Taschenlampe und dem Handy abgesucht, wie sie konnten. Selbst wenn sie Wochen oder Monate suchen würden … sogar dann könnten diese Dinge unentdeckt bleiben und weiterhin irgendwo verborgen herumliegen.«
Er ging wieder weiter.
»Und solch ein Sturz? Auf Felsen – das ist die offizielle Version, nicht? Ein Unfall scheint logisch zu sein. Und die Leiche – tja, die hätte an jeder Stelle am Seeufer antreiben können. Aber es ist noch etwas klar – etwas, das bei der Autopsie herausgekommen sein muss: Es gab keine Spuren, die auf eine Tätlichkeit hingewiesen hätten.«
»Stimmt. Und außerdem, was soll das Motiv gewesen sein?«
»Genau. Natürlich haben wir noch keine Zeugenaussagen gesehen – sofern es welche gibt. Folglich wissen wir nicht, wer außer den Mädchen in jener Nacht sonst noch dort gewesen sein könnte, falls überhaupt jemand.«
»Und dennoch haben wir Ja gesagt.«
Und nun musste er zum ersten Mal lachen – was überaus wohltuend war.
»Richtig, das haben wir. Um diese Leute wenigstens zu beruhigen. Wir haben immerhin Sachverhalte, die wir überprüfen, Geschichten, die wir ein zweites Mal durchgehen können.«
Und sie wusste, dass er an jenen anderen Fall vor so langer Zeit dachte.
»Die Mädchen, mit denen sie unterwegs war …«
Er nickte. »Fangen wir da an. Viel ist es nicht, aber …«
Als sie zu einem langen Abhang kamen, wurde der frühsommerliche Nachmittag wärmer.
»Jack, ich habe da eine Idee.«
»Gut. Und die wäre?«
»Was hältst du davon, wenn ich Alan anrufe? Jetzt. Mal sehen, ob wir die offiziellen Berichte lesen dürfen. Da könnte mehr drinstehen.«
Noch ein Lachen. »Ich weiß zwar, dass Alan in letzter Zeit recht zugänglich ist, wenn es darum geht, uns, ähm, zu helfen. Aber Fallunterlagen rausrücken, wo es um kein Verbrechen geht und die Akte bereits geschlossen ist? Da bin ich mir nicht sicher …«
»Einen Versuch ist es wert, meinst du nicht?«
»Okay, warum nicht? Vielleicht erfahren wir dann, mit wem wir wirklich sprechen müssen.«
Und Sarah holte ihr Handy hervor.