Children of Anguish and Anarchy - Tomi Adeyemi - E-Book

Children of Anguish and Anarchy E-Book

Tomi Adeyemi

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Beschreibung

Der Blutmond rückt näher. Zélie steht ihrem letzten Feind gegenüber. Dem König, der ihr Herz jagt.  Zélie hatte ihr Ziel schon vor Augen: Der königliche Palast war gerade eingenommen, die Monarchie gestürzt, die Maji wiederauferstanden.  Doch dann kam der Überfall. Jetzt findet sich Zélie auf einem Schiff wieder. Eingesperrt in einen Käfig, wie der Rest ihres Volkes. Ihr Entführer: König Baldyr, Anführer der Skulls. Er hat ganze Zivilisationen verwüstet, um Zélie zu finden und sich ihre Kräfte untertan zu machen. Zélie muss sich und ihr Volk retten, bevor Orïsha endgültig untergeht. Das actiongeladene Finale der »Children of Blood and Bone«-Trilogie von Bestsellerautorin Tomi Adeyemi.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 454

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Tomi Adeyemi

Children of Anguish and Anarchy

Gleißendes Herz

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer

 

Über dieses Buch

 

 

Zélie hatte ihr Ziel schon vor Augen: Der königliche Palast war gerade eingenommen, die Monarchie gestürzt, die Maji wiederauferstanden. Doch dann kam der Überfall. Jetzt findet sich Zélie auf einem Schiff wieder. Eingesperrt in einen Käfig, wie der Rest ihres Volkes. Ihr Entführer: König Baldyr, Anführer der Skulls. Er hat ganze Zivilisationen verwüstet, um Zélie zu finden und sich ihre Kräfte untertan zu machen. Zélie muss sich und ihr Volk retten, bevor Orïsha endgültig untergeht. Hilfe bekommt sie dabei von unerwarteter Seite.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Tomi Adeyemi, geboren 1993, ist eine amerikanische Autorin mit nigerianischen Wurzeln. Der erste Band ihrer »Children of Blood and Bone«-Trilogie eroberte die SPIEGEL-Bestsellerliste und war wie auch der zweite und dritte Band der Trilogie wochenlang auf Platz 1 der »New York Times«-Bestsellerliste. Von der Zeitschrift »Brigitte« wurde »Children of Blood and Bone – Goldener Zorn« unter die besten 50 Bücher des Jahres 2018 gewählt und belegte Platz 2 der Phantastik-Bestenliste.

 

Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über fünfundzwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im Sauerland.

Inhalt

[Widmung]

Die Clans der Maji

Gedicht

Erster Teil

Kapitel 1 Zélie

Kapitel 2 Zélie

Kapitel 3 Inan

Kapitel 4 Zélie

Kapitel 5 Zélie

Kapitel 6 Tzain

Kapitel 7 Zélie

Kapitel 8 Zélie

Kapitel 9 Zélie

Kapitel 10 Tzain

Kapitel 11 Tzain

Kapitel 12 Zélie

Kapitel 13 Zélie

Kapitel 14 Amari

Kapitel 15 Inan

Kapitel 16 Zélie

Kapitel 17 Zélie

Kapitel 18 Amari

Kapitel 19 Tzain

Kapitel 20 Zélie

Kapitel 21 Zélie

Zweiter Teil

Kapitel 22 Tzain

Kapitel 23 Zélie

Kapitel 24 Inan

Kapitel 25 Tzain

Kapitel 26 Zélie

Kapitel 27 Amari

Kapitel 28 Zélie

Kapitel 29 Inan

Kapitel 30 Zélie

Kapitel 31 Amari

Kapitel 32 Inan

Kapitel 33 Zélie

Kapitel 34 Zélie

Kapitel 35 Tzain

Kapitel 36 Inan

Kapitel 37 Inan

Kapitel 38 Zélie

Dritter Teil

Kapitel 39 Amari

Kapitel 40 Inan

Kapitel 41 Zélie

Kapitel 42 Inan

Kapitel 43 Amari

Kapitel 44 Inan

Kapitel 45 Tzain

Kapitel 46 Zélie

Kapitel 47 Tzain

Kapitel 48 Zélie

Kapitel 49 Inan

Kapitel 50 Zélie

Kapitel 51 Tzain

Kapitel 52 Zélie

Kapitel 53 Inan

Vierter Teil

Kapitel 54 Amari

Kapitel 55 Inan

Kapitel 56 Tzain

Kapitel 57 Zélie

Kapitel 58 Zélie

Kapitel 59 Tzain

Kapitel 60 Inan

Kapitel 61 Inan

Kapitel 62 Tzain

Kapitel 63 Tzain

Kapitel 64 Zélie

Kapitel 65 Tzain

Kapitel 66 Zélie

Kapitel 67 Inan

Kapitel 68 Zélie

Fünfter Teil

Kapitel 69 Zélie

Kapitel 70 Amari

Kapitel 71 Zélie

Kapitel 72 Tzain

Kapitel 73 Tzain

Kapitel 74 Amari

Kapitel 75 Inan

Kapitel 76 Tzain

Kapitel 77 Inan

Kapitel 78 Zélie

Kapitel 79 Amari

Kapitel 80 Tzain

Kapitel 81 Zélie

Epilog

Gedicht

Danksagung

Dem Höchsten gewidmet –

voller Dankbarkeit für Gipfel und Täler

und die unglaubliche Reise dazwischen.

Die Clans der Maji

IKÚ-CLAN

MAJI-TITEL: Seelenfänger

KRAFT: Macht über Leben und Tod

GOTTHEIT: Oya

 

ÈMí-CLAN

MAJI-TITEL: Geistwandler

KRAFT: Macht über Gedanken und Träume

GOTTHEIT: Orí

 

OMI-CLAN

MAJI-TITEL: Wellenhüter

KRAFT: Macht über das Wasser

GOTTHEIT: Yemọja

 

INÁ-CLAN

MAJI-TITEL: Flammentänzer

KRAFT: Macht über das Feuer

GOTTHEIT: Sàngó

 

AFÉFÉ-CLAN

MAJI-TITEL: Windflüsterer

KRAFT: Macht über die Luft

GOTTHEIT: Ayao

 

AIYE-CLAN

MAJI-TITEL: Erzbrecher & Erdsänger

KRAFT: Macht über Eisen und Erde

GOTTHEIT: Ògún

 

ÌMỌ́LÈ-CLAN

MAJI-TITEL: Lichtweber

KRAFT: Macht über Licht und Schatten

GOTTHEIT: Ochumare

 

ÌWÒSÀN-CLAN

MAJI-TITEL: Heiler & Siecher

KRAFT: Macht über Genesung und Krankheit

GOTTHEIT: Babalúayé

 

ARÍRAN-CLAN

MAJI-TITEL: Seher

KRAFT: Macht über die Zeit

GOTTHEIT: Orúnmila

 

ERANKO-CLAN

MAJI-TITEL: Zähmer

KRAFT: Macht über das Tierreich

GOTTHEIT: Oxosi

Immer wieder denke ich an früher …

bevor alles begann.

An die Zeit vor der Schriftrolle

und dem Stein,

vor der verheißenen Magie.

Bevor in den Landen unser Krieg

gegen die Monarchie ausbrach.

Ich denke an den göttlichen Sturm,

den die Iyika vor den Toren Lagos entfesselten.

An die Palastfenster, die wie funkelnde Regentropfen barsten.

Ich denke an Mama und Baba,

an meinen Bruder Tzain.

Ich denke an Mâzeli und meine Seelenfänger,

denn eigentlich wäre die Macht unser …

Das war, bevor uns die Skulls auf ihre Schiffe brachten.

Bevor sie mich von meinen Lieben wegschleppten,

mich niederdrückten und mir den Kopf rasierten.

Bevor ich in die Augen meiner Entführer blickte

und nur die blutigen Runen in ihren Masken sah.

Ich denke an alle Maji, die aus unserem Land entführt wurden.

An all die Maji, die nie wieder

Orïsha

spüren werden.

Erster Teil

Kapitel 1Zélie

Hilfe!

Stumm liegt die Bitte auf meinen Lippen. Ich habe Angst, sie laut auszusprechen, denn ich ahne, dass ich nur Schweigen ernten werde. Die Hitze lastet so schwer auf mir wie der Eisenring um meinen Hals. Der Gestank der Toten steht in der Luft. Meine Haut ist von einer dicken Staub- und Schmutzschicht überzogen. Jeder Knochen tut mir weh.

Donner, der wie Trommelwirbel klingt, reißt mich aus meinem Dämmerzustand. Er lockt mich aus der dunklen Ecke meines hängenden Käfigs zu den gerundeten Eisenstangen. Mit klirrenden Ketten um die Fußgelenke drücke ich das Gesicht so weit wie möglich durch die Stäbe. Regen und Gischt fallen durch den Schacht über meinem Gefängnis.

Ich schließe die Augen und atme tief ein.

Oya …

Der Name der Göttin durchdringt mich. Er bewegt etwas in meiner Seele. Der von ihr aufgepeitschte Sturm ruft nach mir wie ein Lied. Er trägt das Versprechen in sich, mich zu heilen.

Eine Weile wäscht der peitschende Regen meine Schmerzen fort. Der ferne Donner erinnert mich an bessere Tage. Die heulenden Winde versetzen mich in die schneebedeckten Berge von Ibadan, dem Dorf, in dem ich vor dem Überfall lebte. Wenn es bedrohlich donnerte, lag ich zitternd in meinem Bett.

Es war Mama, die mir zeigte, dass ich keine Angst vorm Regen haben muss.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Liebes.« Selbst nach so vielen Jahren legt sich die Erinnerung an Mamas Stimme schützend um mein Herz. Ich spüre die Wärme ihrer weichen Finger an meiner Wange. Die Zärtlichkeit, mit der sie sprach.

»Oya besucht uns nicht nur im Tod«, flüsterte Mama mir ins Ohr. »Wir können sie auch in Gewittern und peitschenden Winden fühlen.«

Ich erinnere mich, wie Mama mich überredete, aufzustehen und an Baba und Tzain vorbeizuschleichen, die fest in ihren Hängebetten schliefen. Es war nicht das erste Mal, dass sie mich nachts mit auf den Berg nahm, doch noch nie zuvor hatte sie es bei einem Gewitter getan.

Sie fasste mich an der Hand und führte mich einen gewundenen Pfad hinauf. Ich konnte kaum etwas sehen, weil der Wind mir meine weißen Haare ins Gesicht peitschte. Unsere nackten Füße rutschten über den kiesbedeckten Weg. Jedes Mal, wenn ich umkehren wollte, ermutigte mich Mama weiterzugehen.

Als wir den abgeflachten Gipfel erreichten, wirkten die Hütten unseres schlafenden Dorfes hundert Meter weiter unten wie Ameisenhügel. Jedes Mal, wenn ein Blitz den Himmel erhellte, sahen wir die zackige Silhouette der Berge um uns herum. Es war, als könnte ich die Wolken berühren, wenn ich die Hand nur weit genug ausstreckte.

»Spüre sie, Zélie.«

Ich zitterte im prasselnden Regen, doch Mama wurde durch den Wolkenbruch umso lebendiger. Sie streckte ihre Arme weit aus und reckte das Gesicht dem Chaos entgegen.

Als sich um sie herum knisternde Blitze entluden, sah sie aus wie eine Göttin.

»Das ist es, kleine Zél.« Mama nickte. Ich schloss die Augen und reckte die Hände ebenfalls den tobenden Himmeln entgegen. »Oyas Gewitter bringen nicht nur Regen. Sie künden uns auch von ihrem heiligen Wandel.«

Ich bewege Mamas Worte in meinem Herzen, bis meine Augen anfangen zu brennen. Immer wenn ich denke, ich hätte nichts mehr zu verlieren, verliere ich alles.

Ich habe vergessen, wie oft ich im vergangenen Mond nach meinen Göttern gerufen habe. Wie oft die Antwort nichts als Kummer war. Ich traue mich nicht mehr zu hoffen.

Je mehr ich hoffe, desto tiefer falle ich.

»Nein! Bitte nicht!«

Die schrillen Schreie eines Mädchens dringen durch die Holzbohlen über mir. Sie werden immer lauter, ich ziehe den Kopf ein. Ich weiß nicht, was mehr weh tut: die Schreie der jungen Maji oder die quälende Stille, als sie verstummen.

Schon immer gab es Feinde zu bekämpfen. Schon immer gab es jene, die den Maji übelwollten. Ich wusste, dass das Kämpfen womöglich niemals endet. Doch ich hätte nie gedacht, dass sich diese Kämpfe über die Grenzen Orïshas hinaus ausdehnen.

Fast einen vollen Mond ist es jetzt her, dass die Skulls die Ufer Orïshas überfielen. Ein voller Mond ist vergangen, seit meine Maji und ich aus unserer Heimat entführt wurden. Nachdem wir auf dem Schiff wieder zu uns kamen, wurden wir nach Geschlechtern getrennt.

Es war das letzte Mal, dass ich meinen Bruder Tzain sah.

Am Anfang war ich zusammen mit den anderen weiblichen Ältesten gefangen – den Mitgliedern der wieder zum Leben erweckten Maji-Clans. Doch seit dem letzten Halbmond bin ich in diesem Laderaum des Schiffes eingeschlossen, isoliert, muss die Folter der Skulls allein über mich ergehen lassen.

Noch immer weiß ich nicht, warum sie uns entführt haben. Ich habe keine Ahnung, wohin wir segeln. Ich weiß nur, dass wir Maji dem Sieg näher waren als je zuvor, bevor die Skulls uns entführten.

Wir waren kurz davor, den Krieg zu gewinnen.

»Attacke!«

Die Tätowierungen auf meiner Haut erglühen, ihr flackerndes Licht umgibt meinen Körper.

Steine und Erde wirbeln um unsere Füße.

Die Rinde der Bäume in der Nähe platzt ab.

Eine Legion von Tîtánen wirft sich uns entgegen, schimmernd in ihren goldenen Rüstungen. Als ich die Hand hebe, erstarren alle Tîtánen an Ort und Stelle.

Ich balle meine Faust, und sie winden sich …

Als ich die Augen schließe, habe ich ihn wieder vor mir: den Kampf um Lagos. Wir brachten die Magie heim nach Orïsha, doch sie kehrte nicht nur zu den Maji zurück. Das heilige Ritual erschuf ebenfalls Tîtánen, so dass Königin Nehanda und ihr Gefolge von Soldaten über verheerende Kräfte verfügten.

Vor unserem letzten Angriff opferte Mama Agba ihr Leben, damit ich mein Herz mit denen der anderen neun Maji-Ältesten verbinden konnte. Gemeinsam bildeten wir eine Macht, der die Tîtánen nicht genug entgegenzusetzen hatten. Zu einer geschlossenen Front vereint, befahlen die Ältesten über die Erde und lenkten die Winde.

In jener Nacht hätte das Ende der Monarchie besiegelt werden müssen. Es war die Nacht, in der alle Maji zusammenstanden, um die Herrschaft über das Königreich zurückzuerobern. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung sollte der Kampf vorbei sein.

All unser Schmerz war vergolten.

Jetzt jedoch …

Ich betrachte meine gefesselten Hände. Meine nackte braune Haut. Die Tätowierungen, die früher leuchteten, sind verschwunden. Meine weiße Haarpracht wurde mir abrasiert. Die Magie, für deren Rückkehr ich so hart gekämpft habe, ist tot. Mein Orïsha ist ferner als je zuvor.

Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll.

Ich weiß nicht, wie ich an meinem Lebenswillen festhalten soll.

»Bitte, Oya …«, flüstere ich erneut, gehe wieder das Risiko ein, nicht erhört zu werden. Dumpf hallt der Donner durch den Lichtschacht. Ich rede mir ein, er wolle mir beweisen, dass Oya mich doch nicht verlassen hat, obwohl ich weit entfernt von Orïshas Gestaden bin.

»Bitte!« Ich denke an all die Begebenheiten, wenn die Göttin reagierte. Wenn ich kurz einen Blick auf ihren rasenden Geist erhaschte, der wie ein Orkan tobte. »Bitte befreie uns von den Skulls. Bitte bring unser Volk nach Hause …«

»Bindið hendr honum!«, brüllt jemand.

Als ich die harsche, gutturale Sprache der Skulls höre, zieht sich mir der Magen zusammen. Schwere Stiefel poltern über die Holzdielen über meinem Kopf, Sägemehl rieselt mir in die Augen. Beim Gedanken an den kalten Griff eines Skulls weicht jedes Gefühl aus meinen Fingern. Mein Hals brennt in Vorahnung der dicken Nadel, die sie gleich hineinrammen werden, um mir wieder das giftige Majazit ins Blut zu pumpen. Jeden Abend zur selben Zeit kommt der Kerl und spritzt mir das Gift in die Adern, um mich zu betäuben.

»Bitte, Oya!«

Ich versuche, die Magie zu spüren, die meine Göttin mir einst schenkte – jene Macht, Geister zu erwecken, die verschieden sind. Ich ertrage nicht noch mal, wenn die ekelhaften Hände der Skulls mich zu Boden drücken. Wenn es so schmerzt, dass ich kaum noch einen Laut hervorbringe.

Es gab Zeiten, da hörten ganze Armeen geisterhafter Gestalten auf mein Kommando, Zeiten, in denen meine schemenhaften Soldaten durch die feindlichen Reihen pflügten wie ein Sturm. Wenn ich nur einen einzigen von ihnen heraufbeschwören könnte, würde ich die Skulls von mir fernhalten.

Mit einem Schemen an meiner Seite hätte ich eine Chance.

»Bitte!«, flehe ich wieder. Doch egal, wie sehr ich mich bemühe, die Kraft kommt nicht zurück. Enttäuscht starre ich auf meine ausgestreckten Hände. Seit wir von Orïshas Ufern lossegelten, habe ich die Kraft meiner Magie nicht mehr gespürt …

Die Holztür zu meinem Verlies wird aufgestoßen. Ich krabbele in die hinterste Ecke des Käfigs. Angst verschließt mir den Mund. Sobald die Feinde mich sprechen hören, schlagen sie zu.

In tanzendem Fackellicht kommt der erste Skull herein. Die Flamme erhellt die Maske, die sie alle tragen: aus Bronze und Blut geschmiedete Schädel. Zerdrückte Knochenteile werden zu einem großen, angelaufenen Schädel zusammengesetzt.

Der Skull hat seine kastanienbraunen Locken zu Zöpfen geflochten. Krumme Narben bedecken seine nackte Brust. Auf seinen brutalen Händen und seiner wollenen Hose prangen Blutflecken. Eine dunkelrote Axt baumelt an seinem Gürtel aus gegerbter Tierhaut.

Gierig geifernd glotzt er mich an, ein heranschleichendes Tier. Ich presse mich gegen die hinteren Stangen meines Käfigs. Trotz der Bronzemaske auf seinem Nasenrücken, die unter dem Kinn festgehakt ist, sehe ich seine fletschend hochgezogenen Mundwinkel.

Er hat den Blick aller Feinde, denen ich gegenübertreten musste. Aller Gegner, die sich mir in den Weg stellten. Wie mich dieser Kerl jetzt ansieht …

Ich balle die Fäuste.

In König Sarans Augen stand derselbe Hass.

Sei so böse du kannst. Ich halte seinem Blick stand, werfe mich nicht in den Staub. Ich zeige keine Angst. Von oben kommen weitere Schritte näher gepoltert. Statt meinen Käfig zu öffnen, schließt der Skull mit seinem Messingschlüsselbund einen anderen auf.

»Lasst mich los!«, hallt das vertraute Orïshan durch den Niedergang nach unten.

Ich recke den Hals. Zwei Skulls mit stämmigen Armen schleppen einen sich sträubenden Gefangenen herein. Er hat einen Sack aus Segeltuch über dem Kopf. Frisches Blut befleckt seinen malträtierten Oberkörper.

Die Skulls werfen ihn in den zweiten Käfig. Er wehrt sich so heftig, dass sie Schwierigkeiten haben, ihm Ketten um die Handgelenke zu legen. Mit einer plötzlichen Drehung reißt er sich los und tritt einem Wärter mit harter Ferse gegen die Nase.

»Náðu hann!«, ruft der Getroffene.

Staunend sehe ich, wie der Gefangene einen beherzten Kampf vom Zaun bricht. Mit dem anderen Fuß versetzt er dem zweiten Skull einen Treffer gegen die Brust. Wild um sich schlagend, erwischt er die Maske eines dritten Wärters. Obgleich er nichts sehen kann, lässt er sich nichts gefallen, gibt er nicht auf.

»Þú lítill skítr!«, ruft der dritte Skull so erbost, dass ich zusammenzucke. Er packt die Hand des Orïshaners und drückt sie in die Öffnung des Käfigs. Als er die Tür zuschlägt, wende ich mich entsetzt ab.

»Argh!« Das Knacken der brechenden Knochen hallt durch den Laderaum. Der Gefangene windet sich auf dem Boden. Phantomschmerzen schießen mir durch die Finger. Ich falte sie, damit sie nicht zittern.

Fesseln schließen sich um die Handgelenke des jungen Mannes. Die Skulls sperren den Käfig zu und ziehen sich zurück. Das Schloss an der Tür zum Laderaum wird von außen versperrt. Ich wage erst zu sprechen, als das Donnern der Stiefel schwächer wird.

»Ist alles in Ordnung?« Ich beuge mich vor, weiß nicht, was ich tun soll. Was ich sagen soll. Der junge Kerl flucht unablässig vor sich hin. Blut sickert aus seiner gebrochenen Hand.

Schwer atmend hebt und senkt sich sein Oberkörper. Es dauert eine Weile, bis er sich den Segeltuchsack vom Kopf zieht.

Das kann nicht sein …

Mir fällt die Kinnlade hinunter. Das Herz rutscht mir in die Hose. Die feuchten Wände rücken auf mich zu. Mein Käfig beginnt sich zu drehen.

»Inan?« Als ich es wage, seinen Namen zu flüstern, steigt Wut in mir auf.

Der Neuankömmling fährt herum, und der schwache Mondschein fällt auf bernsteinfarbene Augen, die ich viel zu gut kenne.

Kapitel 2Zélie

Bei den Göttern …

Das Blut rauscht mir in den Ohren. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Was ich fühlen soll. Ein Teil von mir würde Inan am liebsten eine Kette um den Hals schlingen. Ein anderer Teil kann nicht fassen, dass er tatsächlich hier ist.

Als ich ihn zum letzten Mal sah, waren wir im Verlies des Palastes. Die Iyika hatten den Königsthron zerstört. Als der Untergang des Palastes besiegelt war, brachte ich Inan zur Strecke. Letztendlich war er mein Ziel.

Ich wollte ihn gerade töten.

»Du lebst.« Seine vertraute kratzige Stimme ist wie ein Katapult, das mich in der Zeit zurückversetzt. Unversehens bin ich wieder mitten in unserer Auseinandersetzung.

In dem Moment, bevor uns eine große weiße Wolke das Bewusstsein raubte …

Es gibt Nächte, in denen du mich in meinen Träumen besuchst. Nächte, in denen ich vergessen kann. Aber wenn ich erwache, treibt mich der Gedanke fast in den Wahnsinn, was hätte sein können.

Ich weiß nicht, wie es weitergeht, nur ist mir klar, dass diese Herrschaft keine Zukunft mehr hat. Sollten sich unsere Wege noch einmal kreuzen, werde ich nicht mein Schwert gegen dich erheben.

Ich bin bereit, mein Leben in deine Hände zu legen.

Mit zitternden Händen sehe ich Inan an und denke an jene schicksalsschwere Nacht zurück. Er schwor mir, die Monarchie zu vernichten. Er schwor, sein Geburtsrecht auf die Thronfolge aufzugeben.

Nachdem er bis dahin jedes mir gegebene Versprechen gebrochen hatte, gestattete ich mir nicht, eine weitere Lüge von ihm zu glauben. Von dem Moment an, als wir uns kennenlernten, war die Krone Inans Ein und Alles, jedes Opfer wert. Sein Leben hatte genau ein Ziel: den Schutz von Orïshas Thron.

Es war ihm egal, wer dafür sterben musste.

Doch in jener Nacht hielt Inan sich an sein Versprechen. Trotz aller Widrigkeiten beendete er die lange Herrschaft seiner Sippe. Als ich ihn im Verlies unter dem Palast stellte, ergab er sich.

Obwohl ich ihm das Leben nehmen wollte, teilte er die Geheimnisse der Monarchie mit mir.

Staunend starre ich ihn an, meine Gedanken rasen. Ein ganzer Mond auf dem Schiff hat seinen Tribut von Inans muskulösem Körper gefordert: Nach so langer Zeit unter Deck ist seine zimtbraune Haut heller geworden, bildet einen starken Gegensatz zu den frischen und verblassten Blutergüssen auf seinem Rücken. Seine Bewegungen sind heftig. Fast wild. Er erscheint mir beinahe mehr Tier als Mensch zu sein.

Ganze Meere spannen sich zwischen unserer Vergangenheit und der Gegenwart. Alter Zorn kämpft mit Erleichterung. Ich spüre in mir die vorsichtige Divîné, die ich war, als wir uns kennenlernten. Das stechende Gift des grübelnden kleinen Prinzen. Die Kraft seines Schwerts, das gegen meinen Stab schlug. Die Berührung seiner Lippen an meinem Hals.

Ich sehe den jungen Mann, der mir vorschlug, ein neues Orïsha aufzubauen.

Der mir das Herz zerriss.

Doch was hat das alles noch zu bedeuten, wenn wir beide hier gefangen sind?

Was hat es noch zu bedeuten, wenn die Skulls vor uns stehen?

»Deine Haare«, stößt Inan aus.

Ich streiche über meinen kahlen Kopf, meine Wangen brennen. Ich bin schon so lange allein.

Bisher hat niemand gesehen, was die Skulls mir angetan haben.

»Das war ein Mann …« Meine Stimme verstummt, als ich an die schattenhafte Gestalt denke. »Er hatte eine silberne Maske auf.«

»Der Kapitän dieses Schiffes?«, fragt Inan.

Ich nicke. »Die anderen Skulls haben auf ihn gehört. Er muss der Kapitän gewesen sein.«

Ich will weitersprechen, finde aber keine Worte. Die Erinnerungen schlagen über mir zusammen wie eine Flutwelle. Ich bin wieder beim Silberschädel, der mich um Längen überragte. Ich spüre wieder, wie mir der Schweiß über den Körper läuft.

In der ersten Nacht, als ich hier eingeschlossen war, hielten mich zwei Skulls fest. Ein dritter machte sich mit einer heißen Schere an meinem Kopf zu schaffen. Der Silberschädel nahm die verbogene Majazitkrone und hielt sie in die Höhe.

Als mir klar wurde, was er vorhatte, wurde es dunkel um mich herum.

Ich wehrte mich, doch der Silberschädel drückte mir das giftige Metall auf den Kopf. Zischend verschmolz die brennende Legierung mit meiner Haut. Tränen strömten mir übers Gesicht, ich wurde auf dem rostigen Boden ohnmächtig.

Ich flehte den Tod an, mich zu sich zu nehmen.

Ich weiß nicht, ob ich mit dem Majazit auf dem Kopf je wieder Zugang zu meiner Gabe finde.

»Ich bringe sie um.« Inans Stimme ist fast ein Knurren. In seinen bernsteinfarbenen Augen ist nichts Weiches mehr zu sehen. Seine Entschlossenheit schnürt mir die Kehle zu. Sie weckt Gefühle, die ich ganz tief in mir verschlossen habe.

»Ich weiß, dass ich dir weh getan habe.« Inan wendet den Blick ab. »Ich habe dich öfter im Stich gelassen, als ich zählen kann. Aber du musst mir vertrauen.«

»Dir vertrauen?« Ich lache höhnisch.

»Wenn wir zwei in der Lage sind, ein Königreich zu stürzen, dann können wir auch ein einzelnes Schiff in unsere Gewalt bringen.«

Obwohl alles in mir Inan auf Abstand halten möchte, lässt mir die Bedrohung durch die Skulls keine andere Wahl. Zum ersten Mal, seitdem ich in diesem Laderaum eingesperrt bin, habe ich einen Verbündeten.

Es könnte die Möglichkeit geben, zu fliehen.

Ich zwinge mich, tief in mich zu gehen, all seinen Verrat zu vergessen, all die geweinten Tränen. Ich muss Inan vertrauen.

Zumindest so lange, bis wir hier raus sind.

»Was können wir tun?«, frage ich.

Er reißt einen Stoffstreifen von seiner verdreckten Hose und wickelt ihn um seine blutende Hand. Dann läuft er in seinem quietschenden, schwankenden Käfig auf und ab. Er prüft, wie stark die Eisenstäbe sind.

»Wie lange bist du schon in diesem Laderaum?«, will er wissen.

»Einen halben Mond.«

»Hast du noch deine Magie?«

Ich schüttele den Kopf. »Jeden Abend …«

Inan hält den Hals ins Mondlicht, so dass ich die Einstichpunkte sehe, genau wie bei mir.

»Mir spritzen sie auch flüssiges Majazit«, sagt er. »Wenn wir irgendwie dafür sorgen könnten, dass es aufhört … Den Nachschub unterbrechen …«

»Niemand weiß, ob unsere Magie zurückkäme.« Ich blicke auf meine leeren Hände und wünsche mir, die Ashê aktivieren zu können, die ich früher im Blut hatte. »Unsere magischen Kräfte haben eine Verbindung zu unserem Land. Es kann sein, dass wir sie erst wieder aktivieren können, wenn wir zu Hause sind.«

»Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Feinde zu überwältigen.« Nachdenklich umklammert Inan die Eisenstangen. »Alle gleichzeitig zu befreien. Die anderen haben schon einen Plan gemacht.«

»Was brauchen sie dafür?«

»Eine Ablenkung. Eine Möglichkeit, an die Skulls heranzukommen, ohne dass sie merken, was los ist. Aber darüber brauchen wir uns jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen. Wir müssen dich aus diesem Laderaum herausbekommen.«

Eine Welle schlägt so heftig gegen den Schiffsrumpf, dass unsere Käfige schaukeln. Inans Hände gleiten an den Stäben hoch und runter, wahrscheinlich sucht er eine Stelle, wo das Metall nachgibt.

»Warum haben sie dich hierher gebracht?«, will er wissen. »Warum haben sie dich von den anderen getrennt?«

Ich halte inne und versuche, mich zu erinnern. Einen Großteil meiner Zeit in diesem Käfig habe ich im Dämmerzustand verbracht. Mit dem Warten darauf, dass die Skulls hereinkommen. Mit stundenlangen Qualen, nachdem sie mir das Majazit in den Hals spritzten.

»Wir mussten uns alle aufstellen. Ein Deck weiter oben. Alle weiblichen Gefangenen.« Ich schließe die Augen, bis ich es wieder vor mir sehe – der Silberschädel füllt die Schwärze meiner Gedanken. Ich höre, wie das Holz unter seinen näher kommenden Schritten ächzt. Ich spüre die Wärme der zitternden Mädchen, die sich eng an mich drücken. »Der Silberschädel hatte eine Art Kompass in der Hand, als er mich von den anderen trennte …«

»Wie sah der aus?«, fragt Inan.

Ich konzentriere mich, versuche, mir zu vergegenwärtigen, wie genau das Gerät beschaffen war. »Er war aus Bronze. Sechseckig. Darauf waren drei in Blut getränkte Pfeilspitzen …«

Die Angst, die mich an jenem Tag ergriff, kehrt zurück wie der Regen. Ich sehe die schwere rote Anzeige des Kompasses vor mir, habe das Geräusch im Ohr, jenes Summen, als er sich drehte. Ich konnte es kaum ertragen, mit den anderen in Ketten gelegten Mädchen auszuharren. Damals war mir nicht klar, wie viel schlimmer es sein würde, allein zu sein.

»Hat der Kompass auch auf andere reagiert oder nur auf dich?«, hakt Inan nach.

»Nein, bei mehreren.« Ich nicke. »Mich und drei andere Mädchen haben sie weggeführt. Eine Lichtweberin aus Ibadan, ein Mädchen von der Küste Zarias. Und eine Heilerin aus den Sandhütten von Ibeji.«

Ich erinnere mich an das runde Gesicht der Heilerin, an ihren singenden Tonfall, ihre aparte Schönheit, ihre Anmut. Ich denke daran, wie sie im Laderaum Regenwasser sammelte und uns zeigte, wie wir unsere Wunden versorgen konnten. Wie sie allen trotz ihrer Schmerzen half.

»Wo sind die anderen geblieben?«, will Inan wissen. Zwischen seinen schweren Brauen bildet sich eine Falte. Ich senke den Blick auf den rostigen Boden. Die leeren Käfige beantworten seine Frage.

»Wir müssen dich von diesem Schiff schaffen.« Inan geht schneller auf und ab, sein Blick schießt kreuz und quer durch den Laderaum. »Wir haben keine Zeit, auf die anderen zu warten. Wir müssen uns unseren eigenen Fluchtplan zurechtlegen.«

Mein Magen zieht sich zusammen: Ich spüre, dass Inan mir etwas verheimlicht.

»Was ist los?«, frage ich. »Was weißt du?«

Er bleibt stehen und hält meinem Blick stand.

»Die Männer sind nicht einfach auf der Suche nach Maji, Zélie. Sie suchen dich.«

Kapitel 3Inan

»Mich?«, flüstert Zélie.

Ihr zartes Gesicht fällt in sich zusammen.

Hinter den gebogenen Eisenstangen ihres Käfigs sieht sie unglaublich zerbrechlich aus.

Zerbrechlich und klein.

Getrocknetes Blut klebt an der schwarzen Krone auf ihrer Stirn. Ihre weiße Lockenpracht ist verschwunden. Das Mondlicht scheint auf einen Ring aus schwarz-violetten Blutergüssen um ihren Hals. Am liebsten würde ich jedem Skull ein Beil in die Maske schlagen.

»Das verstehe ich nicht.« Zélie schaut mich an. »Woher wissen die denn, wer ich bin?«

Selbst im Dunkeln erkenne ich die Angst, die ihr die Kehle zuschnürt.

Diese Angst fühlte ich selbst in den ersten leeren Nächten auf diesem Schiff.

Damals dachte ich, alles sei vorbei – der Krieg zwischen Maji und Tîtánen. Die lange Spur von Leichen, die meine Familie hinter sich herzog. Um Orïshas Thron zu zerstören, hatte ich meine eigene Mutter mit einem Beruhigungsmittel ausgeschaltet. Ich war überzeugt, die von meiner Familie in die Welt gesetzte Plage sei ausgerottet.

Als Zélie mit ihren Maji angriff, war ich erleichtert. Ich wartete auf meine endgültige Auslöschung. Sie legte die Hände auf meine Brust, zwei weiße Haarsträhnen umrahmten ihre scharf geschnittenen Wangen. Ich dankte den Göttern, dass sie gekommen war, um mich zu holen, dass mir ein letzter Blick auf ihr Gesicht gewährt wurde.

Doch dann breitete sich im Gang hinter Zélie ein schweres Gas aus. Sie konnte nicht sehen, wie die weiße Wand näher rückte. Ein Maji nach dem anderen fiel in Ohnmacht. Maskierte Söldner stürzten sich wie Geier auf ihre Körper.

Wir hatten keine Chance. Ohne zu zögern, schlugen die Skulls zu. Wir waren verloren.

In dunkelster Nacht wurde mein Volk entführt.

»Es gibt immer Feinde, Inan …«

Vaters Geist kommt zu mir in den Käfig, blutet aus meinen Narben. Ich wische mit der gesunden Hand über die ledrige Stelle, in die er sein Schwert stieß, als er meine Magie sah und erkannte, wer ich tatsächlich bin.

Der stickige Laderaum verschwimmt. Vaters Stimme versetzt mich zurück in frühere Zeiten. Auf einmal bin ich zwölf Jahre alt. Um mich herum sind alte Bücher, bordeauxrote Wände, vergilbte Landkarten. Vater nippt an einem Weinkelch und sieht aufmerksam zu, wie ich beim Sênet-Spiel meinen Bauern setze.

»Sie liegen auf der Lauer.« Er starrte auf das reich verzierte Spielbrett. »In deinem Königreich und dahinter. Kaum zeigst du irgendeine Schwäche, schlagen sie zu.«

Vater setzte seinen letzten Sênet-Spielstein, um meinen einzukassieren.

»Vergiss das nicht, Inan: Ein ganzes Reich kann in einer Nacht untergehen.«

Ich frage mich, was er jetzt sagen würde, da wahre Feinde in unser Land eingefallen sind. Wenn er noch lebte, hätten die Skulls dann eine Chance?

Wenn ich ein besserer König gewesen wäre, hätte ich die Invasion verhindern können?

Es ist keine Zeit für Reue.

Ich zwinge mich, die Erinnerungen an meinen Vater wegzuwischen. Die Skulls sind zur Zeit meiner Herrschaft eingedrungen. Krone hin oder her, ich habe die oberste Pflicht, mein Volk zu schützen. Ich muss einen Weg finden, die Eindringlinge zu schlagen und aus unserem Land zu vertreiben.

»Diese Männer stammen aus einem Land im fernen Osten«, erkläre ich Zélie, in Gedanken bei dem, was ich gesehen habe. Was ich gehört habe. Sie haben ein paar von uns Gefangenen für Hilfsarbeiten eingesetzt. An Deck zu arbeiten war die einzige Möglichkeit für mich, mehr über sie zu erfahren. »Sie nennen sich ›Baldeíriks Stämme‹. Segeln unter der Flagge eines Königs, den sie Baldyr nennen. Wen auch immer sie suchen, sie tun es für ihn.«

Zélies Beine geben nach. Sie muss sich an den Käfigstangen festhalten, um nicht umzufallen.

»Was ist?«, frage ich.

»Einer von Roëns Söldnern hat mal so was gesagt …« Zélie legt die Finger auf die Lippen. »Damals waren wir in Jimeta, in dem Mond, nachdem die Magie zurückkam. Harun drängte mich in die Enge und erzählte was von einem Kopfgeld, das auf mich ausgesetzt sei. Glaubst du, damit meinte er die Skulls?«

»Ganz sicher.« Ich zähle nicht mehr nach, wie oft ich mir die Nacht, in der wir entführt wurden, habe durch den Kopf gehen lassen. »Es waren die Söldner, die uns aus dem Palast geholt haben. Wenn Roën uns verraten hat …«

»Nein«, unterbricht mich Zélie. »Das würde er nicht tun. Könnte er gar nicht. Er ist mit seinen Leuten abgezogen. Er hat an unserer Seite gekämpft! Das würde er mir nicht antun. Würde er den Maji nicht an…«

»Aber seine Leute vielleicht?«, hake ich nach. »Seit Monden verschwinden ganze Maji-Dörfer aus Orïsha.«

Zélie überlegt und lässt die Hand sinken. »Während des Krieges wurde uns ähnlich Bericht erstattet, aber die Ältesten und ich dachten, du stecktest dahinter.«

»Mutter und ich dachten, das wärst du.«

Ein ganzes Reich kann in einer Nacht untergehen.

Vaters alte Sprüche geistern mir durch den Kopf, und Schuldgefühle steigen in mir hoch wie Galle. Wir haben es den Skulls so leicht gemacht. Seit vielen Monden schon plündern sie unsere Lande.

Aber wenn unser Reich in einer Nacht untergehen kann, dann kann ihres das auch. Wenn wir von diesem Schiff fliehen können, haben wir eine Chance.

In einer fairen Schlacht könnten wir ihre Streitkräfte vernichten.

»Die Skulls sagen immer wieder denselben Satz«, fällt mir ein. »Stúlkan meᵭ blóᵭiᵭ sólarinnar.«

Zélie erschaudert, als sie die fremde Zunge hört.

»Und was bedeutet das?«, fragt sie.

»Ein Mädchen mit der Sonne im Blut.«

Zélies silberner Blick schweift in die Ferne. So leer habe ich ihre Augen noch nie gesehen. Das Gewicht meiner Worte scheint sie wie ein Felsbrocken zu treffen. Sie muss sich zusammenreißen, um nicht zu weinen.

»Glaubst du wirklich, damit meinen sie mich?«

Ich antworte vorsichtig, denn ich weiß nicht, wie viel sie ertragen kann. »Sie brauchen jemanden mit viel Macht, von daher denke ich …«

Zélies Brust hebt und senkt sich schwer. Sie krallt die Finger in ihren Körper, als hätte sie Schwierigkeiten zu atmen. Ich drücke gegen meine Gitterstäbe.

Ich würde alles tun, um ihr die Angst zu nehmen.

»Es gibt eine Möglichkeit, von diesem Schiff zu fliehen«, beeile ich mich zu sagen. »Drei Ebenen über uns, an Deck. Da sind Rettungsboote. Wenn wir nur eins zu Wasser lassen, können wir an Land gelangen. Dich zurück nach Orïsha bringen. Uns einen neuen Plan zurechtlegen.«

Obgleich Zélie nach Luft ringt, schüttelt sie den Kopf und weist meine Idee zurück.

»Die anderen«, stößt sie hervor. »Amari, Tzain. Die Ältesten …«

»Wenn wir dich von diesem Schiff runterbekommen, finde ich eine Möglichkeit, die Übrigen zu befreien. Aber du bist diejenige, auf die die Skulls es abgesehen haben. Du bist diejenige, die wir schützen müssen.«

Zélie schlingt die Arme um sich. Wie gerne würde ich sie jetzt trösten! Bei ihrem Anblick werde ich in eine andere Zeit zurückversetzt, in jene Nächte in der Traumwelt, als ich ihr und sie mir gehörte.

Der Abgrund in ihren silbernen Augen wird tiefer. Das kleine Licht, das in ihr flackerte, erstirbt. Lange Zeit rauschen nur die Wellen. Dann hebt Zélie den Kopf.

»Sag mir, dass alles gut wird.«

Ihr Flüstern trifft mich wie ein Speer in der Brust. Ich muss an mein Versprechen denken, sie zu beschützen. Bis zum letzten Herzschlag für sie zu kämpfen.

»Alles wird gut«, sage ich ohne den Schatten eines Zweifels. »Egal, was es kostet, mit wem wir es aufnehmen müssen. Wir bringen dich hier raus. Wir bringen dich nach Hause.«

»Versprich es mir!«

In diesem Moment vergesse ich die Gitterstäbe zwischen uns. Ich spüre nicht länger, welchen Tribut das unablässige Kämpfen von uns fordert. Den Schmerz, dass die Eltern nicht mehr da sind. Die Last des zerstörten Königreichs, das uns auseinanderriss.

Einen Atemzug lang sind wir vereint – verbunden wie an jenem ersten Tag auf dem Markt in Lagos. Ich fahre mir mit den Fingern durch die weiße Strähne, die nach jener schicksalhaften Begegnung in meinem Haar erschien, und denke an den Zusammenprall, der mir wie ein Blitz in die Glieder fuhr. Es war, als würde sich unser jeweiliger Geist mit dem anderen vereinigen. Dieses Band, das trotz all der gegenseitigen Verletzungen und Fehler keiner von uns lösen konnte, lässt mein Herz schneller schlagen.

»Ich verspreche es«, flüstere ich und strecke meine gesunde Hand aus. Auch wenn ich Zélie nicht erreiche, hält sie mir ihre Hand entgegen. Allmählich beruhigt sich ihr Atem.

»Wir stehen das durch«, versichere ich ihr. »Ich brauche nur etwas Zeit …«

Über uns poltern Schritte. Zu schnell, um mich zu wappnen. Mit einem Klicken des Schlosses fliegt die Tür zum Laderaum auf. Fackelschein fällt herein.

Der Kapitän …

Der Silberschädel steigt hinunter, leicht von den anderen Bronzeschädeln auf diesem Schiff zu unterscheiden. Groß und breit, überragt er alle anderen. Auf den rasierten Seiten seines Kopfes prangen grobe Tätowierungen.

Während er uns eine Fackel vors Gesicht hält, raunt er seinen Leuten etwas zu. Verächtlich wandert das Licht über mein Antlitz und verharrt bei Zélie. Als der Silberschädel einen Finger im Lederhandschuh hebt und auf sie zeigt, zieht sich mein Herz zusammen.

Es ist so weit, wird mir klar.

Uns läuft die Zeit davon.

»Nein!« Ich schlage gegen die Eisenstäbe, weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe: Wenn sie Zélie jetzt mitnehmen, kehrt sie nie wieder zurück. Und was geschieht mit Orïsha, falls die Skull-Armee bekommt, was sie sucht?

Zélie verkriecht sich in der letzten Ecke ihres Käfigs. Die anderen Skulls öffnen die Tür. So sehr Zélie sich auch wehrt – sie lösen die Fesseln um ihren Hals, ihre Taille und ihre Füße. Zwei Männer heben sie hoch, sie schlägt auf deren Arme ein.

»Inan!«, schreit sie.

Zwei neue Schäkel werden ihr um die Handgelenke gelegt. Als sie abgeführt wird, rüttele ich an den Stäben.

Die Tür zum Laderaum fällt zu, und ich bin in diesem Käfig eingeschlossen.

Kapitel 4Zélie

Mögen die Götter mir helfen!

Ich erstarre innerlich. Inans Rufe ersterben im Laderaum unter mir. Der Silberschädel brüllt seinen Leuten Befehle zu. Sie folgen ihm durch das Schiff, die Holzstufen im engen Niedergang hinauf.

Die fleischigen Hände der Skulls krallen sich in meine Arme. Ihre überschatteten Augen glänzen im Dunkeln. Die Bombenbeutel an ihren Ledergürteln verbreiten Schwefelgeruch. Ihre helle Haut und ihre dunkelroten Haare sind von einer Salzschicht überzogen.

Wohin bringt er mich?

Die Menschenknochen in den Masken der Skulls leuchten im flackernden Fackellicht. Selbst ohne meine Magie spüre ich, welche Qualen die Opfer erlitten haben. Ich höre die Schreie der Toten.

Der Kampfgeist, der sich in mir regte, verflüchtigt sich. Die Hoffnung auf eine Flucht erstickt mich, hält mich zurück wie die Ketten. Inans Worte gehen mir durch den Kopf.

Wenn ich wirklich diejenige bin, die sie suchen, werde ich noch heute sterben.

Sie sind auf der Suche nach einem Mädchen, höre ich Inans Stimme. Ein Mädchen mit der Sonne im Blut.

Ich denke an den Sonnenstein, der in meinen Händen zersprang, als ich die Magie zurückholte. Ich erinnere mich an die Macht, die durch meinen Körper wallte, die Kraft, die mein ganzes Sein durchdrang und sich tief in mein Herz wand. In dem Moment sah ich, wie die Schöpfung vor meinen Augen entstand: die Geburt des Menschen, der Ursprung der Götter. Ist das die Macht, auf die es diese Bestien abgesehen haben?

Besitze ich diese Macht überhaupt noch, wenn ich meine Magie gar nicht mehr spüre?

Ich muss mich befreien.

Ich balle die Fäuste. Flucht ist meine einzige Hoffnung. Aber wie soll sie mir gelingen, wenn meine Hände in Ketten liegen? Wie soll ich kämpfen, wenn ich mich nicht mal bewegen kann?

Während wir an aufgewickelten Tauen und mit Planen bedeckten Kanonen entlanggehen, halte ich Ausschau nach einer Waffe, nach irgendwas, das mir beim Ausbruch helfen könnte. Ein Stück Holz über mir, verrostete Harpunen an den Wänden. Ich mustere die Gürtel der Skulls und überlege, wie ich es anstellen könnte, ihnen ihr Messer zu entwenden. Einige haben einen Dolch im Gürtel, doch die sind nichts im Vergleich zu den blutroten Hämmern und Äxten, die auf ihre Rücken geschnallt sind.

Irgendwie kommen mir ihre Waffen so lebendig vor …

Oben an der Treppe nehme ich einen vertrauten Geruch wahr. In den Zellen, in denen ich anfangs mit den Übrigen untergebracht war, hängt der bissige Dunst des Todes. Das Licht der Fackeln wandert über Käfigreihen, fällt auf gebrochene Knochen und hagere braune Gesichter. In jedem Käfig kauern fast ein Dutzend junge Mädchen. Als die Skulls näher kommen, drücken sie sich in die hinterste Ecke.

»Zélie?«

Ich höre Amaris verhaltenes Flüstern, bevor ich ihre abgemagerte Gestalt sehe. Der Anblick meiner ehemaligen Mitstreiterin überrascht mich – ihre hohlen Wangen, die eingefallenen Augen. Ein zerrissener Kaftan hängt über ihren schmalen Schultern. Die Knochen treten unter ihrer kupferfarbenen Haut hervor. Ruß und Schmutz verkleben ihre Locken. Sie verkümmert von innen heraus.

Halt durch, artikuliere ich lautlos. Mein Schutzinstinkt ist stärker als unsere alten Auseinandersetzungen. Ich ertrage es nicht, Amari in den Ketten des Feindes zu sehen. Ihr schmales, schmerzverzerrtes Gesicht.

Gegenüber von Amari entdecke ich Nâo, die Älteste der Wellenhüter. Die dürre Gestalt, einst eine unserer mächtigsten Kämpferinnen, ist kaum wiederzuerkennen.

Kurze weiße Locken kräuseln sich auf ihrem vor kurzem geschorenen Schädel. Nâo sieht mich an, als sei sie aus dem Reich der Toten zurückgekrochen. Als wir vorbeigehen, streckt sie ihren tätowierten Arm durch die Gitterstäbe. Schnell reagiert der Silberschädel.

»Farᵭu!«, ruft er und schlägt gegen die Stangen. Sofort ziehen sich Nâo und die anderen Mädchen zurück und schauen mir stumm nach, während die Skulls mich davontragen.

Immerhin leben sie. Wir leben alle noch.

Ich versuche, aus dieser Tatsache Hoffnung zu schöpfen. Doch zwischen den Mädchen entdecke ich immer wieder leere Eisenringe. Nicht jede Maji, mit der ich gefangen genommen wurde, ist noch an Bord.

Ich sehe die Ketten, die einst Imani fesselten, die Anführerin der Siecher. Das sommersprossige Gesicht ihrer Zwillingsschwester Khani steht mir vor Augen. Trauer zerrt an mir.

Wenn ich meinen Bruder an dieses furchtbare Schiff verlöre, würde ich sterben.

Die Flammen tanzen über die Gesichter von acht Maji, die an eine Leiche gekettet sind, an den toten Körper eines jungen Mädchens, das noch nicht über Bord geworfen wurde. Ihre großen Augen sind geöffnet, eine zerfledderte Flickenpuppe liegt in ihrer geschlossenen Hand.

Sie kann höchstens zwölf sein.

Wer tut so was?

Während die Skulls mich durch den langen, feuchten Gang schleppen, bin ich in Gedanken bei der Toten. Ich spüre den Schmerz, den sie erlitten haben muss. Die Qualen, die ihre letzten Stunden für sie bereithielten.

Ich merke mir die Gesichter meines geschundenen Volkes, die schwärenden Wunden von den Eisenringen der Skulls. Die unausgesprochenen Ängste meiner Leidensgenossinnen schweben durch den überfüllten Raum, ihre Sorge, ob sie je von hier entkommen werden.

Ich denke an Inans Plan, an sein Beharren, mir zur Flucht zu verhelfen. Egal, worauf die Skulls es abgesehen haben, es kann nicht nur um mich gehen. Wir alle sind hier gefangen.

Wir alle müssen uns befreien.

Sei stark, Zélie.

Tief in mir glimmt die Glut der Entschlossenheit. Obwohl die Panik alle Glieder lähmt, versuche ich, mich zu bewegen. Als der Silberschädel die Tür zum nächsten Deck öffnet, kann ich die Füße voreinander setzen. Wir steigen die nächste schmale Treppe hinauf.

Im Gang darüber sind die männlichen Gefangenen. Ihr Anblick löst einen neuen Gedanken aus: Wie viele Maji sitzen wohl hier vor mir, und wie viele Skulls sind oben an Deck? Welche Chancen hätten wir, wenn mehr Maji als Skulls auf diesem Schiff wären?

Wie viele von uns müssten sich befreien, um die Feinde zu überwältigen?

Sieben … neunzehn … Ich schaue nach links und rechts und versuche, niemanden zu übersehen. Bei jedem hohlen Brustkorb und hageren Gesicht, an dem ich vorbeikomme, flackert Hass in mir auf.

Wenn ich bloß die Schlüssel in die Finger bekäme …

Ich schiele zum Skull links von mir hinüber; an seiner Hüfte klirrt ein Ring mit Messingschlüsseln. Er stößt mich vorwärts, meine Majazitkrone sticht mir in die Stirn.

Ihre geschwärzten Dornen befinden sich knapp unter seinem Kinn …

Jetzt oder nie. Ich reiße mich zusammen. Ich habe genau einen Versuch. Ich lege den Kopf in den Nacken, um Schwung zu holen. Vor Anspannung zittert mein ganzer Körper.

Doch bevor ich ihm die Krone in den Hals rammen kann, haben wir den nächsten Käfig erreicht. Ich erkenne eine vertraute Gestalt, und alles ändert sich.

Dort hockt ein junger Mann mit kräftigen Schultern und kurzer schwarzer Krause.

Mein Bruder Tzain.

Kapitel 5Zélie

»Tzain?«

Zum ersten Mal, seit ich auf diesem Schiff eingeschlossen wurde, verziehe ich die Lippen zu einem Lächeln. Kribbelnd kehrt das Gefühl in meine Beine zurück. Beim Anblick meines Bruders verhärtet sich etwas in meinem Bauch.

Tzain sitzt in der Ecke des Käfigs, die Hände vors Gesicht geschlagen. Als ich ihn anspreche, erstarrt sein Körper. Er hebt den Kopf, und seine dunkelbraunen Augen sehen in meine.

Was brauchen sie für die Flucht? Die Frage, die ich Inan kurz zuvor im Laderaum stellte, geht mir durch den Kopf.

Eine Ablenkung. Eine Möglichkeit, an die Skulls heranzukommen, ohne dass die merken, was los ist.

Während ich über Inans Worte nachdenke, gerinnt die Zeit. Ablenkung kann mein Bruder von mir haben.

Wenn er die braucht, halte ich mich nicht länger zurück!

»Hah!« Ich ramme meinen Kopf gegen den Krieger links von mir. Die Dornen meiner Krone durchbohren seine Maske und dringen in sein rechtes Auge. Er schreit laut auf. Heißes Blut schießt zwischen seinen Fingern hervor auf mein Kinn. Wir fallen zu Boden.

Ich krabbele davon, doch der andere Skull versucht, mich festzuhalten. Mit erneutem Gebrüll hole ich aus und trete ihm mit voller Wucht gegen den Kiefer. Dumpf schlägt er auf dem Holzboden auf. Der Ring mit den Messingschlüsseln rutscht durch den Gang.

Da! Ich lange nach den Schlüsseln, doch der Silberschädel schneidet mir den Weg ab. Mit einem irren Blick in seinen grünbraunen Augen will er sich auf mich stürzen. Ich laufe los.

Kurz bevor der Kapitän mich einholt, eilt mir ein Maji namens Udo zur Hilfe. Ich erkenne den talentierten Erdsänger, obwohl sie ihm den Vollbart abrasiert haben. Auf seinen großen Händen prangen Verbrennungen von Metall. Als ich an ihm vorbeikomme, stößt er einen Schrei aus.

Udo schleudert ein Paar eiserner Fußringe gegen die Beine des Kapitäns. Der Silberschädel sackt gegen die Stangen eines Käfigs. Ein kleiner Dolch rutscht aus seinem Gürtel.

Das ist meine Chance. Ich strecke das Bein durch und trete den Dolch in Udos Käfig. In dem Moment wankt das Schiff, und die Maji fangen an zu schreien. Die Kraft ihres Zorns hallt durch die langen Gänge.

Im entstehenden Chaos werfen sich die Maji auf die gestürzten Skulls. Sie entwenden ihnen Waffen und Werkzeuge. Messer und rostiges Metall verschwinden in den Zellen.

Währenddessen kehrt mein Blick zurück zum Messingschlüsselbund weiter hinten im Gang. Die Skulls liegen noch auf dem Boden.

Jetzt habe ich die Möglichkeit, diese Maji zu befreien!

Ich hieve mich hoch und stürze zu Tzain hinüber. Mein Bruder wirft sich gegen die Stangen seines Käfigs. Die fünf Maji, an die er gekettet ist, reißt er mit nach vorn.

Ich springe über den Silberschädel hinweg. Trotz seiner Maske sehe ich die Wut, die durch unseren Aufstand in ihm hochkocht. Seine Finger streifen meinen Knöchel, doch er kann mich nicht aufhalten. Mit rasendem Puls schnappe ich mir die Schlüssel.

»Schnell!«, ruft Tzain. Es ist nicht leicht, zu ihm zurückzugelangen, denn das Schiff wirft mich von einer Seite des Gangs zur anderen. Meine Muskeln brennen vor Anstrengung, dennoch laufe ich, so schnell ich kann.

Bei Tzain angekommen, packt er mich an den Schultern. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass mich andere als die kalten Hände des Feindes berührt haben. Tränen treten mir in die Augen, und ich habe Mühe, den ersten Messingschlüssel ins Schloss zu schieben. Die Zuhaltungen rühren sich nicht, Tzain hält meine zitternden Hände fest.

»Tief durchatmen!«, flüstert er. »Tief durchatmen.«

Mit einem großen Seufzer zwinge ich mich, ruhiger zu werden. Ich ziehe den ersten Schlüssel heraus und probiere den nächsten. Dann versuche ich den dritten. Den vierten. Den fünften.

Die ächzenden Holzbohlen verraten mir, dass die Skulls hinter mir wieder zu sich kommen. Meine Nackenhaare stellen sich auf.

»Los, lauf!« Tzain will mich wegschieben.

»Ich lasse dich nicht im Stich!«, rufe ich und schiebe den sechsten Schlüssel ins Schloss. Mit einem Klicken setzen sich die Zuhaltungen in Bewegung. Ich drehe den Schlüssel, will ihn herausziehen …

Da stößt mich Tzain zu Boden. Ein Messer, das für mich bestimmt war, landet in seinem rechten Arm. Brüllend stolpert er rückwärts. Der Schlüsselbund wird mir aus der Hand gerissen.

Der Skull, dem ich meine Krone ins Auge gebohrt habe, ist über mir und bleckt die blutbefleckten Zähne. Rote Tropfen fallen mir auf den Hals. Er zieht den Hammer aus seinem Bund.

»Nei!«, ruft der Silberschädel.

Ich krieche zur Seite, während sich die Bronzemaske des anderen Kriegers verwandelt. Sein Blut sickert in die kantigen Runen im Eichengriff seines Hammers. Dieselben Zeichen erscheinen auf seiner Brust.

Er schreit wie von Sinnen, als der Hammer rot aufglüht. Die Luft um ihn herum beginnt zu summen. Unter seiner hellen Haut treten die Adern hervor. Seine Muskeln schwellen mit neuer Kraft an.

Ungläubig verfolge ich, wie der Krieger mit der Bronzemaske so groß wird, dass der Kapitän hinter ihm nicht mehr zu sehen ist. Alle Anwesenden erstarren.

Ich wusste nicht, dass Skulls sich auf diese Weise verwandeln können.

»Hættu!« Der Kapitän muss all seine Kraft aufwenden, um den Mann mit der Bronzemaske in Schach zu halten. Mit unglaublicher Anstrengung drückt er seinen Krieger gegen den nächsten Käfig. Die eisernen Gitterstäbe biegen sich nach innen.

Mit rasendem Herzen verfolge ich, wie sie sich ein erhitztes Wortgefecht liefern. Der Silberschädel weist auf die Majazitkrone auf meinem Kopf.

»Hún tilheyrar Baldyri!«, erklärt er.

Hat er gerade von Baldyr gesprochen?

Der Kämpfer mit der Bronzemaske steckt seinen Hammer wieder ein, und die Wirkung des blutroten Metalls lässt nach. Als seine übermenschlichen Kräfte schwinden, stolpert er rückwärts. Noch vor einem Moment ein Ungetüm von Mann, hat er jetzt Probleme, Luft zu bekommen.

Der Silberschädel packt mich. Er reißt meinem Bruder das Messer aus dem Arm und hält mir die Klinge an den Hals. Die Spitze bohrt sich in meine Kehle, so dass ich gezwungen bin, alles über mich ergehen zu lassen.

»Halt durch!«, ruft Tzain, während der Kapitän mich durch den Gang schleppt. »Ich komme, Zélie! Ich komme …«

Mehr verstehe ich nicht.

Eine Rundbogentür am Ende des Gangs schlägt auf. Peitschende Winde schlucken alle Geräusche. Wir gehen hindurch, und die gesamte Welt dreht sich. Ich habe Probleme, alles in mir aufzunehmen.

Gewaltige Wellen brechen sich an der Seite des Schiffes. Gischt brennt in den offenen Wunden an meinem Kopf. Über mir scheint der gelbe Mond, sein schwaches Licht fällt auf mein Gesicht. Ich ringe nach Luft.

Das Deck …

Ich habe nur eine Sekunde Zeit, um die frische Seeluft zu genießen. Den Kopf in den freien Himmel zu heben. Heftiger Regen fällt mir in die Augen. Über mir erstreckt sich eine endlose Wolkendecke, die den Blick auf die funkelnden Sterne verwehrt.

Wohin ich auch schaue, sehe ich Skulls – bedrohliche, schneidige Muskelpakete. Ihre helle Haut ist mit Farbe beschmiert. Unter Rufen in ihrer brutalen Sprache bedienen sie das gewaltige Schiff.

Auf dem Oberdeck des über hundert Meter langen Wasserfahrzeugs sind sieben Masttopps verteilt. Jedes Segel ziert das Bild eines Mannes aus Gewitterwolken – das Wahrzeichen der Stämme von Baldeírik. An Steuerbord und Backbord reihen sich Kanonen aneinander, jede so platziert, dass sie durch eine runde Luke schießen kann. Eisenplatten verstärken den massiven Rumpf, den vorn als Galionsfigur ein angelaufener silberner Skull schmückt.

Der Kapitän schickt einen seiner Kämpfer durch die Rundbogentür zurück, dann weist er aufs andere Ende des Schiffes. Über Deck erheben sich drei Stockwerke hoch die Unterkünfte. Ganz oben befindet sich ein Turm mit weiß gestrichenen Außenmauern.

Das ist bestimmt der Ort, an den sie mich bringen …

Wir gehen weiter. Meine Kehle wird trocken. Ich sehe dem Ort entgegen, an dem schon die anderen Mädchen aus meinem Laderaum verschwanden, ohne je zurückzukehren. Verstohlen registriere ich die Rettungsboote, von denen Inan sprach. Unsere einzige Möglichkeit, dieses Schiff zu verlassen. Genug für die Dutzende von Skulls hier an Deck.

Genug für die in den Zellen eingesperrten Maji.

Hoffentlich reichen sie. Ich denke an meinen Bruder und die Maji, an alles, was sie sich auf die Schnelle schnappen konnten. Wenn sie bekommen haben, was sie brauchten, haben wir eine Chance.

Dann könnten die Maji sich befreien.

Doch als der Kapitän mich die Treppe hochschleppt, denke ich nicht länger an die anderen. Ich lande vor einer karmesinroten Tür.

Bevor ich in das Zimmer dahinter geschoben werde, schaue ich hoch in den Himmel und bete, dass ich den gelben Mond noch einmal wiedersehen werde.

Kapitel 6Tzain

»Zélie!«, rufe ich. »Zélie!«

Ich schreie, bis ich heiser bin. Ich schreie noch lange, nachdem sie meine kleine Schwester mitgenommen haben. Noch lange, nachdem sie durch die Rundbogentür verschwunden ist.

So viele Nächte wollte ich nur ihr Gesicht sehen. Wissen, dass es ihr gut geht. Doch das reicht jetzt nicht mehr.

Sie haben meine Schwester mit sich geschleppt.

»Mama! Mama!«

Ich kneife die Augen zu. Mein Körper wird zu Blei. Als alles in einem Schwall zurückkommt, die Nacht, die zu vergessen mein Lebensinhalt war, umklammere ich die Stangen meines Käfigs.

Sie nahmen Mama einfach so mit. Sie schlugen sie zusammen. Sie führten sie am Hals davon.

Ich hatte zu viel Angst, um für sie zu kämpfen.

In jener Nacht ließ ich meine Mutter sterben.

»Mama!«

Bei der Erinnerung an meine Schreie zerbricht etwas in mir. Damals zerriss meine Welt. Ich dachte, die Sonne würde nie wieder aufgehen.

Und jetzt geschieht es aufs Neue. Direkt vor meinen Augen. Das Einzige, was mir noch an Familie bleibt, rinnt mir durch die Hände.

Ich muss mir etwas einfallen lassen, sonst stirbt meine Schwester …

Die Rundbogentür wird aufgerissen. Instinktiv drücken sich alle in die hinterste Ecke ihrer Zelle. Ein Skull kommt zurück in den Laderaum, die Messingschlüssel klirren in seiner Hand.

Heimtückisch schielt er durch die Eisenstäbe. Blut tropft von der offenen Wunde in meinem Arm, sie brennt wie Feuer. Der Skull will bestimmt zu mir.

Vergeltung für meinen Ausbruchsversuch.

Doch anstatt meine Zellentür zu öffnen, schließt er eine andere weiter hinten auf. Die Maji darin weichen zurück, und der Skull packt sich Udo, den Jungen, der den Silberschädel mit seiner Kette zu Fall brachte.

Wehr dich!, sporne ich Udo stumm an. Er versucht, sich dem Griff des Skulls zu entziehen, doch der klemmt sich Udos Kopf unter den Arm.

Mit einem zornigen Knacken bricht der Skull Udo das Genick.

Nein.

Mein Hass lodert auf. Die anderen wenden den Blick ab, doch ich zwinge mich hinzusehen. Mit rasselnder Kette fällt Udo zu Boden.

Ein weiterer Maji, der uns genommen wurde. Den wir an diesen Krieg verloren haben.

Alles ist still, als der Skull gegangen ist. Er macht sich nicht mal die Mühe, Udos Leiche mitzunehmen. Wir bleiben mit dem Toten zurück, eine Mahnung, was geschieht, wenn wir noch einmal auszubrechen versuchen.

Als ich Udo betrachte, sehe ich Mamas Füße darüber baumeln. Ich sehe Zélie auf dem Boden verbluten.

Ich werde dich retten, schwöre ich mir.

Ich erlaube mir nicht mehr zu verlieren.

Ich greife in meine Gesäßtasche. Der Lederbeutel, den ich an mich nehmen konnte, ist warm in meinen Händen. Teerähnliche Flüssigkeit dringt aus einem Riss im Leder. Der Strang, der als Lunte das Gemisch entzündet, ist ausgefranst und zerschlissen.

Ich stelle mich an die Stäbe und strecke die Hand aus, um die anderen Gefangenen nach vorn zu locken. Die Drohung der Skulls sorgt dafür, dass wir nur leise sprechen. Das Holzschiff quietscht und ächzt.

»Zeigt her, was ihr an euch nehmen konntet!«, fordere ich.

Ein Maji nach dem anderen präsentiert, was er gestohlen hat: Metallstücke, Schwefelsäckchen; ein Maji in Udos Zelle schwingt sogar einen Dolch. Im Laufe des letzten Mondes haben sich verschiedene Werkzeuge angesammelt: In fast jedem Käfig gibt es etwas, womit man das Schloss an der Tür öffnen oder aufbrechen kann. Wenn Zélie die Skulls ablenkt, haben wir eine Chance.

Endlich ist genug da, um uns aus diesen Zellen zu befreien.

»Hört mir zu!«, flüstere ich. »Wir müssen zuschlagen. Jetzt