China und die Neuordnung der Welt - Susanne Weigelin-Schwiedrzik - E-Book

China und die Neuordnung der Welt E-Book

Susanne Weigelin-Schwiedrzik

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Beschreibung

Weltmacht, Wirtschaftsmacht, wachsende Spannungen in den internationalen Beziehungen: China erzeugt in Europa zunehmend Angst. Doch das muss nicht sein, zeigt Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Europa, so der überraschende Befund, ist im geopolitischen Kräfte- und Mächtespiel zwischen China, USA und Russland der versteckte Akteur, der durchaus entscheidend sein kann. Ihre profunde Kenntnis Chinas verbindet die Autorin mit einer scharfsichtigen Analyse der Haltung Pekings im russischen Krieg gegen die Ukraine und des strategischen Dreiecks im – eben nicht nur bipolaren – Kalten Krieg. Heute, da sich die Welt neu ordnet, kann und muss Europa auch gegenüber China eine aktive Rolle einnehmen. Dieses Buch füllt eine wichtige Lücke, um die Interessen der Volksrepublik und die Perspektiven Europas zu erkennen. Denn: Man kann die Welt nicht ohne China denken!

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Susanne Weigelin-Schwiedrzik

China und die Neuordnung der Welt

Aus der Reihe »Auf dem Punkt«

Herausgegeben von Hannes Androsch

Vorwort des Herausgebers

Vorbemerkung

1Wie China zum Krieg in der Ukraine steht

2China, die USA und Russland oder: Wie Dreiecksbeziehungen die Welt bestimmen

3Warum ist es so schwierig, eine China-Strategie der EU zu erstellen?

4Wie kann Europa sich als eigenständiger Akteur in den internationalen Beziehungen positionieren?

Nachwort

Literatur

Die Autorin

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Unsere Welt befindet sich in tiefgreifendem, rasantem Wandel. Der Umbruch der Gesellschaft mit ihrer zunehmenden Komplexität und der Umbruch politischer Ordnungen führen zu neuer Unübersichtlichkeit, welche wachsende Verunsicherung erzeugt.

Um dies abzuwenden, bedarf es Orientierung und zukunftsfähiger Perspektiven. Angesichts von Halbwahrheiten und Schlagworten in alten und neuen Medien ist es notwendig, Relevantes und Irrelevantes, Sinn und Unsinn zu unterscheiden. Und es wird fundiertes Wissen über die großen Themen der Gegenwart benötigt, um durch die Flut von Daten, Halbwahrheiten und Fake News navigieren zu können und sich zurechtzufinden. Aus diesem Grund nehmen führende Intellektuelle, Expertinnen und Experten in der Reihe Auf dem Punkt zu den großen Fragen unserer Zeit Stellung.

Zwischen China und den USA ist eine gefährliche Rivalität um die globale Vormachtstellung entstanden. Beide Mächte führen den Erhalt der nationalen Sicherheit als Hauptzielsetzung in diesem Wettstreit an, obwohl offensichtlich keine der beiden das Land der jeweils anderen zu erobern beabsichtigt. Sehr wohl aber sind beide Staaten daran interessiert, Abhängigkeiten zu verhindern und, wo immer möglich, weltweiten hegemonialen Einfluss zu haben. Der Westen hat sich in diese Konstellation durch zahlreiche Allianzen integriert, jedoch verabsäumt, die Länder des Globalen Südens in diese einzubinden. China versucht dieses Versäumnis allerdings in neokolonialistischer Weise zu nutzen, wofür die sogenannte »Neue Seidenstraße« ein Beispiel ist. Mit der Idee einer Zweikreiswirtschaft will China darüber hinaus eine möglichst große wirtschaftliche Unabhängigkeit erreichen, während die USA mit friend-shoring, reshoring und rerisking eine Entkoppelung von China anstreben. China hat dabei größere innere Probleme zu bewältigen. Beiden Ländern wird die Umsetzung ihrer Bestrebungen nur zum Teil möglich sein, mit Sicherheit werden sie dadurch aber der Weltwirtschaft und damit dem Rest der Welt schaden.

Diese Rivalität ist der Bedeutung des amerikanischen Zeitalters abträglich, ohne dass deswegen ein chinesisches oder asiatisches entstanden sein wird — das europäische Zeitalter ist ohnehin längst Geschichte.

Dr. Hannes Androsch

Vorbemerkung

Vor 45 Jahren, im Dezember 1978, entschied das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), dass China auf den Weg von Reform und Öffnung geführt werden müsse. Seitdem hat das Land einen geradezu furiosen Aufstieg zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt vollzogen. 1977 nahm ich bei meiner Abreise aus Peking nach fast zweijährigem Studienaufenthalt noch an, vielleicht nie mehr nach China zurückkehren zu können. Doch bald merkte ich, dass ich mich getäuscht hatte. China öffnete seine Tore immer weiter und suchte aktiv die Zusammenarbeit mit dem Ausland. Das Land gab seine Selbstisolation auf, entsandte immer mehr Studierende ins Ausland und hieß auch solche Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in China willkommen, die sich von der Idee des Sozialismus grundsätzlich abgrenzten. China war wieder Teil der Welt, und die Welt profitierte davon.

Auf dem 19. Parteitag der KPCh im Jahr 2017 verkündete der Parteivorsitzende Xi Jinping, China stehe kurz davor, wieder ins Zentrum des Weltgeschehens zu rücken. Fünf Jahre später, auf dem 20. Parteitag, auf dem er zum dritten Mal in sein Amt gewählt wurde, sprach Xi dann weniger darüber, dass der chinesische Traum vom Wiederaufstieg zur Weltmacht kurz vor seiner Erfüllung stehe. Er hob vielmehr hervor, dass die Position im Zentrum des Weltgeschehens China mit einer Gefahr konfrontiere, die das Land seit seiner Gründung im Jahr 1949 in dieser Form noch nie erlebt habe. Es sehe sich von Feinden umzingelt, und die Welt sehe sich von China bedroht.

Für all jene, die wie ich das sich öffnende Land seit über vierzig Jahren neugierig beobachtet, bereist und analysiert haben, ist das die zweite radikale Kehrtwende, die wir in China erleben. Hatten wir in den Siebzigerjahren noch ein zur Askese verpflichtetes Land in Armut und unter strenger politischer Kontrolle kennengelernt, lebten in den Neunzigerjahren viele unserer Bekannten in China besser als wir selbst: Die chinesische Mittelklasse wurde reich, konnte reisen, so weit das Geld reichte, und sprach mit uns über alles, worüber man sprechen wollte. Ideologische Gegensätze gab es nicht mehr, und alle schienen mit der Situation zufrieden. So auch die Kommunistische Partei, die zwar ihre marxistisch-leninistische Ideologie nicht mehr so offensiv vertreten konnte wie zuvor, dafür aber durch ihre erfolgreiche Wirtschaftspolitik die eigene Bevölkerung sowie Wirtschaftstreibende weltweit von sich überzeugen konnte.

Nun, da China für sich einen Platz im Zentrum des Weltgeschehens beansprucht, zeigt das Land wieder ein anderes Gesicht. Hatte man seit dem Tod Maos auf kollektive Führung gesetzt, beansprucht Xi Jinping nun für sich, unangefochten alle wichtigen Entscheidungen allein treffen zu können. Das ist die Kehrseite von Chinas Aufstieg zur Weltmacht. Hatte die Bevölkerung bis zu Xis Machtantritt so viel Freiheit genossen, dass man nicht mehr auf jedes Wort achten musste, das man aussprach, wurde nun der politische Druck wieder verstärkt. Die Bedrohung des Landes, die Xi zu erkennen meint, lasse nichts anderes als eine monokratische Ordnung mit strikter ideologischer Kontrolle zu, so die Quintessenz dessen, was er auf dem 20. Parteitag im Oktober 2022 verkündete. Um sich herum hat Xi im Ständigen Ausschuss des Politbüros sieben Männer versammelt, die ihm nicht bei seinen Entscheidungen zur Seite stehen, sondern seine Entscheidungen umzusetzen haben. Noch nicht einmal in den höchsten Gremien der Macht ist Widerspruch zugelassen. Was zunächst nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wurde, ist nun Teil der Propaganda geworden: China bereitet sich auf einen Krieg vor. Damit ist nicht gemeint, dass China den Krieg sucht. Vielmehr wird damit ausgedrückt, dass die Hoffnung, friedlich ins Zentrum der Welt vorrücken zu können, keine Grundlage mehr hat. Der Grund für diesen Sinneswandel, so Xi Jinping, ist nicht in China zu suchen. Der »Westen« wolle nicht, dass China sich weiterentwickele, und die USA wollen nicht, dass China sie womöglich »überhole«. In seinen jüngsten Äußerungen spricht Xi von einem »bevorstehenden Unwetter«, auf das man sich in China einstellen müsse.

Es ist nicht einfach, einen derart drastischen Sinneswandel nachzuvollziehen. Die chinesische Führung hat immer von einem »friedlichen Wiederaufstieg« gesprochen. Sie hat betont, mit dem Rest der Welt in einem fairen und mit ökonomischen Mitteln auszutragenden Wettbewerb zu stehen. Chinesische Intellektuelle haben darüber geschrieben, wie eng die Wirtschaften in den USA,Europa und China miteinander verbunden und dazu verdammt seien, im Zuge der Globalisierung auf den Einsatz von kriegerischen Mitteln zu verzichten. Man suchte nach Wegen und Gründen, die USA davon zu überzeugen, China als zweite Weltmacht zu akzeptieren. Nun erweist sich dieser Weg als obsolet, und auch in den USA stößt die Zusammenarbeit mit China nicht mehr auf Wohlwollen. China, so Präsident Biden, sei das einzige Land, das die Position der USA in der Welt infrage stellen könne.

Auf den folgenden Seiten werde ich einen Blick auf China versuchen, den ich als realistisch bezeichne. Uns mit der Erzählung zu beruhigen, dass China in der Vergangenheit nie aggressiv war und deshalb auch in Zukunft nicht aggressiv sein wird, hilft nicht. Ein Rückfall in die Kalte-Kriegs-Logik, gepaart mit einem gerüttelt Maß an Anti-Kommunismus, hilft ebenso wenig. Es geht darum, sich der Realität der Machtverteilung in der Welt zu stellen, den Gefahren ins Auge zu blicken und zugleich nicht davon abzulassen, Lösungen für die vielen anstehenden Probleme zu finden. Es gilt, China nicht einfach aus unseren Überlegungen auszuklammern, nur weil es angeblich so fremd und anders ist. Wir müssen die Welt mit China denken!

Es gilt, China nicht einfach aus unseren Überlegungen auszuklammern, nur weil es angeblich so fremd und anders ist.Wir müssen die Welt mit China denken!

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Wie China zum Krieg in der Ukraine steht

Am 24. Februar 2022, dem Tag, an dem russische Truppen in der Ukraine einmarschierten, saß ich abends in einer Talkshow, die, wie nicht anders zu erwarten, unter dem Eindruck der dramatischen und für viele unerwarteten Ereignisse stand. Von einem Tag auf den anderen waren wir alle mit einem heißen Krieg in der Mitte Europas konfrontiert, und von einem Tag auf den anderen reagierte die Öffentlichkeit in Europa auf diese neue Lage, indem sie der Logik des Krieges freien Lauf ließ. So auch in dieser Talkshow, zu der ich geladen war, um Auskunft über die Reaktion der Volksrepublik China (VR China) auf die Ereignisse zu geben. Ich tat dies und brachte damit unversehens eine Perspektive auf die Dinge ein, die in der Runde zunächst auf Unverständnis, später auf Beachtung stieß: Das chinesische Außenministerium hatte in seiner Reaktion auf den Kriegsausbruch sowohl Verständnis für die Sicherheitsinteressen Russlands (ohne Russland zu nennen) signalisiert als auch die Notwendigkeit betont, die territoriale Integrität und Souveränität eines jeden Landes zu respektieren (ohne die Ukraine zu nennen). China positionierte sich an diesem ersten Tag des Krieges gegen die Ukraine nicht auf der Seite des »Westens«, aber auch nicht auf der Seite Russlands. Weil es sich aber nicht eindeutig auf die Seite des »Westens« stellte, wurde es von den USA von Beginn des Krieges an kritisiert, es unterstütze heimlich Russland und stünde eindeutig auf dessen Seite.

Am Ende der Talkshow wurde ich von dem Moderator gefragt, wie man sich ein Ende des Krieges vorstellen könnte. Inzwischen hatte die Runde sich etwas von der Kriegslogik abgewandt und intensiv darüber gesprochen, welche Folgen der Krieg für Europa heraufbeschwört. Ich antwortete damals, dass ich mir vorstellen könnte, die Herstellung eines Waffenstillstands oder gar Friedens könne ohne ein Zutun Chinas kaum bewerkstelligt werden. Die Reaktion des Moderators: Das wäre ein so kompliziertes Szenario, dass wir uns das überhaupt nicht vorstellen können.

Kann China als Moderator im Ukraine-Konflikt fungieren?

Ein Jahr später, am 24. Februar 2023, legte China ein im »Westen« allenthalben als »Friedensplan« bezeichnetes Positionspapier vor, das die Regierungen in den USA und Europa einigermaßen irritiert hat. Die Reaktion der Medien offenbarte allerdings weniger Beunruhigung als die gewohnte Überheblichkeit: China habe in dieser Frage nichts mitzuteilen und verschleiere nur seine Unterstützung Russlands. US-Außenminister Blinken hatte die Initiative zuvor dadurch abqualifiziert, dass er auf der wenige Tage vor deren Veröffentlichung stattfindenden Münchner Sicherheitskonferenz die Weltöffentlichkeit informierte, man habe Hinweise darauf, dass China Waffenlieferungen an Russland erwäge. Dabei hatte die VR China immer wieder betont und durch ihr Abstimmungsverhalten in der UNO unter Beweis gestellt, dass sie eine »mittlere« Position in diesem Konflikt einnehmen möchte. China ist in diesem Konflikt nicht neutral, so könnte man die Äußerungen des chinesischen Außenministeriums deuten, denn es folgt ja der russischen Argumentation, wonach der Krieg durch das drohende Vorrücken der NATO an die russische Grenze provoziert worden sei. Aber es nimmt eine »mittlere« Haltung ein, insofern es in beiden Kriegsparteien Partner sieht, mit denen es vor dem Krieg und im Zuge der Beendigung des Krieges weiterhin zusammenarbeiten möchte. Zugleich beschreibt China seine »mittlere« Position unter Bezug auf die Haltung vieler Länder zur Frage der Sanktionen gegen Russland.

China ist aber vielleicht das einzige Land der Welt, das groß und einflussreich genug ist, um auf alle in diesem neuen Kalten Krieg verstrickten Akteure einwirken zu können.

Auch wenn die Abstimmungen in der UNO deutlich machen, dass die Mehrheit der Mitgliedsstaaten eindeutig für eine Ablehnung des russischen Vorgehens gegen die Ukraine eintritt, zeigt sich doch, dass die Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten nicht an dem unter Führung der USA etablierten Sanktionsregime gegenüber Russland teilnimmt. China ist also nicht das einzige Land der Welt, das sich weder dem einen noch dem anderen Block im neuen Kalten Krieg zuordnen möchte. China ist aber vielleicht das einzige Land der Welt, das groß und einflussreich genug ist, um auf alle in diesen Krieg verstrickten Akteure einwirken zu können, das Denken und Handeln im Sinne der Kriegslogik durch eine aktive Suche nach Möglichkeiten zur Beendigung des Krieges zu ersetzen. Dass China eine »mittlere« Position einnehmen will, hat ein Ziel: In ihrem ureigenen Interesse möchte die Volksrepublik, dass der Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich beendet wird. Und in diesem Sinne bietet sie sich als Moderator an.

Dabei gibt es ein interessantes historisches Beispiel, das zeigt, wie derartig unwahrscheinlich wirkende Lösungen Realität werden können. Im Russisch-Japanischen Krieg von 1904 bis 1905 kam es zu einem Zermürbungskrieg, wie wir ihn derzeit auch in der Ukraine beobachten können. Die japanische Seite hatte zwar Russland mehrfach empfindlich geschlagen und in der Schlacht von Tsushima die gesamte Baltische Flotte des Zarenreichs zerstört. Doch konnte sich Japan nicht als eindeutiger Sieger des Krieges positionieren. Japan erkannte, dass dem Land die ökonomischen und personellen Ressourcen für eine Fortführung des Krieges bis zum eindeutigen Sieg gegen das russische Zarenreich fehlten. In dieser Situation bat die japanische Regierung den amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt, sich für eine baldige Beendigung des Krieges einzusetzen. Dieser willigte ein und empfahl Japan, Teile der zu Russland gehörenden Insel Sachalin zu besetzen, um Russland an den Verhandlungstisch zwingen und Verhandlungsmasse in die späteren Gespräche einbringen zu können. Der von Japan gebetene Moderator erwies sich als geschickter Taktiker: Am 8. Juli 1905 besetzten japanische Truppen die Insel, und Zar Nikolaus II. gab am 11. Juli seine Einwilligung zu Friedensgesprächen.

Wie von japanischer Seite erwünscht, übernahmen die USA die Rolle des Mediators in den Friedensverhandlungen. Dabei sollte Sachalin eine ausschlaggebende Rolle spielen. Der kriegsentscheidende Vorschlag Roosevelts, damals natürlich nicht der Öffentlichkeit bekannt, stärkte die Moderatorenfunktion der USA, auch wenn er eigentlich eine einseitige Bevorzugung Japans beinhaltete und deshalb der Vermittlungsposition hätte im Wege stehen können. Noch wichtiger aber war, dass durch die Besetzung des vormals vom Krieg unberührten russischen Territoriums Russland psychologisch dazu gedrängt wurde, die eigene Niederlage als gravierender zu betrachten, als sie objektiv war. Die Japaner wiederum konnten durch die Besetzung der Insel Sachalin die eigene Bevölkerung davon überzeugen, dass der blutige und kostspielige Krieg einen Sieg erbracht hatte. Damit gewann die Verhandlungsdelegation Spielraum und entledigte sich zumindest ein Stück weit des durch eine angeheizte nationalistische Stimmung in Japan entstandenen Drucks. Schließlich führte die Besetzung der Insel Sachalin dazu, dass der Krieg beendet werden konnte. Ausschlaggebend dafür war Russlands Vorschlag, die Insel zu teilen, sodass sowohl Japan als auch Russland jeweils einen Teil der Insel ihr Eigen nennen konnten. Als Japan, das ursprünglich gar nicht auf Sachalin spekuliert hatte, diesem Angebot zustimmte, wendete sich das Blatt zu seinen Gunsten. Am Verhandlungstisch in Portsmouth gelang Japan, was es militärisch nicht hatte erreichen können. Es setzte seine Machtansprüche in Ostasien weitestgehend durch. Der am 5. September 1905 unterschriebene Vertrag von Portsmouth wurde in Japan als Sieg über Russland gefeiert.

Auch die USA profitierten von ihrer Intervention als Moderator. Sie konnten sich international als Friedensvermittler positionieren und bereiteten damit ihr verstärktes Engagement als aufstrebende Weltmacht in Ostasien vor. Als unbeteiligter Akteur konnten sie die Situation im eigenen Interesse nutzen und zugleich ihre Beziehungen zu Japan verstärken, mit dessen Zustimmung sich die USA in den Wettbewerb um Einfluss in Ostasien einbringen konnten. Wenige Jahre später, am Ende des Ersten Weltkrieges, spielten die USA bereits eine führende Rolle auf der Konferenz von Versailles.

Der Russisch-Japanische Krieg ist weitgehend in Vergessenheit geraten, und doch enthält er vieles, das uns heute zu denken geben sollte. Ich selbst hatte diese Ereignisse im Hinterkopf, als ich bei der eingangs erwähnten Talkshow die Meinung äußerte, dass China eines Tages eine wichtige Rolle bei der Beendigung des Krieges in der Ukraine spielen könnte. China verfolgt durch seine »mittlere« Position das Ziel, sich selbst als »verantwortungsvolle Großmacht« in das Geschehen einzubringen und sich im System der internationalen Beziehungen mit einem Führungsanspruch zu positionieren. Wie die USA im Russisch-Japanischen Krieg ist China zunächst ein außerhalb der Region angesiedelter, unbeteiligter Akteur. Doch erkannten die USA die Chance, ihr weltweites Prestige durch eine erfolgreiche diplomatische Intervention erheblich erhöhen zu können. In einer ähnlichen Lage befindet sich China heute. Im Gegensatz zur Konstellation im Russisch-Japanischen Krieg zielt Chinas Taktik jedoch auf die Festigung einer dritten Position als Gegengewicht zur derzeit im Vordergrund stehenden Blockbildung. Damals drohten beide Seiten im Zermürbungskrieg unterzugehen. Obwohl Japan Russland militärisch überlegen war, gelang es ihm nicht, Russland zu besiegen; und obwohl Russland damals wie heute über die größeren Reserven verfügte, konnte es nicht lang genug durchhalten, um einen entscheidenden Sieg zu erringen. Japan drohte der ökonomische Zusammenbruch und eine gravierende innenpolitische Krise. Deshalb wollte es den Krieg beenden, obwohl es militärisch der Weltöffentlichkeit vor Augen führte, dass es in der Lage war, die mächtige russische Flotte zu zerstören.

Historische Kriegserfahrungen sind das Einzige, auf das wir zurückgreifen können, wenn wir zu verstehen versuchen, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickeln könnte. Dabei steht in Europa die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges im Vordergrund. Sowohl Russland als auch die USA und mit ihnen EU-Europa setzen ihre jeweilige Erzählung über den Krieg ein, um der Öffentlichkeit die Legitimität ihrer Vorgangsweise zu vermitteln. Die Teilung Europas zeigt sich dabei auch in dem Sinne, als dass die Zeitspanne seit dem Ende des Kalten Krieges nicht dafür genutzt wurde, eine gemeinsame Sicht auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu entwickeln. Dabei geht es nicht darum, sich darüber zu einigen, gegen wen der Zweite Weltkrieg geführt wurde, sondern darum zu erkennen, welches Land welchen Beitrag zur Niederringung Nazi-Deutschlands und Japans geleistet hat. Westeuropa folgt der Erzählung, dass die USA und die westlichen Alliierten, allen voran Großbritannien, den Hauptbeitrag geleistet haben; in Russland beinhaltet die Erzählung vom Großen Vaterländischen Krieg, dass Russland die größten Opfer im Kampf gegen den sogenannten Hitler-Faschismus erbracht und damit für den Frieden in Europa einen entscheidenden Beitrag geleistet hat. Die Anerkennung der Bedeutung der Sowjetunion für den Sieg über Deutschland scheint der »Westen« für nicht notwendig zu halten und verkennt damit, was es bedeutet, wenn fast jede Familie in der ehemaligen Sowjetunion weiß, wie viele Männer sie im Zweiten Weltkrieg verloren hat. Die friedliche Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion unter Gorbatschow Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre ist übrigens ein zweiter ganz wesentlicher Beitrag, den Russland erbracht hat, der in der augenblicklichen Rhetorik keine Beachtung findet und der auch in Russland mit gemischten Gefühlen betrachtet wird. Was für viele Menschen in Russland und anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion eine traumatische Erfahrung ist, stellt sich den Menschen in Westeuropa und den USA als Glücksmoment des Sieges dar. Gelitten haben die Menschen in Russland, gefeiert haben die Menschen westlich von Russland. Auch in diesem Fall gibt es zwei Erzählungen, die den Kontinent in zwei Hälften teilen.

Für die Imagination der Öffentlichkeit über die Frage, wie ein Krieg zu Ende gehen kann, steht im Zentrum des Vorstellungsvermögens der Sieg im Zweiten Weltkrieg, nicht der Zermürbungskrieg, den die Soldaten im Ersten Weltkrieg durchleiden mussten. Auch der Koreakrieg (1950–1953), der erste »heiße« Krieg, ausgehend von Nordkorea, der die Welt an den Rand des Dritten Weltkrieges führte, ist in Europa wenig bekannt und in den USA weitgehend vergessen. Dabei hat er viele Ähnlichkeiten mit dem, was wir derzeit in der Ukraine beobachten. Vor allem handelte es sich auch beim Koreakrieg um einen Zermürbungskrieg, der sich nach anfänglich sehr bewegten Fronten — zuerst stürmten nordkoreanische Truppen bis tief in das Territorium Südkoreas, dann kamen UNO-Truppen unter der Führung der USA zu Hilfe und drängten die Nordkoreaner wieder zurück, bis die chinesische »Freiwilligenarmee« eingriff — über zwei Jahre zog. Zwei Jahre, in denen der Großteil der Zivilisten und Soldaten, die in diesem Krieg starben, Opfer des Krieges wurden. Am Schluss stand ein Waffenstillstand, der nun schon seit 70 Jahren anhält und gleichzeitig wie eine Wunde in der Mitte Koreas brennt. Ken Follett hat sich in seinem Roman »Never« über den möglichen Ausbruch des Dritten Weltkrieges vorgestellt, dass ein Putsch in Nordkorea und ein Angriff auf Südkorea den Nuklearkrieg zwischen den USA und der VR