CHOR AUS DER DUNKELHEIT - Philip Dingeldey - E-Book

CHOR AUS DER DUNKELHEIT E-Book

Philip Dingeldey

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Beschreibung

Europa im 22. Jahrhundert: Großkonzerne haben die Regierung übernommen und beherrschen ein neo-feudales System im Ausnahmezustand. Doch beherrscht werden nicht nur Menschen, sondern auch Vampire. Letztere arbeiten - nachdem ein Friedensvertrag zwischen ihnen und dem geeinten Europa geschlossen wurde - für die Regierung und erhalten im Gegenzug Menschenopfer aus Konzentrationslagern. Als es jedoch der Lageraufseher George zulässt, dass die Vampirin Livia eines ihrer Opfer in den Untoten Septimus verwandelt und ihn in die demokratische Gesellschaft der Vampire aufnimmt, gefährdet dies den brüchigen Frieden. Ein ungleicher Kampf auf Leben und Tod beginnt. Und schon bald erweckt der Konflikt das Interesse verschiedenster ominöser Gruppen... Mit Chor aus der Dunkelheit präsentiert Philip Dingeldey einen mitreißenden und höchst originellen Hybriden aus Science-Fiction- und Horror-Roman. Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman in seiner Reihe APEX HORROR.

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Philip Dingeldey

 

 

CHOR AUS DER

DUNKELHEIT

 

Roman

 

 

Apex Horror, Band 53

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

CHOR AUS DER DUNKELHEIT 

Erster Teil: Die Verwandlung 

Zweiter Teil: Der Vampirkrieg 

Dritter Teil: Der Fürst der Vampire 

 

Danksagung 

 

 

Das Buch

 

Europa im 22. Jahrhundert: Großkonzerne haben die Regierung übernommen und beherrschen ein neo-feudales System im Ausnahmezustand.

Doch beherrscht werden nicht nur Menschen, sondern auch  Vampire.

Letztere arbeiten - nachdem ein Friedensvertrag zwischen ihnen und dem geeinten Europa geschlossen wurde - für die Regierung und erhalten im Gegenzug Menschenopfer aus Konzentrationslagern. Als es jedoch der Lageraufseher George  zulässt, dass die Vampirin Livia eines ihrer Opfer in den Untoten Septimus verwandelt und ihn in die demokratische Gesellschaft der Vampire aufnimmt, gefährdet dies den brüchigen Frieden. Ein ungleicher Kampf auf Leben und Tod beginnt.

Und schon bald erweckt der Konflikt das Interesse verschiedenster ominöser Gruppen...

 

Mit Chor aus der Dunkelheit präsentiert Philip Dingeldey einen mitreißenden und höchst originellen Hybriden aus Science-Fiction- und Horror-Roman. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman in seiner Reihe APEX HORROR.

   CHOR AUS DER DUNKELHEIT

 

 

 

 

 

 

  »Und die andern sind im Licht.

  Und man siehet die im Lichte

  Die im Dunkeln sieht man nicht.«

 

- Bertolt Brecht

 

 

 

 

 

  Erster Teil: Die Verwandlung

 

 

 

 

Eins: Septimus

 

 

Als 7836GS2 eines Nachts erwachte, fand er sich auf einem Steinpult liegend wieder, zu einem ungeheuren Wesen verwandelt. Er erwachte aus seiner ein Leben lang andauernden Ohnmacht. 7836GS2 lag auf einem buckligen Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen grauen harten Bauch und matte, verschmutzte Lendenshorts.

Was war geschehen? Er sollte doch eigentlich tot sein. So hatten es ihm die Wachen gesagt. Er war doch nur geboren worden, um schließlich getötet zu werden. Wieso war er noch hier?

Tot konnte er wohl nicht sein. Er fand sich zwar in einer düsteren Gruft wieder, doch arbeiteten seine Sinne noch, ja, vielleicht sogar besser als zuvor. Das Jenseits hatte er sich immer abstrakter vorgestellt, abseits von sinnlichem Leid. Das hier musste das Diesseits sein. Damit war jede Hoffnung auf ein Jenseits verloren. Er vernahm allerlei Irdisches: Trotz der Dunkelheit konnte er neben sich einige Holzsärge und die ornamental-barocken Verzierungen an Decke und Wänden erblicken. 7836GS2 spürte auch den kalten Stein unter seinem Leib. Er konnte den Moder und den Schimmel riechen, der in der feuchten Luft lag. Er hörte sogar das leise Scharren und Quieken des Ungeziefers am Boden. Und er schmeckte Blut auf seiner Zunge.

Wessen Blut war das in seinem Mund? Sein Körper sollte blutleer sein! Das war die Vorgabe gewesen! Die Wärter sollten ihn zu den Ungeheuern bringen, die ihn daraufhin als die ihnen rechtmäßig zustehende Nahrung aussaugen und damit töten sollten. Das, so haben ihm die Wärter gesagt, würde mit ihm in dieser Nacht geschehen, als sie ihm, kurz vor Sonnenuntergang, beim Abendappell eine schwarze Kapuze, die nach Erbrochenem gestunken hat, über den Kopf gezogen, mit einer Injektion betäubt und mit einer Reihe anderer Internierter auf den Transportgleiter gehievt haben. Das war der einzige Sinn seines ansonsten sinnlosen Seins gewesen: quasi eine Existenz ohne Dasein, pure Biomasse. Und doch war er hier. Gab es ein Jenseits, das so war, oder war seine Hölle sein Fortbestand im Diesseits?

Der ehemalige Häftling mit der Internierungsnummer 7836GS2 wippte mit seinem sich unförmig anfühlenden Körper hin und her – denn mit dem Buckel oder der Geschwulst, die er am Rücken trug, konnte er sich nicht einfach so erheben wie noch heute morgen – und fiel an der rechten Seite vom Pult. Er krachte auf den nackten harten Boden. Erstaunlicherweise schmerzte es nicht allzu sehr. Er sah sich um. Vor ihm hockte eine Ratte und nagte an irgendetwas herum, doch als sie ihn erblickte, quietschte das Tier auf und rannte verängstigt in die Dunkelheit. Sogar die Ratten hatten Angst vor ihm. Was für ein verschreckendes Antlitz er abgeben musste! Die Ratten im Lager waren weniger zimperlich gewesen und hatten oft Häftlinge angegriffen, wenn diese halbtot vor Erschöpfung in den Dreck gefallen waren. Da sah 7836GS2, woran das Tier geknabbert hatte: ein blutiger Fingerknochen. Das Menschenfleisch war fast komplett abgenagt.

Dem Mann, der eigentlich tot sein sollte, wurde speiübel. Was geschah mit ihm? Wo war er? Er übergab sich auf den Boden. Er kotzte Blut und Galle, Essen befand sich nicht mehr in seinem Magen. Der bleierne Nachgeschmack des Blutes vermischte sich in seinem Mund mit den bitteren Tönen der Galle. Und von dem Anblick wurde ihm bereits wieder so übel, dass ihm das Bedürfnis überkam, seine Organe auszuspeien, doch er brachte nur noch ein Würgen hervor. Er fühlte sich elend, hilflos und jämmerlich.

Warum war die Tortur, die sein ganzes nacktes Leben darstellte, nicht einmal vorbei? Er hatte jahrelang auf den Augenblick gewartet, an dem er an diese Monster verfüttert werden würde, der Moment, in dem all die Schinderei im Lager endlich vorbei sein, ja, wenn all die Pein endlich der Vergangenheit angehören würde. Und schließlich war der Tag mit der tödlichen Aura da gewesen, als er alt genug war. Die Wärter hatten ihm gesagt, er sei jetzt 29 Jahre alt. Dies sei das beste Alter, um als Futter zu dienen, obgleich sich 7836GS2 an die Jahre seiner Kindheit  nicht erinnern konnte.

Doch seine nicht vorhandene Jugend war dem ehemaligen Häftling gerade vollkommen egal. Was jetzt zählte, war nur: Herauskommen aus dieser Gruft! Herausfinden, wo er sich eigentlich befand! Fliehen! 

Der Mann erhob sich. Dabei fiel ihm auf, dass sich auch seine ganze körperliche Statur verändert hatte: Er war jetzt viel muskulöser. Sein Fleisch unter nun grauer Haut war ausgesprochen fest. Vielleicht war er sogar ein wenig größer, aber durch den Buckel ging er etwas gekrümmt. Und seine Finger kamen ihm länger vor als früher, und, oh nein: Etwas in seinem Mund fühlte sich seltsam an. Er zögerte erst, doch dann griff mit den Fingern an seine Zähne...  Doch! Seine Eckzähne waren ebenso gewachsen.

War er eines dieser Monster geworden? War etwas bei seiner Opferung schief gelaufen, oder erlaubten sich die Aufseher nur einen boshaften Scherz mit ihm? Zutrauen würde er es ihnen ja, denn solcherlei sadistische Aktionen waren die einzige Unterhaltung, die sich ihnen in dem stupiden Arbeitsalltag bot. Aber vermutlich würde es zu viel Geld verschlucken, wenn der Zweck dessen lediglich der Spaß war. Es wäre nicht effizient, und Effizienz war etwas sehr Wichtiges im Lager.

Da waren eine kleine, steinige Treppe und eine Türe. Soweit 7836GS2 sehen konnte, war dies der einzige Ausgang aus der beengten Gruft. Mit unsicheren Schritten stieg er die wenigen Stufen hinauf – er rutschte einmal auf dem glatten Boden aus – und drückte sich gegen die Tür. Sie war aus Stein und sehr schwer, viel zu schwer für nur einen gewöhnlichen Menschen, um sie einfach so zu öffnen, vermutete 7836GS2. Doch als er all seine Kraft aufwendete, ging sie sich mit einem lauten Dröhnen auf.

Er trat hinaus ins Freie. Die frische Nachtluft umwehte seine krumme Nase. Eine solche unschuldige Luft war nicht nur wohltuend gegenüber dem modrigen Geruch der Verwesung, sondern der ehemalige Internierte hatte noch nie eine so saubere und reine Luft gerochen, die frei war von Industriestaub, von Abgasen, von Schweiß und Exkrementen. Er atmete tief ein. Ein kurzer Moment des Genusses, der aber von seiner Angst überfrachtet wurde.

Der Mann fand sich – wie konnte es anders sein, trat er doch aus einer Gruft heraus?! – auf einem alten Friedhof wieder. Es gab also noch Friedhöfe. Er hatte gedacht, solche Parkanlagen gäbe es schon lange nicht mehr und alle wären abgeholzt worden, für wesentlich lukrativere Bauten, wie Einkaufszentren oder Arbeitslager. Und dennoch war er auf einem alten Friedhof. Die Bäume wehten und rauschten im Wind. Hier und da war ein Hügel. Dazwischen befanden sich zahlreiche efeuumwachsene Gräber, in Reih und Glied.

Selbst im Tod mussten sich diese Menschen noch einordnen.

Das Einzige, was nicht so recht in das Bild dieses antiquierten Totenparks und seiner düster-romantischen Atmosphäre passte, war das Eingangstor: Es sah modern, steril aus und leuchtete Weiß im Dunklen. Dahinter konnte er, wohl in zig Kilometern Entfernung, die Lichter einer Stadt entdecken. War er so weit ab der Zivilisation? 7836GS2 dachte, der gesamte Erdball wäre bevölkert und bebaut, aber hier war es menschenleer, Natur und altmodische, verspielte Architektur ergänzten sich scheinbar harmonisch, ganz anders als im Lager.

»Du bist also der Neue, nicht?«, hörte der ehemalige Häftling eine Stimme.

Er blickte sich um. Links hinter ihm, im Gras saß ein furchteinflößendes Wesen. Wie 7836GS2 selbst hatte es graue fahle Haut, lange Finger, wirkte muskulös und hatte einen Buckel. Jedoch war das Ungetüm weiblich und hatte langes, zerzaustes aschblondes Haar. Ihre Augen waren rot, sie glühten fast, und aus ihrem Mund blitzen vier lange Fangzähne. Ihre anderen Zähne waren alle ausgefallen. Anders als er, trug sie einen schwarzen Overall, der ihren Körper bedeckte, wo 7836GS2 nur Shorts trug. In Anbetracht seiner geringen Bekleidung durchströmte ihm Scham gegenüber diesem weiblichen Monster. Das und seine Furcht weckten seinen Fluchttrieb.

»Oh Gott, du bist ein Vampir!«, stieß er aus und wandte sich ab, bereit, eine hoffnungslose Flucht anzutreten.

»Ja, genauso wie du«, antwortete sie gelassen und zuckte mit den Schultern.

Er hielt inne. Was zur Hölle?! Sollte er heulen oder wegrennen? Überfordert brach er zusammen und schluchzte.

»Ich sollte doch tot sein!«

»Hat man dir das gesagt?«

»Ja, das haben die Aufseher gesagt«, erwiderte 7836GS2.

»Nun ja, vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen«, setzte sie abermals nach einer kleinen Pause an, »mein Name ist Silvia, und ich werde dir nichts tun, denn wir sind gleich. Wir sind beide Vampire.«

Ihre Stimme wirkte fast kindlich. Überhaupt hatte diese Untote den Hauch von etwas Jugendlich-Unschuldigem an sich, etwas, was in keinster Weise zu ihrem Dasein als dämonischer Blutsauger passte.

»Wir sind nicht gleich. Ich bin ein interniertes Subjekt, zum Tod freigegeben. Und du bist ein Monster«, sagte er.

»Weißt du, die Menschen bringen uns jede Nacht ein paar von ihnen und ein paar Schweine, deren Blut wir dann trinken dürfen. Dafür arbeiten wir für die Menschen. Wir übernehmen Aufgaben, die sie nicht übernehmen können oder wollen. Zum Beispiel arbeiten wir in Kraftwerken oder so. So ist es ausgemacht zwischen uns. Und einer dieser Menschen, die uns geliefert werden, warst eben du«, sagte Silvia.

»Das weiß ich doch!«

»Gut. Die Vampirin, die dich ausgesaugt hatte, und die dich dem Plan zufolge danach hätte sterben lassen sollen, bekam aber Mitleid mit dir. Ich weiß nicht, was Livia dazu bewog. Sie hat es mir ja nicht erklärt. Sie hat nur gesagt, du sähest so traurig und so unschuldig aus, und sie könne es, was auch immer das sein soll, nicht mehr ertragen. Also hat sie dich in einem der Unseren verwandelt.«

»Sie hätte mich sterben lassen sollen! Das hätte mein Leid beendet!«, sagte 7836GS2. »Ich bin doch gar nicht dazu gemacht, jetzt als Dämon durch die Dunkelheit zu ziehen.«

»Was soll das heißen?«

»Ich war doch nur dazu da, um einmal von einem Vampir getötet zu werden«, antwortete er.

Silvia stockte. Scheinbar konnte sie mit diesem Satz nicht viel anfangen.

»Das heißt, die Menschen stellen extra Menschen zu diesem Zweck ab?«, fragte die Vampirin nach.

»Dort, wo ich herkomme, mussten wir alle im Lager arbeiten, um im Alter von 29 Jahren euch geopfert zu werden. Etwas anderes kenn ich gar nicht. Es gab nur diesen Zweck, und nicht einmal den habe ich Versager erfüllt.«

»Das ist ja furchtbar!«

»Sag bloß, du wüsstest nicht, woher deine Opfer kommen?!«, meinte 7836GS2 und sank frustriert in sich zusammen.

Sein Fluchttrieb wich der Resignation.

»Naja, nicht wirklich«, sagte Silvia, »damit haben wir uns nie so beschäftigt. Dieser Teil des Handels geht uns eigentlich nichts an.«

Wieder herrschte Stille zwischen den beiden. Er überlegte kurz, ob er doch einfach aufspringen und wegrennen sollte, egal wohin. Doch dieses so unbedarft dreinblickende Monster vor ihm, würde ihn wohl viel zu schnell einholen und schien noch dazu weniger gefährlich und aggressiv zu sein, als er sich Vampire immer vorgestellt hatte.

»Wie bin ich zu... dem hier geworden?«, fragte er und blickte angewidert an sich herab.

»Schön, dass du dich entschlossen hast, wieder in unsere Unterhaltung einzusteigen. Zu deiner Frage: Nachdem Livia dein Blut getrunken und Mitleid mit dir gekriegt hat, biss sie sich die Pulsader an den Handgelenken auf und gab dir von dem Blut, das sich nun in ihrem Organismus befand, zu trinken. So geht die Verwandlung von statten: Beide trinken das Blut voneinander. Ein gleichmäßiger Austausch.«

»Und jetzt?«

»Jetzt«, antwortete Silvia, »gehörst du zu uns... denke ich. Die anderen sind gerade bei der Arbeit, und ich bin heute Nacht die Wächterin über unser Heim. Denn hier auf dem Friedhof leben wir. Das ist unser Refugium, das es vor den Menschen zu schützen gilt. Du wirst dich ab jetzt genauso wie wir nur noch von Blut ernähren können, wirst in der Dunkelheit viel besser sehen als früher, du bist nun stärker und schneller. Dein Körper hat sich verwandelt, du bist untot. Die meisten Organe haben ihre Arbeit eingestellt, auch da du keinen normalen Stoffwechsel mehr hast. Alles was unnötig ist, wirkt nicht mehr in dir. Auch dein Penis wird dir in ein paar Wochen abfallen, denn er ist überflüssig geworden. Wir Vampire vermehren uns ja nicht mit Geschlechtsverkehr, sondern indem wir Menschen verwandeln. Und ab morgen wirst du auch irgendwo arbeiten. Vielleicht folgst du einfach Livia in das Kraftwerk. Der Job ist zwar anstrengend, aber nicht sehr anspruchsvoll.«

Bevor er also auch nur einmal Sex gehabt hatte, würde ihm sein Glied abfallen. Er hatte nie richtig gelebt und war jetzt zu einem dämonischen, blutsaufenden untoten Wesen geworden: Sollte er jetzt auch noch seine Leidensgenossen aus dem Lager töten? 7836GS2 hatte nie die Kontrolle über sein Leben gehabt. Jetzt hatte er sie auch nicht über seinen Tod und seine posthume Existenz.

»Ich will kein Blut trinken!«, sagte er ruhig, ein bisschen trotzig.

»Oh, du hast gar keine andere Wahl. Spätestens morgen Nacht wirst du total hungrig aufwachen. Und als Vampir kannst du nur Blut zu dir nehmen. Das Blut anderer ist unser Leben«, sagte sie mit einem mitleidigen Blick auf ihrem fahlen Gesicht.

Hoffnungslos überfordert blickte er zu Boden.

»Wie heißt du eigentlich?«, wechselte Silvia wieder das Thema.

»Ich habe keinen Namen. Ich habe nur eine Nummer, die mir als Häftling verliehen wurde«, antwortete er. »Mit dieser Nummer wurde ich angeredet.«

Sie zögerte, dann sagte sie: »Hmmm... in Ordnung, mit welcher Zahl fängt diese Nummer an?«

»Sieben«, sagte der neue Vampir.

»Gut, dann nenne ich dich ab jetzt Septimus«, sagte sie, und damit war die Sache beschlossen.

Zwei: George B.

 

 

Jemand musste George B. verraten haben, denn ohne dass er etwas Böses, obgleich etwas Verbotenes getan hatte, erhielt er an diesem Morgen die doppelte Ration an Drogen, als er am Eingang des Lagers stand. Der Portier überwachte diesmal sogar, dass er auch alle Medikamente herunterschluckte und prüfte, ob B. diese auch nicht unter der Zunge versteckt hielt, so als ob er jetzt der Gefangene sei.

Dabei war George B. doch ein Aufseher im Lager des Verwaltungsbezirks 22. Er hätte brüskiert sein können. B. wusste nicht einmal so richtig, warum er gestern die Pillen, die dafür sorgen sollten, dass er sich selbst disziplinierte und sachgerecht sowie mitleidlos seine Arbeit ausführte, nicht genommen, sondern in seiner Tasche hatte verschwinden lassen. Er wusste nicht, ob dies einfach nur aus Langeweile geschehen war oder ob er den brutalen und redundanten Arbeitsalltag einfach satt oder das Bedürfnis verspürt hat, seinen Job einmal clean und unverzerrt wahrnehmen zu können, sozusagen als Selbstversuch. Doch das war dem Wärter nun einerlei. Tatsache war, dass ihm gestern ein Fehler unterlaufen war, der offensichtlich nicht unbemerkt geblieben war.

B. trug eine Militäruniform in Erdfarben und war ausgestattet mit einer Laserpistole, einem elektrischen Schlagstock und einem Mobiltelefon ohne Internetverbindung, welches nur auf dem Lagergelände Empfang hatte. Er war zu der Auffassung gelangt, dass die Mütze, die er auf dem Kopf trug, seine hohen spitzen Wangenknochen, seine blauen klaren Augen und die vollen Lippen seines Erdbeermundes, nach dem so viele Frauen gierten, gut zur Geltung brachte. Auch sein durchtrainierter und muskulöser Körper wirkte in der Uniform noch stattlicher und eindrucksvoller, fand er. Bisher war B. zumindest deswegen stolz auf seinen Beruf gewesen. Doch nun hatte er die Drogen abgesetzt. Wer hatte das gewusst?

Ohne die Zeit zu haben, sich auf diese Frage zu konzentrieren, passierte er das große metallene Eingangstor des Internierungslagers und begab sich flott zum Appellplatz, wo in Kürze die morgendliche Zählung durchgeführt werden würde.

Der Appellplatz war ein halbrundes Gelände mit Kiesboden im Norden des Lagers. Das Lager selbst war von hohen Mauern mit elektrischem Stacheldraht und Wachtürmen umgeben. Von dem Platz weg führten, wie Sonnenstrahlen, Alleen mit Plastikbäumen, die vor allem bei sengender Hitze dem Wachpersonal Schatten spendeten. Außerdem vermittelten sie dem ansonsten brutalistischen Komplex eine künstliche Idylle, der die Internierten aber nicht so recht vertrauen wollten. Echte Bäume wuchsen in dieser Umgebung nicht. Die Natur war zu zerstört. Neben den Bäumen befanden sich jeweils zweistöckige und hundert Meter lange graubraune Gebäude mit großen Fenstern. Das waren die Wohntrakte, die Küchen sowie die sanitären und medizinischen Anlagen für die Inhaftierten, die B. sechs Mal pro Woche beaufsichtigte.

Als der Aufseher den Platz betrat, fing gerade der Morgenappell an. Dazu lief lautstark Kindermusik. Das war das Signal für die Häftlinge, die Wohnbaracken zu verlassen und sich auf dem Platz aufzustellen, nach ihren Nummern geordnet. Dadurch fiel es den Wärtern leichter auszumachen, ob einer fehlte. Zwei Appelle pro Tag hielten die Internierten fit, sorgten für soldatische Disziplin und ließen sie jeden Tag erkennen, welchen Platz sie im System und der Hierarchie einzunehmen hatten. George B. verteilte hier und da noch ein paar Tritte und Schläge mit dem Stock an einige, die sich nicht schnell genug aufstellten. Nachlässigkeit konnte nicht geduldet werden, denn dies führte nur zu Ineffizienz. Und das wäre absolut inakzeptabel. Denn schon an der Eingangstür des Lagers stand geschrieben: Disziplin und Ordnung. 

Als die Kinderlieder verstummten und sich schließlich alle Häftlinge aufgestellt hatten, konnte man ein lautes selbstgefälliges Surren in der Luft hören. Es stammte von den Überwachungsdrohnen. Diese hatten Kameras nach allen vier Seiten. Sie waren unterhalb der Propeller angebracht. Lasergeschosse befanden unterhalb des Rumpfes, mit denen die Drohnen eingreifen konnten, wenn der Betrieb gestört wurde. Im Grunde übernahmen diese Drohnen schon einen Großteil von B.s Arbeit, dennoch legte die Lagerleitung Wert darauf, dass weiterhin eine gewisse Anzahl an menschlichen Aufsehern direkt mit den Internierten in Kontakt trat. Gleichzeitig wurde damit ein digitales und mobiles Panoptikum geschaffen, ergänzt um eine analoge Überwachung durch Fachkräfte wie George B.

Mit leichtem Ekel im Gesicht sah er, wie die Häftlinge mit hoffnungslosem Blick steif dastanden. Für ihn waren sie keine Menschen, ein notwendiges Übel, um die fortschrittliche europäische Gesellschaft zu Beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts am Laufen halten zu können. Sie waren Humanmaterial, Futter für die Vampire. Kurz gesagt, B. glaubte, er verfütterte minderwertige Wesen an Dämonen. Er hielt es für keinen tollen, aber einen unbedingt nötigen Job; und er wurde obendrein auch noch gut bezahlt, und das war das Wichtigste in dieser Zeit.

Vampire waren lange vor George B.s Geburt aufgetaucht. Es musste so vor etwa 60 Jahren der Fall gewesen sein, einer Zeit, als sich der Kontinent ohnehin im Umbruch befunden hatte. Die Untoten waren plötzlich da gewesen und hatten die Menschen angegriffen. Wie ein gemeiner Wolf ein Reh, hatten sie einfach Leute von der Straße gerissen und ihnen nachts das Blut ausgesaugt. Deswegen hatte Europa Krieg gegen diese Wesen führen müssen, so hatte er es im Internet gelesen. Tatsächlich verbrannten die teuflischen Wesen bei Sonnenlicht, sodass es dem Militär hin und wieder gelungen war, tagsüber einige der Aufenthaltsorte dieser Terroristen ausfindig zu machen, und sie der Sonne auszusetzen, bis sie innerhalb von wenigen Minuten verbrannt waren. Doch diese Bestien waren auch stark, schnell, zäh und den Menschen körperlich überlegen. Knapp 20 Jahre hatten die Europäer wohl mit den Vampiren Krieg geführt; es hatte viele Opfer gegeben,ohne dass sich ein Gewinner abgezeichnet hätte.

Da kamen die Vorstandsvorsitzenden der europäischen Großkonzerne auf eine brillante Idee: nämlich die eines Friedensvertrags. Schließlich regelten zivilisierte Völker – und als solches verstanden sich ja immerhin die Europäer – jeden Konflikt und jedes Blutbad vertraglich. Der ist jetzt seit vier Jahrzehnten in Kraft. Darum war auch B.s Job so wichtig. Er arbeitete an der Schnittstelle zwischen Menschen und Vampiren. Denn der Vertrag regelte, dass die Vampire seitdem nachts für die Unternehmen arbeiteten und somit etwas zur europäischen Wirtschaft beitrugen. Dafür hatten die regierenden Konzerne Europa den Vampiren zusichern müssen, die vampirischen Unterkünfte zu schützen und sie täglich mit Nahrung zu versorgen. Was für billige Arbeitskräfte! Der europäisch-vampirische Vertrag sorgte nun für einen kalten Frieden zwischen beiden kriegsmüden, aber sich kritisch taxierenden Gegnern. Um das entsprechende Humanmaterial liefern zu können, hatten einige Konzerne die Lager bauen lassen. Die dort zur Verfügung stehenden Menschen wurden im Alter von 29 Jahren an die Vampire verfüttert. Und es gab keinen Grund, die Internierten nicht auch vorher arbeiten zu lassen. Sie waren dabei billiger als die meisten Arbeitsroboter. 

Nun hieß es, die Häftlinge zu ihren Arbeitsplätzen zu bringen. Am anderen Ende des Lagers befanden sich Hallen, in denen die Häftlinge militärische Maschinen bauen mussten. Mit ein paar Schlägen und dem Surren der Drohnen, das den Häftlingen die totale Überwachung vergegenwärtigte, marschierten sie mit B. vom Appellplatz in die Arbeitshallen.

Da es George B.s Pflicht war, sowohl die Internierten zu beaufsichtigen, als auch hin und wieder diese und ein paar Schweine an die Vampire zu liefern, war es nur natürlich, dass er sich für die Untoten interessierte. Doch er hatte nichts Valides über ihren Ursprung herausfinden können. Im Netz und in den Dateien der Lagerarchive – zumindest jene, zu denen er Zugang erhielt – gab es keinerlei Informationen dazu. Also hatte er im Netz alle möglichen Bücher zum Vampirismus gesichtet. George B., der eigentlich nie ein großer Freund des Lesens gewesen war, hatte sich sogar Romane dazu angesehen: von Bram Stokers Dracula, über kitschige Liebesromane über Vampire, die Anfang des 21. Jahrhunderts die Geister weiblicher Teenager und Spießermütter vernebelt hatten, bis zu den Sagen, die den heroischen Kampf von Vampirjägern während des zwanzigjährigen Krieges schilderten – obgleich der Aufseher die historische Existenz solcher Jäger bezweifelte. Doch aus all diesen Texten hatte er über die echten Vampire nicht viel Valides entnehmen können. Klar, sie tranken Blut, hatten spitze Fangzähne, waren untot und starben bei Sonnenlicht. Vielleicht würden sie als Untote auch nicht Altern und nicht auf natürlichem Wege sterben. Doch auch diese Information war unsicher. Erwiesen war inzwischen, dass Silber, Holz oder Knoblauch nicht gegen Vampire halfen.

Freilich gab es allerlei Klatsch auf den Straßen, woher die Vampire kamen. Verschiedene Gerüchte hielten sich bis heute und drangen an George B.s Ohren, doch auch hier überzeugte ihn keines so wirklich. Manch einer glaubte, es handle sich um eine Seuche, die beispielsweise per Wasser oder Luft übertragen worden war und die Menschen zu Vampiren mutieren ließ. Doch warum waren dann nicht alle oder zumindest viele Leute einer bestimmten Region infiziert worden, und warum waren sie dann untot und nicht einfach nur krank oder tot? Manch einer glaubte, dies sei jetzt die Strafe Gottes für die maßlose Dekadenz der Menschheit oder gar die Einleitung der Apokalypse. Dies wäre dann nur die Konsequenz daraus, dass der Mensch den Planeten Erde zerstört und die meisten Ressourcen verbraucht hätte. Doch erstens fehlte jeder Beweis, zweitens würde Gott wohl keine Dämonen beschwören, und drittens stand die Welt auch noch Jahrzehnte nach dem Auftauchen der Vampire. Manch einer glaubte, einige Menschen seien einen Pakt mit dem Teufel oder einem anderen dämonisch-metaphysischen Wesen eingegangen, um als Vampire die Bevölkerung zu töten. Doch warum sind die Untoten dann in einen Vertrag mit Regierung und Konzernen getreten und haben es nicht auf die totale Vernichtung des Feindes abgesehen? Manch einer munkelte gar unter vorgehaltener Hand, ein Bio- oder Chemiekonzern hätte ein Vampir-Gen oder einen Virus erfunden und einigen Leuten eingeflößt, um die Gesellschaft zu spalten und strikter regieren zu können. Doch für diese Verschwörungstheorie fehlte jeder Beweis. Und wo war hier außerdem noch die Verhältnismäßigkeit zwischen Kosten und Nutzen für besagte Konzerne? Kurz gesagt, nach einigen Recherchen war George B. kaum weiter gekommen über den Ursprung der Vampire. Er wusste nicht einmal, ob sie erst im einundzwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Jahrhundert entstanden waren oder schon vorher und sich erst später stark reproduziert haben. Aber wenn letzteres zutraf, warum war das nicht schon hundert oder zweihundert Jahre früher geschehen? Warum haben in diesem Falle die Vampire Großereignisse der Zerstörung, wie den Zweiten Weltkrieg, nicht genutzt, um der Menschheit bei der gegenseitigen Vernichtung zu helfen, um daraufhin die Macht zu erlangen?

Gegen die meisten Thesen, wie dem Pakt mit dem Teufel oder der Strafe Gottes sprach, dass eben schon lange vor dem offiziellen Auftauchen Autoren in Fiktionen Vampire beschrieben hatten, es also keine metaphysische, übermenschliche Reaktion auf die letzten Jahrzehnte darstellen kann. Klar war B. nur: Die Untoten waren da und hatten einen Vertrag mit den Menschen. Und B. sowie seine Kollegen waren dafür verantwortlich, dass von europäischer Seite alles glatt ging.

Doch dann war ihm gestern Nacht dieser Fauxpas passiert.

»Stehen Sie stramm, wenn ich mit ihnen rede!«, brüllte ihm jemand ins Ohr und holte ihn damit aus seinen Träumereien.

Es war der Lagerkommandant. B. salutierte und entschuldigte sich kleinlaut. Er wusste, dass sein Vorgesetzter ihn hasste und gerne seinen Frust an ihn ausließ.

»Seien Sie nicht immer so abwesend, Aufseher B.!«

»Entschulden Sie, Mister Kommandant.«

»Aufseher B., die Lagerleitung verlangt, Sie unverzüglich zu sprechen! Ich vermute mal, es geht um Ihre Nachlässigkeit gestern Nacht«, sagte sein Vorgesetzter in einem abgehakten Ton. 

Die arrogante Schnoddrigkeit war fast mit Händen zu greifen. Auch die Schadenfreude des Kommandanten war kaum zu überhören.

»Jawoll, Mister Kommandant«, skandierte George B. und machte sich auf den Weg, nicht ohne noch einen Häftling grundlos, wie er zugeben musste, den elektrisierten Stock über den Schädel zu ziehen.

Man gönnte sich ja sonst nichts.

 

Das Büro der Lagerleitung befand sich im obersten Stockwerk des Verwaltungskomplexes an der nördlichen Mauer des Lagers. Als B. das Zimmer, oder vielmehr den Saal betrat, fiel ihm fast die Kinnlade herunter, denn das Büro der Leitung widersprach in krasser Hinsicht dem Arbeitsalltag von B., und doch arbeiteten sie in derselben Institution: Allein das Zimmer der Leitung musste mindestens zweihundert Quadratmeter groß sein, es war rechteckig und langgezogen. Die Decken waren überdimensional hoch und grau schimmernd, verziert mit den Hologramm-Logos der am Lager beteiligten Firmen. Der Boden und der Schreibtisch der Leitung waren aus Marmor, sodass die Geräusche von George B.s Stiefeln im Raum laut hallten. Auf der rechten Seite befand sich eine große Fensterfront, anstatt einer Wand. Dadurch konnte man einen Großteil des Lagers überblicken. Von hier oben wirkten die Menschen wie Spielfiguren, die sich eifrig auf dem Feld bewegten. Besonders die Internierten ließen keine eigene Motivation erkennen, folgten brav dem Schema. Im Hintergrund sah man Rauch aufsteigen.

Eigentlich hätte man sich mit dem Wärter einfach mit einem Hologramm- oder Videoanruf verständigen können, aber die Leitung hatte unüblicher Weise darauf bestanden, ihn persönlich zu sprechen. Vielleicht damit er sich klein und unbedeutend vorkam, während er durch die Halle an das schlichte, aber massive Pult ging.

Dort saß die Lagerleitung – Catherine H. Vor ihr befanden sich allerlei Hologramme, auf die sie tippte und denen sie schnelle und sachliche Anweisungen gab. Überhaupt sah alles an ihr sehr sachlich aus: Sie trug ein schwarzes Kostüm, mit einem knielangen, aber dafür engen Rock, hatte einen stets neutral bis höflichen Gesichtsausdruck, der zusätzlich durch ihre schmale Nase und ihre anmutige Kopfform betont wurde. Ihre Augen waren grün, klar und wirkten aufmerksam sowie intelligent. B. konnte weder Wärme noch Kälte in ihrem Auftreten ausmachen. Ihre Haare waren brünett und zu einer eleganten schulterlangen Frisur drapiert, die zwar sowohl ihren weiblichen Charme unterstrich, aber gleichzeitig kurz genug war, um H. als Führungsfigur zu inszenieren, die es mit jedem Mann aufnehmen konnte. Sie bedeutete George B. sich in einen der Ledersessel vor dem Schreibtisch zu setzen, während sie schnell ihre Anwendungen schloss. Alle ihre Bewegungen wirkten geschmeidig und seriös gleichermaßen.

»Ah, Aufseher B. Guten Tag«, sagte sie in einem höflichen Ton.

»Guten Tag, Lagerleiterin H.«

»Können Sie mir die vier Säulen des freiheitlich-europäischen Systems noch nennen?«, fragte Catherine H.

Der Wärter wusste nicht so recht, was diese Frage sollte, aber da er mit einer Autorität sprach, musste er sie sachgemäß beantworten.

»Disziplin, Effizienz, Konkurrenz, Marktkonformität«, sagte B. daher mit einer verunsicherten Stimme.

H. lächelte ihn unverbindlich an, und fuhr mit nun süßlicher Stimme fort: »Absolut korrekt. Dann wissen Sie auch, dass Europa als kapitalistische Republik darauf zählen muss, dass die Pfeiler des Systems gleichmäßig aufrechterhalten werden. Wankt einer, so droht das ganze Gebäude zu fallen. Wissen Sie, in der Tat sind die Freiheit und der Frieden, in denen wir leben, sehr brüchig und instabil. Darum müssen wir im Arbeitsleben und in der Politik alle richtig funktionieren und kooperieren, damit wir weiterhin im Privaten frei sein können. Das heißt, wenn irgendwo die Disziplin nachlässt, dann lässt auch der Gehorsam gegenüber den Anweisungen nach. Die Folge ist ein Sinken der Effizienz. Wenn das passiert, dann ist das Lager nicht mehr konkurrenzfähig. Und das schadet dem freien Markt, da sich, wenn wir scheitern, andere Unternehmen monopolisieren werden. Dann hat am Ende niemand mehr die Wahlfreiheit.«

»Ja, natürlich, Lagerleiterin H.«, sagte B. nur und ahnte langsam, dass es sich um einen Grundsatzvortrag handelte.

»Nun, Aufseher B., haben Sie gestern ihre tägliche Ration an Medikamenten für die Lagerarbeit genommen?«

»Ähm... nein«, zögerte er.

»Nein was?«, hakte sie nach.

Nun war ihr Ton schon schroffer.

»Nein, Lagerleiterin H.!«

»Das haben wir schon vermutet, denn gestern Nacht haben Sie gar nicht diszipliniert gearbeitet. Sie bedrohen damit die Effizienz! Ihre Kollege William F. hat uns mitgeteilt, dass Sie, bei der gestrigen Übergabe von Humanmaterial an die Vampire im Bezirk 22, einer Vampirin erlaubt haben, einen der Internierten nicht einfach auszutrinken, sondern zu einen Vampir zu mutieren. Und das ist gegen den europäisch-vampirischen Friedensvertrag«, sagte Catherine H. kalt, aber nachdrücklich.

Ihr Gesicht sah jetzt hart und regungslos aus, wie der Marmorboden. Insofern passte die Einrichtung ihres Bürosaals zur Leiterin.

»Ja, da haben Sie recht. Es tut mir sehr leid, Lagerleiterin H. Ich hatte vergessen, die Pillen zu nehmen, und die Vampirin hat mich angefleht. Ich wusste doch nicht, was zu tun war«, sagte George B, mit einem flehenden Unterton in der sonst so männlichen Stimme.

»Ach, und da hat sich der feine Mister gedacht, er kann einfach selbstgefällig entscheiden, was wer darf! Da dachte er nicht, erst noch seine Vorgesetzten konsultieren zu müssen, die den Antrag der Vampirin wohlwollend geprüft und dann natürlich höflich abgelehnt hätten!«, fuhr H. ihm dazwischen.

Dabei gestikulierte sie dominant mit den schlanken Armen und ihre Armreifen klimperten aneinander. Sie blickte B. taxierend an, wie ein planendes Raubtier, bereit die hilflose Beute anzugreifen, die es zuvor mit seiner Schönheit eingelullt hatte.

»Nein, ich war überfordert mit der Situation. Schauen Sie, es war doch nur ein Internierter, den sie mutiert haben«, versuchte er die Situation zu retten, auch wenn ihm klar war, dass es vergeblich sein würde.

»Es ist ein prinzipielles Problem, das die empfindliche Stabilität gefährdet. Haben Sie mir eigentlich gar nicht zugehört, Sie Kretin?«, sagte Catherine H. schmunzelnd, »im Vertrag steht klar vermerkt, dass es den Vampiren untersagt ist, sich weiter zu reproduzieren. Das hat seine guten Gründe, wie Sie sich denken können: Denn erstens, wenn die Vampire sich wieder vermehren, braucht es für die Unternehmen einen noch höheren Aufwand und mehr Ressourcen, die entsprechende Menge an menschlichem und tierischem Futter zu produzieren; und zweitens, was viel desaströser ist, wenn die Zahl der Vampire steigt, dann könnte sich am Ende das Kräftegleichgewicht zu unseren Ungunsten verschieben. Dann sind die Vampire nicht mehr kontrollierbar! Das ist eine statistische Gewissheit. Wenn sie dann wieder angreifen, weiß ich nicht, ob wir Menschen noch eine Chance auf ein Patt, geschweige denn einen Sieg haben.« 

»Ja, das verstehe ich, Lagerleiterin H.«

»Es ist ja schon schlimm genug, dass wir mit solchen Monstern Frieden schließen müssen, weil wir sie nicht – zumindest noch nicht – vernichten können. Es ist ja schon schlimm genug, dass wir einen Vertrag eingegangen sind, der den Markt quasisozialistisch reguliert, da wir den Vampiren immer das Gleiche liefern müssen, egal, wie hoch deren Ertrag und der erbrachte Ökostrom in den Arbeitsstunden war, und egal, wie lange die Nacht war. Schon das ist den Unternehmen und der Regierung ja ein Dorn im Auge. Manchmal habe ich schon das Gefühl, dass der Neofeudalismus, in dem wir leben, dem Sozialismus näher ist als dem Kapitalismus. Aber die meisten Rohstoffe gehen uns eben aus. Wachstum ist nicht auf jedem Feld grenzenlos. Wir als Unternehmer müssen versuchen, möglichst freiheitlich mit der Knappheit umzugehen. Ökostrom durch vampirische Arbeit und die Bindung und Disziplinierung der Individuen an Firmen sind eine Lösung, auch wenn dabei nicht immer der größte Mehrwert rausspringen wird. Solange also die Verhältnisse so sind, müssen wir, auch schon aus Gründen der Nachhaltigkeit und der Rationalität, mit den Vampiren kooperieren. Aber die Vampire müssen auch mit uns kooperieren. Begeht einer der beiden Seiten einen Vertragsbruch, so muss dieser geahndet werden. Pakte müssen erfüllt werden! Das ist das Grundprinzip, das unsere Gesellschaft am Laufen hält. Und da Sie, Aufseher B., den fahrlässigen Part auf der menschlichen Seite gespielt haben, wird es Ihre Aufgabe sein. Ihren Fehler und den des entsprechenden Vampirs wieder auszubügeln.«

B. wurde übel. Er wusste nicht, ob er alles aus ihrem Vortrag verstanden hat und in Verbindung zueinander setzen konnte.

Daher sagte er nur: »In Ordnung, was soll ich tun?«

»Heute melden Sie sich nach ihrer regulären Arbeit bei der Nachtschicht. Sie fahren mit den Lieferanten des Humanmaterials wieder zum Vampirfriedhof in Bezirk 22 und werden dort die Auslieferung des frisch mutierten Vampires verlangen, mit Verweis auf die Einhaltung des Vertrags.«

»Ja, aber...«, setzte er an.

»Kein Aber!«, unterbrach ihn H. »Sie werden mit dem ehemaligen Internierten zurückkommen und zwar ohne einen bewaffneten Konflikt mit den anderen Untoten zu beginnen. Dazu bekommen Sie heute Abend noch einmal eine Ration an Disziplinierungsmedikamenten. Ansonsten brauchen Sie morgen nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen. Das ist alles.«

»Jawoll, Lagerleiterin H.«, konnte George B. nur noch sagen und verließ mit hallenden Schritten und strammen Gang den Verwaltungstrakt.

Wie stellte Catherine H. sich das vor? Was, wenn die Vampire den ehemaligen Internierten – er hatte sich die Nummer 7836GS2 notiert – nicht mehr freigeben wollten? Was sollte er tun? Er würde ohnehin schon übermüdet sein. Sein Schicksal lag nun in den Händen der Vampire. Und er hatte immer gedacht, es läge in den Händen der Oligarchie. 

 

 

 

 

Drei: Septimus

 

 

Septimus, vormals 7836GS2, träumte: 

Es war ein schöner Tag, und Septimus wollte in Freiheit spazieren gehen. Kaum aber hatte er zwei Schritte gemacht, war er schon auf dem Friedhof. Es waren dort sehr künstliche, unpraktisch gewundene Wege, aber er glitt über solch einen Weg, wie auf einem reißenden Wasser in unerschütterlich schwebender Haltung. Schon aus der Ferne fasste er einen frisch aufgeworfenen Grabhügel ins Auge, bei dem er Halt machen wollte. Dieser Grabhügel übte fast eine Verlockung auf ihn aus, und er glaubte, gar nicht eilig genug hinkommen zu können. Manchmal sah er den Grabhügel kaum, er wurde verdeckt durch die Bäume und die hohen Gräber.

Dieser Hügel war für ihn bestimmt, denn sein Leben war vorbei, erkannte Septimus. Da erkannte er, dass es sich um einen Traum handelte, denn Zeit seines Lebens war er nicht spazieren gegangen. Freiheit war ein Traum, gestrickt in der Luft. Und jetzt war er ein lebender Toter, was auch immer man sich unter diesem seltsamen Mischwesen vorstellen musste. Er war gleichermaßen innerhalb und außerhalb des Biologischen. Nur das verband ihn mit dem metaphysischen Grenzgebiet Friedhof. Septimus erwachte, da er sich voll Ekel des Widerspruchs seiner Determination und der Rohheit seiner Existenz bewusst wurde.

 

Er befand sich wieder in der Gruft, in der er vergangene Nacht als Vampir erwacht war. Doch diesmal lag er in einem schlichten Holzsarg und trug, wie alle Vampire, einen schwarzen Overall, der am Rücken Risse hatte. Er vermutete, die Kleidung platze durch den Buckel auf. Neben ihm lagen die anderen Vampire dieses Friedhofs in ihren Särgen. Inzwischen wusste Septimus, dass dies ein Vampirclan war. Er stieg aus seinen Schlafplatz und sah sich um. Alle anderen Särge waren noch verschlossen, es musste noch tagsüber sein. Silvia hatte ihm gesagt, Vampire würden automatisch bei Sonnenuntergang aufwachen. Das sei ihr Instinkt, aber offensichtlich war Septimus dies als frischer Untoter noch nicht gewohnt.

Die vergangene Nacht ließ ihn nicht mehr schlafen. Zu viel war passiert, was ihn verwirrt und überrascht hatte oder ihm immer noch Angst bereitete. Er vermutete, die kommende Nacht würden sie kommen, um ihn zu holen – wegen des Fehlers, den Livia, die ihn zum Vampir verwandelt hatte, damit begangen hatte.

In der Nacht hat Silvia ihm noch ein bisschen etwas über das Leben der Vampire erzählt. Sie hat ihm erklärt, dass die Vampire gerade die Arbeiten übernahmen, die Menschen nicht machen wollten oder konnten, dass sie, da die im Dunklen sehen konnten, etwa in Minen nach Rohstoffen suchen konnten, ohne künstliches Licht zu brauchen. Damit seien sie billiger als Menschen oder Maschinen mit entsprechendem Equipment. Außerdem war die körperliche Kraft der Vampire groß genug, dass sie ohne große Probleme in Kraftwerken Strom für die Menschen erzeugen konnten, etwa mit Laufbändern oder -rädern, und dadurch das Problem nichterneuerbarer Energien für die Menschheit gelöst worden war. Somit erzeugten sie, zusammen mit Solar- und Windenergie. ökologischen Strom für die Menschen. Sie hatte ihm berichtet, dass jede Nacht Menschen, die sie als Soldaten identifiziert hatte – Septimus wusste, dass es sich dabei um die Aufseher im Lager handelte –, kamen und den einhundert Vampiren dieses Clans dreißig bewusstlose Menschen und zwanzig Schweine brachten, die sie aussaugen konnten. Es wurden Schweine geliefert, da die Genetik dieser Tiere recht ähnlich der der Menschen war. Menschliches oder menschenähnliches Blut mundete den Vampiren, besonders solange es noch warm war, also solange es aus einem lebendigen Leib gesaugt wurde. Septimus sträubte sich immer noch bei dem Gedanken, Blut, egal in welcher Temperatur und Konsistenz, trinken zu müssen. Doch inzwischen knurrte sein Magen. Er vermutete, dass auch die Schweine aus ähnlichen Verhältnissen stammten wie er, nämlich dass sie massenhaft gezüchtet und dann in Lagern gehalten wurden. Silvia hatte ihm auch gesagt, dass Vampire untereinander sehr solidarisch waren, aber prinzipiell nicht besonders zärtlich oder liebevoll.

Etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang waren die anderen Vampire also zurückgekommen. Eine Horde solcher Untoten zu sehen, mit ihrer fahlen Haut, dem Buckel, den roten Augen und den spitzen Fangzähnen, hatte Septimus abermals in Angst und Schrecken versetzt. Sie hingegen haben ihn kritisch beäugt. In den Augen von manchen, so hat er auch geglaubt, Feindseligkeit aufblitzen zu sehen. Doch keiner fletschte die Zähne, keiner setzte zum Angriff an. Da Silvia neben ihm gestanden und ihm ein wenig Ruhe und Sicherheit gegeben hat, hat er seinen Affekt zu fliehen jedoch unterdrücken können.

Hätte er aber noch weinen können – wie er merken musste, war dies Vampiren unmöglich –, so hätte er wie ein Schlosshund geheult, als eine der als distanziert gekennzeichneten Vampire auf ihn zugegangen war und ihn umarmt hatte: Livia. Noch nie hatte ihn jemand, als er noch 7836GS2 gewesen war, umarmt oder eine ähnliche Zärtlichkeit zuteilwerden lassen. Und jetzt ist einfach diese Untote gekommen – also ein Wesen, das ihm im Lager immer als noch grausamer als die Menschen geschildert worden war – und war freundlich zu ihm. Sie hat sich ihm vorgestellt und neben Septimus platziert.

»Er sollte nicht hier sein. Schwester Livia. Du hast einen schweren Fehler begangen, einen Menschen zu verwandeln. Du weißt, dass das gegen die Abmachung mit den Menschen ist«, hat ein Vampir mit kurzen braunen Haaren, einen enormen Buckel und einer markanten Nase das Wort ergriffen.

»Mag sein, dass dies gegen den Vertrag war, Bruder Manius«, hatte Livia erwidert, »aber ich hatte Mitleid mit diesem Menschen. Er sah so hoffnungslos aus. Ich konnte nicht anders. Wie kann es denn falsch sein, ihm Hoffnung als Vampir zu geben, wenn er als Mensch keine zu haben schien?«

 

An dieser Stelle ist ein kleiner Exkurs über die politischen und sozialen Strukturen der Vampirclans nötig, so wie Silvia sie Septimus in der vergangenen Nacht in aller Kürze geschildert hatte. Um den Leser nicht mit allzu vielen Details zu langweilen, sieht sich der Verfasser veranlasst, dies hier als kleinen Einschub zu gestalten und entschuldigt sich bereits im Voraus für diese unumgängliche Unterbrechung.

Die Vampire sahen sich alle als gleich an – in jeglicher Hinsicht. Das galt sowohl innerhalb eines Clans, als auch zwischen den Beziehungen der verschiedenen Clans untereinander. Diese Form des radikalen Egalitarismus lag wohl auch daran, dass alle diese Verbände untereinander gleich groß waren, also stets einhundert Mitglieder umfassten. Und diese Einhundert bevölkerten alle jeweils einen Friedhof, den die Menschen ihnen zur Verfügung stellten. Die Europäer hatten also die soziokulturelle Basis für die Gleichheit der Vampire geschaffen. Dieser Clan, also der des Bezirks 22, wusste nicht, wie viele andere Vampirkollektive es in Europa wirklich gab – die komplette Anzahl und Verortung der Clans besaß wohl nur die europäische Bürokratie –, aber gut ein Dutzend der anliegenden Clans waren ihnen bekannt. Es wurde nicht viel Kontakt mit den anderen Gemeinwesen gepflegt. Nur manchmal wurden zwei Vampire rekrutiert, die als informelle Diplomaten zum Austausch von Informationen oder Vorschlägen abgesandt wurden.

Wie gesagt, als gleich galten die Vampire innerhalb eines Clans in vielerlei Hinsicht. Etwa besaß jeder von ihnen zwei schwarze Overalls, einen Holzsarg zum Schlafen und einen Platz in der Gruft als zusätzlichen Schutz vor der tödlichen Sonne, die sich Vampire als gleißend-brennendes Licht vorstellten. Die wenigen Dinge, die die Hundert sonst brauchten, waren Gemeineigentum. Auch bei der täglichen Blutration bekam jeder annähernd gleich viel. Es gab also kaum Besitz, und auf jeden Luxus wurde verzichtet, da man ihn schlicht für überflüssig hielt. Manche von ihnen glaubten sogar, es würde ihre Gemeinschaft verderben, wenn sie zu viel Besitz und Luxus anhäufen würden, da dies zu Gier und langfristig auch zu Neid und Korrumpierung führe. So legten die Vampire den Fokus weniger auf Eigentum als vielmehr auf die Gemeinschaft. Dies sorgte dafür, dass man sich meist gegenseitig half, auch an den verschiedenen Arbeitsstellen für die menschliche Industrie und Landwirtschaft.

Auch die politischen Strukturen entsprachen diesen sozialen Begebenheiten, dieser kulturellen und ökonomischen Homogenität und ihrem Kollektivismus: Denn das System der Vampire war eine Demokratie im ursprünglichen und damit eigentlichem Sinn. Das heißt, sie bestimmten selbst über die Belange des Clans. Dafür war eine solche Gruppe von Vampiren auch klein genug, um sich problemlos vor der Gruft zu versammeln und entscheiden zu können. Die Größe der Bevölkerung und die, des von ihnen mehr oder weniger autonom kontrollierten Territoriums waren jeweils klein genug für eine solche Demokratie. Außerdem waren durch die soziale Gleichheit und die Einfachheit ihres Lebens die Interessen der Vampire sehr ähnlich – das Hauptinteresse war ohnehin immer Blut und Sonnenschutz –, sodass Entscheidungen meist sehr einfach getroffen werden konnten.

Für die Entscheidungen, die den Clan betrafen, wurden in einem Turnus von zwei Wochen regelmäßige Vollversammlungen einberufen, in denen jeder Vampir stets anwesend war, und zwar ohne dass es hierfür eine verpflichtende Regel gebraucht hätte. In diesen regulären Versammlungen wurden dann alle gemeinsamen Angelegenheiten besprochen. Dazu wurde für jeweils ein halbes Jahr ein Moderator bestimmt, der dann sowohl den anderen Mitgliedern das Wort erteilte, die Versammlungen eröffnete und schloss, für die Auszählungen bei den Abstimmungen verantwortlich war und die Tagesordnungspunkte durchging. Jeder Vampir konnte für die Tagesordnung eigene Anträge und Wünsche vorab dem Moderator mitteilen, der diese dann dem Plenum zur Diskussion stellen musste. Innerhalb der Diskussion hatte der Moderator keine privilegierte Position und besaß ein einfaches Stimmrecht, so wie jeder andere. Über jeden Punkt wurde offen per Handzeichen abgestimmt. Es genügte stets eine absolute Mehrheit, auch wenn die meisten Entscheidungen einstimmig ausgingen.

Über diese regulären Versammlungen hinaus, konnte es aber auch noch spontane Sitzungen geben, ohne eine vorherige Tagesordnung, wenn beispielsweise akut etwas zu entscheiden war. Eine solche Clanversammlung war die von vergangener Nacht, in der über Septimus entschieden werden musste, bevor Europa intervenieren konnte. In solchen eher chaotischen Versammlungen kam der Moderator kaum zu Wort, sondern übernahm meist lediglich die Auszählung.

Die Vampire wollten als eine Gemeinschaft, die sich selbst politisch organisierte, niemandem eine elitäre Position einräumen, weder politisch noch sozioökonomisch. Darum versuchten sie, Ungleichheiten zu verhindern und die wenigen Posten, die vergeben werden mussten, streng zu kontrollieren. Denn in diesem System der gemeinsam ausgeübten Autonomie sollte Herrschaft, also das Diktat von jemand oder etwas über jemand oder etwas anderes, möglichst vermieden werden. Denn Herrschaft und Gewalt – etwa das Töten der Opfer als blanke Notwendigkeit des Überlebens – galten ihnen als etwas Vor-Politisches und Nicht-Freiheitliches, als eine Sache des Zwangs. Und das hatte in ihrer Demokratie nichts verloren. Daher wurden fast alle Posten, die Herrschaft bedeuten könnten, ausgelost, sodass jeder, unabhängig von Einfluss, Ansehen oder rhetorischen Talenten, die gleiche Chance hatte, vom Zufall auserkoren zu werden. Neben dem Moderator waren diese Posten meist sehr eng befristete Aufgaben mit geringen Kompetenzen, die sich nur auf die Ausführung einer Sache beschränkten, etwa einen anderen Clan zu kontaktieren oder eine Woche lang über den Friedhof zu wachen, während die anderen arbeiteten. Gelost wurde, indem sich für jedem Vampir ein Stein mit dessen Namen beschriftet in einem Lostopf befand. Der Moderator zog für jeden neu zu besetzenden Posten die entsprechende Anzahl an Steinen blind aus dem Topf. Wurde ein neuer Moderator gelost, so übernahm dies der gerade aus dem Amt scheidende Moderator.

Außerdem konnte jeder Vampir gegen einen Ausgelosten Widerspruch einlegen, sofern dessen Treue zum Clan infrage stand, was aber in diesem Clan noch nie vorgekommen war. Zuzüglich waren die Posten, sofern sie nicht ohnehin auf einen einzigen Akt beschränkt waren, zeitlich und in den Kompetenzen befristet. Die meisten Positionen wurden auch mindestens doppelt vergeben, sodass die Vampire, die gerade ein Amt innehatten, sich gegenseitig kontrollieren und so Missbrauch vermeiden konnten. War die Amtszeit vorbei, so wurde ein neuer Vampir gelost. Keiner durfte zweimal hintereinander dieselbe Position innehaben. Mit diesen Prinzipien, also der temporalen Beschränkung von Amtszeiten, der reziproken Kontrolle der Amtsinhaber, den limitierten Kompetenzen der teilweise kollegial ausgeübten Positionen, dem Losverfahren und dem Iterationsverbot war eine nur geringe Macht der Amtsinhaber gewährleistet sowie ein regelmäßiger Wechsel, sodass wenn überhaupt alle abwechselnd über alle herrschten, wobei das politische Entscheidungszentrum stets die Clanversammlung blieb.

Der Geist einer altmodischen Gleichheit, die für Solidarität sorgte, macht den Clan also aus, während Septimus in der Menschenwelt bisher nur den Geist des Egoismus kennengelernt hatte. Silvia konnte also guten Grundes behaupten, dass die Vampire in einer direktdemokratischen und jeder Hinsicht freien und gleichen Gesellschaft lebten, deren Existenz, wie Septimus wusste, aber gleichzeitig so viel Leid unter den Lagerinsassen verursachte. Septimus konnte also nicht beurteilen, ob er die Gesellschaft der Vampire als gerecht bezeichnen konnte, war dessen Existenz doch der Ursprung für das Leid des jungen Vampirs und der anderen Internierten. Außerdem wusste er noch nicht, wie er sich eine Mitbestimmung jedes Einzelnen vorstellen sollte. Wie sollte ein dem Tod Geweihter, wie er, frei von Zwängen entscheiden können?

Und nun kann der Leser mit der eigentlichen Handlung fortfahren. Abermals entschuldigt sich der Verfasser für diese sachliche Unterbrechung und die Entschleunigung der Handlung.