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Kinder, wollt ihr ewig leben?
Charlie Manx ist ein sehr, sehr böser Mann mit einem sehr, sehr bösen Auto. Er entführt Kinder nach »Christmasland«, wo ewige Weihnacht herrschen soll. Die Kinder erwartet dort jedoch etwas Schreckliches, und es gibt keinen Weg zurück. Mit seinem Meisterwerk moderner Fantastik entführt uns der mehrfach preisgekrönte Bestsellerautor Joe Hill auf einen unvergesslichen Horrortrip.
Vicky, für ihren Vater einfach nur »das Gör«, hat die geheime Gabe, Dinge zu finden – verlorenen Schmuck, verlegte Fotos, Antworten auf unbeantwortbare Fragen. Dazu muss sie sich einfach nur auf ihr Fahrrad schwingen. Über die nahe gelegene alte Holzbrücke gelangt sie dann im Handumdrehen, wohin sie will, an all die meilenweit entfernten Orte, wo sich das Verlorene befindet. Der Kleinen ist klar, dass andere (ihre Eltern!) darüber nur ungläubig den Kopf schütteln würden. Sie glaubt es ja selbst nicht richtig.
Auch Charlie Manx hat eine spezielle Gabe. Er ist so in Kinder vernarrt, dass er sie gleich dutzendweise kidnappt. Über verborgene Wege bringt er sie in seinem unheimlichen Rolls-Royce nach »Christmasland«, wo er ewige Weihnacht zu feiern verspricht. Und da Vicky immer wieder Ärger anzieht, ist es kein Wunder, dass sich ihre Wege und die von Charlie irgendwann einmal kreuzen. Aber sie ist gewitzt genug, dem Häscher zu entkommen.
Das ist jetzt Jahre her, und aus dem einzigen Kind, das Charlie je entwischen konnte, ist eine junge Frau geworden, die am liebsten alles vergessen würde. Nur dass Charlie niemand ist, der etwas vergisst. Eines Tages nimmt er Vicky das Wichtigste in ihrem Leben. Kann sie es wiederfinden? Ein gnadenloser Kampf entbrennt, und Vicky will nur eines: Charlie endgültig vernichten ...
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Seitenzahl: 979
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel NOS4A2bei William Morrow, New York
Copyright © 2013 by Joe Hill
Published by arrangement with William Morrow,
an imprint of HarperCollins Publishers. All rights reserved.
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-11381-0
Für meine Mutter –eine Höllenmaschine für die Königinder Geschichten
Hurrah! die Todten reiten schnell!
LENORE, Gottfried August Bürger
PROLOG: FROHES FEST
Dezember 2008
FCI Englewood, Colorado
Schwester Thornton betrat die Dauerpflegestation kurz vor acht mit einem Beutel warmem Blut für Charlie Manx.
Sie hatte komplett auf Autopilot geschaltet und war mit den Gedanken ganz woanders. Sie hatte sich endlich dazu durchgerungen, ihrem Sohn Josiah den Nintendo DS zu kaufen, den er sich wünschte, und überlegte, ob sie es noch schaffen könnte, nach Schichtende zu Toys ’R’ Us zu fahren, bevor der Laden zumachte.
Aus philosophischen Gründen hatte sie sich einige Wochen lang gegen den Kauf des Nintendos gesträubt. Dass Josiahs Freunde auch alle einen hatten, zählte für sie nicht. Diese tragbaren Spielkonsolen, die die Kids überall mit hinnahmen, fand sie einfach furchtbar. Ihr gefiel es nicht, wie die kleinen Jungs in den leuchtenden Bildschirmen verschwanden und die Wirklichkeit durch eine imaginäre Welt ersetzten, wo man end- und geistlos Spaß hatte und das Rumballern zur Kunstform erhoben wurde. Sie hatte sich immer ein Kind gewünscht, das gern las und Scrabble spielte und mit ihr auf Schneeschuhtouren ging. Tja, Pustekuchen!
Eine Zeit lang war Ellen eisern geblieben, doch dann hatte sie Josiah gestern Nachmittag dabei beobachtet, wie er auf seinem Bett saß und mit einem alten Portemonnaie spielte, als wäre es ein Nintendo DS. Er hatte ein Bild von Donkey Kong ausgeschnitten und es in das Plastiksichtfach gesteckt, wo normalerweise Fotos aufbewahrt wurden. Er hatte imaginäre Knöpfe gedrückt und Explosionsgeräusche dazu gemacht. Und es hatte ihr im Herzen wehgetan, ihn so zu sehen – wie er sich im Geist schon ausmalte, mit etwas zu spielen, was er am großen Tag zu bekommen hoffte. Ellen hatte ihre Ansichten darüber, was für kleine Jungs gut war und was nicht. Aber das hieß nicht, dass der Weihnachtsmann sie teilen musste.
Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass ihr gar nicht auffiel, dass mit Charlie Manx etwas nicht stimmte – bis sie um sein Bett herumging, um zu dem Tropf zu gelangen. In diesem Moment stieß er nämlich einen schweren Seufzer aus, so als wäre er gelangweilt, und sie blickte auf ihn hinab und bemerkte, dass er sie ansah. Sie war so überrascht, ihn mit offenen Augen zu sehen, dass ihr beinahe die Blutkonserve aus der Hand gefallen wäre.
Er sah furchtbar alt aus und auch sonst einfach ziemlich furchtbar. Der große kahle Schädel erinnerte an das Modell eines fremden Mondes, auf dem Altersflecken und dunkle Sarkome die Kontinente bildeten. Es war besonders schrecklich, dass von all den Männern auf der Dauerpflegestation – dem Gemüsebeet, wie es die Pfleger nannten – ausgerechnet Charlie Manx kurz vor Weihnachten die Augen öffnete. Manx hatte Kinder gemocht. In den Neunzigern hatte er Dutzende von ihnen entführt. Er besaß ein Haus am Fuß der Flatirons, wo er seine Spielchen mit ihnen getrieben, sie dann umgebracht und Weihnachtsschmuck aufgehängt hatte, der an sie erinnern sollte. Die Zeitungen nannten ihn den Weihnachtsmörder und sein Haus das Sleigh House. Ho, ho, ho.
Meistens gelang es Ellen, bei der Arbeit ihre mütterliche Seite auszublenden und nicht daran zu denken, was Charlie Manx den kleinen Jungen und Mädchen, die ihm in die Hände gefallen waren, wahrscheinlich angetan hatte – Jungen und Mädchen, die kaum älter waren als ihr Josiah. Normalerweise vermied sie es tunlichst, sich irgendwelche Gedanken über ihre Patienten zu machen. Der Mann auf der anderen Zimmerseite hatte seine Freundin und ihre zwei Kinder gefesselt, das Haus in Brand gesteckt und sie den Flammen überlassen. Er wurde in einer Bar am Ende der Straße festgenommen, wo er Bushmills getrunken und sich ein Spiel der White Sox gegen die Rangers angesehen hatte. Darüber nachzudenken hatte einfach keinen Sinn, weshalb Ellen sich angewöhnt hatte, ihre Patienten lediglich als Anhängsel der medizinischen Apparaturen zu betrachten, mit denen sie verbunden waren: menschliche Peripheriegeräte.
In all ihrer Zeit als Krankenschwester im Hochsicherheitsspital des FCI Englewood hatte sie Charlie Manx noch nie mit offenen Augen gesehen. Drei Jahre lang hatte er durchgängig im Koma gelegen. Er war der gebrechlichste ihrer Patienten – nur Haut und Knochen. Sein EKG-Monitor piepte wie ein Metronom, das auf die niedrigstmögliche Geschwindigkeit eingestellt war. Der Arzt sagte, er zeige so viel Gehirnaktivität wie eine Dose Mais. Niemand kannte sein wahres Alter, aber er sah älter aus als Keith Richards. Dem er im Übrigen sogar ein wenig ähnelte – ein kahlköpfiger Keith Richards mit einem Mund voller scharfer, brauner Zähne.
Auf der Station gab es noch drei weitere Komapatienten, die von der Belegschaft als Kartoffeln bezeichnet wurden. Hatte man lange genug mit ihnen zu tun, fand man heraus, dass alle Kartoffeln so ihre Eigenheiten besaßen. Don Henry, der Mann, der seine Freundin und ihre Kinder verbrannt hatte, machte manchmal »Spaziergänge«. Natürlich stand er nicht auf, aber seine Füße zappelten schwach unter der Bettdecke. Ein anderer Patient, ein Mann namens Leonard Potts, lag schon seit fünf Jahren im Koma und würde nie wieder aufwachen – ein Mitgefangener hatte ihm einen Schraubenzieher durch die Schädeldecke ins Hirn gerammt. Manchmal jedoch räusperte er sich unvermutet und schrie laut: »Ich weiß es!« Wie ein kleines Kind, das die Frage eines Lehrers beantworten wollte. Vielleicht war es Manx’ Eigenheit, dass er gelegentlich die Augen öffnete, und Ellen hatte es nur noch nie miterlebt.
»Hallo, Mr. Manx«, sagte sie automatisch. »Wie geht es Ihnen heute?«
Mit einem routinierten Lächeln hielt sie inne, die auf Körpertemperatur erwärmte Blutkonserve noch in der Hand. Eine Antwort erwartete sie nicht, ließ ihm jedoch aus Höflichkeit einen Moment Zeit, seine nicht vorhandenen Gedanken zu sammeln. Als er nichts sagte, streckte sie eine Hand aus, um seine Augenlider wieder zu schließen.
In diesem Moment packte er sie am Handgelenk. Unwillkürlich schrie sie auf, und die Blutkonserve glitt ihr aus der Hand. Der Beutel fiel zu Boden, und das Blut spritzte in alle Richtungen. Warme Flüssigkeit lief ihr über die Füße.
»Ah!«, schrie sie. »Ah! Ah! O Gott!«
Ein metallischer Geruch breitete sich im Raum aus.
»Ihr Sohn Josiah«, sagte Charlie Manx mit rauer, kratziger Stimme. »Für den wäre auch Platz im Christmasland, wie für die anderen Kinder. Ich könnte ihm ein neues Leben geben. Ein nettes neues Lächeln. Hübsche neue Zähne.«
Diesen verurteilten Mörder und Kinderschänder von ihrem Sohn reden zu hören war schlimmer als seine Hand an ihrem Arm oder das Blut auf ihren Füßen (sauberes Blut, erinnerte sie sich, sauberes). Ihr wurde ganz schwindelig, so als befände sie sich in einem gläsernen Aufzug, der rasend schnell in den Himmel schoss und die Welt unter sich zurückließ.
»Lassen Sie mich los«, flüsterte sie.
»Für Josiah John Thornton gibt es einen Platz im Christmasland und für Sie einen im Haus des Schlafes«, sagte Charlie Manx. »Der Gasmaskenmann wüsste, was mit Ihnen zu tun ist. Er würde Sie in Lebkuchenrauch hüllen und Sie dazu bringen, ihn zu lieben. Ins Christmasland kann ich Sie nicht mitnehmen. Nun, ich könnte schon, aber der Gasmaskenmann ist besser. Der Gasmaskenmann ist eine Gnade.«
»Hilfe«, schrie Ellen, nur dass es kein Schrei war, sondern lediglich ein Flüstern. »Hilfe!« Sie konnte ihre Stimme nicht wiederfinden.
»Ich habe Josiah auf dem Friedhof der Möglichkeiten gesehen. Er sollte mich in meinem Wraith begleiten. Im Christmasland wäre er glücklich bis in alle Ewigkeit. Dort kann die Welt ihm nichts anhaben, weil das Christmasland nicht in dieser Welt liegt. Es befindet sich in meinem Kopf. Dort sind sie alle sicher. Ich habe davon geträumt, wissen Sie? Vom Christmasland. Ich habe davon geträumt, aber ich laufe und laufe und kann das Ende des Tunnels nicht erreichen. Ich höre die Kinder singen, aber ich kann nicht zu ihnen gelangen. Ich höre sie nach mir rufen, doch der Tunnel nimmt einfach kein Ende. Ich brauche den Wraith. Ich brauche meinen Wagen.«
Seine Zunge glitt aus dem Mund – braun, glänzend und obszön – und befeuchtete die trockenen Lippen. Dann ließ er sie los.
»Hilfe«, flüsterte sie. »Hilfe. Hilfe. Hilfe.« Sie musste es noch ein- oder zweimal wiederholen, bis sie wirklich einen nennenswerten Laut von sich gab. Dann stürmte sie in ihren weichen, flachen Schuhen durch die Zimmertür hinaus auf den Korridor, wo sie grellrote Fußspuren hinter sich herzog, und schrie aus Leibeskräften.
Zehn Minuten später hatten zwei Polizisten in voller Kampfmontur Manx an sein Bett gefesselt, nur für den Fall, dass er die Augen öffnen und versuchen sollte, aufzustehen. Aber der Arzt, der wenig später eintraf, gab Anweisung, ihn wieder loszubinden.
»Dieser Mann ist seit 2001 bettlägerig. Er muss viermal am Tag gedreht werden, damit er keine Druckstellen bekommt. Selbst wenn er bei Bewusstsein wäre, wäre er viel zu schwach zum Laufen. Nach sieben Jahren Muskelschwund könnte er sich wahrscheinlich nicht einmal mehr allein aufsetzen.«
Ellen lauschte von ihrem Platz neben der Zimmertür aus – wenn Manx erneut die Augen aufschlagen sollte, wollte sie als Erste draußen sein –, aber als sie den Arzt reden hörte, ging sie steifbeinig zu ihm hinüber, schob den Ärmel an ihrem rechten Handgelenk zurück und zeigte ihm die Blutergüsse an der Stelle, wo Manx sie gepackt hatte.
»Sieht das etwa aus, als könnte es von einem Kerl stammen, der zu schwach ist, um sich aufzusetzen? Ich dachte, er würde mir den Arm aus dem Gelenk reißen.« Ihre Füße schmerzten beinahe genauso sehr wie die blauen Flecken an ihrem Handgelenk. Sie hatte die blutdurchtränkte Strumpfhose ausgezogen und ihre Füße mit heißem Wasser und antibakterieller Seife geschrubbt, bis die Haut ganz wund gewesen war. Jetzt trug sie Turnschuhe. Die anderen Schuhe hatte sie weggeworfen. Selbst wenn sie sie hätte retten können, würde sie es wahrscheinlich doch nicht über sich bringen, sie je wieder zu tragen.
Der Arzt, ein junger Inder namens Patel, warf ihr einen betretenen Blick zu und beugte sich vor, um Manx mit einer Taschenlampe in die Augen zu leuchten. Die Pupillen des Patienten weiteten sich nicht. Patel bewegte die Taschenlampe hin und her, aber Manx’ Augen blieben starr auf einen Punkt neben Patels linkem Ohr gerichtet. Der Arzt klatschte einen Zentimeter von Manx’ Nase entfernt in die Hände. Manx blinzelte nicht. Patel schloss vorsichtig die Augen des Patienten und warf einen Blick auf das EKG.
»Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht von den letzten Dutzend EKGs«, sagte Patel. »Der Patient erreicht einen Wert von neun Punkten auf der Glasgow-Koma-Skala und weist langsame Alphawellen-Aktivität auf, wie sie für ein Alphakoma typisch ist. Wahrscheinlich hat er im Schlaf geredet, Schwester. Selbst bei Kartoffeln wie ihm kommt das manchmal vor.«
»Seine Augen waren offen«, sagte sie. »Er hat mich direkt angeschaut. Er kannte meinen Namen und den meines Sohnes.«
Patel sagte: »Haben Sie sich in seiner Nähe vielleicht mal mit einer anderen Schwester unterhalten? Wer weiß, was der Mann unbewusst so aufgeschnappt hat. Vielleicht haben Sie jemand erzählt, Ihr Sohn hätte einen Buchstabierwettbewerb gewonnen. Manx hört das mit und murmelt es irgendwann im Schlaf.«
Sie nickte, aber insgeheim dachte sie: Er kannte Josiahs zweiten Vornamen. Und den hatte sie mit Sicherheit niemand im Spital gegenüber erwähnt. Für Josiah John Thornton gibt es einen Platz im Christmasland, hatte Charlie Manx zu ihr gesagt, und für Sie einen im Haus des Schlafes.
»Ich bin nicht dazu gekommen, ihm seine Bluttransfusion zu geben«, sagte sie. »Er ist schon seit ein paar Wochen anämisch. Hat sich wegen dem Katheter einen Harnwegsinfekt zugezogen. Ich gehe gleich mal eine neue Konserve holen.«
»Nicht nötig. Ich werde dem alten Vampir sein Blut selbst besorgen. Hören Sie. Das war ein ziemlicher Schock für Sie. Jetzt erholen Sie sich erst mal davon. Gehen Sie nach Hause. Sie haben doch nur noch eine Stunde bis Schichtende, oder? Nehmen Sie die frei. Und morgen auch. Vielleicht haben Sie ja noch ein paar Einkäufe zu erledigen? Dann machen Sie das. Denken Sie nicht mehr über die Sache nach und entspannen Sie sich. Immerhin ist Weihnachten, Schwester Thornton.« Der Arzt und zwinkerte ihr zu. »Ist das nicht die schönste Zeit des Jahres?«
SHORTER WAY
1986–1989
Haverhill, Massachusetts
Das Gör war acht Jahre alt, als es das erste Mal auf der Suche nach einem verlorenen Gegenstand die überdachte Brücke überquerte.
Das geschah so: Sie waren gerade erst vom See zurückgekehrt, und das Gör befand sich in seinem Zimmer und hängte ein Poster von David Hasselhoff auf – er stand in einer schwarzen Lederjacke mit verschränkten Armen vor K.I.T.T. und zeigte sein typisches Grinsen, bei dem sich Grübchen auf seinen Wangen bildeten –, als es aus dem Schlafzimmer der Eltern einen entsetzten Aufschrei hörte.
Das Gör hatte einen Fuß auf das Kopfbrett des Bettes gestellt und drückte das Poster mit dem Oberkörper gegen die Wand, während es die Ecken mit braunem Klebeband befestigte. Es erstarrte und legte lauschend den Kopf schief. Besorgt war das Gör nicht, es fragte sich lediglich, worüber sich seine Mutter jetzt schon wieder aufregte. Es klang so, als hätte sie irgendetwas verloren.
»… hatte ihn!«, rief die Mutter. »Ich weiß, dass ich ihn hatte.«
»Vielleicht hast du ihn ja am Wasser abgelegt?«, sagte Chris McQueen. »Bevor du in den See gegangen bist? Gestern Nachmittag?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht schwimmen war.«
»Womöglich hast du ihn abgenommen, als du dich mit der Sonnencreme eingeschmiert hast?«
So ging es immer weiter hin und her, aber das Gör – Victoria für ihre Grundschullehrerin, Vicky für ihre Mutter, doch für ihren Vater und in ihrem Herzen das Gör – beschloss, die Sache erst mal zu ignorieren. Mit ihren acht Jahren war sie die Gefühlsausbrüche ihrer Mutter längst gewohnt. Linda McQueens überdrehtes Lachen und die exaltierten Ausrufe der Enttäuschung bildeten den Soundtrack ihres Lebens und waren nur selten wirklich ernst zu nehmen.
Sie glättete das Poster, klebte die restlichen Ecken fest und trat dann einen Schritt zurück, um es zu bewundern. David Hasselhoff – wie cool! Sie kniff leicht die Augen zusammen und versuchte festzustellen, ob das Poster wirklich gerade hing, als sie eine Tür knallen hörte, einen weiteren wütenden Schrei – wieder ihre Mutter – und dann die Stimme ihres Vaters.
»Hab ich’s nicht gewusst, dass es darauf hinausläuft?«, sagte er. »Wie auf Bestellung.«
»Ich habe dich gefragt, ob du im Badezimmer nachgesehen hast, und du hast das bejaht. Du hast gesagt, dass wir alles hätten. Hast du nun im Badezimmer nachgesehen oder nicht?«
»Ich weiß es nicht. Nein. Wahrscheinlich nicht. Aber es spielt keine Rolle, weil du ihn nicht im Badezimmer gelassen hast, Linda. Willst du wissen, woher ich weiß, dass du deinen Armreif nicht im Badezimmer gelassen hast? Weil du ihn gestern am Seeufer vergessen hast. Du und Regina Roeson, ihr habt euch in der Sonne geaalt und euch ein paar Margaritas gegönnt, und dann warst du so entspannt, dass du deine Tochter irgendwie ganz vergessen hast und eingeschlafen bist. Und als du wieder wach wurdest, warst du eine Stunde zu spät dran, um deine Tochter rechtzeitig von der Tagesbetreuung abzuholen …«
»Ich war nicht eine Stunde zu spät.«
»… du bist panikartig losgefahren. Und hast deine Sonnencreme liegen gelassen, genau wie dein Handtuch und deinen Armreif. Und jetzt …«
»… und ich war auch nicht betrunken, falls du das andeuten willst. Ich fahre unsere Tochter nicht in betrunkenem Zustand, Chris. Das ist deine Spezialität …«
»… und jetzt ziehst du deine übliche Nummer ab und versuchst einfach, jemand andres die Schuld in die Schuhe zu schieben.«
Das Gör merkte kaum, wie sie durch den dunklen Korridor auf das Schlafzimmer ihrer Eltern zuging. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und ein Stück vom Bett ihrer Eltern war zu sehen, ebenso wie der Koffer, der darauf lag. Kleider waren herausgerissen und auf dem Boden verteilt worden. Sicherlich hatte ihre Mutter die Sachen hektisch herausgezerrt und im Zimmer verteilt, auf der Suche nach dem verlorenen Armreif: einem goldenen Ring mit einem Schmetterling darauf, der aus glitzernden blauen Saphiren und an Eissplitter erinnernden Diamanten bestand.
Ihre Mutter ging auf und ab und tauchte alle paar Sekunden in dem schmalen Ausschnitt auf, den das Gör vom Schlafzimmer sehen konnte.
»Mit gestern hat das nichts zu tun. Ich habe dir doch gesagt, dass ich ihn nicht am Seeufer verloren habe. Das weiß ich genau. Heute früh lag er noch neben dem Waschbecken bei meinen Ohrringen. Wenn er nicht an der Rezeption ist, dann muss ihn eines der Zimmermädchen eingesteckt haben, um sein Gehalt aufzubessern. Die stecken einfach alles ein, was die Urlauber liegen lassen.«
Der Vater des Görs schwieg einen Moment, dann sagte er: »Mein Gott. Was bist du doch für ein hässlicher Mensch. Und mit dir habe ich ein Kind gezeugt.«
Das Gör zuckte zusammen. Eine prickelnde Hitze stieg hinter ihren Augen auf, aber sie weinte nicht. Unwillkürlich biss sie sich auf die Unterlippe, und der scharfe Schmerz hielt die Tränen im Zaum.
Ihre Mutter fing an zu weinen. Sie kam wieder in Sicht, eine Hand vor das Gesicht geschlagen. Ihre Schultern bebten. Das Gör wollte nicht gesehen werden und zog sich in den Korridor zurück.
Vic ging an ihrem Zimmer vorbei, durch die Haustür nach draußen. Plötzlich hielt sie es hier drin nicht mehr aus. Die Luft im Haus war abgestanden. Die Klimaanlage war eine Woche lang ausgeschaltet gewesen. Die Zimmerpflanzen waren alle eingegangen und rochen auch so.
Sie wusste nicht, wohin sie ging, bis sie dort war, obwohl ihr Ziel schon von dem Moment an festgestanden hatte, als sie die verletzenden Worte ihres Vaters – was bist du doch für ein hässlicher Mensch – gehört hatte. Sie betrat die Garage durch die Seitentür und holte ihr Raleigh.
Das Raleigh Tuff Burner hatte sie im Mai zum Geburtstag bekommen, und es war das beste Geschenk aller Zeiten. Selbst mit dreißig, wenn ihr Sohn sie nach dem schönsten Geschenk fragen würde, das sie je erhalten hatte, würde ihr sofort das leuchtend blaue Raleigh Tuff Burner mit den bananengelben Felgen und den breiten Reifen einfallen. Es war ihr liebster Besitz, besser noch als ihr Magic 8 Ball, ihr KISS Colorforms-Set oder sogar ihr ColecoVision.
Sie hatte das Rad drei Wochen vor ihrem Geburtstag im Schaufenster von Pro Wheelz entdeckt, als sie mit ihrem Vater in der Stadt gewesen war, und bei seinem Anblick war ihr die Kinnlade heruntergeklappt. Ihr amüsierter Vater war mit ihr in den Laden gegangen und hatte den Verkäufer überredet, sie das Rad ausprobieren zu lassen. Der Verkäufer hatte ihr dringend geraten, sich noch andere Räder anzusehen, weil er der Meinung war, das Tuff Burner sei zu groß für sie, selbst mit dem Sattel auf der niedrigsten Position. Das hatte sie überhaupt nicht nachvollziehen können. Es war wie Magie, als würde sie an Halloween auf einem Hexenbesen durch die Nacht reiten, tausend Meter über dem Erdboden. Ihr Vater hatte dem Verkäufer zum Schein recht gegeben und gesagt, dass sie ein solches Rad haben könnte, wenn sie älter war.
Drei Wochen später stand es in der Einfahrt, mit einer großen silbernen Schleife am Lenker. »Jetzt bist du ja älter, oder?«, hatte ihr Vater mit einem Augenzwinkern gesagt.
Sie schlüpfte in die Garage, wo das Tuff Burner an der Wand lehnte, direkt neben dem Motorrad ihres Vaters, einer schwarzen 1979er Harley Davidson Shovelhead, mit der er im Sommer immer zur Arbeit fuhr. Ihr Vater war Sprengmeister und arbeitete im Straßenbau. Er benutzte Explosivstoffe, um Gestein zu sprengen, meistens ANFO, manchmal aber auch simples TNT. Man musste schon ziemlich clever sein, um seine schlechten Gewohnheiten zu Geld zu machen, hatte er einmal zu Vic gesagt. Sie hatte gefragt, was er damit meinte. Und er hatte ihr erklärt, dass die meisten Leute, die gern Bomben legten, entweder im Gefängnis landeten oder sich irgendwann selbst in die Luft sprengten. Er hingegen verdiente sechzigtausend Dollar im Jahr und würde richtig abkassieren, wenn er sich bei der Arbeit verletzen sollte – er war bis über die Hutschnur versichert. Allein sein kleiner Finger war zwanzigtausend Dollar wert. Auf seinem Motorrad befand sich ein Airbrush-Gemälde von einer absurd überproportionierten Blondine, die einen Bikini in den Farben der amerikanischen Flagge trug und vor einem Flammenhintergrund auf einer Bombe ritt. Vics Vater war ein knallharter Typ. Andere Väter bauten Dinge. Er jagte Zeug in die Luft und fuhr eine Harley, die Zigarette im Mund, mit der er die Lunten anzündete. Besser ging’s nicht.
Das Gör hatte die Erlaubnis, mit ihrem Raleigh durch den Pittman-Street-Wald zu fahren – der inoffizielle Name für einen etwa dreißig Morgen umfassenden Waldstreifen aus Kiefern und Birken, der direkt hinter ihrem Haus begann. Sie durfte bis zum Merrimack River und der überdachten Brücke dort fahren, dann war Schluss.
Auf der anderen Seite der Brücke – die den Namen Shorter Way Bridge trug – ging der Wald noch weiter, aber Vic durfte sie nicht überqueren. Die Shorter Way war siebzig Jahre alt, zehn Meter lang und hing in der Mitte schon leicht durch. Ihre Mauern neigten sich dem Fluss entgegen, und sie sah aus, als könnte ein Windstoß sie zum Einsturz bringen. Der Zugang war mit einem Maschendrahtzaun abgesperrt. Allerdings hatten irgendwelche Jugendliche an einer Stelle das Drahtgeflecht hochgebogen. Die Kids gingen regelmäßig auf die Brücke, um Gras zu rauchen und rumzuknutschen. Auf einem Blechschild am Zaun stand: LEBENSGEFAHR! BETRETEN VERBOTEN! HAVERHILL P.D. Die Brücke war ein Ort für Kriminelle, Obdachlose und Verrückte.
Natürlich war auch Vic schon auf der Brücke gewesen (zu welcher der drei Kategorien sie wohl gehörte?), den Warnungen ihres Vaters und dem Schild zum Trotz. Sie hatte sich gefragt, ob sie sich trauen würde, unter dem Zaun hindurchzuschlüpfen und zehn Schritte auf der Brücke zu gehen. Und das Gör hatte noch nie vor einer Mutprobe gekniffen, selbst wenn es nur eine war, die sie sich selbst auferlegt hatte. Besonders dann nicht!
Im Inneren der Brücke war es fünf Grad kälter, und zwischen den Bodenbrettern gab es Lücken, durch die man dreißig Meter in die Tiefe auf das vom Wind aufgewühlte Wasser blicken konnte. Durch die Löcher in dem mit schwarzer Teerpappe gedeckten Dach fielen goldene Lichtstrahlen, in denen Staubpartikel tanzten. In der Dunkelheit war das schrille Pfeifen von Fledermäusen zu hören.
Vics Atem hatte sich beschleunigt, als sie in den langen, schattigen Tunnel gegangen war, der in ihrer Vorstellung nicht nur einen Fluss, sondern den Tod selbst überspannte. Sie war acht und hielt sich für unglaublich schnell. Sogar schneller als eine einstürzende Brücke. Als sie sich jedoch vorsichtig über die alten, abgenutzten, knarrenden Bretter vorantastete, kamen ihr erste Zweifel. Sie hatte nicht bloß zehn Schritte gemacht, sondern sogar zwanzig. Aber bei dem ersten lauten Knarren hatte sie die Flucht ergriffen, war von der Brücke gelaufen und durch den Zaun gekrochen. Sie hatte das Gefühl gehabt, an ihrem eigenen fest verkrampften Herzen zu ersticken.
Jetzt lenkte sie ihr Fahrrad hinters Haus und ratterte einen Hügel hinunter über Stock und Stein in den Wald hinein. Als sie sich von ihrem Elternhaus entfernte, tauchte sie direkt in eine ihrer selbst ausgedachten Knight-Rider-Geschichten ein.
Sie saß in ihrem Knight 2000 und rauschte mühelos unter den Bäumen dahin, während der Sommertag sich einem zitronengelben Zwielicht entgegenneigte. Sie waren unterwegs, um einen Mikrochip zurückzuholen, auf dem sich sämtliche geheimen Standorte der amerikanischen Raketensilos befanden. Er war im Armreif ihrer Mutter versteckt; der Chip war raffiniert als Diamant getarnt. Der Armreif war von Söldnern gestohlen worden, die die Informationen an den Höchstbietenden verkaufen wollten: den Iran, die Russen oder vielleicht Kanada. Vic und Michael Knight näherten sich dem Versteck der Bösewichte über eine Nebenstraße. Michael wollte Vic das Versprechen abnehmen, dass sie keine unnötigen Risiken eingehen und sich nicht wie ein dummes Kind verhalten würde, und sie verdrehte nur spöttisch die Augen, aber sie beide wussten, dass die Handlung der Geschichte es erforderte, dass Vic sich früher oder später tatsächlich wie ein dummes Kind verhielt und damit ihrer beider Leben in Gefahr brachte. Worauf verzweifelte Manöver nötig wurden, um den Bösewichten zu entfliehen.
Nur kam die Geschichte irgendwie nicht richtig ins Rollen. Zum einen befand sie sich eindeutig nicht in einem Auto. Sie fuhr mit einem Fahrrad über Baumwurzeln und strampelte wie verrückt – schnell genug, um den Mücken zu entkommen. Außerdem gelang es ihr diesmal einfach nicht, abzuschalten und sich ihren Tagträumen hinzugeben. Mein Gott. Was bist du doch für ein hässlicher Mensch. Immer wieder kamen ihr diese Worte in den Sinn. Plötzlich überfiel sie die Ahnung, dass ihr Vater vielleicht nicht mehr da sein würde, wenn sie nach Hause zurückkehrte. Bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um. Das Gör senkte den Kopf und radelte schneller. Schon allein, um diese schreckliche Vorstellung loszuwerden.
Als Nächstes malte sie sich aus, auf der Harley ihres Vaters zu sitzen. Sie hatte die Arme um ihn geschlungen und trug den Helm, den er für sie gekauft hatte – den schwarzen, der ihren ganzen Kopf umschloss und sie an den Helm eines Raumanzugs erinnerte. Sie fuhren zum Lake Winnipesaukee zurück, um den Armreif ihrer Mutter zu holen. Sie wollten sie damit überraschen. Ihre Mutter würde einen Freudenschrei ausstoßen, wenn sie den Armreif in der Hand ihres Vaters sah. Und ihr Vater würde lachen, einen Arm um Linda McQueens Hüfte legen und sie auf die Wange küssen. Und sie würden nicht mehr wütend aufeinander sein.
Das Gör glitt unter den überhängenden Zweigen durch das flackernde Sonnenlicht. Sie hörte die Route 495 in der Ferne: das laute Dröhnen eines Sattelschleppers, der einen Gang zurückschaltete, das Brummen der Autos und, ja, sogar das Knattern eines Motorrades auf dem Weg nach Süden.
Wenn sie die Augen schloss, befand sie sich selbst auf dem Highway und raste dahin, genoss das Gefühl der Schwerelosigkeit, wenn sich das Motorrad in die Kurven legte. Ihr fiel gar nicht auf, dass sie in ihrem Traum allein auf dem Motorrad saß. Sie war deutlich älter, alt genug, um selbst am Gasgriff zu drehen.
Sie würde es ihren Eltern zeigen. Sie würde den Armreif holen, zurückkehren und ihn zwischen ihren Eltern aufs Bett werfen. Dann würde sie ohne ein Wort das Zimmer verlassen, und die beiden würden sich peinlich berührt anschauen. Hauptsächlich aber drehte sich dieser Traum um das Motorrad selbst, wie sie damit Kilometer um Kilometer hinter sich ließ, bis das letzte Tageslicht am Himmel schwand.
Sie fuhr aus dem Schatten des Nadelwaldes hinaus auf die breite Schotterstraße, die zur Brücke führte. Shortaway wurde die Straße von den Einheimischen genannt, alles ein Wort.
Als Vic sich der Brücke näherte, sah sie, dass der Maschendrahtzaun nicht mehr da war. Das Drahtgeflecht war von den Pfosten gerissen worden und lag auf dem Boden. Der Eingang, gerade breit genug für ein einzelnes Auto, wurde von Efeuranken eingerahmt, die sich sanft in dem Luftzug bewegten, der vom Fluss unter der Brücke aufstieg. Im Inneren der Brücke befand sich ein rechteckiger Tunnel, der zu einem unglaublich hellen Quadrat führte – als würde die Brücke in einem Tal voller goldener Weizenfelder oder reinem Gold enden.
Vic wurde langsamer – aber nur für einen Moment. Das schnelle Radeln hatte sie in einen Rauschzustand versetzt. Und als sie weiterzufahren beschloss, über den Zaun hinweg, in die Dunkelheit hinein, stellte sie diesen Entschluss nicht mehr wirklich infrage. Wenn sie jetzt anhielt, hieße das zu kneifen. Und das würde sie nicht. Außerdem vertraute sie auf ihre Schnelligkeit. Sollten unter ihr Bretter zu brechen beginnen, würde sie einfach weiterfahren und das verrottete Holz hinter sich lassen, ehe es nachgeben konnte. Und sollte im Tunnelinneren irgendjemand lauern – ein Obdachloser, der es auf kleine Mädchen abgesehen hatte –, würde sie an ihm vorbei sein, ehe er auch nur blinzeln konnte.
Die Vorstellung von brechendem altem Holz oder einem Penner, der nach ihr griff, erfüllte sie mit einem angenehmen Gruseln. Anstatt anzuhalten, stand sie auf und radelte nur noch schneller. Und wenn die Brücke zehn Stockwerke tief in den Fluss stürzte und sie unter dem Schutt begraben wurde, dachte sie mit einer gewissen Befriedigung, dann wäre es die Schuld ihrer Eltern, die sie mit ihren Streitereien aus dem Haus getrieben hatten. Das würde ihnen eine Lehre sein. Sie würden sie schrecklich vermissen und vor Trauer und Schuldgefühlen ganz krank werden. Aber genau das hatten sie verdient, sie beide.
Der Maschendraht ratterte unter ihren Reifen. Sie tauchte in eine unterirdische Dunkelheit ein, die nach Fledermäusen und Fäulnis roch.
Als sie auf die Brücke fuhr, sah sie, dass zu ihrer Linken jemand etwas in grüner Farbe an die Wand gesprüht hatte. Sie wurde nicht langsamer, um es zu lesen, aber sie glaubte, das Wort TERRY’S zu erkennen. Komisch, in einem Restaurant namens Terry’s hatten sie heute zu Mittag gegessen – Terry’s Primo Subs in Hampton, New Hampshire, direkt am Meer. Es befand sich auf halbem Wege zwischen dem Winnipesaukee und Haverhill, und auf der Rückfahrt vom See machten sie meistens dort halt.
Im Inneren der überdachten Brücke klang alles anders. Sie hörte den Fluss dreißig Meter unter sich, aber es hörte sich weniger wie Wasser an, eher wie weißes Rauschen, Störgeräusche im Radio. Sie blickte nicht nach unten, aus Angst, zwischen den Lücken in den Bodenbrettern den Fluss zu sehen. Sie schaute nicht mal nach links und rechts, sondern hielt ihren Blick starr auf das ferne Ende der Brücke gerichtet.
Hin und wieder fuhr sie durch einen Strahl weißen Lichts. Immer wenn sie die waffeldünnen Schichten aus Helligkeit passierte, spürte sie ein dumpfes Pochen in ihrem linken Auge. Der Boden unter ihr wirkte unangenehm nachgiebig. Sie wurde nur noch von einem einzigen Gedanken beherrscht, zwei Worten: fast da, fast da, die ihr im Rhythmus der Pedale durch den Kopf gingen.
Das Quadrat am Ende der Brücke wurde immer größer und heller. Eine fast brutale Hitze schien von ihm auszugehen. Unerklärlicherweise roch es nach Sonnencreme und Zwiebelringen. Es kam ihr nicht in den Sinn, sich darüber zu wundern, warum es am anderen Ende der Brücke keine Absperrung gab.
Vic McQueen, alias das Gör, holte tief Luft und fuhr aus der Shorter Way Bridge hinaus ins gleißende Sonnenlicht. Die Reifen ratterten vom Holz herunter auf Teerbelag. Das Zischen des weißen Rauschens endete abrupt, als hätte jemand den Stecker eines Radios gezogen.
Sie rollte ein paar Meter weiter, bevor sie sah, wo sie sich befand. Ihr Herz zog sich zusammen, ehe ihre Hände reagieren konnten, doch dann bremste sie so scharf, dass der Hinterreifen herumgerissen wurde, über den Asphalt schlitterte und Dreck aufwirbelte.
Sie war hinter einem einstöckigen Gebäude in einer gepflasterten Gasse herausgekommen. Ein Müllcontainer und eine Reihe von Abfalleimern standen an der Hausmauer zu ihrer Linken. Das Ende der Gasse wurde von einem hohen Bretterzaun versperrt. Auf der anderen Seite des Zauns befand sich eine Straße. Vic hörte Autos vorbeifahren und den Fetzen eines Songs, der zu ihr herübergeweht wurde: Abra-Abra-Cadabra … I wanna reach out and grab ya …
Vic wusste auf den ersten Blick, dass sie am falschen Ort gelandet war. Sie war schon oft zur Shorter Way gefahren und hatte über die hohe Uferböschung des Merrimack zur anderen Seite hinübergeschaut. Sie wusste, was sich dort befand: ein bewaldeter Hügel, grün, kühl und ruhig. Keine Straße, kein Laden und keine Gasse. Sie drehte den Kopf und hätte beinahe aufgeschrien.
Die Shorter Way Bridge füllte das Ende der Gasse hinter ihr aus. Wie hineingerammt lag sie zwischen dem einstöckigen Haus und einem fünfstöckigen Gebäude aus weiß getünchtem Beton und Glas.
Die Brücke führte nicht mehr über einen Fluss hinweg, sondern war in einen Raum hineingezwängt, der eigentlich zu klein für sie war. Bei dem Anblick überkam Vic ein heftiges Zittern. Am Ende des Tunnels konnte sie in der Ferne die smaragdgrünen Schatten des Pittman-Street-Waldes ausmachen.
Vic stieg von ihrem Rad. Ihre Knie schlotterten unkontrolliert. Sie schob das Raleigh zu dem Müllcontainer hinüber und lehnte es dagegen. Sie hatte nicht den Mut, genauer über die Shorter Way nachzudenken.
In der Gasse roch es nach frittiertem Essen, das in der Sonne vergammelte. Sie sehnte sich nach frischer Luft und ging an einer Fliegengittertür vorbei, hinter der eine laute, dampferfüllte Küche lag, zu dem hohen Holzzaun hinüber. Sie öffnete eine Tür an seiner Seite und stand plötzlich auf einem schmalen Bürgersteig, den sie nur zu gut kannte. Wenige Stunden zuvor war sie schon einmal hier gewesen.
Zur Linken sah sie einen langen Küstenstreifen und den Ozean dahinter. Die grünen, schaumgekrönten Wellen funkelten schmerzhaft grell in der Sonne.
Jungen in Badehosen warfen Frisbeescheiben, sprangen hoch, um sie zu fangen, und ließen sich dann theatralisch in den Sand fallen. Autos fuhren dicht an dicht die Küstenstraße entlang. Auf unsicheren Beinen ging Vic um eine Ecke und sah vor sich das Bestellfenster von
Terry’s Primo Subs Hampton Beach, New Hampshire
Vic ging an einer Reihe Motorräder vorbei, die vor dem Restaurant geparkt waren. Das Chrom brannte in der Nachmittagssonne. Vor dem Bestellfenster standen einige Mädchen Schlange. Sie trugen Bikini-Oberteile und kurze Shorts und lachten laut und hell. Wie Vic dieses Geräusch hasste, es klang wie zersplitterndes Glas. Sie betrat das Restaurant. Ein Messingglöckchen an der Tür bimmelte.
Die Fenster waren offen, und hinter der Theke drehten sich ein halbes Dutzend Ventilatoren. Trotzdem war es hier drinnen zu heiß. Lange Streifen Fliegenpapier hingen von der Decke und flatterten im Luftzug. Das Gör wollte das Fliegenpapier nicht ansehen. All die Insekten, die daran klebten und zu einem qualvollen Tod verurteilt waren, während sich direkt darunter die Menschen Hamburger in den Mund stopften! Als Vic vor wenigen Stunden mit ihren Eltern hier zu Mittag gegessen hatte, war ihr das Fliegenpapier gar nicht aufgefallen.
Ihr war ein wenig übel, so als wäre sie mit zu vollem Magen in der prallen Sonne herumgerannt. Ein großer Mann in einem weißen Unterhemd stand neben der Kasse. Seine Schultern waren behaart und von der Sonne verbrannt, und auf seiner Nase waren noch Reste von Zinksalbe zu sehen. Auf einem weißen Plastikschild an seinem Hemd stand PETE. Er war schon den ganzen Nachmittag hier. Zwei Stunden zuvor hatte Vic neben ihrem Vater gestanden, als er dem Mann das Geld für ihre Burger-Körbe und Milchshakes gegeben hatte. Die beiden Männer hatten sich über die Red Sox unterhalten, die gerade einen Wahnsinnslauf hatten. Vielleicht würde es ihnen dieses Jahr endlich gelingen, ihre anhaltende Pechsträhne zu überwinden. Was sie vor allem Roger Clemens zu verdanken hatten, der den Cy Young Award schon so gut wie in der Tasche hatte, obwohl die Saison erst in gut einem Monat zu Ende ging.
Vic wandte sich dem Mann zu, wenn auch nur deshalb, weil sie ihn wiedererkannte. Aber dann stand sie blinzelnd vor ihm und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. In Petes Rücken surrte ein Ventilator, der ihr seinen feuchten Körpergeruch ins Gesicht wehte. Worauf sie sich nicht unbedingt besser fühlte.
Am liebsten hätte sie geweint, aus einem ungewohnten Gefühl der Hilflosigkeit heraus. Sie befand sich in New Hampshire, wo sie gar nicht hingehörte. Die Shorter Way Bridge steckte in der Gasse hinter dem Haus fest, und irgendwie war das ihre Schuld. Ihre Eltern stritten sich und hatten keine Ahnung, wo sie war. All das und noch mehr musste sie irgendjemand erzählen. Sie musste zu Hause anrufen. Die Polizei anrufen. Jemand musste sich die Brücke in der Gasse ansehen. Ihre Gedanken wirbelten so wild durcheinander, dass ihr ganz schwindelig wurde. Das Innere ihres Kopfes war ein unangenehmer Ort, ein finsterer Tunnel voller seltsamer Geräusche und umherflatternder Fledermäuse.
Der große Mann erlöste sie jedoch von der schwierigen Entscheidung, wo sie anfangen sollte. Bei ihrem Anblick runzelte er die Stirn. »Ach, da bist du ja. Ich habe mich schon gefragt, ob ich euch noch mal wiedersehen werde. Ihr seid zurückgekommen, um ihn zu holen, oder?«
Vic starrte ihn verständnislos an. »Um was zu holen?«
»Den Armreif. Mit dem Schmetterling.«
Er drehte an einem Schlüssel, und mit einem Klingeln öffnete sich die Kasse. Im hintersten Fach lag der Armreif ihrer Mutter.
Als Vic ihn sah, zitterten ihr erneut die Knie, und sie stieß ein Seufzen aus. Zum ersten Mal, seit sie die Shorter Way Bridge überquert und sich unerklärlicherweise in Hampton Beach wiedergefunden hatte, dämmerte ihr, was passiert sein könnte.
In ihrer Fantasie hatte sie nach dem Armreif ihrer Mutter gesucht, und irgendwie hatte sie ihn gefunden. Sie war gar nicht mit dem Fahrrad losgefahren. Wahrscheinlich hatten sich ihre Eltern auch nicht gestritten. Für die Brücke gab es eine einfache Erklärung. Vic war sonnenverbrannt und erschöpft nach Hause gekommen, den Bauch voller Milchshake, und auf ihrem Bett eingeschlafen. Jetzt träumte sie also. Demnach wäre es wohl das Beste, den Armreif ihrer Mutter an sich zu nehmen und über die Brücke zurückzufahren. In diesem Moment würde sie dann vermutlich aufwachen.
Wieder spürte sie einen pochenden Schmerz hinter ihrem linken Auge. Beginnendes Kopfweh machte sich dort bemerkbar. Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal im Traum Kopfweh gehabt zu haben.
»Danke«, sagte das Gör, als Pete ihr den Armreif über die Theke reichte. »Meine Mutter hat sich deswegen schon große Sorgen gemacht. Er ist ziemlich wertvoll.«
»Tatsächlich?« Pete steckte einen kleinen Finger in ein Ohr und drehte ihn hin und her. »Du meinst wahrscheinlich als Erinnerungsstück, oder?«
»Nein. Ich meine, ja. Er hat ihrer Großmutter gehört, meiner Urgroßmutter. Aber er ist auch so sehr wertvoll.«
»Ah ja.«
»Das ist eine Antiquität«, sagte das Gör, auch wenn sie sich nicht sicher war, warum sie Pete unbedingt vom Wert des Armreifs überzeugen wollte.
»Eine Antiquität ist es nur, wenn es etwas wert ist. Hat es keinen Wert, dann ist es bloß ein altes Ding.«
»Da sind Diamanten drauf«, sagte das Gör. »Er besteht aus Gold und Diamanten.«
Pete lachte kurz und verächtlich.
»Wirklich!«, sagte sie.
»Ach was«, sagte Pete. »Das ist doch bloß Modeschmuck. Diese Dinger, die aussehen wie Diamanten? Das sind Zirkoniasteine. Und siehst du die Stellen, wo der Reif innen silbern wird? Gold reibt sich nicht ab. Was gut ist, bleibt auch gut, egal wie alt es ist.« Mitfühlend runzelte er die Stirn. »Alles in Ordnung? Du siehst ein bisschen blass aus.«
»Mir geht’s gut«, erwiderte sie. »War bloß zu viel Sonne heute.« Sie kam sich sehr erwachsen vor, als sie das sagte.
Allerdings ging es ihr wirklich nicht gut. Ihr war schwindelig, und ihre Beine zitterten. Sie musste dringend hier raus, der Geruch von Petes Schweiß, den Zwiebelringen und dem siedenden Frittieröl machte sie ganz duselig. Sie wünschte sich, dass dieser Traum endlich vorbei war.
»Möchtest du was Kaltes zu trinken?«, fragte Pete.
»Danke, aber ich habe einen Milchshake getrunken, als wir vorhin hier Mittag gegessen haben.«
»Wenn du einen Milchshake getrunken hast, dann bestimmt nicht hier«, sagte Pete. »Vielleicht bei McDonald’s. Wir haben hier nur Frappés.«
»Ich muss los«, sagte sie, drehte sich um und ging auf die Tür zu. Sie spürte Petes besorgten Blick auf sich ruhen und war ihm dankbar für sein Mitgefühl. Trotz seines Körpergeruchs und der brüsken Art war er ein freundlicher Mann, der sich um ein kleines Mädchen Sorgen machte, das ganz allein in Hampton Beach unterwegs war und irgendwie krank aussah. Aber sie wagte es nicht, ihm noch mehr zu erzählen. Ihre Schläfen und die Oberlippe waren von einem kalten Schweißfilm überzogen, und sie musste sich sehr zusammennehmen, um das Zittern ihrer Knie zu unterdrücken. Hinter ihrem linken Auge war wieder das Pochen zu spüren. Stärker diesmal. Der Gedanke, dass sie sich den Besuch im Terry’s nur einbildete und in Wahrheit bloß besonders lebhaft träumte, drohte ihr immer wieder zu entgleiten. So als versuchte sie, einen glitschigen Frosch festzuhalten.
Vic ging hinaus und lief schnell über den heißen Beton an den parkenden Motorrädern vorbei. Sie öffnete die Tür in dem hohen Bretterzaun und betrat die Gasse hinter Terry’s Primo Subs.
Die Brücke war immer noch da. Ihre Außenmauern drückten gegen die Gebäude zu beiden Seiten. Es tat weh, sie direkt anzuschauen. Vic spürte den Schmerz in ihrem linken Auge.
Ein Koch oder Tellerwäscher – einer der Küchenarbeiter jedenfalls – stand in der Gasse neben dem Müllcontainer. Er trug eine Schürze, die mit Bratfett und Blut verschmiert war und die man sich besser nicht so genau ansah, wenn man noch mal im Terry’s essen wollte. Er war ein untersetzter Mann mit stoppeligem Kinn und von Adern durchzogenen, tätowierten Unterarmen, und er starrte die Brücke mit einer Mischung aus Empörung und Furcht an.
»Was zum Teufel?«, sagte der Mann. Verwirrt sah er zu Vic hinüber. »Siehst du das, Mädchen? Ich meine … was zum Teufel ist das?«
»Meine Brücke«, sagte Vic. »Keine Sorge. Ich nehme sie wieder mit.« Ihr war selbst nicht ganz klar, was sie damit meinte.
Sie ergriff ihr Fahrrad am Lenker, drehte es um und schob es auf die Brücke zu. Dann holte sie Schwung und stieg auf.
Das Vorderrad ratterte über die Holzbretter, und sie tauchte in die zischende Dunkelheit ein.
Wieder war das Geräusch zu vernehmen, dieses Knacken und Tosen, während ihr Raleigh sie über die Brücke trug. Auf dem Hinweg hatte sie geglaubt, den Fluss unter sich zu hören, aber sie hatte sich geirrt. In den Wänden befanden sich lange Risse, hinter denen eine weiße Helligkeit flackerte, als würde auf der anderen Seite der Wand der größte Fernseher der Welt auf einem toten Kanal laufen. Ein Sturm blies gegen die schiefe, baufällige Brücke, ein heftiger Lichtsturm. Sie spürte, wie die Brücke leise schwankte.
Sie schloss die Augen, richtete sich auf und trat noch schneller in die Pedale. Sie versuchte es wieder mit ihrem gebetsartigen Singsang – fast da, fast da –, aber die Worte ließen sie im Stich. Sie hörte nur ihr Atmen und das wütende, dröhnende Tosen, den endlosen Wasserfall aus Geräuschen, der immer lauter wurde, zu einer unglaublichen Intensität anschwoll, bis sie laut rufen wollte, aufhören, hör endlich auf! Sie holte Luft, um zu schreien, und dann schoss sie plötzlich aus der Brücke und befand sich wieder in
Haverhill, Massachusetts
Mit einem leisen, elektrischen Ploppen erstarb das Geräusch. Sie spürte es in ihrem Kopf, in ihrer linken Schläfe, eine kleine, aber deutlich wahrnehmbare Explosion.
Noch bevor sie die Augen öffnete, wusste sie, dass sie wieder zu Hause war. Nicht in ihrem Elternhaus, aber zumindest in ihrem Wald. Sie erkannte ihn am Geruch der Kiefern und der kühlen, sauberen Luft, die sie mit dem Merrimack River verband. In der Ferne hörte sie den Fluss, ein sanftes, beruhigendes Rauschen, das überhaupt nicht mit dem Tosen in der Brücke zu vergleichen war.
Sie öffnete die Augen, hob den Kopf und schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht. Das Licht der untergehenden Sonne blitzte in unregelmäßigen Abständen durch die Blätter über ihr. Sie fuhr langsamer, bremste ab und setzte einen Fuß auf den Boden.
Vic drehte den Kopf, um einen letzten Blick durch die Brücke auf Hampton Beach zu werfen. Ob sie auf der anderen Seite wohl den Koch in seiner schmutzigen Schürze würde sehen können?
Aber sie konnte ihn nicht sehen, weil die Shorter Way Bridge verschwunden war. Ein Schutzgeländer befand sich an der Stelle, wo der Brückeneingang gewesen war. Dahinter fiel der Boden zu einem steilen, unkrautbewachsenen Hang ab, der am Bett des tiefblauen Flusses endete.
Drei ramponierte Betonpfeiler mit rechteckigen Platten am oberen Ende ragten aus dem aufgewühlten Wasser. Das war alles, was von der Shorter Way Bridge übrig war.
Vic begriff nicht. Gerade eben noch war sie über die Brücke gefahren, hatte das alte, verrottende, von der Sonne erwärmte Holz gerochen und den Gestank nach Fledermauspisse. Ihre Reifen waren über die Holzbretter gerattert.
Sie spürte das Pochen hinter ihrem linken Auge. Sie schloss es und rieb mit der Handfläche darüber. Und als sie es wieder öffnete, glaubte sie einen Moment lang die Brücke zu sehen. Ein Nachbild, ein grelles Flimmern in Gestalt einer Brücke, das zum anderen Ufer hinüberführte.
Aber das Nachbild verschwand sofort wieder, und ihr linkes Auge tränte. Außerdem war sie viel zu müde, um sich lange Gedanken darüber zu machen, was mit der Brücke geschehen war. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so sehr nach ihrem Zuhause gesehnt, ihrem Zimmer, ihrem Bett, den frischen Laken.
Sie stieg auf ihr Rad, kam aber nur ein paar Meter weit, bevor sie aufgab und es mit gesenktem Kopf schob. Die Haare hingen ihr ins Gesicht. Der Armreif ihrer Mutter schaukelte locker an ihrem verschwitzten Handgelenk, aber sie bemerkte es kaum.
Vic schob das Fahrrad über das vergilbte Gras hinter ihrem Elternhaus, vorbei an dem Klettergerüst, das sie nicht mehr benutzte. Die Ketten der Schaukel waren völlig verrostet. Sie legte ihr Fahrrad in der Einfahrt ab und ging ins Haus. Sie wollte direkt in ihr Zimmer, sich hinlegen und ausruhen. Aber dann hörte sie ein leises Geräusch in der Küche und schwenkte in diese Richtung um, weil sie sehen wollte, wer sich dort aufhielt.
Es war ihr Vater. Er stand mit dem Rücken zu ihr, eine Dose Stroh’s in der Hand. Die andere hielt er, zur Faust geballt, an der Spüle unter kaltes Wasser.
Vic war sich nicht sicher, wie lange sie fort gewesen war. Die Uhr am Backofen war keine Hilfe. 12:00 blinkte es dort wieder und immer wieder, als wäre die Uhr gerade auf null gestellt worden. Es brannte kein Licht, und nachmittägliche Schatten breiteten sich in dem kühlen Raum aus.
»Papa«, sagte sie mit müder Stimme, die sie selbst kaum wiedererkannte. »Wie spät ist es?«
Ihr Vater sah auf die Uhr am Backofen und schüttelte dann den Kopf.
»Keine Ahnung. Vor etwa fünf Minuten ist der Strom ausgefallen. Ich glaube, die ganze Straße liegt im …« In diesem Moment sah er zu ihr hinüber und hob fragend die Augenbrauen. »Was ist los? Alles in Ordnung?« Er drehte den Wasserhahn zu und nahm sich ein Geschirrhandtuch, um sich die Hand abzutrocknen. »Du siehst ein bisschen blass aus.«
Sie lachte angespannt und humorlos. »Genau dasselbe hat Pete auch gesagt.« Ihre Stimme schien von weit her zu kommen – vom Ende eines langen Tunnels.
»Welcher Pete?«
»Der aus Hampton Beach.«
»Vic?«
»Mir geht es gut.« Sie versuchte zu schlucken, aber es gelang ihr nicht. Sie war furchtbar durstig, wenngleich ihr das erst aufgefallen war, als sie ihren Vater mit einem kühlen Getränk in der Hand gesehen hatte. Sie schloss kurz die Augen und sah ein Glas eisgekühlten Grapefruitsaft vor sich. Jede Faser ihres Körpers schien sich danach zu sehnen. »Ich bin bloß durstig. Haben wir Saft da?«
»Tut mir leid, aber der Kühlschrank ist ziemlich leer. Deine Mutter war noch nicht einkaufen.«
»Hat sie sich hingelegt?«
»Weiß ich nicht«, sagte er. Es klang nach: Das ist mir so was von egal.
»Okay«, sagte Vic. Sie nahm den Armreif ab und legte ihn auf den Küchentisch. »Wenn sie aufsteht, sag ihr, dass ich ihren Armreif gefunden habe.«
Er schlug die Kühlschranktür zu und drehte sich um. Sein Blick richtete sich erst auf den Armreif und dann auf sie.
»Wo …?«
»Im Auto, zwischen den Sitzen.«
Im Raum wurde es dunkel, als wäre die Sonne hinter Wolken verschwunden. Vic schwankte.
Ihr Vater legte ihr einen Handrücken an die Wange, die Hand, in der er die Bierbüchse hielt. An der anderen hatte er sich die Knöchel aufgeschlagen. »Mein Gott, du glühst ja. He, Lin?«
»Mir geht es gut«, versicherte Vic ihm. »Ich muss mich nur ein bisschen hinlegen.«
Sie wollte sich zwar hinlegen, aber nicht gleich hier in der Küche. Sie hatte in ihr Zimmer gehen und es sich unter ihrem schicken neuen David-Hasselhoff-Poster auf ihrem Bett gemütlich machen wollen – doch ihre Beine gaben nach, und sie sank zu Boden. Ihr Vater fing sie auf, bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte. Er hob sie auf die Arme und trug sie in den Korridor.
»Lin?«, rief Chris McQueen noch einmal.
Linda kam aus dem Schlafzimmer, einen feuchten Lappen an einen Mundwinkel gedrückt. Ihr dünnes, kastanienbraunes Haar war zerwühlt, und ihr Blick wirkte vernebelt, als hätte sie tatsächlich geschlafen. Ihr Blick schärfte sich, als sie das Gör in den Armen ihres Mannes sah.
Linda wartete an der Tür zu Vics Zimmer. Mit ihren zarten Fingern schob sie Vic das Haar aus dem Gesicht und legte ihr eine Hand auf die Stirn. Die Handfläche von Vics Mutter war kühl und glatt, und ihre Berührung ließ Vic erschauern, halb wegen des Fiebers und halb aus Freude. Ihre Eltern waren nicht mehr wütend aufeinander, und wenn das Gör gewusst hätte, dass sie nur krank werden musste, damit ihre Eltern sich wieder vertrugen, dann hätte sie sich die Fahrt über die Brücke sparen und sich gleich einen Finger in den Hals stecken können.
»Was ist mit ihr passiert?«
»Sie ist ohnmächtig geworden«, sagte Chris.
»Gar nicht wahr«, sagte das Gör.
»Vierzig Grad Fieber und ein Ohnmachtsanfall, und sie will immer noch diskutieren«, sagte ihr Vater mit unverkennbarer Bewunderung in der Stimme.
Ihre Mutter senkte den Lappen, den sie sich an den Mund gehalten hatte. »Hitzschlag. Drei Stunden im Auto, und dann gleich raus aufs Fahrrad, ohne jeden Sonnenschutz, und den ganzen Tag nichts weiter getrunken als diesen furchtbaren Milchshake im Terry’s.«
»Frappé. So nennen sie das dort«, sagte Vic. »Du hast dir den Mund verletzt.«
Ihre Mutter leckte über ihre geschwollenen Lippen. »Ich hole ein Glas Wasser und ein paar Ibuprofen. Die nehmen wir dann beide.«
»Wenn du schon in der Küche bist, kannst du gleich deinen Armreif mitnehmen«, sagte Chris. »Er liegt auf dem Tisch.«
Linda war schon halb den Korridor hinunter, bevor die Worte zu ihr durchdrangen. Sie sah ihren Mann an. Chris McQueen stand in der Tür zu Vics Zimmer und hielt Vic immer noch auf den Armen. Vic blickte zu David Hasselhoff über ihrem Bett, der sie anlächelte und so aussah, als wollte er ihr zuzwinkern: Gut gemacht, Mädchen.
»Er war im Auto«, sagte Chris. »Das Gör hat ihn gefunden.«
Zu Hause
Vic schlief.
Zusammenhanglose Bilder flimmerten im Traum an ihr vorbei: eine Gasmaske auf einem Betonboden, ein toter Hund am Straßenrand mit zerschmettertem Kopf, ein Wald aus hoch aufragenden Tannen, an denen blinde weiße Engel hingen.
Dieses letzte Bild war so eindringlich und schrecklich – die dunklen, zwanzig Meter hohen Bäume, die im Wind schwankten wie die zugedröhnten Teilnehmer eines heidnischen Festes; die Engel, die in ihren Zweigen blitzten und funkelten –, dass sie am liebsten laut aufgeschrien hätte.
Sie versuchte es, brachte jedoch keinen Ton heraus. Sie war unter einer Lawine aus dunklem, weichem Zeug begraben, das sie zu ersticken drohte. Sie versuchte, sich zu befreien, und schlug wild mit den Armen um sich, bis sie plötzlich aufrecht im Bett saß. Ihr ganzer Körper war schweißgebadet. Ihr Vater saß am Rand der Matratze und hielt ihre Handgelenke fest.
»Vic«, sagte er. »Vic. Beruhige dich. Du hast mir gerade einen ordentlichen Schwinger verpasst. Ich bin’s, Papa.«
»Oh«, sagte sie. Er ließ sie los, und sie senkte die Arme. »Tut mir leid.«
Er legte Daumen und Zeigefinger an sein Kinn und schob es hin und her. »Schon gut. Wahrscheinlich hatte ich es verdient.«
»Wofür?«
»Weiß nicht. Für irgendwas. Jeder hat was auf dem Kerbholz.«
Sie beugte sich vor und küsste sein stoppeliges Kinn. Er lächelte.
»Dein Fieber hat nachgelassen«, sagte er. »Fühlst du dich besser?«
Sie zuckte mit den Achseln. Immerhin war sie nicht mehr unter diesem Haufen schwarzer Decken begraben und aus dem Traumwald aus bösartigen Weihnachtsbäumen entkommen.
»Du hast ziemlich tief geschlafen«, sagte er. »Du hättest dich mal hören sollen.«
»Was habe ich denn gesagt?«
»Einmal hast du geschrien: Die Fledermäuse haben die Brücke verlassen!«, erzählte er. »Muss ein übler Fiebertraum gewesen sein.«
»Ja. Ich meine, nein. Nein, wahrscheinlich habe ich die Brücke gemeint.« Einen Moment lang hatte Vic die Shorter Way Bridge ganz vergessen. »Was ist damit passiert, Papa?«
»Von welcher Brücke sprichst du?«
»Von der Shorter Way Bridge. Der alten überdachten Brücke. Sie ist weg.«
»Ach so«, sagte er. »Ich habe gehört, irgendein Vollidiot hätte versucht, mit dem Auto drüberzufahren, und sei durchgebrochen. Er ist gestorben und hat einen Großteil der Brücke mit sich in den Abgrund genommen. Den Rest haben sie abgerissen. Deshalb habe ich dir immer gesagt, dass du auf das verdammte Ding nicht raufgehen sollst. Die hätten sie schon vor zwanzig Jahren abreißen sollen.«
Sie erzitterte.
»Mensch«, sagte ihr Vater. »Dir geht’s ja wirklich hundeelend.«
Sie musste an ihren Fiebertraum von dem Hund mit dem zerschmetterten Schädel denken. Danach wurde alles plötzlich erst sehr hell und anschließend schwarz.
Als sie wieder etwas sehen konnte, hielt ihr Vater ihr einen Plastikeimer vor die Brust.
»Wenn dir übel ist, versuch, in den Eimer zu spucken«, sagte er. »Himmel, zu Terry’s gehen wir nie wieder.«
Sie erinnerte sich an den Geruch von Petes Schweiß und die Streifen Fliegenpapier mit all den toten Insekten und übergab sich.
Ihr Vater ging mit dem Eimer aus dem Zimmer und kam mit einem Glas Eiswasser wieder.
Sie trank die Hälfte in drei großen Schlucken. Das Wasser war so kalt, dass sie erneut zu zittern begann. Chris zog die Bettdecke um sie, legte ihr eine Hand auf die Schulter und blieb bei ihr, bis das Zittern nachgelassen hatte. Er saß einfach nur da, ohne etwas zu sagen. Es war beruhigend, ihn bei sich zu wissen und an seinem selbstsicheren Schweigen teilzuhaben. Sie dämmerte in den Schlaf hinüber, und mit geschlossenen Augen hatte sie fast das Gefühl, Fahrrad zu fahren und in eine dunkle, angenehme Stille hineinzugleiten.
Als ihr Vater aufstand, war sie noch wach genug, um es zu bemerken. Sie murrte protestierend und streckte die Hand nach ihm aus. Er entzog sich ihr.
»Schlaf ein bisschen, Vic«, flüsterte er. »Dann kannst du schon bald wieder Fahrrad fahren.«
Sie driftete davon.
Seine Stimme drang aus weiter Ferne zu ihr durch.
»Schade, dass sie die Shorter Way Bridge abgerissen haben«, murmelte er.
»Ich dachte, du mochtest sie nicht«, sagte sie, rollte sich herum und wandte sich von ihm ab. »Ich dachte, du hättest Angst gehabt, dass ich mit dem Fahrrad drauffahren könnte.«
»Das stimmt«, sagte er. »Hatte ich. Aber wenn sie das Ding schon in die Luft sprengen, hätte ich’s gern selbst gemacht. Diese Brücke war schon immer eine Todesfalle. Es war völlig klar, dass sie eines Tages jemand das Leben kosten würde. Ich bin nur froh, dass das nicht du warst. Und jetzt schlaf ein bisschen, meine Kleine.«
Verschiedene Orte
Ein paar Monate später hatte Vic den Vorfall mit dem verlorenen Armreif schon fast vergessen. Und wenn sie doch daran zurückdachte, erinnerte sie sich, den Armreif im Auto gefunden zu haben. An die Shorter Way Bridge dachte sie lieber nicht. Die Erinnerung an ihre Fahrt über die Brücke war lückenhaft und mutete eher wie eine Halluzination an. Sie war untrennbar verbunden mit dem Traum von dunklen Bäumen und toten Hunden. Es hatte keinen Sinn, sie sich ins Gedächtnis zurückzurufen, deshalb schloss sie die Erinnerungen im Geist weg und vergaß sie.
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