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Kurzgeschichten aus dem Circusalltag, kompromisslos ehrlich und ohne Beschönigung, beschreiben sie das harte und doch so wunderbar aufregende Leben im Circus aus verschiedenen Perspektiven. Mal geht es um die Freuden eines kleinen Stromers, der im Circus eine neue Familie findet, mal um die Unachtsamkeit eines Raubtierpflegers, die beinahe in einer Katastrophe geendet hätte. Da ist die Mutter, die miterleben muss, wie ihre Tochter vom Trapez stürzt oder die Gedanken von ehemaligen Circusleuten, die ins Private hinüber gewechselt sind, Beobachtungen in der Tierschau oder was geschieht, wenn sich zwei Löwen in Irland aus dem Staub machen. Nachdenkliche, traurige oder lustige Erzählungen, die aber immer eines sind: Ehrliche Circusgeschichten.
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Seitenzahl: 165
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Es geht wieder los
Sonntagmorgen in der Tierschau
Und eines Tages doch…
Helmut der Fahrzeugmeister
Hallo Janosch!
Einlass
Ein Morgen in der Manege
Aussteigen verboten
Der alte Clown
Ein neues Tier
Ballerina zu Pferd
Kinder des Circus
Friedel
Nächtliche Jagd
Heinz und seine Pferde
Bärenfänger
Der Vorreisende
Die schwarze Lady
Eine Weihnachtsgeschichte
Der letzte Tag
“Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt”, so geht ein altes, deutsches Volkslied, doch nicht nur für die Landwirte beginnt mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen ein neues Arbeitsjahr. Das fahrende Volk, die Circusleute, monatelang im Winterquartier vergraben, packen endlich wieder ihre Sachen und begeben sich auf die Reise. Endlich, endlich, selbst wenn die Sonne noch nicht scheint, im März ist Saisonstart, und sollte auch der Winter noch nicht ganz dem Frühling gewichen sein.
In diesem Jahr scheint es ein Bilderbuchstart zu werden. Waren doch zum vergangenen Saisonbeginn noch Eis und Schnee die ständigen Begleiter, so schwingen heute zart grünende Zweige von den hohen Bäumen die den Festplatz säumen und eine leichte Brise lässt die bunten Fähnchen an den Mastenabseglungen flattern. Sogar die Sonne lugt immer öfter zwischen sich hoch auftürmenden Wolkenbergen hervor. Dazu ein Circusplatz, wie er günstiger nicht sein könnte: geräumig, mit festem Untergrund, breiten Zufahrtsstraßen und einer bequemen Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel.
An der hoch aufragenden Fassade drehen die Elektriker die letzten der 4000 Glühbirnen ein. Eine Heidenarbeit, doch in der Dämmerung wird die Fassade weithin leuchten und, hoffentlich, viele Besucher zum Zelt locken. Im Büro hat man extra Personal eingestellt, denn die Drähte laufen heiß. Im Minutentakt kommen Anfragen zur Kartenreservierung, werden Vorbestellungen getätigt und ganz allgemeine Fragen beantwortet.
“Wann beginnt die Vorstellung?”
“Wie lange dauert die Veranstaltung?”
“Bekomme ich nach dem Ende noch eine Straßenbahnverbindung in die Innenstadt?”
“Kann ich auch mit dem Rollstuhl hinein?”
“Bekommen Gruppen eine Ermäßigung?”
“Gibt es auch eine Raubtiergruppe?”
Viele Fragen, viele Antworten, dazu müssen Futterlieferanten, Sägemehlanfuhr, Müllabfuhr organisiert werden. Ein Fahrer wird losgeschickt, um Gasflaschen für die Mannschaftsküche zu besorgen, ein Anderer muss in den Baumarkt fahren, um dringend benötigte Schrauben für das Musikerpodium einzukaufen. Der hauseigene Maler beendet gerade die letzten Pinselstriche an dem neuen Tierschauschild.
Die Sekretärin stürzt ins Direktionsbüro.
“Herr Direktor, die Truppe Hermanos hatte einen Unfall!”
“Ach du liebe Güte, wo sind sie jetzt?”
Die spanischen Trampolinartisten waren noch unterwegs und wurden dringend erwartet.
“Kurz hinter Freiburg, an der Raststätte, einer der Wohnwagen ist total hinüber, sie wissen nicht, ob sie es zur Premiere schaffen!”
“Haben Sie Verbindung dorthin?”
“Ja, sie sind im Büro der Raststätte und warten auf die Polizei, ein anderes Fahrzeug ist ihnen hinten drauf gefahren!”
“Gut, Sie rufen dort an und lassen sich die Einzelheiten geben. Dann schicken Sie Toni Schaffer mit dem Reklamebus los, der soll ihnen helfen und zusehen, dass er sie rechtzeitig herbringt!”
“Jawoll, Herr Direktor!” und eilig stürzt sie wieder hinaus.
Der Direktor wischt sich über´s Gesicht. Irgendwas ist immer, denkt er, wenn nix wär, wär es auch zu einfach.
“Hauruck, hauruck!” tönen viele Stimmen im Chor. Auf dem freien Platz vor dem Chapiteau wird gerade das Vorzelt aufgebaut. Noch fehlt die Rundleinwand, aber im Inneren wird ein fester Holzfußboden ausgelegt, die Gastronomiewagen und Stände hereingeschoben und errichtet. Ein Getränkelieferant rückt soeben seinen Lkw an die Rückseite des Vorratswagen heran, Flaschen klirren und viele Dutzend Kisten Bier und Limonade werden verstaut.
Hinter dem großen Dom des Chapiteaus erheben sich schon die rotblauen Tierzelte. In einem exakten Winkel, gerade ausgerichtet, bilden sie den rückwärtigen Abschluss des Platzes. Die letzten Tiere kommen vom Bahnhof, quirlige Zebras und hochnäsige Lamas, Dromedare mit hoch aufragenden Höckern und Watussirinder mit weit ausladenden Hörnern. Zwei lange Tage hat ihre Bahnfahrt gedauert, nun sind sie müde, hungrig und streben ihrem Stallzelt zu, wo sie ein hohes Bett aus Stroh und duftigem Heu erwartet.
Die Braunbären kamen aus Warschau, sie waren fünf Tage auf der Bahn. Ihr wohliges Brummen tönt über den Tierschauhof. Gierig schmatzen sie ihr Obst und die lange Zunge leckt auch den letzten Fetzen aus der Futterwanne. Dann drehen sie sich und lassen sich in den Strohberg fallen. Endlich ist die Fahrt vorbei und es kommt Ruhe und Frieden auf.
Aus dem Pferdestall tönt übermütiges Hengstgeschrei. Die zwölf Lipizzaner sind weit gereiste und erfahrene Circushasen, haben schon in vielen Unternehmen ihre Darbietung gezeigt. Trotzdem steckt die überschäumende Freude eines jeden Saisonstarts auch sie an und immer wieder wird eine Kabbelei mit dem Nebenmann angefangen. Unruhig fallen auch die anderen Pferde ein, selbst die behäbigen Kaltblüter der Jockeytruppe lassen einige zaghafte Töne hören, bevor sie sich wieder ihrem Heu zuwenden.
Die Windhundmeute im Nachbarzelt bellt laut und hysterisch. Die Unruhe und Nervosität hat sie besonders angesteckt. Jede Bewegung außerhalb ihres Zwingers wird hastig verbellt, unruhig rennen sie hin und her, springen übereinander und geraten sich in die Haare. Immer wieder muss der Tierpfleger eingreifen, die Hunde beruhigen und ablenken.
“Es geht wieder los, es geht wieder los!” scheinen ihre hohen Belllaute zu rufen. “Lasst uns raus, es geht wieder los!”
Mitten auf dem Tierschauhof steht der große Bassinwagen der behäbigen Nilpferddame. Das Wasser ist aufgeheizt und schickt dampfende Schwaden in die kühle Abendluft. Schwerfällig, langsam, tastet sich die tonnenschwere Dame den Laufsteg hinunter, ihr Körper tropfnass und dampfend vom gerade entstiegenen Bade. Den Transport hat sie in einem weichen Strohbett verbracht und dieses erste Bad nach der Fahrt genießt sie besonders. Nun aber ruft das leibliche Wohl, in dem großzügigen Außengehege ist ihr Futtertrog wohl gefüllt. Äpfel, Apfelsinen, ganze Salatköpfe und halbe Brotlaibe erwarten sie und mit breit gezogenen Lippen mampft sie die Köstlichkeiten in sich hinein.
Im Raubtierwagen herrscht große Aufregung. Es ist Futterzeit und die Tiere sind in einzelne Boxen abgeteilt, vor dem Gitter kommt schon der Tierpfleger mit einer Karre, hoch türmen sich die Fleischstücke darauf. Die Tiger geraten in Verzückung, fauchen und gieren nach dem Futter. Vor jedem Tier wird eine kleine Klappe geöffnet und das dazu gehörige Teil ins Innere geschoben. Hastig krallen sich breite Pfoten hinein und ziehen das Stück ganz ins Abteil. Der Nachbar brüllt.
“Ich auch, ich auch!”
Die nächste Klappe auf, das nächste Fleischstück, bis alle ihre Portion bekommen haben und nur noch vielzahniges Reißen und Kauen zu hören ist.
Aus dem Elefantenstall tönen laute Trompetenklänge. Dem gut beheizten Zelt entströmt die süßliche Wärme der sechs Elefantenleiber. Wie feuchte Tropenluft hängen die Kondenstropfen unter dem Dach der Plastikplane. Die spitzen Rüsselfinger der grauen Riesen bohren sich in die Futtertröge und holen sich die angefeuchtete Kleie portionsweise heraus, schieben die Futterbälle in ihr weit geöffnetes Maul, senken die Rüssel für die nächste Ladung. Kein Körnchen bleibt übrig, alles wird bis zum letzten Krümel verputzt.
In den Artistenwohnwagen gehen nach und nach die Lichter an, Türen klappern und die unterschiedlichsten Wohlgerüche entströmen den Behausungen. In der Mannschaftsküche wird zum Abendbrot geläutet und zwei Arbeiter hängen das letzte Teil des Zaunes ein, rot-weiß und mannshoch, welcher das Circusareal umschließt.
Im Chapiteau gleicht die Stimmung inzwischen einem Hexenkessel. Die letzten Proben vor der morgigen Generalprobe laufen. Doch eine Linie ist nicht zu erkennen, die Vorstellung, das aus diesem Durcheinander in nur zwei Tagen eine funktionierende Show entstehen soll, scheint absurd. An zwei Trapezen hängen Artisten und schreien sich an, eigentlich rufen sie sich Kommandos zu, aber weil der Geräuschpegel insgesamt so hoch ist, müssen sie schreien, um sich verständigen zu können. Im Seiteneingang jonglieren die Jongleure ihre Bälle und Keulen, immer wieder fällt ein Teil herunter und wird mit saftigen Flüchen wieder aufgehoben. Zwei breitschultrige Männer und ein schmaler Junge schlagen indes lange Eisenanker in den harten Boden, die hellen Hammerschläge erzeugen ein schmerzhaftes Echo. Der Sprechstallmeister steht vor dem Vorhang und beginnt die Mikrofonprobe.
“Eins - zwei - drei, Mikrofonprobe, eins - zwei - drei, hört ihr mich?”
Die Clowns gehen ihre Sketche durch, ohne Kostüm und Schminke sehen sie aus wie drei Herren mittleren Alters, die sich stumm gestikulierend gegenseitig mit Unsinnigkeiten bewerfen. Hiebe werden nur angedeutet, Stürze lediglich mental dargestellt. Lustig sieht das nicht aus, eher albern.
Auf dem Musikerpodium spielen die Musiker ihre Instrumente warm. Der Kapellmeister studiert seine Noten und bespricht die Einsätze mit der Frau vom Trapez, die mit hastig zusammengesteckten Haaren und einem viel zu großen Trainingsanzug alles andere als glamourös wirkt. Mit der Zigarette in der Hand beschreibt sie den einen oder anderen Trick und der Kapellmeister nickt. Er kennt sein Metier und weiß, worauf es ankommt.
Herr Direktor steht am Manegenrand und gibt Anweisungen.
“Der Spot muss auf den linken Clown gehen, jetzt, ja… und jetzt… aus! Nein, nein, das muss schneller sein, sofort aus, nicht erst wenn…ja, was ist denn?”
Flüsternd berichtet die Sekretärin, dass die Spanier jetzt da seien, ob er…?
“Nein, nein, sie sollen in den Behelfswohnwagen einziehen, später können sie einen schnellen Durchgang machen, Hauptsache, sie sind da! He, ihr da hinten, Ruhe jetzt!” brüllt er dann und dreht sich wieder zur Manege.
Die Sekretärin huscht hinaus, heute wird es sehr spät werden, da will sie schnell noch einiges an Papierkram erledigen. Morgen wird auch wieder ein langer und harter Tag werden.
Die Kapelle spielt verschiedene Musikstücke, aber keines passt zur Darbietung in der Manege. Gut so, bis jetzt probt jeder noch für sich.
Ein grellrotes Taxi rollt alleine in die Manege, die dazugehörigen Artisten rennen hinterher und beklagen sich, stumm und angedeutet, mit großen Gesten über ihr eigenwilliges Gefährt. Die Motorhaube schnellt nach oben und riesige Hauer kommen zum Vorschein.
Die Frau springt darauf zu und schlägt die Motorhaube wieder zu.
“Jetzt noch nicht, zu früh, zu früh!” ruft sie dem versteckten Mann zu, der im Inneren der Maschine die Effekte bedient. So ohne Publikum scheint alles lächerlich und etwas sinnlos.
Die Jongleure haben sich inzwischen warm gearbeitet und die Bälle, Keulen und Reifen fliegen ohne Abstürze zwischen ihnen hin und her. Hoch konzentriert sind die Blicke auf die wirbelnden Gerätschaften gerichtet und nur, wenn ein Wechsel ansteht, kommt ein kurzes Kommando. Immer wieder, ein scheinbar endloser Wirbel, ein unversiegbarer Springbrunnen der Gleichmäßigkeit.
“Hören Sie, die Abseglung dort muss weggebunden werden, so geht das nicht!”
“Jaja, gleich!”
“Eins - zwei - drei - Mikrofonprobe, hört ihr mich jetzt besser?”
“Nein, hier oben hört man kein Wort!”
“Kann das nicht besser eingestellt werden?”
“Entschuldigung, aber die neue Anlage…!”
“Jaja, immer die Schuld bei der Technik suchen!”
Der Einsatz eines Presslufthammers unterbindet für Minuten jegliche Konversation, auch die Jongleure halten inne, in ihrer Konzentration gestört. Dann plätschert die Hammondorgel einige Melodien und die Requisiteure, alle in ihren neuen, rot-gold betressten Uniformen, üben das Aufstellen der Tierpodeste.
Herr Direktor schnappt sich das Mikrofon.
“Herrschaften, die morgige Generalprobe findet um 13 Uhr statt, ich bitte den Programmablauf dem schwarzen Avisbrett zu entnehmen. Herr Kapellmeister steht jetzt noch für weitere Musikproben zur Verfügung. Ich wünsche noch eine gute Nacht!”
Damit verlässt er das Chapiteau und geht entschlossenen Schrittes zum Büro. Auch für ihn ist der Tag noch nicht zu Ende.
Die scheinbar unkoordinierten Proben gehen am nächsten Morgen weiter. Als erstes ind die Exoten dran, Dromedare und Büffel, von dunkelhäutigen Männern in langen Kaftanen geführt. Die Dromedare legen sich und Zebras überspringen die Tiere. Ein Zebra bleibt mit dem Bein in einem der Dromedargeschirre hängen, wild zappelnd fällt das Tier hin und reißt das liegende Dromedar mit sich. Das Zebra hat sich schnell befreit und rennt bockend, den Kutscher umreißend, zum Sattelgang. Das Dromedar brüllt wütend, rappelt sich hoch und läuft spuckend, mit weit ausholenden, schlaksigen Sprüngen ebenfalls aus der Manege. Der Kutscher hinterher, die anderen Tiere werden unruhig, springen ebenfalls auf und stampfen, reißen an den Zügeln. Wie Puppen wirbeln die Kutscher am anderen Ende der Longe herum, nur mit Mühe können sie die Tiere halten.
Hinter dem Vorhang warten schon die weißen Hengste auf ihren Einsatz, ungeduldiges Wiehern ertönt.
“Können wir das mal mit Musik…?” möchte der Dresseur wissen. Ein Stallarbeiter kommt aufgeregt angelaufen.
“Chef, Chef, schnell. Kommen, Zebra nix gut, mit Strick…!” und weg ist er. Der Dresseur lässt einen Fluch hören, drückt seine Peitschen dem Nächstbesten in die Hand und eilt hinter dem Mann her. Im Stall hat sich das entlaufene Zebra in einem Strick verheddert und kann nur mit Mühe befreit werden. Das Tier ist verängstigt, aber unverletzt. Nun können die Freiheitspferde einen schnellen Durchgang proben, fast ist schon Mittag und um 13 Uhr muss die Manege frei sein.
Generalprobe!
Zum Start der Generalprobe finden sich alle Artisten und Angestellte im Chapiteau ein. Wer nicht dran ist, sitzt in Gruppen und Grüppchen im Gradin und wartet auf seinen Einsatz. Letzte Besprechungen finden statt. Als schon alle sitzen, kommt die spanische Familie durch den Eingang, sofort wird aufgeregtes Rufen laut, denn jeder hat von ihrem Unglück gehört. Doch Zeit zu ausführlichen Erklärungen ist später, jetzt muss die Generalprobe laufen und Konzentration ist angesagt.
“Test - Test - eins - zwei - drei, wie kommt das da oben an?”
Der Tontechniker auf seinem erhöhten Standplatz über dem Haupteingang streckt beide Daumen in die Luft.
“Alles klar, wir können anfangen! Sind die Tiere schon da?”
Der Dresseur streckt seinen Kopf zwischen dem Vorhang hervor.
“Alles da, kann losgehen!” bestätigt er.
Der Kapellmeister klopft auf sein Pult und erwartungsvolle Stille senkt sich über den Raum. Herr Direktor in der Ehrenloge, die Sekretärin sitzt mit gezücktem Bleistift neben ihm um alle Änderungswünsche sofort niederzuschreiben, nickt und wenige Sekunden später tritt die Kapelle in Aktion: Der Eröffnungsmarsch erklingt.
“Schreiben Sie: Der Marsch soll schneller gespielt werden!” flüstert der Direktor und flink fliegt der Stift über das Papier.
“Na, das kann ja heiter werden!” denkt die Sekretärin, aber stumm befolgt sie die Wünsche ihres Vorgesetzten.
Die erste Nummer: Die Exotendarbietung. Übermütig hopsend und mit weit vorgereckten Hälsen stürmen die Dromedare in die Manege.
“Wieso sind das nur drei?” ruft der Direktor ungnädig. “Vier Dromedare hatte ich gebucht!”
“Das vierte Tier hat sich gestern bei der Probe etwas verletzt, in zwei Tagen habe ich es wieder drin!” entgegnet der Dresseur.
“Na schön”, brummt es aus der Loge. “Frau Leitzmann, notieren Sie…!”
“Jaja, schon geschehen!”
Nach der Exotennummer kommt eine Luftdarbietung. Nur einer der Männer trägt ein Kostüm, der andere hat einen Trainingsanzug an.
“Wo ist denn Ihr Kostüm?” ruft Herr Direktor. “Ich hatte doch ans Avis geschrieben, dass alle in Kostümen arbeiten sollen!”
“Entschuldigung, aber mein Kostüm ist eben gerissen, morgen ist es wieder heile!”
“Entschuldigungen, Entschuldigungen…Frau Leitzmann, notieren Sie!”
Aber die aufmerksame Dame hat es schon aufgeschrieben.
Nach der Trapezdarbietung, die dem Direktor zu lang ist: “Frau Leitzmann, notieren Sie!” kommen die Braunbären und hierbei gibt es gar nichts zu beanstanden. Die Nummer läuft schon fast zwei Jahrzehnte in dieser Art und ist so eingespielt, dass da aber auch gar nichts schief gehen kann. Der gesetzte Herr, der seine Bären in und auswendig kennt, versteht es, mit nur minimalen Bewegungen die Befehle zu erteilen und die gewichtigen Fellnasen gehorchen ihm aufs Wort.
Nun ist eine Illusionsnummer an der Reihe und hierbei ist der exakte Einsatz von Licht und Musik von großer Bedeutung. Mehrmals muss die Nummer unterbrochen werden, die Artisten eilen immer wieder zum Direktor, zur Musik, aber es will so recht nicht klappen.
“Herr Sauer”, ruft der Direktor dazwischen,”machen Sie einfach einen Durchlauf, damit ich mir ein Bild machen kann, morgen früh können Sie dann alles noch mal mit Musik und Licht besprechen. Also bitte!”
Die Artisten machen lange Gesichter, lassen dann die Nummer einmal durchlaufen, ohne Unterbrechung.
“Da klappt aber auch gar nix”, beschwert sich die Frau.
“Wir proben morgen noch mal”, beschwichtigt sie ihr Mann. “Jetzt ist erstmal gut!”
Danach tritt eine junge Artistin aus Prag in die Manege. Mit viel Charme und Können wirbelt sie Keulen und Ringe durch die Luft, dann gesellen sich ihre Kollegen dazu und zu dritt veranstalten sie ein wahres Feuerwerk aus wirbelnden Gegenständen.
Der Direktor beugt sich zu seiner Sekretärin. Die will schon wieder schreiben, aber er flüstert nur:
“Die ist aber ganz reizend, meinen Sie nicht auch, Frau Leitzmann, ganz reizend!”
Plötzlich geht das Licht aus und es ist stockdunkel im Zelt. Aus der Manege kommt ein Schmerzensschrei und Gepolter
“Welcher Idiot war das denn? Meine Herren, so geht das aber nicht…”
Das Licht geht wieder an. Die kleine Jongleuse hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm.
“Mist, ist darauf gefallen…”stammelt sie.
“Wieso ist das Licht ausgegangen?” will der Direktor wissen.
“Wir haben umgeschaltet und sind an den falschen Knopf gekommen. Kommt nicht wieder vor!”
“Das will ich hoffen, sonst komme ich mal bei Ihnen an den falschen Knopf!” poltert der Direktor. “Janina, haben Sie sich verletzt?” will er dann besorgt wissen.
“Nein, nein, geht schon!” versichert die Artistin und sammelt ihre Keulen wieder auf. Musik setzt ein und die Nummer läuft noch einmal durch, bis der Direktor zufrieden ist.
“Können Sie den Schlusstrick in Schwarzlicht machen?” will er wissen. “Ich besorge morgen die Lampen und Sie können proben, ja? Gibt einen tollen Effekt, habe ich letzten Monat in Amerika gesehen! Frau Leitzmann, notieren Sie…!”
Die nächste Nummer, die nächste Nummer, immer weiter gehen die Proben. Gegen 16 Uhr ist endlich der Durchlauf der ersten Programmhälfte geschafft. Der Direktor schickt alle zum Abendbrot.
“Um 18 Uhr machen wir mit der zweiten Hälfte weiter”, verkündet er. “Wir wollen schließlich vor Mitternacht fertig sein!”
Punkt 18 Uhr stehen die Requisiteure in ihren neuen Uniformen wieder bereit. Der Zentralkäfig muss für die Tigernummer aufgebaut werden. Es sind einige neue Leute dabei und die müssen das Tempo der Altgedienten erst mal mithalten können. Aufbauen, Abbauen, wieder Aufbauen. Herr Direktor hat die Zeit gestoppt.
“Das muss schneller gehen, meine Herren, wir sind doch nicht im Altersheim!” mokiert er. “Frau Leitzmann, notieren Sie…!”
Auf den Rängen, dort wo sich die Artisten aufhalten, die noch nicht dran waren oder schon fertig sind, herrscht ein reges Kommen und Gehen. Kinder müssen ins Bett gebracht, Tiere versorgt, und schnell die neuesten Fußballergebnisse erfahren werden. Doch früher oder später trudeln alle wieder ein. Auch wenn der Abend schon weit fortgeschritten ist, müssen doch alle auf das Ende der Generalprobe warten, denn zum großen Finale müssen alle antreten. Manch ein lang gezogenes Gähnen zeugt von der späten Stunde, jegliche Unterhaltung ist eingestellt worden und Langeweile ist vorrangig. Doch endlich, endlich, nimmt der Direktor das Mikrofon.
“So, alle mal bitte herhören, auch diejenigen, die sich auf den billigen Plätzen im Dunkeln verstecken”, dabei schaut er zu den jungen Artisten, die sich auf die hinterste Bankreihe verzogen haben und dort irgendeine Art von Kartenspiel spielen. “Also bitte, alle Artisten in den Sattelgang zur Finaleprobe!”
Die Clowns witzeln:”Letzte Woche im Moulin Rouge hatten wir jetzt gerade den Anfang der zweiten Vorstellung, da hat aber keiner gegähnt, Haltung, meine Herrschaften, Haltung!”
Der Direktor erklärt, wie er das Finale haben möchte. Murren ertönt.
“Nicht schon wieder so´n doofes Rumgehopse!”
“Sind wir denn im Kindergarten?”
“Oh, nein, das dauert wieder!”
Das stimmte. Noch eine halbe Stunde wird für das Schlussfinale geprobt. Erst links herum, dann rechts herum, alle sollen sich an den Händen fassen und schließlich mit dem Gesicht zum Publikum eine exakte Verbeugung machen. Dann endlich ist der Direktor zufrieden und bestimmt den Schluss der Generalprobe.
Auf dem kurzen Nachhauseweg durch die Nacht fliegen noch launige Wortfetzen über das Gelände.
“Hals- und Beinbruch!”
“Toi - toi - toi!”
“Wird schon schiefgehen!”
Kaum haben die Letzten das Chapiteau verlassen, schnürt der Nachtwächter die Plane zu und löscht das Licht. Nur noch eine einzelne Nachtlampe schaukelt leise im Haupteingang. Auch die Lichterketten an den Hauptmasten verlöschen eine nach der anderen, bis nur noch das Karree zwischen den Masten sein Licht in die dunkle Nacht schickt. Der Nachtwächter nimmt seine einsame Wanderung durch die Dunkelheit auf. An der Fassade prüft er, ob die Ausgänge fest verschlossen sind, am Außenzaun richtet er ein Zaunteil, das etwas schief in der Halterung hängt. Mit seiner starken Taschenlampe leuchtet er um die Ecken der Stallzelte, aus dem Pferdestall kommt unwirsches Brummen.
“Machs Licht aus und geh auch schlafen!”