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Die Odyssee geht weiter: Band 2 der furiosen Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautor Don Winslow Nach dem tragischen Tod seiner Frau hat sich Danny Ryan mit seinem Sohn in Kalifornien niedergelassen. Seit dem Umzug ist er einflussreicher denn je. Als ein Film über den Bandenkrieg in Neuengland gedreht werden soll, macht Danny sich auf den Weg nach Hollywood, um die Produzenten in die Schranken zu weisen. Am Filmset begegnet er Diane Carson, die seine verstorbene Frau spielt. Er fühlt sich sofort zu ihr hingezogen. Doch es dauert nicht lange, da findet er heraus, dass sie ein Verbrechen aus ihrer Vergangenheit vertuscht. Während Danny versucht ihr zu helfen, ruft er neue Feinde auf den Plan, die nicht wollen, dass er sich in ihre Westküstenaktivitäten einmischt. Und schon bald steht ein weiterer Krieg bevor … »Der beste Thrillerautor unserer Tage.« WELT am Sonntag
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Seitenzahl: 403
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem TitelCity of Dreams bei William Morrow, New York.
© by Don Winslow Deutsche Erstausgabe © 2023 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with HarperCollins Publishers L.L.C., New York
Covergestaltung von PPP Pre Print, Köln nach einem Originaltentwurf von Gregg Kulick Coverabbildung von Magdalena Russocka / Trevillion Images E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749905416
www.harpercollins.de
Für Lehrerinnen und Lehrer
Ohne euch wären diese Bücher
nie geschrieben worden.
Oder gelesen.
»Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden, durch das Geschick landflüchtig …«
Virgil
Aeneis
Erster Gesang
Tagesanbruch
Anza-Borrego-Wüste, Kalifornien April 1991
»Schon der folgende Tag stieg auf mit dem Sterne des Morgens …«
Vergil
Aeneis
Zweiter Gesang
Danny hätte sie alle töten sollen.
Jetzt weiß er das.
Und vorher hätte er es auch wissen müssen – wenn man jemandem vierzig Millionen bei einem bewaffneten Überfall abnimmt und ihn am Leben lässt, wird er sich rächen.
Man nimmt ihm also besser sein Geld und das Leben.
Aber so ist Danny Ryan nicht.
Das war schon immer sein Problem – er glaubt noch an Gott. An Himmel und Hölle und den ganzen gefühlsduseligen Mist. Ein paar Leute hat er auf dem Gewissen, aber er hat immer nur in Situationen getötet, in denen er sonst selbst draufgegangen wäre.
Bei dem Überfall war das nicht so. Seine Leute hatten alle mit Kabelbindern gefesselt, sie lagen wehrlos auf dem Boden, und die Jungs wollten ihnen Kugeln in die Hinterköpfe jagen.
Sie hinrichten.
»Würden die mit uns genauso machen«, behauptete Kevin Coombs.
Allerdings, dachte Danny.
Popeye Abbarca war dafür bekannt, dass er nicht nur diejenigen umbrachte, die ihn hintergingen, sondern auch deren gesamte Familien. Popeyes Top-Mann hatte Danny genau damit gedroht. Er hatte vom Boden aufgeblickt, gegrinst und gesagt: »Wir bringen euch um, euch und eure ganzen Familien. Muerte. Lange und qualvoll.«
Wir wollen das Geld, kein Massaker, dachte Danny. Zig Millionen Dollar Bargeld für den Start in ein neues Leben, nicht, um das alte fortzusetzen.
Das Morden musste aufhören.
Also nahm er ihnen ihr Geld und ließ ihnen ihr Leben.
Jetzt weiß er, dass es ein Fehler war.
Er ist auf Knien, hat eine Pistole am Kopf. Die anderen sind an Händen und Füßen gefesselt, blicken ihn flehend und in Todesangst an.
In der Wüste ist es bei Tagesanbruch kalt, und Danny kniet zitternd im Sand, während die Sonne aufgeht und der Mond zur bloßen Erinnerung verblasst. Ein Traum. Danny denkt, vielleicht ist das ganze Leben nicht mehr als nur ein Traum.
Oder ein Albtraum.
Selbst im Traum bezahlt man für seine Sünden.
Ein stechender Geruch durchdringt die frische, klare Luft.
Benzin.
Dann hört Danny: »Erst siehst du zu, wie sie bei lebendigem Leib verbrennen. Danach bist du selbst dran.«
So werde ich sterben, denkt er.
Der Traum verfliegt.
Die lange Nacht ist vorbei.
Der Tag bricht an.
Verlassene Lande
Rhode Island Dezember 1988
»… ferne Verbannungen jetzt und verlassene Lande zu suchen, treibt uns hinweg der Götter Verkündigung …«
Vergil
Aeneis
Dritter Gesang
Kurz nach Morgengrauen brechen sie auf.
Ein kalter Wind aus Nordost – gibt es überhaupt andere, fragt sich Danny – weht vom Ozean herein, als wollte er ihnen einen Arschtritt verpassen. Ihm und seiner Familie, oder besser gesagt, dem kläglichen Rest davon. Seine Crew sitzt in den Autos dahinter, mit viel Abstand dazwischen, es soll nicht nach einem Flüchtlingstreck aussehen, auch wenn’s einer ist.
Dannys Vater Marty singt:
»Farewell to Prince’s landing stage,
River Mersey fare thee well
I am bound for California …«
Danny Ryan weiß nicht, wohin sie fahren, nur dass sie schleunigst aus Rhode Island verschwinden müssen.
»It’s not the leaving of Liverpool that grieves me …«
Dabei verlassen sie nicht Liverpool, sondern das verfluchte Providence. Müssen eine möglichst große Entfernung zwischen sich und die Morettis, die Cops aus der Stadt, die State Trooper und die Feds legen … eigentlich so ziemlich alle.
So ist das, wenn man einen Krieg verliert.
Aber Danny kann nicht trauern.
Seine Frau Terri ist erst vor wenigen Stunden gestorben – der Krebs hat sie dahingerafft, wie ein langsam aufziehender, aber unaufhaltsamer Sturm –, doch Danny hat keine Zeit für seinen Kummer, sein zweijähriger Sohn schläft auf dem Rücksitz.
»… but, my darling when I think of thee …«
Es wird eine Messe geben, denkt Danny, eine Beerdigung und eine Trauerfeier, aber ich werde nicht dabei sein. Wenn mich die Cops oder die Feds dort nicht erwischen, dann tun es die Morettis, und Ian wird als Waisenkind aufwachsen.
Der Junge schläft weiter, während sein Großvater singt. Wer weiß, denkt Danny, vielleicht funktioniert der alte irische Song ja auch als Schlaflied.
Danny hofft, dass Ian nicht so bald aufwacht.
Wie soll ich ihm sagen, dass er seine Mommy nie mehr wiedersehen wird, dass sie »beim lieben Gott« ist?
Wenn man dran glaubt.
Danny weiß nicht, ob er es noch tut.
Wenn es einen Gott gibt, denkt er, dann ist er ein grausames, rachsüchtiges Arschloch, das meine Frau und meinen kleinen Jungen für meine Taten büßen lässt. Ich dachte, Jesus ist für meine Sünden gestorben, jedenfalls haben das die Nonnen behauptet.
Vielleicht hab ich meinen Kredit bei Jesus ja schon verspielt.
Du hast geraubt, denkt Danny, hast Menschen verprügelt. Drei Männer hast du getötet. Den letzten erst vor ungefähr einer Stunde an einem eisigen Strand tot liegen lassen. Allerdings hat er vorher versucht, dich zu erschießen. Ja, rede dir das nur ein. Tot ist er so oder so. Und du hast ihn ermordet. Du hast für eine Menge geradezustehen.
Du bist ein Drogendealer, wolltest zehn Kilo Heroin auf die Straße bringen.
Danny wünscht, er hätte von Anfang an die Finger davon gelassen.
Du hast es doch gewusst, denkt er jetzt beim Fahren. Kannst dich rausreden, so viel du willst. Du hast es getan, um zu überleben, für deinen Sohn, für ein besseres Leben, und irgendwie wolltest du’s später wiedergutmachen – aber die Wahrheit ist, du hast es getan.
Danny wusste, dass es verdammt noch mal falsch war, dass er Leid und Elend in eine Welt brachte, in der es von beidem schon viel zu viel gab. Und das auch noch, während seine Frau im Sterben lag, im Arm einen Schlauch, durch den die gleiche scheiß Droge lief.
Wenn er damit Geld verdient hätte, würde Blut dran kleben.
Kurz bevor er den korrupten Cop erschoss, hatte Danny Ryan Heroin im Wert von zwei Millionen Dollar ins Meer geworfen.
Angefangen hat der Krieg wegen einer Frau.
Jedenfalls wird die Geschichte meistens so erzählt: Pam war schuld.
Danny war dabei an dem Tag, als sie wie eine Göttin dem Wasser entstieg und zum Strand kam. Damals wusste niemand, dass diese weiße amerikanische Eisprinzessin Paulie Morettis Freundin war und er sie wirklich liebte.
Sollte Liam Murphy es geahnt haben, dann war’s ihm egal.
Liam interessierte sich sowieso ausschließlich für sich selbst. Pam war eine schöne Frau und er ein schöner Mann, also gehörten sie zusammen. Er nahm sie sich wie eine Trophäe, wie eine Auszeichnung einfach dafür, dass er Liam war.
Und Pam?
Danny hat nie verstanden, was sie an Liam fand, oder warum sie so lange bei ihm blieb. Er hat sie immer gemocht; sie war klug und witzig, und anscheinend waren ihr andere Menschen nicht vollkommen egal.
Paulie kam nicht drüber weg, Pam zu verlieren und von einem irischen Weiberhelden die Frau ausgespannt zu bekommen.
Aber die Iren und die Italiener waren befreundet. Verbündete seit Generationen.
Dannys Vater Marty – der jetzt zum Glück eingedöst ist und laut schnarcht, statt zu singen – hat maßgeblich dazu beigetragen. Den Iren gehörten die Docks, den Italienern das Glücksspiel, und die Gewerkschaften teilten sie sich. Gemeinsam gaben sie in New England den Ton an. Als Liam sich an Pam ranmachte, feierten sie gerade alle zusammen eine Strandparty.
Vierzig Jahre Freundschaft in einer einzigen Nacht zerstört.
Die Italiener prügelten Liam halb tot.
Pam besuchte ihn im Krankenhaus, und als er entlassen wurde, waren sie schon ein Paar.
Von da an herrschte Krieg.
Klar, die meisten schieben alles auf Pam, denkt Danny, dabei war Peter Moretti schon seit Jahren scharf auf die Docks, und die Demütigung seines Bruders diente ihm nur als Vorwand.
Spielt jetzt keine Rolle mehr, denkt Danny.
Egal, wer angefangen hat, der Krieg ist vorbei.
Und wir haben ihn verloren.
Die Verluste gehen weit über die Docks und die Gewerkschaften hinaus.
Menschen haben ihr Leben verloren.
Danny ist kein Murphy, er hat nur eingeheiratet in die Familie, die die irische Mafia anführt. Früher gehörte er eigentlich eher zum Fußvolk. John Murphy und seine beiden Söhne Pat und Liam leiteten die Geschäfte.
Aber jetzt sitzt John in einem Bundesgefängnis und wartet darauf, wegen Heroinhandels vor Gericht gestellt zu werden, anschließend wird er wahrscheinlich lebenslänglich hinter Gitter wandern.
Liam ist tot, erschossen von dem Cop, den Danny eben getötet hat.
Und Pat, Dannys bester Freund – sein Schwager, aber eigentlich eher so was wie ein Bruder –, wurde auch ermordet. Von einem Wagen überfahren, mehrere Straßen mitgeschleift und bis zur Unkenntlichkeit zerschunden.
Danny hat es das Herz gebrochen.
Und Terri …
Der Krieg war’s nicht, der sie ihr Leben gekostet hat, denkt Danny. Jedenfalls nicht direkt, auch wenn sie den Krebs nach dem Mord an Pat bekam, ihrem geliebten Bruder, und Danny sich manchmal fragt, ob das der Grund war. Als wäre die Trauer aus ihrem Herzen in ihre Brust gewuchert.
Oh Gott, Danny hat sie geliebt.
In einer Welt, in der die meisten Männer wild herumvögeln, Geliebte oder gumars haben, war Danny nie fremdgegangen. Er war so treu wie ein Golden Retriever, und Terri zog ihn damit auf, obwohl sie Treue von ihm erwartete.
Danny und sie lagen zusammen am Strand, an dem Tag, an dem Pam aufgetaucht und aus dem Wasser gestiegen ist, ihre salzige Haut glänzte in der Sonne. Terri bekam mit, dass Danny die fremde Frau anstierte, und rammte ihm ihren spitzen Ellbogen in die Seite, danach gingen sie zusammen in ihr Ferienhäuschen und liebten sich leidenschaftlich.
Der Sex – mit dem sie vor der Hochzeit lange gewartet hatten, weil sie katholische Iren waren und Terri Pats Schwester – war immer gut. Danny hatte gar nicht das Bedürfnis, sich nach anderen umzusehen, auch nicht, als Terri krank wurde.
Erst recht nicht, als Terri krank wurde.
Bevor sie vollgepumpt mit Morphium ins Koma fiel, waren ihre letzten Worte an ihn:
»Kümmer dich um unseren Sohn.«
»Mach ich.«
»Versprich es mir.«
»Ich verspreche es«, sagte er. »Ich schwör’s.«
Als sie auf der Route 95 durch New Haven fahren, fällt Danny auf, dass die Gebäude mit riesigen Kränzen geschmückt sind. In den Schaufenstern der Geschäfte blinken rote und grüne Lichter. Ein riesiger Weihnachtsbaum ragt vor einem Bürogebäude auf.
Weihnachten, denkt Danny.
Verdammt fröhliche Weihnachten.
Das hatte er ganz vergessen, hatte Liams blöden Heroinwitz verdrängt, von wegen weiße Weihnacht. In einer Woche ist es so weit, denkt Danny. Was zum Teufel spielt das für eine Rolle? Ian ist noch zu jung, um es zu kapieren oder sich was draus zu machen. Vielleicht nächstes Jahr … falls es eins für uns gibt.
Also tu’s jetzt, denkt er.
Hat keinen Sinn, es vor sich herzuschieben, später wird’s nicht besser.
Er verlässt den Highway bei Bridgeport, folgt einer Straße nach Osten bis ans Meer. Oder jedenfalls zum Long Island Sound. Dort fährt er auf einen Parkplatz an einem kleinen Strand.
Innerhalb weniger Minuten biegen die anderen hinter ihm ein.
Danny steigt aus dem Wagen. Er stellt den Kragen seiner dicken Seefahrerjacke auf, die kalte Winterluft tut gut.
Jimmy Mac kurbelt die Scheibe runter. Sie sind seit dem verfluchten Kindergarten Freunde. Jimmy wird mit jedem Jahr dicker, hat inzwischen einen Bauch wie ein Wäschesack, aber er ist der beste Fluchtwagenfahrer der gesamten Branche. Er fragt: »Was ist los? Wieso bist du abgefahren?«
Bring’s hinter dich, denkt Danny. Sag’s einfach, mach’s kurz und schmerzlos. »Jimmy, ich hab das Heroin ins Meer gekippt.«
Jimmy steht der Schock deutlich in sein sanftes, freundliches Gesicht geschrieben. »Was zum Teufel soll das, Danny? Das war unsere Chance! Wir haben unser Leben riskiert für den Stoff!«
Und das hätten wir nicht tun sollen, denkt Danny.
Weil’s ein abgekartetes Spiel war.
Von Anfang an.
Ein Moretti-Captain namens Frankie Vecchio war mit einem Angebot zu ihnen gekommen, das man nicht ablehnen kann. Angeblich würde er eine Lieferung von vierzig Kilo Heroin entgegennehmen, die Peter Moretti auf Kommission von den Mexikanern empfangen sollte. Frankie fürchtete, die Morettis wollten ihn ausschalten, und bot Danny an, die Ware zu kapern.
Danny sah seine Chance, den Morettis den Hahn abzudrehen und den Krieg zu beenden.
Deshalb hab ich mich drauf eingelassen, denkt Danny jetzt.
Wir haben die vierzig Kilo abgeräumt, das war leicht.
Viel zu leicht. Und das war das Problem.
Ein FBI-Agent namens Phil Jardine steckte mit den Italienern unter einer Decke. Ihr Plan sah vor, dass die Murphys die Lieferung abfangen und die Feds sie hochnehmen. Anschließend sollte der Großteil des Heroins zu den Morettis zurückwandern.
Das Ganze war eine Falle, um die Iren auszuschalten.
Und es hat funktioniert.
Wir sind drauf reingefallen, denkt Danny, von vorne bis hinten.
Die Murphys flogen auf, Jardine und die Morettis kassierten den Stoff.
Bis auf die zehn Kilo, die Danny versteckt hatte.
Das war ihr Sicherheitsnetz, das Fluchtgeld, die Kohle, die sie brauchten, um von der Bildfläche zu verschwinden, bis sich die Lage beruhigt hatte.
Nur hat Danny sie jetzt dem Ozean geopfert, dem Meeresgott.
Jimmy starrt ihn an.
Ned Egan tritt ein paar Schritte näher. Martys langjähriger Leibwächter ist inzwischen Mitte vierzig. Gebaut wie ein Feuerhydrant, aber deutlich härter. Mit Ned Egan legt man sich lieber nicht an, man macht nicht mal Witze drüber – durch ihn sind mehr Menschen gestorben als an einem erhöhten Cholesterinspiegel.
Marty bleibt im Wagen, er denkt nicht dran, draußen in der Kälte rumzustehen. Früher machten sich erwachsene Männer in die Hose, wenn sie nur seinen Namen hörten, aber das ist lange her. Jetzt ist er ein alter Sack, meistens betrunken und halb blind vom grauen Star.
Zwei andere Männer kommen dazu.
Sean South ist der Inbegriff eines Iren, nicht mal in einem grünen Koboldkostüm und mit Pfeife im Mund könnte er irischer aussehen. Mit seinen leuchtend roten Haaren, den Sommersprossen und seiner adretten Erscheinung wirkt er so gefährlich wie ein neugeborenes Kätzchen, aber er würde bei gegebenem Anlass ohne zu zögern jemandem ins Gesicht schießen und sich anschließend zufrieden einen Burger und ein Bier genehmigen.
Kevin Coombs vergräbt die Hände tief in den Taschen seiner schwarzen Lederjacke – genau so hat Danny ihn kennengelernt. Schulterlange, ungekämmte Haare, Dreitagebart. Kevin sieht aus wie ein typischer Versager von der East Coast. Mit seiner Sauferei ergibt das die klassische irisch-katholische Alkoholiker-Kombi. Wenn’s ernst wird, ist Kevin aber genau der richtige Mann.
Zusammen kennt man Sean und Kevin als »die Messdiener«. Sie erzählen gern, sie würden das »letzte Abendmahl« servieren.
»Was machen wir hier, Boss?«, fragt Sean.
»Ich hab das Heroin ins Meer geworfen«, sagt Danny.
Kevin blinzelt. Er kann’s nicht fassen, dann verzerrt er wütend das Gesicht. »Willst du uns verdammt noch mal verarschen?«
»Pass auf, was du sagst«, ermahnt Ned ihn. »Du sprichst mit dem Boss.«
»Das waren ein paar Millionen Dollar«, sagt Kevin.
Danny riecht, dass er getrunken hat.
»Wenn wir’s überhaupt losgeworden wären«, sagt Danny. »Ich wusste nicht mal, zu wem wir damit hätten gehen sollen.«
»Liam hätte es gewusst«, meint Kevin.
»Liam ist tot«, sagt Danny. »Der Mist hat uns nur Unglück gebracht. Wahrscheinlich sind die Bullen längst mit Haftbefehlen hinter uns her, von den Morettis ganz zu schweigen.«
»Deshalb brauchen wir ja das Geld, Danny«, erwidert Sean.
»Die werden alle hinter uns her sein. Die Italiener, das FBI …«, meint Jimmy.
»Ich weiß«, sagt Danny. Jardine nicht mehr, denkt er. Die Feds vielleicht, aber der nicht.
Den anderen sagt er das nicht – zu ihrem wie zu seinem Schutz. Besser, sie wissen nichts davon. »Das Heroin war der Beweis. Ich hab’s entsorgt.«
»Ich kann nicht glauben, dass du uns so gefickt hast«, sagt Kevin.
Danny sieht, wie sich Kevins Hand ein Stück aus der Jackentasche schiebt, er weiß, dass er eine Waffe hat.
Wenn Kevin denkt, er kann’s tun, dann tut er’s.
Sean genauso.
Die halten zusammen, die Messdiener.
Aber Danny greift nicht nach seiner eigenen Waffe. Muss er nicht. Ned Egan hat seine schon gezogen. Richtet sie auf Kevins Kopf.
»Kevin«, sagt Danny, »zwing mich nicht, dich auch im Ozean zu versenken. Ich würd’s tun.«
Es steht auf Messers Schneide.
Kann so oder so ausgehen.
Aber dann lacht Kevin. Er wirft den Kopf in den Nacken und johlt. »Zwei Mille ins Wasser gekippt?! Die Feds sind hinter uns her?! Die Italiener?! Die ganze verdammte scheiß Welt?! Das ist so geil! Ich liebe es! Ich bin dabei, Mann! Ich gehör zur Danny-Ryan-Crew! Verdammt, bis zum bitteren Ende!«
Ned lässt die Waffe sinken.
Ein kleines bisschen.
Danny entspannt sich. Ein kleines bisschen. Das Gute an den Messdienern ist, sie sind irre. Und das ist gleichzeitig auch schlecht.
»Okay, wir brauchen hier keine Parade«, sagt Danny. »Verzieht euch in unterschiedliche Richtungen. Wir halten über Bernie Kontakt.«
Bernie Hughes, der alte Buchhalter der Organisation, hat sich in New Hampshire verkrochen, in Sicherheit vor den Feds und den Morettis – zumindest vorübergehend.
»Wird gemacht, Boss«, sagt Sean.
Kevin nickt.
Sie steigen wieder in ihre Autos und fahren los.
Wir sind auf der Flucht, denkt Danny beim Fahren.
Verfluchte Fliehende.
Entflohene.
Im Exil.
Peter Moretti dreht am Rad.
Er wartet auf Chris Palumbo.
Sitzt in der Atwells Avenue in Providence bei American Vending Machine im Büro und wippt mit dem rechten Fuß wie ein Kaninchen auf Speed. Die Büroräume sind bis unter die Decke festlich dekoriert, weil sein Bruder Paulie voll auf die Feiertage abfährt und dieses Weihnachten ja eigentlich total super hätte werden sollen, mit dem Heroingeld und wo sie endlich die Iren los sind. An den Wänden hängt lauter Tannen- und Lametta-Mist, und in einer Ecke steht ein großer silberner Plastikbaum mit eingepackten Geschenken darunter für die Weihnachtsparty.
Vielleicht sollte ich ein paar wieder wegnehmen, denkt Peter, wenn Palumbo nicht auftaucht, sind wir nämlich pleite. Chris Palumbo, sein consigliere, ist unterwegs an die Küste, die zehn Kilo Heroin holen, die Danny Ryan dort in einem Haus versteckt hat. Das ist das Letzte, was er von ihm gehört hat. Und das ist jetzt drei Stunden her. In Rhode Island braucht man nirgendwohin drei Stunden, auch nicht mit Rückfahrt, auf keinen Fall.
Chris ist nicht hier, er hat nicht angerufen.
Die zehn Kilo Heroin kann Peter in den Wind schießen.
Wenn man den Stoff ordentlich streckt, bringen zehn Kilo auf der Straße über zwei Millionen Dollar.
Peter braucht das Geld.
Weil er Schulden hat.
Sozusagen.
Peter hat den Mexikanern vierzig Kilo H für je hunderttausend abgekauft, weil er unbedingt ins Drogengeschäft einsteigen wollte. Leute wie Gotti in New York verdienen sich dumm und dämlich am Dope, und Peter wollte ein Stück vom Kuchen.
Aber natürlich hatte er keine vier Millionen bar herumliegen, also hat er die halbe Mafia in New England mit seinem Bruder abgeklappert und allen gesteckt, dass es Investitionsmöglichkeiten gab. Manche sprangen drauf an, weil sie das Potenzial erkannten, andere, weil sie dem Boss nichts abschlagen wollten. Jedenfalls waren sehr viele Leute an der Lieferung beteiligt.
Und das wäre wunderbar, hätte Peter sich nicht von Chris Palumbo zu einer sehr riskanten Sache überreden lassen.
»Wir schicken Frankie V zu den Iren«, hat Chris gesagt. »Er soll so tun, als wollte er die Seite wechseln. Er steckt ihnen das mit der Heroinlieferung und überredet Danny Ryan, sie abzufangen.«
»Was soll die Scheiße, Chris?«, fragte Peter, was war das für eine beschissene Idee, sich das eigene Dope klauen zu lassen, noch dazu von einer Gang, gegen die man Krieg führt. Verdammt, war Chris am Ende selbst high?
Chris erklärte ihm, er habe einen FBI-Mann an der Hand, Phil Jardine. Der würde die Iren hochgehen lassen, wenn sie sich das Heroin schnappen, und der lange Krieg zwischen Familie Moretti und den Iren wäre beendet.
»Vier Mille sind ein stolzer Preis«, sagte Peter.
»Das Schönste kommt erst noch«, meinte Chris.
Jardine würde einen Teil des Heroins einbehalten, damit es legal aussah, doch das meiste würden sie direkt wieder zurückbekommen. Davon müssten sie Jardine zwar einen fetten Anteil abtreten, aber verschnitten würde der Stoff auf der Straße locker genug einbringen, um den Verlust wettzumachen.
»Win-win«, sagte Chris.
Peter sprang drauf an.
Und alles lief nach Plan.
Jardine beschlagnahmte während einer sehr öffentlichkeitswirksamen Razzia zwölf Kilo Heroin bei den Iren. John Murphy, ihrem Boss, drohen dreißig Jahre bis lebenslänglich in einem Bundesgefängnis.
Gut.
Sein Sohn Liam ist tot.
Noch besser.
Okay, achtundzwanzig Kilo sind ein verdammtes Vermögen wert, davon können alle bezahlt werden.
Nur …
Chris Palumbo und Jardine sollten Danny hochnehmen und dessen zehn Kilo einsacken.
Schön.
Aber …
Seitdem hat man nichts mehr von ihnen gehört oder gesehen. Und Jardine hat angeblich die restlichen achtzehn Kilo.
Peter rechnet weiter.
Es waren vierzig Kilo H.
Offiziell hat Jardine zwölf beschlagnahmt.
Liam hatte drei dabei, als Jardine ihn erwischte.
Danny Ryan ist mit zehn verschwunden.
Frankie Vecchio hat fünf mitgenommen.
Bleiben zehn Kilo.
Peter macht sich deshalb keine großen Sorgen. Jardine hat zwölf angegeben, damit die Regierung zufrieden ist, und die anderen zehn verschwiegen. Wahrscheinlich hat er den Cops bei der Razzia ein bisschen was abgegeben und taucht dann mit dem Rest wieder auf.
Wenn er verdammt noch mal wieder auftaucht.
Und Ryan ist auch weg. Raus aus dem Krankenhaus, wo seine Frau im Sterben lag, irgendwie an Peters Männern vorbei, und seitdem ist er spurlos verschwunden.
Billy Battaglia kommt durch die Tür.
Er wirkt erschüttert.
»Was?«, fragt Peter.
»Ich und ein anderer sind mit Chris los, um das Dope von Ryan zu holen«, sagt Billy. »Chris ist rein, kam aber zehn Minuten später ohne den Stoff wieder raus und hat uns nach Hause geschickt.«
»Was soll der Scheiß?« Peter hat das Gefühl, sein Herz springt aus seiner Brust.
»Ryan hat Killer bei Chris vors Haus gestellt«, sagt Billy. »Wenn Chris ihn nicht abziehen lässt, knallen sie seine komplette Familie ab, hat er gesagt.«
»Wieso ist Chris nicht hier und erzählt mir das selbst?«
»Ist er nicht gekommen?«
»Wenn er da wäre, wieso hättest du’s mir dann erzählen müssen?«, fragt Peter. »Wo ist er?«
»Weiß nicht. Weggefahren.«
Das Telefon klingelt, und Peter zuckt zusammen.
Es ist Paulie. »Hab gerade einen Anruf von einem Cop aus Gilead bekommen. Da wurde eine Leiche am Strand gefunden.«
Peter würde am liebsten kotzen. Ist es Ryan? Chris?
»Jardine«, sagt Paulie. »Mit einer Kugel in der Brust und seiner Waffe in der Hand.«
»Was ist mit Chris?«
»Nichts.«
Peter legt auf.
Das mit Jardine ist ein harter Schlag. Der FBI-Mann hätte ihnen das restliche Heroin übergeben sollen. Und wieso ist Chris abgehauen? Scheiße, hat er einen Deal mit Ryan gemacht? Hat Chris, dieser rothaarige Itaker, sie am Ende alle dreifach verarscht? Würde ihm ähnlich sehen.
Na dann, frohe Weihnachten, denkt Peter.
Wir haben den Krieg gewonnen, aber unser Geld verloren.
All die Jahre haben wir gekämpft, getötet, Leute begraben – und wofür?
Nichts.
Es sei denn, wir finden Danny Ryan.
Danny denkt nicht dran, sich finden zu lassen.
Er fährt nachts, die ganze Nacht. Morgens macht er halt an einem Motel und schläft den Großteil des Tages, oder so lange, wie Ian ihn lässt. Mehr oder weniger täglich klaut er mit Jimmy neue Wagen und Nummernschilder, tauscht sie aus, verschmiert sie mit Dreck. Dann fahren sie ein paar Hundert Meilen damit und lassen die Autos stehen.
Das Ganze wiederholen sie endlos.
Wahnsinnig stressig ist das, er schaut ständig in den Rückspiegel, hält jedes Mal die Luft an, wenn er auf dem Highway einem Polizeiwagen begegnet, und betet, dass er nicht ausschert und sich an ihn dranhängt. Auch an den Tankstellen ist er angespannt – guckt der Mann an der Kasse komisch, mustert er ihn, flackert Angst in seinem Blick?
Er entscheidet sich für Motels an den Stadträndern, wo man keine Fragen stellt, wo man nichts sieht und sich an noch weniger erinnert.
Das Komische ist, dass Danny so eine Reise immer schon mal machen wollte. Er ist nie aus New England rausgekommen und hat davon geträumt, mit Terri und Ian quer durchs Land zu fahren, was Neues zu sehen, was Neues zu erleben.
Aber bei Tag wie ein echter Mensch.
Nicht nachts wie ein Tier.
Trotzdem hat so ein Roadtrip was Romantisches.
Danny findet die Namen auf den Ausfahrtschildern aufregend, die ihm begegnen, während er Meile um Meile abreißt, die Radiosender wechseln und die Distanz zu Rhode Island immer größer wird – Baltimore, Washington, D.C., Lynchburg, Bristol.
Das ist der verfluchte amerikanische Traum, denkt Danny beim Fahren. Der Roadtrip, der Treck gen Westen. Sie fahren in großen Abständen zueinander, verteilen sich über viele Meilen, halten zwischendurch an Telefonzellen und melden sich bei Bernie, um sich untereinander abzustimmen. Alle paar Tage treffen sie sich in einem billigen Motel, fühlen sich zusammen sicherer, falls die italienischen Apachen auftauchen.
Nicht ganz einfach das alles, mit einem Baby und einem alten Mann mit schwacher Blase. Sie müssen viel zu häufig anhalten, jedes Mal ist es ein Risiko. Manchmal fährt Marty mit Jimmy Mac, meistens sitzt er bei Danny im Wagen, trinkt aus einer Flasche, singt oder quatscht, erzählt Danny Geschichten vom Krieg aus der guten alten Zeit in San Diego – »Dago«, wie er die Stadt nennt –, über die Bars, die Frauen, die Schlägereien dort.
Danny ist so schnell aus Rhode Island weg, dass er sich gar nicht überlegt hat, wohin er will, aber jetzt hat er viele unausgefüllte Stunden, um darüber nachzudenken. Kalifornien wollte er immer schon mal sehen und hat sogar mit Terri darüber gesprochen, dorthin zu ziehen, aber sie hat es immer als Hirngespinst abgetan.
Jetzt scheint es eine gute Idee zu sein. Mehr Abstand zu Rhode Island als in San Diego bekommt man nirgendwo, und Marty würde sich tierisch freuen, also warum nicht?
Aber erst mal müssen wir hinkommen, denkt Danny.
Vor ihnen liegt noch ein weiter Weg.
Danny findet ein Motel nicht weit vom Highway und hängt sich ans Telefon.
Vor dem Krieg mit den Morettis hatte er ein gutes Verhältnis zu Pasco Ferri. Der alte New-England-Boss und er sind immer zusammen zum Krabbenfischen gegangen, und im Sommer haben Danny und Terri vor Pascos Haus am Strand gelegen.
Und Pasco und Marty kennen sich seit Ewigkeiten.
»Pasco, hier ist Danny Ryan.«
»Hab von Terri gehört«, sagt Pasco. »Mein Beileid.«
»Danke.«
Langes Schweigen, dann: »Was kann ich für dich tun, Danny?«
Danny fällt auf, dass Pasco ihn nicht fragt, wo er ist. »Ich muss wissen, ob du ein Problem mit mir hast, Pasco.«
»Peter Moretti findet, ich sollte eins haben.«
Danny bleibt die Luft weg. »Und?«
»Ich bin nicht zufrieden mit Peter«, sagt Pasco. »Er hat sich auf Drogen eingelassen – obwohl ich dagegen war –, und jetzt steckt er in Schwierigkeiten. Seinetwegen haben viele Leute sehr viel Geld verloren, und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
Danny denkt, das heißt, Peter steht gewaltig unter Druck, Pasco kann nichts dagegen tun, und eigentlich will er auch gar nicht.
»Also ist zwischen uns beiden alles in Ordnung?«, fragt Danny. »Ich bin raus aus der Sache, ich will, dass du das weißt. Ich muss nur irgendwo einen Platz finden, wo ich mich niederlassen kann.«
»Du bist raus?«, fragt Pasco. »Wie kannst du raus sein, wenn du zehn Kilo banania im Kofferraum mit dir herumfährst? Das ist eine Sünde, eine infamnia.«
»Ich hab den Stoff nicht.«
»Verkauf mich nicht für blöd.«
»Ist die Wahrheit, Pasco«, sagt Danny.
Schweigen.
»Die Morettis haben den Krieg gewonnen«, sagt Danny. »Das hab ich kapiert und akzeptiert, ich muss nur irgendwie leben können. Wenn du hinter mir her bist, Pasco, bin ich ein toter Mann.«
»Hör auf zu jammern«, sagt Pasco. »Das ist unmännlich. Deine Probleme mit Peter sind deine Probleme mit Peter. So wie ich es sehe, hat Chris Palumbo das H.«
»Danke, Pasco.«
»Deinem Vater zuliebe«, sagt Pasco. »Nicht dir.«
»Verstanden.«
»Du hast dein Leben«, sagt Pasco. »Kannst neu anfangen. Was aufbauen für deinen Sohn, so wie ein Mann das macht.«
Er legt auf.
Danny fasst das Gespräch für Marty zusammen.
»Das ist gut«, sagt Marty. »Wenn wir uns wegen Pasco keine Sorgen machen müssen, passiert uns auch nichts.«
Kann sein, denkt Danny.
Aber Peter Moretti wird nicht lockerlassen, er wird versuchen, uns ausfindig zu machen, und ob nach uns gefahndet wird, wissen wir auch noch nicht.
Danny lässt Ian eine halbe Stunde fernsehen, dann bringt er ihn ins Bett und liest ihm eine Geschichte über einen Farmer vor, die Danny schon auswendig kann, so oft will Ian sie hören.
Heute Abend schläft Ian schnell ein.
In einem Besprechungszimmer beim FBI in Boston erscheint auf einem Bildschirm eine unscharfe Aufnahme von Ryan.
Brent Harris ist nicht gerade begeistert, er hat einen Nachtflug nehmen müssen, nachdem man ihn aus dem sonnigen San Diego ins eiskalte New England beordert hatte. Dabei ist er nicht mal beim FBI, sondern bei der DEA, Agent der Southwest High Intensity Drug Trafficking Area Task Force. Aber seine Chefs hatten ihn ermahnt und gebeten, den Kollegen vom FBI gegenüber nett und freundlich aufzutreten, also ist Harris nett und freundlich.
Er betrachtet das Überwachungsfoto von Danny Ryan, denn offenbar ist er der Anlass dieser agenturübergreifenden Riesenscheiße. Ryan ist gut über eins achtzig groß und hat breite Schultern, wie man sie bei einem ehemaligen Hafenarbeiter erwartet, dazu zerzaustes braunes Haar und dunkelbraune Augen, denen man anmerkt, dass sie Dinge gesehen haben, die sie lieber nicht gesehen hätten. Das Foto wurde im Winter aufgenommen – Ryan trägt eine alte Seefahrerjacke mit hochgestelltem Kragen.
Ein kleiner weißer Pfeil schmiegt sich an Ryans Kinn, als Reggie Moneta, die jüngst zur stellvertretenden Leiterin der Abteilung für Organisierte Kriminalität innerhalb des FBI befördert wurde, sagt: »Ich will, dass Ryan gefunden wird. Ich will, dass er gefunden und zur Vernehmung hergebracht wird.«
Moneta ist eine von diesen ständig unter Strom stehenden kleinen Sizilianerinnen, denkt Harris. Ungefähr eins fünfundsechzig groß, kurze schwarze Haare, leicht silbermeliert, dunkelbraune Augen. Und dazu hat sie den wohlverdienten Ruf einer echten Furie. Bis vor Kurzem arbeitete sie noch in Boston, hat also ein persönliches Interesse an der ganzen Scheiße.
Bill Callahan, der für New England zuständige Special Agent, ist dagegen ein typischer Bostoner Ire – käsige Visage, rote, fast rostfarbene Haare, geplatzte Äderchen auf der Nase und eine breite, bullige Statur. Er sieht aus, als wäre er sein Leben lang an keinem Scotch oder Steak vorbeigekommen. »Danny Ryan? Der hat nur vermittelt, war für die Drecksarbeit zuständig. Wieso unterhalten wir uns über ihn?«
Moneta sagt: »Ich halte ihn für Phil Jardines Mörder.«
»Wir haben nichts, das Ryan mit dem Mord an Agent Jardine in Verbindung bringt«, widerspricht Callahan.
Moneta dreht sich zu Harris um. »Brent?«
Harris überspielt seine Gereiztheit nach dem langen Nachtflug (zu allem Überfluss Economy) und fasst zusammen, was sie längst wissen. »Abbarca und seine Organisation in Tijuana schickten eine große Lieferung Heroin an Peter Moretti nach Providence. Domingo Abbarca – der ›Popeye‹ genannt wird, weil er bei einer Schießerei mit einem rivalisierenden Drogenhändler ein Auge verlor – ist eine ganz üble Nummer, ein sadistischer Psychopath, der tonnenweise Gras, Koks und Heroin in die Vereinigten Staaten verschifft.
Agent Jardines Informant Francis Vecchio hat ihn auf die Lieferung aufmerksam gemacht. Anscheinend aber hat Vecchio sich mit Danny Ryan und Liam Murphy heimlich darauf verständigt, diese abzufangen.
Wie Sie wissen, leitete Jardine eine Razzia in dem von Murphy geführten Glocca Morra und beschlagnahmte dort zwölf Kilo Heroin. Es heißt, Ryan habe bei seiner Flucht zehn Kilo mitgenommen. Agent Jardine wurde wenig später tot am Strand in der Nähe des Hauses von Ryans Vater gefunden, einem Ort, den Ryan häufig aufgesucht hat.«
Moneta sagt: »Wir dürfen davon ausgehen, dass Jardine dort hingefahren ist, um Ryan festzunehmen, und dieser ihn ermordet hat.«
»Das ist ganz schön aus der Luft gegriffen, Reggie«, meint Callahan.
»Genügt aber, um Ryan zur Vernehmung vorzuladen«, erwidert Moneta.
»Selbst wenn wir ihn finden würden, sind wir sicher, dass wir das wollen?«, fragt Callahan. Er beugt sich vor. »Sprechen wir doch aus, was keiner sagen will: Jardine war korrupt.«
»Das wissen wir nicht«, sagt Moneta.
»Nein?«, fragt Callahan zurück. »Im Kofferraum seines Wagens lagen drei Kilo Heroin.«
Moneta sagt: »Vielleicht war er gerade auf dem Weg, es registrieren zu lassen, als er Informationen über Ryans Aufenthaltsort bekam.«
»Und dann ist er allein hingefahren?«, fragt Callahan. »Kommen Sie, Harris. Wie viele Kilo hat Abbarca den Morettis verkauft?«
»Unsere Quellen sprechen von vierzig.«
»Vierzig«, sagt Callahan. »Abzüglich der zwölf, die Jardine offiziell als beschlagnahmt gemeldet hat, sind das achtundzwanzig. Abzüglich der drei, die wir in seinem Kofferraum gefunden haben, fünfundzwanzig. Vecchio hat seine fünf bei der Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm übergeben. Mal angenommen, Ryan ist mit zehn verschwunden. Wo sind dann die verbliebenen zehn?«
»Wollen Sie behaupten, Jardine hat sie unterschlagen?«, fragt Moneta. »Er ist mit einem Einsatzkommando in die Kneipe – Leute vom FBI, der DEA, der staatlichen und der bundesstaatlichen Polizei. Da waren überall Zeugen.«
»Wäre nicht das erste Mal«, sagt Callahan, »dass Cops Drogen abzweigen, bevor sie in die Asservatenkammer gelangen. Ich frage ja nur, ob wir das wirklich im grellen Licht der Öffentlichkeit hervorkramen wollen? Ich denke, wenn sich die Aufregung gelegt hat, sollten wir lieber nicht weiter daran rühren.«
»Ein FBI-Agent wurde ermordet«, sagt Moneta. »Das können wir nicht auf sich beruhen lassen. Morgen wird Ryans Frau beerdigt. Ich will, dass wir die Feier beobachten.«
»Denken Sie, Ryan lässt sich blicken?«, fragt Callahan.
»Nein«, erwidert Moneta, »aber wenn doch, sind wir da. Außerdem will ich die Familie nach seinem Aufenthaltsort fragen.«
»Sie verlangen von uns, dass wir diese Leute behelligen«, sagt Callahan. »Die begraben ihre Tochter.«
»Ich verlange von euch, dass ihr euren Job macht«, entgegnet Moneta.
Sie ist noch keine fünf Sekunden zur Tür raus, als Callahan schon loskotzt. »Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber meine Leute und ich haben genug Scheiße an der Backe, ohne dass wir alles stehen und liegen lassen müssen, um einen längst abgemeldeten Iren zu suchen. Ich tauch da auf, zieh das Programm durch. Aber ich werde weder mein Budget belasten noch etwas anderes auf die lange Bank schieben, nur um Reggie Moneta einen feuchten Traum zu erfüllen.«
Harris fragt: »Wieso ist Moneta denn so scharf auf Ryan?«
»Sie hatte was mit Phil Jardine.«
»Ach du Scheiße«, erwidert Harris.
»So eine Route-95-Affäre«, sagt Callahan. »Sie war in Boston, er in Providence. Als sie den Ruf nach Washington bekommen hat, sind sie in den Zug gestiegen und haben sich in Wilmington getroffen.«
»In Wilmington?«
»Die Liebe geht seltsame Wege.«
»Glauben Sie, Ryan hat Jardine erschossen?«, fragt Harris.
»Wen interessiert’s?«, antwortet Callahan. »Wenn er korrupt war, hat er’s verdient.«
»Trotzdem fragt man sich …«
»Ob Moneta zusammen mit ihrem Liebhaber an dem Drogen-Coup beteiligt war?«, sagt Callahan. »Ich glaub’s kaum, dann würde sie doch jetzt nicht Jagd auf Ryan machen. Ich hab ihr praktisch eine goldene Brücke gebaut, ihn abzuschreiben. Ich kenne Reggie Moneta, seit sie bei der Verkehrsstreife war. Sie ist ehrgeizig, aber sauber.«
Harris verlässt die Besprechung mit einem einzigen Ziel.
Er muss Danny Ryan finden, bevor Reggie Moneta es tut.
Ein Motel am Stadtrand von Little Rock.
Kevin und Sean haben ein paar Frauen aufgegabelt. Oder die Frauen sie, wie auch immer. Die Messdiener haben sich für ein paar Stunden aufs Ohr gehauen und sind anschließend auf der Suche nach Bier und Sex in eine Bar auf der anderen Seite des Highways gezogen, wo sie beides finden.
Linda, Kelli und Jo Anne sind hier Stammgäste, das merkt man sofort, und die drei freuen sich, mal ein paar andere Typen kennenzulernen, statt der sonst üblichen »Brummi-Bonzen, Asphalt-Cowboys und Laster-Larrys«. Es dauert keine achtundfünfzig Sekunden, bis sie zu den Jungs an den Billardtisch kommen und mitspielen, anschließend trinken sie noch ein paar Kurze mit ihnen am Tisch. Linda kommt auf die Idee, eine »Party« zu feiern.
»Habt ihr ein Zimmer im Motel?«, fragt sie – circa Mitte dreißig, dunkelrote Haare, hübsche Titten unter einer lila Seidenbluse.
»Wir haben sogar jeder eins«, erwidert Kevin.
»Lasst uns Party machen«, sagt Linda.
»Zahlenmäßig haben wir aber ein kleines Problem, oder?«, meint Sean. »Ihr seid zu dritt, wir sind nur zu zweit.«
Linda schüttelt den Kopf. »Kelli und ich sind ein Team.«
Kelli ist eine kleine sexy Blondine, dem Aussehen nach Mitte zwanzig.
Sean wird rot. »Ich bin bloß ein kleiner irisch-katholischer Junge …«
Linda dreht sich zu Kevin um, fährt mit der Hand seinen Oberschenkel entlang und knetet seinen Schwanz. »Aber du bist kein kleiner irisch-katholischer Junge. Dir gefällt meine Idee, das merke ich doch.«
Und so ist es.
Kevin verschwindet mit seinem Team, und Sean nimmt Jo Anne mit auf sein Zimmer. Sie ist klein und schwarzhaarig, ein bisschen mollig, aber Sean gefallen ihre dicken Titten, die vollen Lippen und ihr süßer Hundeblick. Er ist zufrieden.
Kevin und sein Team machen Party.
Die allerdings abrupt endet, als er Linda ins Höschen greift und einen Schwanz in der Hand hält. »Ach du Scheiße?!«
»Was ist los?«, fragt Linda.
»Du bist los, verdammt noch mal«, erwidert Kevin. »Du bist ein Typ!«
»Nur körperlich«, meint Linda. »In tiefstem Herzen nicht.«
»Okay, aber mir geht’s um deinen Körper«, sagt Kevin. »Macht, dass ihr hier rauskommt.«
»Erst, wenn du uns bezahlst.«
»Wer hat was von Bezahlen gesagt?«
»Hast du gedacht, du bekommst was umsonst?«, fragt Linda.
»Wir haben nicht mal was gemacht!«
»Unsere Zeit hat auch ihren Preis.«
»Verzieht euch ganz schnell, bevor ihr Prügel kassiert«, droht Kevin.
»Gib mir mein Geld, du Arschloch!«
Jetzt kommt Sean aus dem angrenzenden Zimmer gerannt, er hat ebenfalls eine Entdeckung gemacht. »Kev, das sind Kerle!«
»Sag bloß!«
»Ich will mein Geld!«
Danny hört das Geschrei in seinem Zimmer. Krach ist das Letzte, was er gebrauchen kann. Er tritt auf den Gang und sieht Kevin mit freiem Oberkörper in der Tür seines Zimmers stehen, die Jeans hängt ihm offen auf der Hüfte, an seiner Hand zappelt eine Frau. Sie kreischt ihn an und krallt mit ihren Nägeln nach seinem Gesicht, während ihm eine kleinere Blondine ans Schienbein tritt.
Danny springt die Betonstufen vor seinem Zimmer hinunter, durchquert den Hof und rennt auf der anderen Seite die Stufen rauf zu Kevins Tür.
»Was ist hier los?«, fragt er.
»Der Hurensohn will mich nicht bezahlen«, sagt Linda.
»Die ist ein Er«, erwidert Kevin.
»Bezahl die Frau«, sagt Danny zu Kevin.
Irgendwas an Dannys Blick, an seinem Tonfall veranlasst Kevin, das ohne weitere Widerworte zu tun. Er zieht ein paar Scheine aus seiner Brieftasche und wirft sie Linda hin.
»Nimm das Geld und geh«, sagt Danny zu ihr.
Linda hebt das Geld auf.
Kevin kann’s nicht lassen. »Freak.«
Das Messer fährt blitzschnell aus ihrer Handtasche. Sie will Kevin damit an die Kehle. Er weicht aus und setzt noch was drauf: »Tunte. Schwuchtel.«
»Halt die Klappe«, fährt Danny ihn an.
Linda fängt an zu kreischen, und Kelli steigt mit ein.
Jimmy schaut ihnen vom Hof aus entgegen.
»Hol meinen Vater und Ian und fahrt los«, befiehlt Danny. »Ich komm mit den Pennern hier nach.«
»Verpisst euch«, zischt Linda. »Und nehmt die blöde Hackfresse hier mit. Den geizigen Wichser. Der Loser wird sein Leben lang mit Plastikgabeln von Papptellern essen.«
Danny hebt beide Hände. »Wir fahren ja schon. Wollt ihr nicht auch los, bevor die Cops kommen?«
Linda nimmt Kelli an der Hand und führt sie die Stufen hinunter. Jo Anne drückt Sean einen Kuss auf die Wange und folgt ihnen. Kevin geht zurück in sein Zimmer.
Danny und Sean folgen ihm.
»Verfluchte Scheiße«, sagt Kevin, »bei solchen Freaks kann’s einem echt anders werden.«
Danny packt ihn an den Schultern und rammt ihn an die Wand. »Ich hab schon ein Kind, um das ich mich kümmern muss, ich brauch kein zweites. Wegen dir hätten wir um ein Haar Ärger mit den Cops bekommen.«
»Tut mir leid, Danny.«
»Ich will meine Familie schützen«, sagt Danny, »und du wirst mir dabei nicht in die Quere kommen. Ich hab dich echt gern, Kevin, aber wenn du meine Familie noch einmal in Gefahr bringst, jag ich dir zwei Kugeln in den Kopf. Hast du das kapiert?«
»Ja, Danny.«
Danny lässt ihn los und sieht beide Messdiener an. »Schaltet euren Verstand ein. Haltet euch fern von so was.«
»Machen wir«, sagt Sean. »Ich passe auf.«
»Packt euren Kram.«
Danny geht zur Rezeption. Der Nachtportier guckt ihn genervt an. Danny zieht einen Hunderter aus der Tasche – einen Hunderter, den er eigentlich dringend braucht, verfluchte Scheiße – und schiebt ihn über den Tresen.
»Entschuldigung wegen der Umstände. Alles in Ordnung?«
Der Typ steckt den Schein ein. »Alles in Ordnung.«
»Ich muss das wissen, mein Freund. Hast du die Cops gerufen?«
»Nein.«
»Schönen Tag noch.«
Zehn Minuten später ist Danny wieder unterwegs Richtung Westen.
Oklahoma City, Amarillo, Tucumcari …
Albuquerque, Grants, Gallup …
Winslow, Flagstaff, Phoenix …
Einmal quer durch Amerika.
Cassandra Murphy steht am Grab ihrer Schwester und zittert trotz Mantel. Schneeflocken fallen und schmelzen auf ihrem bernsteinfarbenen Haar, das aus dem hochgestellten Kragen quillt.
Zwei Beerdigungen in zwei Tagen, denkt sie. Das ist sogar für die Murphys und deren Verhältnisse ungewöhnlich.
Gestern wurde ihr Bruder Liam begraben. Der schöne, schwierige, egoistische Liam, er hat den ganzen Ärger losgetreten. Die Polizei behauptet, es sei Selbstmord gewesen, eine Kugel im Kopf, aber Cassie glaubt nicht dran – Liam war viel zu selbstverliebt, um sich was anzutun.
Dass sein Tod als Suizid gilt, hat aber für ein Problem gesorgt, weil die verfluchte Kirche Liam deshalb nicht in geweihter Erde bestatten wollte. Cassie musste zum Priester gehen und ihm erklären, wie viel Geld die Familie Murphy der Gemeinde spendet und wie viel sie ihr nicht mehr spenden würde, wenn Liam nicht auf ewig dort ruhen dürfte und der Priester keine heiligen Worte sprechen und kein Weihwasser verspritzen würde.
Cassie wurde katholisch erzogen, ist inzwischen aber aus dem Verein ausgetreten. Inzwischen bezeichnet sie sich als Baddhist – als schlechte Buddhistin –, das ist Teil ihrer Suche nach einer höheren Macht, jetzt wo sie wieder zum Entzugsprogramm gehen wird.
Sie ist auf Heroin.
Fast drei Jahre war sie weg davon, aber dann wurde innerhalb weniger Stunden erst ihr Vater ins Gefängnis verfrachtet, ihre Schwester starb, und ihr Bruder Liam erlag einem »Selbstmordversuch mit Fremdeinwirkung«.
Cassie hängt wieder an der Nadel.
Heute Morgen hat sie sich einen Schuss gesetzt, nur um zu Terris Beerdigung gehen zu können, und wahrscheinlich wird sie heute Nachmittag noch mal nachlegen, aber danach hört sie auf. Sie geht nicht noch mal in die Klinik – davon hat sie genug –, aber zu den Treffen will sie, weil es sie sonst umbringt, und ihre Eltern können keinen weiteren Verlust verkraften.
Cassie ist ihr einziges noch lebendes Kind.
Patrick – ihr geliebter Bruder Pat, ihr älterer Bruder, Beschützer und Vertrauter – ging als Erster. Er war der Beste von ihnen – mutig, ehrlich, gottesfürchtig, loyal. Aber all das hat ihn nicht davor bewahrt, ermordet zu werden. Nach seinem Tod ist sie lange clean geblieben, vor allem ihm zu Ehren.
Cassie schaut rüber zu Sheila, seiner Witwe, sie steht hinter ihrem kleinen Jungen, hat die Hände auf seine Schultern gelegt, ihr dickes Haar ist so schwarz wie ihr Mantel. Sheila war immer die Zuverlässige, die Praktische, die Anführerin unter den Frauen dieser eng miteinander verwobenen Sippe. Jetzt ist sie einsam. Cassie wollte sie überreden, sich wieder mit Männern zu verabreden, aber Sheila denkt nicht im Traum daran. Als hätte sie ihren toten Ehemann auf einen Sockel erhoben – das ganze Haus ist praktisch ein Schrein zu seinen Ehren, und sie trägt ihre Einsamkeit pflichtbewusst wie einen Würdenmantel.
Liams Beerdigung war ein Albtraum.
Ihre Mutter Catherine klagte untröstlich wie eine Todesfee. Liam war immer ihr Liebling gewesen, ihr kleiner Junge, und sie mussten sie von seinem Sarg wegziehen, bevor sie ihn in die Erde hinunterließen.
Ihr Vater stand einfach nur da, hatte diskret den Mantel über seine mit Handschellen gefesselten Hände gelegt. Ein Richter – glücklicherweise ein Ire – hatte John Hafturlaub gewährt, ihm mehrere Stunden in Freiheit zugestanden, um an den Beisetzungen seines Sohns und seiner Tochter teilzunehmen. Dabei wurde er ununterbrochen von zwei Polizisten flankiert.
Cassie sieht jetzt zu ihm rüber.
Er ist immer noch derselbe alte Dad, denkt sie – stoisch, zu stolz, um Gefühle zu zeigen. Aber er sieht alt aus, gebrechlich, ein gebrochener Mann. Sein Unternehmen wurde zerstört, drei seiner vier Kinder sind tot, und Cassie fragt sich unwillkürlich, was ihn stärker schmerzt.
Und die arme Terri, denkt sie.
Sie wollte nie mehr als ein Heim und eine Familie. Beides hat sie bekommen, aber nur für sehr kurze Zeit. Sie heiratete den lieben, treuen Danny, bekam einen süßen kleinen Jungen und nur wenige Monate später die Diagnose.
Soll der Priester ruhig von seinem liebenden Gott schwafeln.
Alles Bullshit.
Die Beerdigung ist gut besucht wie die von Liam.
Alle Iren sind hier. Früher wären auch die Italiener erschienen, aber das kommt ihr jetzt vor wie aus einem anderen Leben. Terri war mit allen befreundet, mit den Moretti-Brüdern, Chris Palumbo – mit allen.
Sie sind nicht auf der Beerdigung, und das ist gut so.
Alles andere wäre reine Provokation.
Stattdessen sieht Cassie ein paar Autos die Straße am Friedhof auf und ab fahren, und sie weiß, dass es Peter Morettis Leute sind, die nach Danny Ausschau halten.
Auch die Cops sind hier.
Polizei aus Providence, State Trooper in Zivil und FBI-Agenten stehen wie Schakale am Rand des Friedhofs und warten darauf, dass Danny sich blicken lässt.
Sie hofft, er tut’s nicht. Wenn Danny wirklich abhauen konnte, dann bleibt er hoffentlich auch fort, ist längst mit Ian über alle Berge und kehrt nie wieder an diesen verfluchten Ort oder zu dieser verfluchten Familie zurück.
Seine Mutter ist hier, sie erweist ihrer Schwiegertochter die letzte Ehre.
Madeleine, die Sexgöttin, denkt Cassie, als sie Dannys Mutter stolz und elegant dort stehen sieht. Das ehemalige Showgirl hat seine Schönheit benutzt, um an Reichtum und Macht zu gelangen, und ist jetzt eigens aus Las Vegas angereist.
Schon als Kind wusste Cassie, dass der kleine Danny von seiner Mutter im Stich gelassen wurde, sie ihn seinem versoffenen Vater überlassen hatte und verschwunden war. Danny ist praktisch bei den Murphys aufgewachsen, und Pat war wie ein Bruder für ihn.
Madeleine ist erst vor wenigen Jahren wieder aufgetaucht, sie kam angerauscht, als Danny angeschossen wurde, besorgte und bezahlte ihm die beste medizinische Versorgung. Ihr Sohn hasste sie dafür, aber Terri schloss ihre Schwiegermutter ins Herz und drängte Danny, sich mit ihr zu versöhnen.
Jetzt ist Madeleine krank vor Sorge um ihren verschwundenen Sohn und Enkel.
Cassie schaudert erneut.
Ihre Schultern beben, und sie weiß nicht genau, ob’s an der Kälte liegt oder ob sie einen Schuss braucht.
Endlich ist die Zeremonie zu Ende.
Madeleine McKay geht zu der wartenden Limousine. Sie ist groß, majestätisch, hält den Kopf hocherhoben, ihr auffallend rotes Haar trägt sie streng zurückgebunden, sie ist perfekt geschminkt, dezent.
Die Beerdigung war so furchtbar traurig, denkt sie. Terri wäre ihrem Sohn eine gute Frau gewesen und ihrem Enkel eine gute Mutter.
Madeleine hat nichts mehr von Danny gehört, seit sie ihn wenige Stunden vor Terris Tod im Krankenhaus angerufen und gedrängt hat, vor einer möglichen Strafverfolgung und der blutgierigen italienischen Mafia zu fliehen.
Offenbar ist ihm das gelungen, mitsamt seinem Sohn und seinem Vater, denn seither wurde keiner der drei gesehen.
Gott sei Dank wurden auch keine Leichen gefunden.
Nur die von Jardine.
Madeleine hofft, dass Danny sich bei ihr meldet, und sei’s auch nur, um ihr zu sagen, dass es ihm und Ian gut geht.
Aber sie bezweifelt es.
Mein Sohn, denkt sie, ist immer noch wütend auf mich.
Sie ist fast schon am Wagen, als ein Mann in Anzug und Mantel sie anspricht. »Ms. McKay?«
»Ja?«
»Agent Monroe, FBI.«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
Als sie sich umsieht, entdeckt sie, dass FBI-Agenten sich auf die Murphys und ihre Freunde stürzen wie Möwen auf einen vollen Sack mit Essensabfällen.
»Wissen Sie, wo Danny ist?«, fragt Monroe. »Hat er Sie angerufen?«
»Wenn Sie Fragen haben«, sagt Madeleine, ohne stehen zu bleiben, »kontaktieren Sie meine Anwälte. Wenn Sie mir hier weitere Fragen stellen, melden meine Anwälte sich bei Ihnen.«
»Wissen Sie …«
»Oder vielleicht sollte ich doch lieber Ihren Direktor persönlich anrufen«, sagt Madeleine. »Ich habe seine Privatnummer.«
Das war’s.
Monroe zieht sich zurück.