Clarissa - Stefan Zweig - E-Book

Clarissa E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

Mit einem Nachwort von Knut Beck. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. In seinem letzten erzählerischen Werk beschreibt Stefan Zweig suggestiv im Psychologischen und eindringlich im Atmosphärischen das Leben Clarissa Schuhmeisters. Tochter eines österreichischen Offiziers, wird sie durch Kriegs- und Nachkriegszeit um ihr Glück gebracht. Das gemeinsame Kind mit einem Franzosen hat mit Ausbruch des Kriegs plötzlich einen Feind zum Vater, das Paar muss sich trennen. Clarissas Vernunftehemann entpuppt sich als charakterloser Spekulant, der Vater unterschlägt die Briefe des verlorenen Geliebten … Stefan Zweig hat nur den ersten Teil dieses Romans skizziert. Der Herausgeber legt mit seiner Bearbeitung des Entwurfs eine geschlossene, wenn auch naturgemäß nicht in jedem einzelnen Satz authentische Fassung vor.

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Stefan Zweig

Clarissa

Ein Romanentwurf

Aus dem Nachlaß herausgegebenund bearbeitet von Knut Beck

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Knut Beck

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Inhalt

1902–1912Sommer 19121912–1914Juni 1914Juli 1914September, Oktober, November 1914November, Dezember 1914Dezember 19141915–191819191919–19211921–1930AnhangZur EditionTranskriptbeispiel 1Transkriptbeispiel 2Nachbemerkung des HerausgebersDaten zu Leben und WerkStefan Zweig

1902–1912

Wenn Clarissa in späteren Jahren sich bemühte, ihr Leben zu besinnen, wurde es ihr mühsam, den Zusammenhang zu finden. Breite Flächen schienen wie von Sand überweht und völlig undeutlich in ihren Formen, die Zeit selbst darüberhinschwebend, unbestimmt wie Wolken und ohne richtiges Maß. Von ganzen Jahren wußte sie sich kaum Rechenschaft zu geben, indes einzelne Wochen, ja sogar Tage und Stunden gleichsam wie gestern geschehen noch Gefühl und inneren Blick beschäftigten, manchmal war ihr, mutete es sie an, als hätte sie nur einen geringen Teil mit wachem und beteiligtem Gefühl hingebracht und den andern verdämmert in Müdigkeit oder leerer Pflicht.

Am wenigsten wußte sie im Gegensatz zu den meisten Menschen von ihrer Kindheit. Durch besondere Umstände hatte sie nie ein richtiges Heim und familiäre Umwelt gekannt. Ihre Geburt hatte in dem kleinen galizischen Garnisonstädtchen, dem ihr Vater, damals nur Hauptmann des Generalstabs, zugeteilt war, zufolge einer unglücklichen Verkettung von Umständen der Mutter das Leben gekostet; der Regimentsarzt hatte an der Grippe niedergelegen, durch Schneeverwehung kam der von der Nachbarstadt telegrafisch berufene zu spät, um die dazugetretene Lungenentzündung noch erfolgreich bekämpfen zu können. Mit ihrem um zwei Jahre älteren Bruder wurde Clarissa gleich nach der Taufe in der Garnison zur Großmutter gebracht, einer selbst schon hinfälligen Frau, die mehr Pflege forderte, als sie geben konnte; nach deren Tode warf man sie zu einer älteren Stiefschwester ihres Vaters, während der Bruder zu der jüngeren kam. Mit den Häusern und in den Häusern wiederum wechselten die Gesichter, die Gestalten der Dienstboten, die sie betreuten, deutsche, böhmische, polnische; nie blieb Zeit, sich zu gewöhnen, sich anzuschließen, anzuwärmen, einzugewöhnen; noch war die erste Verschüchterung nicht überwunden, als dann 1902, in ihrem achten Jahre, ihr Vater als Militärattaché nach Petersburg geschickt wurde; da beschloß der Familienrat, im Bestreben für sie beide mehr Stabilität zu suchen, den Sohn in die Kadettenschule und sie in das Internat einer nahe bei Wien gelegenen Klosterschule zu geben; von ihrem Vater, den sie nur selten gesehen, blieb ihr im Gedächtnis wenig haften, erinnerte sie sich aus jenen Tagen eigentlich, mehr als an sein Gesicht und seine Stimme, an die strahlend blaue Uniform mit den klingenden runden Orden, mit denen sie gerne gespielt hätte, wenn er nicht ihr strenge, um sie zu erziehen, die kindlich kleine Hand, ebenso bei ihrem Bruder, von diesen Würdezeichen weggezogen, – von dem Bruder an das offene Matrosenkleid und das glattfallende lange blonde Haar, auf das sie ihm ein bißchen neidisch gewesen.

In der Klosterschule verbrachte Clarissa die nächsten zehn Jahre, das Jahrzehnt von ihrem achten bis knapp zum achtzehnten Jahr. Daß sie von einer so weiten Frist gleichfalls so geringe Erinnerungen bewahrte, verschuldete bis zu einem gewissen Grade eine Eigenschaft ihres Vaters. Leopold Franz Xaver Schuhmeister, der während dieser Zeit allmählich zum Oberstleutnant im Generalstab, der hohen Charge, aufstieg, galt in den höheren militärischen Kreisen als einer der geschultesten und kenntnisreichsten Taktiker und Theoretiker, wenn sich auch dem ehrlichen Respekt vor seinem Fleiß, seiner Verläßlichkeit und weiten Übersicht ein leicht ironischer Unterton beimengte; im intimeren Gespräch nannte ihn der Oberkommandant immer leise lächelnd »Unser Statisticus«. Denn Schuhmeister, ein zäher, verbissener Arbeiter, ziemlich scheu und ungelenk unter dem Anschein äußerer Härte, sah im Aufbau eines systematisch angelegten Informationsdienstes die Vorbedingung kriegerischen Erfolgs; langsam war er zu der Überlegung gekommen, denn ohnehin mißtraute er jedweder Inspiration und Wendigkeit im Kriegswesen; er sammelte mit einem Eifer, der ihm redliche Bewunderung gerade des nachbarlichen deutschen Generalstabs eintrug, alle denkbaren Daten über die auswärtigen Armeen, die sie offiziell veröffentlichen konnten, als Zeitungsausschnitte, ordnete und ergänzte sie sich unablässig in sauberen Faszikeln, reservaten Faszikeln, in die er niemandem Einblick gewährte; so eingeschlossen, war er zu einer Autorität geworden, die man (wie es immer geschieht) im Ausland beachtete, mehr noch und sogar fürchtete. Drei Zimmer, vier Zimmer enthielten ein Laboratorium, in denen er Extrakte der papiernen wie der lebendigen Armeen bewahrte; die österreichischen Militärattachés in den verschiedenen Gesandtschaften verfluchten ihn wegen der unablässigen Fragebogen, mit denen er Auskunft auch über die minimalsten Details einforderte, um sie seinem militärischen Herbarium einzuverleiben. Aus Pflichtgefühl und Überzeugung begonnen, wurde dieses Sammeln von mehr und mehr Details sowie ihre schriftliche und tabellarische Zusammenstellung für ihn durch seine Lust an Systematisierung zur Passion und beinahe zur Manie; sie erfüllte bis zum letzten Rand sein durch den frühen Verlust der Gattin leck und leer gewordenes Leben und gab ihm neuen Inhalt. Es waren die kleinen Freuden der Sauberkeit und der Symmetrie, die der Künstler kennt, denn Spieltrieb bindet. Er liebte die roten und grünen Tinten, die gespitzten Bleistifte. Es hatte den Reiz eines Raritätenkabinetts. Sein Sohn hatte dies alles nie gesehen, das war der geheime Schmerz des Vaters. Nur er selbst kannte die technische Lust, Zetteln auszuschreiben im Vergleichen. Vordem hatte er nach den Dienststunden zu Hause, im Hausrock, den steifenden Kragen abgetan und, weicher in der Bewegung, dankbar gelauscht, wenn sie, seine verstorbene Frau, ihm, dessen etwas starre Seele bei Musik ein wenig sich auflockerte, Klavier vorspielte; sie waren ins Theater oder in Gesellschaften gegangen; das hatte ihm Ablenkung und Entspannung geboten. Nach ihrem Tode wurden die Abende, da er sich ungeschickt wußte im kollegialen Kreise, völlig leer, und er füllte sie aus, indem er mit Feder, Schere, Lineal sich auch zu Hause Kartothek nach Kartothek anlegte und destillierte, die dann seinen öffentlich publizierten »Militärstatistischen Tabellen« dienten, in denen freilich das geheimste Material an vaterländischen Interna vorenthalten wurde. So wurde es üblich, von ihm im Dienste Auskünfte zu fordern, statt sie glatt vom Nebenzimmer kommen zu lassen. Aus dem, was den andern das Trockenste war, Ziffer und Zahl, Quantitäten und Differenzen, kelterte er sich, schon mehr Mathematiker als Soldat, in seiner kleinen Kammer eine geheime, den andern unfaßbare Erkenntnislust; mit steigendem Stolz war er sich bewußt, welche Rüstkammer, Österreichs Schatzkammer, für die Armee und die Monarchie er mit diesen Zehntausenden von einzelnen Beobachtungen festgelegt. In der Tat, im Jahre 1914 haben sich seine Vorausberechnungen über die mobilisierbaren Divisionen richtiger erwiesen als die optimistischen Einschätzungen Conrad von Hötzendorffs. Immer mehr ersetzte das geschriebene Wort ihm das gesprochene, immer mehr das Material in seiner Ordnung die äußere Welt, und er schien den andern immer härter und verschlossener, obwohl er im Grunde nur einsamer war. Je einsamer er lebte, umso mehr gewöhnte er sich, Konversation durch Aufzeichnung zu ersetzen. Jede Übung, unermüdlich fortgesetzt, beharrt auf Gewohnheit, ja erstarrt unversehens zur Gewohnheit, Gewohnheit wiederum härtet sich zu Zwang und Fessel: unfähig, etwas anders denn systematisch zu unternehmen.

So wußte dieser sonderbare Soldat, um irgendein Ding oder ein Geschehnis zu erkennen, nur einen Weg: den der Tabelle. Und selbst zu den Seelen seiner Kinder suchte er, gehemmt in seiner Zärtlichkeit und ungeschickt im Wort, seine väterliche Liebe nicht anders vorzudrängen, als indem er von ihnen ständigen schriftlichen Rapport über ihren Lebens- und Bildungsgang als unumgängliche Pflicht abforderte. Gleich bei seinem ersten Besuche nach seiner Rückkehr aus Petersburg und dem Wiedereintritt in das Kriegsministerium brachte er der Elfjährigen einen Stoß gleichgeschnittener Papierbogen mit, deren oberster als Muster von ihm sauber vorliniert war. Jeden Tag sollte Clarissa von nun ab ein solches Blatt ausfüllen, indem sie vermerkte, was sie in jeder Unterrichtsstunde gelernt, welche Bücher sie gelesen, welche Stücke sie auf dem Klavier geübt; sieben solcher Blätter habe sie dann sonntags mit einem begleitenden Brief an den Vater abzusenden, der derart das innere Wachstum seines Kindes in seiner Weise hilfreich und redlich zu fördern meinte, indem er sie nötigte, schon von frühester Kindheit an sich zu Pflichtbewußtsein und beharrlichem Ehrgeiz zu erziehen. In Wahrheit bedingte das Mechanische des Rapportierens, daß über den täglichen Vermerken Clarissa die Übersicht über diese Jahre verlor, denn die Eindrücke, statt sich zu sammeln und auszuformen, zerstäubten und zerbröselten sich durch dies vorzeitige Berichten, und kaum reif geworden, stellte sie aus eigenem Willen diese Marotte nicht weiter ein, obwohl sie spürte, wie falsch es war, rein räumlich gesehen, denn das Referieren nahm ihr die Freude an vielem, sie wurde vorzeitig zerpflückt. Wenn sie später nachdachte, konnte sie sich der Empfindung nicht erwehren, daß ihr Vater ihr jedes spontane Entzükken an Büchern und Bildern in der Schulzeit genommen, indem er ihr zu gleichmäßiger Dosierung Tag für Tag rein räumlich das gleiche Maß zuwies, während sie später doch erkennen sollte, daß eine einzige beschwingte Stunde mehr in uns entfaltet als ein Monat und ein Jahr. Daß er die Klosterschule noch methodischer, monotoner gemacht, als sie es ohnedem schon war. Aber sie konnte sich doch tiefer Rührung nicht enthalten, als sie nach ihres Vaters Tode die Zetteln, die gelebten Tage, geordnet in seinem Schreibtisch fand. Er hatte sie, so wie sie sie abgesandt, gebündelt. Vorbildlich, wie es nicht anders zu erwarten war. Sie hatte es nie gewußt. Er war sehr zufrieden gewesen. Manches hatte er mit roter Tinte unterstrichen. Als sie einmal einen alten Reim nicht sagen konnte, verging er fast vor Scham und Unglück, weil er stolz war, so daß er ein Lineal nahm – mit dem strich eine tote Freude einen toten Menschen. Jeder Monat war mit einem Bändchen umschnürt, das Schulsemester dann in einem besondern Karton verwahrt, in dem ihre Schulzeugnisse und ein Bericht der Oberin über ihre Fortschritte und ihr Verhalten lag; der einsame Mann hatte an den Abenden in seiner Weise versucht mitzuleben, und den Antworten der Oberin konnte sie entnehmen, mit wieviel Freude – die er nie zu zeigen wagte – er ihr Wachstum in seiner ungeschickten Art zu verfolgen suchte und dafür kein anderes Medium fand als das eine und seine. Zur Probe blätterte Clarissa einige dieser Zetteln auf. Sie sagten ihr nichts. Es raschelte nur noch trocken, was einmal Leben gewesen war. Lektionen über Dinge, die sie längst vergessen. So suchte sie sich zu besinnen, wie es wirklich gewesen, und wenig nur kam in ihr Erinnern zurück aus diesen verschollenen Tagen.

 

* * *

 

Es waren eigentlich nur die Sonntage, deren sie sich entsann. Innerhalb der Woche unterstand und gehorchte der Tag ereignislos dem wohlberechneten Stundenschlag; zu gleicher Stunde hieß es aus dem gleichen Bette sommers und winters auf, in gleicher Zeit gewaschen und in die durch all die Jahre unveränderte Schultracht gekleidet sein; alles war bestimmt, der Platz in der Kirche und jener bei Tisch, der Teller und die Serviette; und dann zahnte sich das Rad des Tages im regelmäßigen Rhythmus von der Morgenmesse zum Abendgebet in den gleichen Räumen, einzig unterbrochen von dem ebenfalls regelmäßig angesetzten Spaziergang, je zwei und zwei in dem langen Zuge, die Nonne voran mit der weiß gesteiften Haube. Es war ein einziger kleiner Ausguck in die Welt außerhalb dieser Mauern, aufgetan von der großen Türe, und weckte jedesmal geheimes Begehren, mehr zu sehn von diesen Straßen und Geschäften und Häusern; die Stadt, das »andere«, das sie nicht kannte, das ihr nur Fuge und Ritze war; anders schmeckte hier die Luft durch den vielen fremden Atem; aber streng galt die Vorschrift, gesenkten Blickes zu gehn und fremder Neugier abzuwehren; hier war das Geplauder heftiger, weil die Umwelt ihnen eine Ahnung von Änderungen gegenüber der eigenen monotonen Existenz gab. Der Sonntag, der einzige Tag, wo das Tor sich dieser Welt öffnete, wo ein flüchtiger Schein nach innen kam; an diesem Tag wurde der Besuchsraum geöffnet, kamen die Eltern, die Verwandten, ihre Kinder oder Schützlinge zu besuchen, und jeder brachte etwas mit, kleine Geschenke oder zumindest gutes Geplauder, Nachrichten, Anregung und was diese unflüggen Geschöpfe brauchten, persönliche Beachtung und Zärtlichkeit. Jede fühlte sich dann herausgehoben für zwei; drei Stunden aus der grauen Masse, mit Eindrücken gefüllt, genährt. Sonntag abends, wenn das Haus geschlossen worden war, wurde das Geplauder heftiger, Stoff war gegeben, das kleine Ich unter dem grauen Schulkleid belebt.

Für Clarissa war von diesen Sonntagen jeweils der vierte ein Tag einerseits des Stolzes und andererseits der Unruhe, weil mit methodischer Genauigkeit in genauem Abstand sie ihr Vater zu besuchen kam; nur zweimal in den zehn Jahren konnte sie sich entsinnen, daß er seinen Besuch vorausgelegt hatte, einmal als sie an einer schweren Halsentzündung niederlag, und einmal ehe er in einer geheimen Mission nach Konstantinopel verreisen mußte. Die Unruhe begann mit den letzten Tagen vor seinem Eintreffen, die sie mit geheimen Vorbereitungen beschäftigten, um ihm zu gefallen, vor ihm zu bestehen. Denn sein militärisch geschulter Blick hätte die kleinste Unordentlichkeit in ihrer Kleidung sofort entdeckt und gerügt; sie prüfte jede Einzelheit im voraus durch. So ihr Sonntagskleid, das durch Fältchen hervorgehoben war, und achtete darauf, daß jedes richtig lag und kein Fleckchen sich eingeschlichen habe, ebenso mußten die Arbeitshefte und Bücher sauber bereitgestellt sein für seine unverweigerliche Inspektion, denn Oberstleutnant Schuhmeister liebte es sehr, seine Tochter zu prüfen und dabei der kleinen Eitelkeit nachzugehen, sein grammatikalisch makelloses, nur in der Aussprache das methodische Buchlernen verratende Französisch und Englisch zu zeigen. Aber dann begann nach der Unruhe der Erwartung die Stunde, die sie heraushob, die Stunde des Stolzes. Denn obwohl ein Graf Hochfeld seine Tochter im Pensionat hatte und unter den sonntäglichen Eltern selten fehlte und einige reiche Mütter große Toiletten in die Besuchszimmer trugen und als wohlangezogene Damen einen Duft mitbrachten, so daß manchmal sogar noch am nächsten Tage ein Geruch von feinen Parfüms durch den modrig kalten Raum schwebte, war der Oberstleutnant weitaus der imposanteste der »Väter«. Sie fühlte, wie die andern Mädchen sie beneideten, wenn er unten im Zweispänner vorfuhr und in geübtem Schwung mit leicht klirrenden Sporen absprang. Unwillkürlich räumten ihm die andern Platz ein, wichen zu den Seiten, bildeten eine Gasse, und er schritt aufrecht und sicher hindurch, an Spalieren vorbeizuschreiten, ohne Befangenheit, der Ehrenbezeugung auf der Straße und in der Kaserne als selbstverständlich gewohnt. Neben den schwarzen Bratenröcken, den Sonntagsjoppen der Landwirte leuchtete seine geschnittene Uniform in ihrem satten Blau wie ein Stück sommerlicher Himmel an einem wolkigen Tag, und dieser Glanz wurde nicht einmal gemindert, wenn er stürmisch näher trat. Denn alles an dem hohen stattlichen Mann glänzte und schimmerte in wohlgepflegter Sauberkeit, von den metallschwarzen Lackschuhen bis zu dem scharf gezogenen, leicht geölten Scheitel, jeder Metallknopf wurde zum runden Spiegelchen, knapp und scharf umriß der militärische Rock jede Linie des hohen muskulösen Körpers, und über dem straff gezwirbelten Schnurrbart und der scharfen Rasur schwebte ein leiser Duft von Eau de Cologne: Er war ein dekorativer »Vater«, wie ihn stolzer ein Kind sich nicht träumen konnte, ein Vater wie aus dem Lesebuch herausgeschnitten, eine Art irdischer Kaiser oder Prinz, dem der Säbel leicht nachklirrte. Mit festen Schritten und einer respektvollen, aber gemessenen Verbeugung trat er auf die Oberin zu, die sich unwillkürlich vor der hohen Gestalt aus ihrer sonst weichen Haltung aufstraffte; er grüßte höflich, mit einer ganz unmerklichen Minderung der Verbeugung, jede einzelne der Schwestern, die gleichfalls eine gewisse Verlegenheit vor dem blinkenden Mann jedesmal überwinden mußten, dann erst wandte er sich seiner Tochter zu und küßte sie leicht und zart – sie spürte jedesmal den dünnen Duft des Eau de Cologne – auf die vor Glück errötende Stirne.

Dieses Entrée ihres Vaters in den Besuchsraum, jedesmal gleich eindrucksvoll, obwohl sich von einem zum andern Male gleichend, war der schönste, niemals enttäuschende Augenblick für Clarissa. Denn kaum daß sie dann mit ihrem Vater sich allein fand, begann eine gewisse Verlegenheit sich zwischen beide zu stellen. Nur gewohnt an dienstlichen Umgang, nur eingestellt auf sachliche Frage und sachliche Antwort, wußte der hohe schimmernde Mann nie mit dem scheuen und verlegenen Kinde ein herzliches und persönliches Gespräch anzuknüpfen. Nach ein paar gehemmten Fragen allgemeinster Art, wie »Geht es dir gut?« oder »Hast du einen Brief von Eduard?«, die sie in ihrer Gehemmtheit nur knapp zum bejahen wußte, ging das Gespräch unrettbar in eine Art Examinierung über. Sie mußte ihre Hefte zeigen, ihm auf Französisch oder Englisch ihre Fortschritte berichten; und dieser rührend hilflose Mann verlängerte gegen seinen Willen dies Fragen und Fragen aus der geheimen Angst, der sachliche Stoff möge zu Ende sein und er sich dann ratlos und wortlos vor seinem Kinde sehen. Sie spürte wohl, daß, während sie sich über das Heft beugte, um ihm eine Aufgabe vorzuweisen, sein Blick weich und irgendwie gerührt auf ihrem Haar oder ihrem Nacken ruhte; dabei hatte sie vielleicht ein heimliches Verlangen, er möge sich einmal, ein einziges Mal entschließen, ihr – so wie die von ihr erwartete Hand auf dem Tische lag – über das Haar zu streifen; und sie blätterte mit Absicht etwas länger, als nötig war, aus dem wohlig pochenden Gefühl, sich geliebt zu wissen; aber wenn sie dann die Stirne hob, sah er sofort angestrengt auf den Text, zu scheu, ihrem Auge zu begegnen. Sobald dies arme und stockende Examinieren erschöpft war, nahm er jedesmal, um die Zeit zu füllen, noch eine letzte Ausflucht, um dem Alleinsein mit ihr, dem er sich nicht gewachsen fühlte, auszuweichen: »Willst du mir noch vorspielen, was du neu gelernt?« Dann setzte sie sich hin und spielte. Sie spürte sich vom Rücken her umhüllt. Während sie sonst im Leeren saß, wenn sie zu Ende war, trat er hin, murmelte etwas Freundliches: »Das scheint sehr schwer zu sein. Aber du hast es vortrefflich gespielt. Ich bin sehr zufrieden mit dir.« Dann kam der Abschied, derselbe nur oberflächlich die Stirn anstreifende väterliche Kuß, und nachdem der um die genaue Stunde bestellte Fiaker entrollte, empfand sie ein sonderbar drückendes, aber keineswegs klares Bedauern, als ob sie selbst oder ihr Vater etwas vergessen habe zu äußern, und ihre Aussprache sei gerade im Augenblick abgerissen, da sie hätte wahrhaft beginnen wollen, und ebenso empfand der Abreisende eine kaum verhehlte Unzufriedenheit mit sich selbst. Von Mal zu Mal mühte er sich auch Fragen auszudenken, die über das Sachliche hinaus sie berühren könnten und ihm etwas von ihren Wünschen und Neigungen aufzuschließen vermöchten, aber selbst vor der Herangewachsenen wuchs eher, statt sich zu mildern, die Hilflosigkeit im entscheidenden Augenblicke, da er vor ihr stand und ihren Blick spürte – er wurde wehrlos, sich unbefangen mit ihr zu unterhalten.

Welch ein Gegensatz darum, wenn Eduard, ihr um zwei Jahre älterer Bruder, sich im sonntäglichen Besuchszimmer einfand. Bis zu seinem fünfzehnten Jahre war er eigentlich, nur dem Auftrag seines Vaters gehorchend, ungern aus der Kadettenschule in Wiener Neustadt genaht, jenes Hochmuts voll, den junge Burschen Mädchen entgegenzubringen pflegen; an den andern Mädchen hochmütig vorbeischauend, hatte er ein bißchen mit dem Schwesterchen gespaßt und eiligst wieder sich verabschiedet, um möglichst wenig seines kostbaren Sonntagnachmittags zu versäumen. Aber kaum daß ein erster Anflug eines Schnurrbärtchens seine sehr roten und frischen Lippen zu umschatten begann, wurde er der Kostbarkeit inne, die seine – in der Kadettenschule wenig verwöhnte – Person in einem Mädchenpensionat bedeutete. Schon von der Straße aus bemerkte er am Fenster tuschelnde, lachende Mädchenköpfe, die kichernd und übermütig verschwanden, und wenn er in den Besuchssaal eintrat, fühlte er seine Kadettenuniform von neugierigen Blicken umschwirrt. Der Wichtigkeit seiner Rolle einmal bewußt, spielte er sie mit heiterer Berechnung bis zur Meisterschaft ein. Gleich beim Kommen umarmte und küßte er seine Schwester absichtlich zärtlich und so geräuschvoll, daß kleines schelmisches Kichern sich wie ersticktes Hüsteln regte, und es machte ihm als Hahn im Korbe ebensolchen Spaß in seiner knabenhaften Eitelkeit, sich von ihnen mustern zu lassen, als es ihm Spaß machte, sie mit seinen Augen gefällig zu mustern; daß diese eingesperrten Geschöpfchen sich alle in ihn ein wenig verlieben sollten, verbarg er vor der Schwester, die er kameradschaftlich gern hatte, nicht im mindesten. Er verstand es, chevaleresk zu sein, zu ritterlich, um je die Grenzen zu überschreiten. Er wußte zu imponieren. Endlich war er da; Clarissa genoß es. Er ließ sich jeder einzelnen vorstellen und tat listigerweise so, als ob er von jeder unermeßlich viel wüßte. »Ach, Sie sind Fräulein Tilde. Meine Schwester hat so oft von Ihnen gesprochen«, dabei lächelte er sie aus den dunklen, weichen, nußbraunen Augen, die Erbteil seiner slawischen Mutter waren, so sonderlich an, als hätte Clarissa ihm die geheimsten Geheimnisse ihrer Freundinnen verraten. Es ging lustig zu. Er versprach, seine Kameraden mitzubringen. Es gab manchmal so viel Gekicher und Gelächter, daß die Klosterschwestern ernst die Stirne zogen. Ebenso unbefangen als sein Vater gehemmt war, plauderte er mit der Schwester, ließ sich kleine Vorschüsse von ihrem gesparten Taschengeld abgeben, beschenken mit Zigaretten; abermals und nun in anderer Weise genoß Clarissa den Stolz, beneidet zu sein um einen so galanten, hübschen, gefälligen Bruder, und wenn er wiederum Abschied nahm, erschienen viele Köpfchen am Fenster; als sie ihn schon verschwunden meinten, sausten noch ein paar Nelken ihm nach.

Und dann kam wieder der Schultag, die Schulwoche, die graue, farblose Zeit, eine kleine Welle, an der ihr Leben unmerklich zu Jahren zusammenfloß und mit ihrer steten, monotonen Strömung ihr, ehe sie es recht gewahr wurde, ihre Kindheit forttrug.

 

* * *

 

Das einzige Begebnis, das Clarissa menschlich und persönlich erregte, geschah im vorletzten Jahre der Klosterschule. Bisher hatte sie an keiner ihrer Kameradinnen sonderlichen Anteil genommen, denn obwohl allgemein beliebt, lag in ihrer vom Vater ererbten Verhaltenheit etwas, was die törichten Geständnisse und Überschwänge der sonst plauderhaften Mädchen zurückhielt; alle sprachen gerne mit ihr und forderten ihren Rat, ohne aber sich ihr anzuvertrauen, sie wiederum, ernst auf ihre Arbeit gekehrt, fühlte keinen Anlaß, aus sich vorzutreten, und mit der Schule verlor sich nicht nur jede Bindung mit den einstigen Kameradinnen, sondern auch die Erinnerung an die meisten. Umso mehr beschäftigte sie darum das sonderbare Wesen, dessen Gegenwart und Geschick ihr erste Ahnung der Wirklichkeiten über die Mauern der Schule wehten.

Schon am vorhergehenden Tage hatte Rosie, ein unhübsches, im Winter pickeliges, im Sommer sommersprossiges, rothaariges Mädchen, das aufpasserisch hinter allen Neuigkeiten her war und deren unbändige Schwatzsucht sich bei jedem Anlaß betätigte, die Nachricht den Mädchen gebracht, daß für morgen eine »Neue« zu erwarten sei, und damit die Zeremonie des Urteilsspruchs über eine Debütantin. Dennoch wurde ihre Ankunft zu einer erregenden Überraschung. Denn wenn sonst eine »Neue« die klösterlichen Schulräume betrat, überschritt sie schüchtern und verwirrt, als müßte sie einem verborgenen Drudenfuß erst ausweichen, die Schwelle und stand dann gesenkten Blicks vor der beobachtenden Neugier von fünfzig oder achtzig achtsamen und vorwiegend krittlerischen Blicken. Die kaum noch Sechzehnjährige aber, die jetzt von der Oberin mit lockeren Fesseln zum erstenmal in den Speisesaal geführt wurde, ging leicht und sicher, wandte sich aus runden, lachenden Augen von einer zu andern, als ob sie jede genau so erwartet hätte, wie sie war; den Nachbarinnen am Tische nickte sie herzlich zu und begann gleich zu erzählen, wie bezaubernd der Blick von ihrem Fenster sei. Noch hatte die Schulstunde nicht begonnen und sie war bereits mit einigen Mädchen vertraut. Unbefangen fragte sie mit einem Hallo jede um ihren Vornamen ab und fand dabei gleich nette Worte. »Was für reizende Haare du hast«, sagte sie dem Mädchen, das sich neben sie setzte und ließ eine der Locken durch ihre Finger spielen. »Ach, wenn ich solche Haare hätte. Meine sind widerspenstig und zu dicht.« Wenn sie sich von einer neugierigen Kumpanin betrachtet fühlte, lachte sie heiter und herzlich, gerade im Augenstern, zurück. Nach einer Stunde waren alle Mädchen schon ungeduldig, mit Marion – so hieß sie, und der fremdartige Name paßte zu ihr gut – zu reden, und konnten nur mühsam erwarten, bis der Abend und damit die kurz verstattete Plauderzeit käme. Unwillkürlich bildete sich in dem Zimmer um die »Neue« ein Kreis, aber weder wehrte sie bescheiden ab, den Mittelpunkt zu bilden, noch trug sie den gelindesten Hochmut zur Schau. »Wie nett ihr gleich zu mir seid«, rühmte sie ganz ehrlich. »Ich habe mich ein bißchen gefürchtet vor dem ersten Tag, aber es ist wirklich reizend bei euch«, und dabei setzte sie sich in der hübschesten Weise auf die Lehne des Fauteuils, ließ die kleinen Füße niederwippen, und es war, als ob sie mit ihrem Schwingen ihre Zustimmung stumm bestätigten. Sie eigentlich schön zu nennen, forderte eine besondere Einstellung des Geschmacks; jedenfalls wirkte sie apart und durchaus anziehend mit ihren großen runden Augen, denen die stark gezogenen Brauen eigentlich mehr Charakter gaben als die etwas matten Pupillen; vielleicht auch war sie leicht kurzsichtig, denn sie kniff gerne die Lider zusammen, was ihrem Blick etwas halb Liebenswürdiges halb Spannendes gab und, wenn sie lachte, sogar etwas Spitzbübisches. Die Züge, unausgeformt wie sie noch waren, wirkten eher grob, sobald man sie näher betrachtete, sie hatte eine etwas zu weit geformte Nase und eine zu flach gewölbte Stirn, aber es war schwierig, sie bildhaft zu betrachten, weil sie sich unablässig bewegte und vor allem nach allen Seiten wandte, als hätte sie Sorge, jemand einzelnen im Gespräch zu übersehen. Heitere Gutmütigkeit war der unverkennbare Charakterzug, der sie bewegte, ein Wunsch, jeder nicht bloß zu gefallen, sondern auch gefällig zu sein, und diesen freundlichen Charme gab sie mit jedem Blick und jeder Bewegung auch an die Unempfänglichste weiter.

Unscharf, wie sie war, und des Interesses, das sie erregte, wohl gewärtig, erzählte sie gleich in der ersten Stunde unbekümmert und sichtlich ehrlich von sich. Sie hatten viel im Ausland gelebt, und jetzt da ihr Vater in Südamerika für längere Zeit gebunden sei, habe Maman – sie sagte nicht Mutter wie die andern und nicht Mama, sondern mit französischem Akzent Maman – sie lieber zur Ausbildung gegeben; es sei schrecklich, sie hätte so viel versäumt durch das viele Reisen in den früheren Jahren, bald da und bald dort. Eigentlich hätten sie hinüber sollen nach Bolivien, aber Maman vertrage das Klima nicht, und es sei Mädchen doch wichtig, einmal sich ordentlich auszubilden – freilich, sie habe ein bißchen Angst, ihnen nachzukommen, von Mathematik wisse sie gar nichts, und Geographie, ja die habe sie eigentlich nur auf den Reisen gelernt. So ging das weiter, leicht und zugleich sicher und unbefangen, nicht eigentlich von Selbstgefühl, aber von jungem pochenden Lebensgefühl getragen. Die andern Mädchen lauschten verzaubert, wie die Namen italienischer Städte, die Bilder von Expreßzügen und teuren Hotels auftauchten; ein Strom von Wärme ging aus diesem gutmütig gesprächigen Geschöpf, sie trug die buntesten Bilder der Welt mit sich, und alle erschraken fast, als die Glocke ihnen Schweigen und Schlaf anbefahl.

Was unausweichlich geschehen mußte, geschah: schon in den nächsten Tagen waren alle in dies exotische Wesen verliebt, aber Marion hatte die glücklichste Art, die bei unflüggen, ungereiften Geschöpfen üblichen Eifersüchtigkeiten und Rivalitäten zu lindern, indem sie zu allen mit der gleichen Unbefangenheit herzlich war und ihnen Trost zuteilte. Sie küßte die Schmollenden, umarmte die Verärgerten, beschenkte die Eifersüchtigen; sie konnte leidenschaftlich um sie werben mit allen Verkleidungen wie ein Sonnenkringel. Auch die frommen Schwestern, die Dienstleute konnten sich dem Charme ihrer strahlenden Gutmütigkeit, die mit einer natürlichen Geschicklichkeit glücklich gepaart war, nicht entziehen; es war ein Schmeicheln, ein Streichen der Natur, aber dies gerade war das Gewinnende; das konnte man nicht so weggeben, das mußte man irgendwie ehren; man sah ihr nach, daß ihre Kenntnisse recht mangelhaft waren, ihr Eifer nicht sonderlich beständig war, denn wie reizend war es, wie sie erschrak und bestürzt war oder tat, sobald sie etwas nicht wußte; wie unwiderstehlich sie zu bitten, wie überschwenglich sie zu danken verstand. Versuchte eine Lehrerin streng zu sein, ernstlich zu werden, so wurde ihr Mund weich vor Schreck und sie stand starr; sie war seit frühester Kindheit anscheinend mit Güte umgeben gewesen. Benahm sich eines der Mädchen unfreundlich zu ihr, so war sie jedesmal mehr erschrocken als verärgert; ihre Natur, naiv auf Freundlichkeit eingestellt, war unfähig, das Boshafte und Heimtückische zu begreifen, und durchaus nicht darauf eingestellt, die Führung zu bekommen. Auch empfand sie die Freude des Weggebens mehr als die des Behaltens, etwa von ihren kleinen Künsten, mit denen sie Häubchen und irgendwelche Nichtigkeiten anzufertigen wußte; wenn von »Maman« oder von einem anderen eifrigen Spender, von Onkel Theodor, Bonbonnieren oder kleine Geschenke kamen, lief sie eilfertig von einer zur andern, um ihr zuzuteilen, und ihr Geplauder war immer leicht durchperlt von Heiterkeit. Das ganze Haus schien heller mit ihrer Gegenwart, so daß die alten, grauen, sandigen Mauern um einen Ton aufgehellt waren.

Clarissa hatte sich von Marion anfangs ferngehalten, aber nur um sie aus dieser Distanz anteilnehmender und anhaltender beobachten zu können. Obwohl sie sich es bewußt vielleicht nicht eingestand, versuchte sie das Geheimnis dieses Gewinnenden, das von dieser Gleichaltrigen ausging, zu ergründen, die Aufgeschlossenheit von ihr abzulernen. Heimlich sah sie ihr zu, wie sie ging, wie sie locker und leicht eine Kameradin unter den Arm faßte, wie sorglos und sicher sie mit dem Fremdesten an einem der Besuchstage, kaum vorgestellt, ein Gespräch begann, und verglich diese Leichtigkeit beinahe schuldbewußt mit ihrer eigenen Gehemmtheit. Seit Marion gekommen war, hatte Clarissa diese erst wirklich zu empfinden begonnen; es war ihr nicht möglich, herzlich zu erscheinen, gerade wenn sie am herzlichsten zu sein meinte; hier galt es, Marion etwas abzulauschen, so wie eine andere heimlich im Zimmer einen Tanzschritt nachprobiert, wie man ihn auf der Bühne sieht, oder im Spiegel das Lächeln einer Schauspielerin nachprobt. Während jene allgemeinen Anteil erregte, sah man an ihr vorbei und – wie sie sich ehrlich gestand – mit Recht, denn was gilt auch die beste Empfindung, sofern sie sich nicht zu übermitteln weiß; wo jener jeder mit Liebe begegnete, begegnete ihr jeder mit Respekt, mit Reserve. Clarissa träumte wach davon, nur einmal ihrem Vater mit dieser unwiderstehlichen Herzlichkeit entgegeneilen zu können wie jene dem zufälligsten Bekannten. Es war eher ein Zufall, der die beiden dann näher aneinanderschloß. Während die meisten Mädchen über die Sommerferien nach Hause zu ihren Eltern gingen, blieb Clarissa alljährlich zurück, weil ihren Vater die großen Manöver festhielten, und ebenso Marion, weil »Maman« eine Kur in Gastein machen mußte. Die Oberin, die Clarissa durchaus schon als Erwachsene dank ihrer ernsten, verläßlichen Art behandelte, machte ihr den Vorschlag, ob sie mit ihren Kenntnissen Marion, die im Unterricht doch fühlbar zurückgeblieben war, nicht während der schulfreien Zeit durch kameradschaftliche Nachhilfe gefällig sein wolle. Clarissa war gerne einverstanden, Marion ihrer begeisterten Art gemäß leidenschaftlich entzückt; unwillkürlich entwickelte sich aus dem häufigen Beisammensein eine Freundschaft. Nachdenkliche Naturen haben die geheime Gewalt, aus den leichteren das Ernste wenigstens für kurze Augenblicke hervorzuheben, ihnen mit ihrer Schwere auf den Grund zu tasten, und Clarissa bemerkte bald, daß Marion, die sich ihr gegenüber anders gab als den anderen, keineswegs so sorglos und unbelastet war, als ihre gesellige Anmut vortäuschte, ja daß vielmehr dies pausenlose Bedürfnis, Wärme und Herzlichkeit um sich faßbar zu fühlen, in diesem Kinde einer inneren Unruhe und sogar Angst vor einem Sich-Alleinfühlen oder Alleingelassensein entsprach, das sie zu übersprechen, zu überplaudern suchte. Es war, als ob sie aufwachte, wenn der Zug stehen blieb, und erst wenn dann niemand da war, spürte sie, wie allein sie war. Darauf beruhte ihr sich Beliebtmachen, ihr Suchen nach fremder Liebe. Weder war jenes Reisen von Hotel zu Hotel so rauschhaft gewesen, als die andern jungen Mädchen es so neidvoll sich vorträumten – sie war am Tagende, wenn ihre Eltern ins Casino oder Theater gingen, zu Bette geschickt worden, hatte allein in fremden Zimmern geweint –, noch schien »Mamans« Liebe so zuverlässig, wie sie mit Geschenken verschwenderisch war. Auch daß von dem Vater in Bolivien niemals ein Brief kam, erregte sie. »Er ist so beschäftigt, tröstet mich immer Maman, aber einen Brief kann man doch schreiben und überhaupt …« Sie hielt wie jedesmal inne, immer mit einemmal, wenn sie ins Klagen kam, aus einem noch ungebrochenen Stolz, aber Clarissa spürte, daß Marion irgendein Geheimnis noch zurückhielt, und schließlich brach es eines Abends vor, als sich wieder einmal der erwartete Besuch ihrer Mutter verschoben hatte. »Ich weiß nicht, was es mit ihr ist«, gestand sie, hart an die Freundin gedrückt und sie fest mit den Armen umklammernd, daß sie ihr Zucken aus jedem heftigen Wort spüren konnte. »Aber niemand bleibt mir lange gut. Es muß etwas sein um mich. Alle lieben sie mich und verwöhnen sie mich zuerst, und plötzlich werden sie kalt. Vielleicht hab’ ich das von Maman. Auch um sie sind immer andere Leute, nie dieselben. Aber ich ertrag’s nicht. Ach, und das ist schrecklich, dieses Kaltwerden, dieses Fremdwerden, man fühlt sich weggestoßen, weggeworfen; es gibt nichts Schrecklicheres auf der Welt; ich ertrag’ es nicht, ich ertrag’ es nicht. Man geht daran zugrund.« Und noch näher an sie rückend: »Weißt du, im letzten Jahr waren wir in Evian. Neben uns am Tisch saß mit seinen Eltern ein bezaubernder junger Bursch, ganz zart, ganz fein anzusehen, erzogen ist er in einem Haus mit Dienern, Pferden – du kennst dich da nicht so aus, aber man merkt das an der Art, wie jemand sich hinsetzt. Er wandte sich zu seiner Mutter. Es war wie im Theater. Aber über den Teller sah er immer nach mir herüber, ich spürte, daß ich ihm gefiel, und so bin ich eben, mich berauscht’s, mich beglückt’s, wenn ich jemandem gefalle – ich bin dann klüger, lebendiger, witziger, ich spür’, wie jede Bewegung mir gelingt, jedes Wort sich rascher findet, ich glaube, ich bin dann sogar hübscher als sonst. Am Nachmittag kam er heran, sehr höflich und ein bißchen errötend, stellte sich vor und fragte, ob ich nicht als vierte mitspielen wollte bei ihrem Tennis. Abends grüßten die Eltern bereits freundlich zu uns herüber, von dem Tag an plauderten sie täglich mit Maman, luden sie in ihren Wagen, und ich war fast immer mit Raoul. Und plötzlich eines Mittags, stell dir’s vor, geht er an mir vorüber, wie an einer Haubenstange, glatt vorüber, und die Eltern grüßen nicht mehr – stell dir’s vor, Clarissa, da sitzt man, und gegenüber ein Bursch, mit dem du gestern gespielt, geplaudert, gespaßt – und, warum’s nicht sagen, wir haben uns auch geküßt – und sieht in den Teller hinein, und man weiß nicht, was für eine Dummheit man getan hat, man zermartert sich den Kopf. Aber das ist fast ein Jahr her, da war ich noch dumm und hab’ keinen Stolz gehabt. So bin ich nachmittags, wie ich ihn allein durch den Stall kommen seh’, gerade auf ihn zugegangen und hab’ ihn gefragt: ›Raoul, was heißt das? Was hab’ ich ihnen getan?‹ Der Bub wird rot, wird verlegen und sagt schließlich kalt: ›Ich habe meinen Eltern zu gehorchen …‹ Ach, und ich hab’ ihm nicht ins Gesicht geschlagen. Ich kann mir’s denken. Wahrscheinlich hat die Mutter Angst gehabt, er will mir einen Antrag machen, und sie waren irgendwelche Comtes und mit viel Geld … Aber darf man da jemanden so wegstoßen, als wäre er ein Dreck … Nie werd’ ich das vergessen, nie … ich hab’ mich so geschämt, was Maman denken könnte, geschämt vor mir selbst … ich war wie verrückt … ich konnte nicht essen, ich hätte es erbrochen … abends, die Mutter war fort im Casino, bin ich aufgestande und an den See, hab’ mir die Schuhe, die Strümpfe ausgezogen, und bin … du, erzähl’ es niemand, Clarissa, niemand, nicht wahr, du bist klug und gemessen, sie können es nicht fühlen … die ersten Stufen hinab ins Wasser, ich wollte mich ertränken … ich konnt’ es nicht ertragen, da allein oben im Zimmer, und dann die Angst, denen zu begegnen, sie gegenüber zu haben bei Tisch … ich vertrag es nicht, daß jemand mich verachtet – ich brauch’ es von jedem, daß er mich gern hat, sonst … sonst komme ich mir verlassen vor, gejagt, verfolgt, verschreckt … ich weiß, es ist dumm … aber ich kann nur leben, wenn man mich gern hat … natürlich war ich zu feig … aber seitdem ist es in mir, seitdem habe ich bei jedem Menschen das unsichere Gefühl, ob er nicht auch so mich plötzlich nicht mehr mag … nur bei dir nicht, Clarissa, bei dir spür’ ich mich sicher, nur bei dir … nicht, nicht einmal bei Maman, die … aber nein, ich tu ihr vielleicht Unrecht … nicht wahr, du denkst nicht schlecht von mir, wenn ich dir das alles sage?«