Clovis Dardentor - Jules Verne. - E-Book

Clovis Dardentor E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Dies ist die illustrierte Version dieses Klassikers. Der Roman berichtet von den Abenteuern zweier Cousins, die sich von Frankreich nach Algerien aufmachen um dort in die französische Kavallerie einzutreten.

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Clovis Dardentor

Jules Verne

Inhalt:

Jules Verne – Biografie und Bibliografie

Clovis Dardentor

Erstes Capitel. In dem die Hauptperson dieser Geschichte dem Leser nicht vorgestellt wird.

Zweites Capitel. Worin dem Leser die Hauptperson dieser Erzählung wirklich vorgestellt wird.

Drittes Capitel. Worin der liebenswürdige Held der Geschichte anfängt, sich in den Vordergrund zu stellen.

Viertes Capitel. Worin Clovis Dardentor Dinge ausspricht, die sich Jean Taconnat zunutze zu machen gedenkt.

Fünftes Capitel. Worin Patrice wiederholt findet, daß seinem Herrn zuweilen das vornehme Auftreten abgeht.

Sechstes Capitel. Worin die vielfachen Vorkommnisse dieser Erzählung in der Stadt Palma ihre Fortsetzung finden.

Siebentes Capitel. Worin Clovis Dardentor vom Schlosse Bellver schneller zurückkehrt, als er dahingekommen war.

Achtes Capitel. Worin die Familie Désirandelle mit der Familie Elissane in Berührung kommt.

Neuntes Capitel. Worin die vierzehntägige Frist für Marcel Lornans wie für Jean Taconnat erfolglos verstreicht.

Zehntes Capitel. Worin sich auf der Eisenbahn von Oran nach Saïda eine erste und ernsthafte Gelegenheit bietet.

Elftes Capitel. Ein Capitel, das nur auf das nächste vorbereitet.

Zwölftes Capitel. Worin die Karawane Saida verläßt und in Daya ankommt.

Dreizehntes Capitel. Worin Jean Taconnat's Dankbarkeit und Enttäuschung sich zu gleichen Theilen mischen.

Vierzehntes Capitel. Worin Tlemcen nicht so eingehend, wie es das verdient, besucht wird.

Fünfzehntes Capitel. Worin eine der drei vom Civilgesetzbuch vorgesehenen Bedingungen erfüllt wird.

Sechzehntes Capitel. Worin eine den Wünschen des Herrn Dardentor entsprechende Lösung diesen Roman abschließt.

Clovis Dardentor, Jules Verne

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849613594

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Cover Design: © Can Stock Photo Inc. / Angelique

Jules Verne – Biografie und Bibliografie

Franz. Schriftsteller, geb. 8. Febr. 1828 in Nantes, gest. 24. März 1905 in Amiens, studierte in Paris die Rechte, muß sich aber schon früh auch den Naturwissenschaften zugewandt haben, denn gleich sein erster Roman, der die Reihe jener originellen, eine völlig neue Gattung begründenden Produkte Vernes eröffnete: »Cinq semainesen ballon« (1863), zeugt von jenem Studium. Der Erfolg, dessen sich diese Schöpfung erfreute, bestimmte ihn, die dramatische Laufbahn, mit der er sich bereits durch mehrere »Comédies« und Operntexte vertraut gemacht hatte, zu verlassen und sich ausschließlich dem phantastisch-naturwissenschaftlichen Roman zu widmen. V. führt seine Leser auf den abenteuerlichsten, stets aber physikalisch motivierten Fahrten nach dem Monde, um den Mond, nach dem Mittelpunkte der Erde, »20,000 Meilen« unter das Meer, auf das Eis des Nordens, auf den Schnee des Montblanc, durch die Sonnenwelt etc., und man kann nicht leugnen, daß er es verstand, die ernste Lehre, wenigstens die große Fülle seiner realen Kenntnisse, mit dem Faden der poetischen Fiktion geschickt zu verweben und dem unkundigen Leser eine gewisse Anschauung von naturwissenschaftlichen Dingen und Fragen spielend beizubringen. Wir nennen hier seine »Aventures du capitaine Hatteras« (1867), »Les enfants du capitaine Grant«, »La découverte de la terre« (1870), »Voyage autour du monde en 80 jours« (1872), »Le docteur Ox« (1874), »Un hivernage dans le glâces«, »Michel Strogoff (Moscou, Ireoutsk)«, »Un capitaine de 15 aus«, »Les Indes noires« (1875), »La maison à vapeur«, »Mathias Sandorf« (1887), »Claudius Bombarnai«, »Le Château des Carpathes« (1892), alle bereits in vielen Ausgaben erschienen und von der Lesewelt verschlungen, auch meist ins Deutsche übersetzt und in Form von Ausstattungsstücken mit nicht geringem Erfolg auf die Bühne gebracht (vgl. »Les voyages an théâtre« von V. und A.Dennery). Die »Œuvres complètes« Vernes erschienen 1878 in 34 Bänden (illustrierte Ausg. 15 Bde.).

Romane:

    Fünf Wochen im Ballon. 1875

    Reise zum Mittelpunkt der Erde. 1873

    Von der Erde zum Mond. 1873

    Abenteuer des Kapitän Hatteras. 1875

    Die Kinder des Kapitän Grant. 1875

    Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. 1874

    Reise um den Mond. 1873

    Eine schwimmende Stadt. 1875

    Abenteuer von drei Russen und drei Engländern in Südafrika. 1875

    Das Land der Pelze. 1875

    Reise um die Erde in 80 Tagen. 1873

    Die geheimnisvolle Insel. 1875 und 1876

    Der Chancellor. 1875

    Der Kurier des Zaren. 1876

    Reise durch die Sonnenwelt. 1878

    Die Stadt unter der Erde. 1878

    Ein Kapitän von 15 Jahren. 1879

    Die 500 Millionen der Begum. 1880

    Die Leiden eines Chinesen in China. 1880

    Das Dampfhaus. 1881

    Die „Jangada“. 1882

    Die Schule der Robinsons. 1885

    Der grüne Strahl. 1885

    Keraban der Starrkopf. 1885

    Der Südstern oder Das Land der Diamanten. 1886

    Der Archipel in Flammen. 1886

    Mathias Sandorf. 1887

    Ein Lotterie-Los. 1887

    Robur der Sieger. 1887

    Nord gegen Süd. 1888

    Zwei Jahre Ferien. 1889

    Die Familie ohne Namen. 1891

    Kein Durcheinander. 1891

    Cäsar Cascabel. 1891

    Mistress Branican. 1891

    Das Karpatenschloss. 1893

    Claudius Bombarnac. 1893

    Der Findling. 1894

    Meister Antifers wunderbare Abenteuer. 1894

    Die Propellerinsel. 1895

    Vor der Flagge des Vaterlandes. 1896

    Clovis Dardentor. 1896

    Die Eissphinx. 1897

    Der stolze Orinoco. 1898

    Das Testament eines Exzentrischen. 1899

    Das zweite Vaterland. 1901

    Das Dorf in den Lüften.1901

    Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin.1901

    Die Gebrüder Kip 1903

    Reisestipendien. 1903

    Ein Drama in Livland. 1904

    Der Herr der Welt. 1904

    Der Einbruch des Meeres. 1905

Clovis Dardentor

Erstes Capitel. In dem die Hauptperson dieser Geschichte dem Leser nicht vorgestellt wird.

Als Beide den Bahnhof von Cette – nach Ankunft mit einem Zuge Paris-Mittelländisches Meer – verließen, wendete sich Marcel Lornans an Jean Taconnat mit den Worten:

»Was beginnen wir nun hier bis zur Abfahrt des Dampfers?

– Nichts, antwortete Jean Taconnat.

– Wenn man sich aber auf den »Reiseführer« verlassen kann, ist Cette eine merkwürdige Stadt, zwar nicht von hohem Alter, denn sie wurde erst nach Erbauung ihres Hafens, des Auslaufs vom Canal von Languedoc, den man Ludwig XIV. verdankt, gegründet...

– Und das war vielleicht das Allerklügste, was Ludwig XIV. während seiner ganzen Regierungszeit gethan hat! fiel Jean Taconnat ein. Der Große König hat jedenfalls geahnt, daß wir uns hier am 27. April 1885 einschiffen würden.

– Sei doch einmal ernsthaft, Jean, und vergiß nicht, daß Südfrankreich uns hören kann! Mir erscheint es am gerathensten, Cette zu besuchen, da wir einmal in Cette sind, seine Canäle, seine Bucht mit den zwölf Kilometer messenden Hafendämmen, seine vom klaren Wasser eines Aquäducts berieselte Promenade zu besichtigen...

– Bist Du nun fertig, Marcel, mir nach Joanne zu recitieren?...

– Eine Stadt, fuhr Marcel Lornans unbeirrt fort, aus der ein Venedig hätte werden können...

– Und die sich damit begnügte, ein kleines Marseille zu bleiben! bemerkte Jean Taconnat.

– Wie Du sagst, mein lieber Jean, die Nebenbuhlerin der stolzen provençalischen Stadt und nach dieser der erste Freihafen am Mittelmeere, der Wein, Salz, Branntwein, Oele, chemische Erzeugnisse ausführt...

– Und der, versetzte Jean Taconnat, den Kopf abwendend, Schwätzer von Deinem Schlage dafür einführt!

– Doch auch Häute, La Plata-Wolle, Mehl, Südfrüchte, Stockfische, Böttcherholz, Metalle...

– Genug... genug! rief der junge Mann, den es drängte, sich dem Schwalle von Belehrungen, der über seines Freundes Lippen strömte, zu entziehen.

– Zweihundertdreiundsiebzigtausend Tonnen im Eingang und zweihundert fünfunddreißigtausend im Ausgang, fuhr der herzlose Marcel Lornans fort, noch zu schweigen von den Anstalten zum Einmachen von Anchovis und Sardinen, von den Salzwerken, die jährlich zwölf- bis vierzehntausend Tonnen liefern, von der so bedeutenden Küferei mit zweitausend Arbeitern, die zweimalhunderttausend Fässer herstellen...

– Worin ich Dich zweihunderttausendmal eingeschlossen wünschte, mein redseliger Freund! Doch, die Hand aufs Herz, Marcel, was kann die hochentwickelte Gewerbs- und Handelsthätigkeit zwei tüchtige junge Leute interessieren, die sich mit der Absicht, beim 7. Regiment der Afrikanischen Jäger einzutreten, nach Oran begeben wollen?

– Auf der Reise ist alles interessant, selbst das Uninteressante, versicherte Marcel Lornans.

– Giebt's denn in Cette genug Baumwolle, um sich damit die Ohren zustopfen zu können?

– Unterwegs werden wir danach fragen.

– Der »Argeles« fährt in zwei Stunden ab, und meiner Ansicht nach ist es das beste, sofort an Bord des Dampfers zu gehen!« bemerkte Jean Taconnat.

Vielleicht hatte er damit nicht unrecht. Was wäre – und vorzüglich mit welchem Nutzen – in zwei Stunden von der sich täglich vergrößernden Stadt zu sehen gewesen? Die jungen Leute hätten sich nach dem Strandsee Thau neben die Mündung des Canals begeben müssen, von der aus jener anfängt, oder sie mußten den zwischen Strandsee und Meer vereinzelt aufragenden Kalksteinberg besteigen, den »Pfeiler von Saint-Clair«, dessen Seiten sich die Stadt amphitheatralisch anschmiegt und der in nächster Zukunft mit Fichtenanpflanzungen geschmückt sein wird. Gewiß lohnen sich dem Touristen einige Tage Aufenthalt an dem Hauptseehandelsplatze des südwestlichen Frankreich, der mit dem Meere durch den Canal du Midi, mit dem Landesinnern durch den Canal von Beaucaire in Verbindung steht und den zwei Bahnlinien, die eine über Bordeaux, die andre mitten durchs Land, mit dem Herzen Frankreichs verknüpfen.

Marcel Lornans bestand jedoch nicht länger auf seinen Vorschlägen und folgte gelehrig Jean Taconnat, der dem Dienstmann mit dem Gepäckkarren vorausschritt.

Das alte Bassin wurde nach kurzem Wege erreicht.

Die Reisenden vom Zuge, die dasselbe Ziel wie die beiden jungen Leute hatten, waren hier schon versammelt.

Eine Menge Neugieriger, wie solche ein in der Abfahrt begriffenes Schiff immer heranlockt, stand auf dem Kai, und es wäre wohl nicht übertrieben gewesen. deren Anzahl – bei einer Bevölkerung von sechsunddreißigtausend Seelen – auf hundert abzuschätzen.

Cette hat regelmäßigen Dampferverkehr nach Algier, Oran, Marseille, Nizza, Genua und Barcelona. Reisende scheinen da am besten zu thun, wenn sie zur Ueberfahrt eine Linie wählen, die im westlichen Mittelmeer durch die Küste Spaniens und die Gruppe der Balearischen Inseln mehr geschützt ist. Heute wollten sich etwa fünfzig auf dem »Argeles«, einem Dampfer von mäßiger Größe – höchstens von acht- bis neunhundert Tonnen – einschiffen, der unter Führung des Kapitän Bugarach alle wünschenswerthe Sicherheit bot.

Der »Argeles« lag, schon mit angezündeten Feuern und schwarze Rauchwirbel aus dem Schornsteine blasend, im alten Hafenbassin am Molo von Frontignan im Osten. Nördlich davon erkennt man an seiner dreieckigen Gestalt das neue Bassin, in das der Seecanal mündet. Gegenüber liegt die kreisförmige Batterie, die den Hafen und den Molo von Saint-Louis vertheidigt. Zwischen diesem Molo und dem von Frontignan gewährt eine leicht zugängige Durchfahrt Zutritt in das alte Bassin.

Von letzterem Molo aus begaben sich die Passagiere auf den »Argeles«, während der Kapitän Bugarach die Unterbringung des Gepäcks und verschiedner Frachtstücke auf dem Verdeck persönlich überwachte. Der schon fast überfüllte Laderaum bot keinen leeren Platz mehr; überall waren darin Steinkohle, Böttcherholz, Oel, Eingesalznes und viel von den Verschnittweinen untergebracht, die Cette fabriciert und die einen wichtigen Bestandtheil seiner Ausfuhr bilden.

Ein paar alte Theerjacken – mit verwettertem Gesicht, unter dichten, buschigen Augenbrauen hervorglänzenden Augen, mit Ohren mit großem gerötheten Ohrläppchen und in den Hüften wiegendem Gange, als unterläge das Schiff einem ewigen Schwanken – plauderten, während sie gemüthlich ihr Pfeifchen schmauchten. Was sie sagten, konnte den Passagieren, die eine Ueberfahrt von dreißig bis sechsunddreißig Stunden schon vorher beunruhigt, nur angenehm zu hören sein.

»Prächtiges Wetter! meinte der Eine.

– Eine Nordostbrise, die allem Anscheine nach anhalten wird, setzte der Andre hinzu.

– Da muß es bei den Balearen hübsch kühl sein, bemerkte ein Dritter, der eben die letzte Asche aus der Thonpfeife klopfte.

– Mit Rückenwind würde der »Argeles« leicht seine neun Knoten in der Stunde machen können, mischte sich der Lootse ein, der seinen Posten auf dem Dampfer schon eingenommen hatte. Unter dem Commando des Kapitän Bugarach ist überhaupt nichts zu fürchten. Der hat den günstigen Wind unter der Mütze und er braucht sie nur abzunehmen, da bläst er ihm schon von der besten Seite in die Segel!«

Die alten Seebären waren ja recht guter Zuversicht. Doch giebt es nicht das Sprichwort: »Wer lügen will, braucht nur vom Wetter zu sprechen?«

Wenn die beiden jungen Leute jenen Vorhersagungen nur eine mittelmäßige Beachtung schenkten und sie sich obendrein in keiner Hinsicht wegen des Zustandes des Meeres noch wegen sonstiger Zwischenfälle auf der Ueberfahrt beunruhigten, zeigten sich die meisten Passagiere darin weniger gleichgiltig oder weniger philosophisch. Manche durchrieselte die Angst von oben bis unten, ehe sie noch einen Fuß an Bord gesetzt hatten.

Unter den letzteren machte Jean Taconnat seinen Freund Marcel auf eine Familie aufmerksam, die ohne Zweifel ihre erste Vorstellung auf der etwas unsichern Bühne des Mittelmeertheaters gab... eine metaphorische Phrase des lustigsten der zwei Freunde.

Diese Familie bestand aus der dreieinigen Gruppe des Vaters, der Mutter und des Sohnes. Der Vater war ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren, mit Beamtengesicht, obwohl er weder dem sitzenden noch dem wandelnden Beamtenthum angehörte, mit graumeliertem Cotelettenbarte, einer wenig entwickelten Stirn, starkem Leibesumfang und – Dank seinen Schuhen mit hohen Absätzen – fünf Fuß zwei Zoll groß – kurz, eines jener dicken Männchen, die man allgemein als »Tabaksbeutel« bezeichnet. Bekleidet mit einem Sackpaletot aus starkem Diagonalstoffe, die Mütze über den ergrauten Schädel bis an die Ohren heruntergezogen, hielt er in der einen Hand einen Regenschirm in glänzendem Ueberzuge und in der andern eine Reisedecke mit Tigermuster, die eingerollt und mit einem Doppelriemen umschnürt war.

Die Mutter erfreute sich des Vorzugs, ihren Gatten um verschiedene Centimeter zu überragen. Es war eine trockne, magre, stocksteife Frau mit gelblichem Teint, hochmüthigem Ausdruck – jedenfalls infolge ihrer Körperlänge – mit einer Stirnbinde um das Haar, dessen Schwarz, wenn man sich den Fünfzigern nähert, immer etwas Verdächtiges hat, einem festgeschlossnen Munde und mit Wangen, die stellenweise von leichten Bläschen besetzt waren. Die ganze Persönlichkeit war in einen braunwollnen, mit hellgrauem Pelzwerk besetzten Radmantel gehüllt. Eine Tasche mit Stahlbügel hing an ihrem rechten Arme und am linken ein Muff aus falschem Marder herab.

Der Sohn war so ein Bursche von vielleicht einundzwanzig Jahren, mit nichtssagendem Ausdruck und langem Halse, der, im Vereine mit andern Eigenschaften, oft das Kennzeichen angeborner Beschränktheit ist, mit blondem, eben aufkeimendem Schnurrbart, blöden Augen mit Lorgnon für Kurzsichtige, einer schlottrigen Haltung und mit dem Aussehen eines Wiederkäuers, der nicht wußte, was er mit seinen Armen und Beinen anfangen sollte, obwohl er Tanz-und Anstandsunterricht genossen hatte – mit einem Wort, einer jener Erzschwachköpfe, die zu nichts nütze sind und die, um einen Ausdruck aus der Algebra zu gebrauchen, am treffendsten mit einem »Minus«-Zeichen zu versehen wären.

Das war diese kleinbürgerliche Familie. Die Leute lebten von einer zwölftausend Francs betragenden Rente, die von zwei Erbschaften herrührte, und hatten niemals etwas gethan, sie zu vergrößern oder zu verkleinern. Aus Perpignan gebürtig, bewohnten sie dort ein altes Haus auf der Popinière, die sich am Têteflusse hinzieht. Wenn man sie in den Räumen der Präfectur oder der Steuereinnahme aufrief, wurden sie Herr und Frau Désirandelle und Herr Agathokles Désirandelle genannt.

Am Kai und vor der Landungsbrücke, über die man nach dem »Argeles« ging, angelangt, blieben sie stehen. Sollten sie sofort aufs Schiff gehen, oder bis zum letzten Augenblick vor der Abfahrt warten?... Wirklich, eine ernste Frage.

»Wir sind viel zu zeitig gekommen, Herr Désirandelle, murrte die Dame, das ist bei Dir aber immer so...

– Und Du, Frau Désirandelle, hast an all und jedem etwas auszusetzen,« antwortete der Mann in demselben Tone.

Das Pärchen nannte sich nie anders, als »Herr« und »Frau« Soundso – öffentlich, wie unter vier Augen, was sie für besonders vornehm hielten.

»Vorwärts, wir wollen an Bord gehen, schlug Herr Désirandelle vor.

– Eine Stunde vorher, rief Frau Désirandelle, wo wir nachher noch dreißig Stunden lang auf dem Schiffe bleiben müssen, das schon jetzt wie eine Korkscheibe schaukelt!«

Obgleich das Meer ruhig war, bewegte sich der »Argeles« in der That ein wenig, und zwar infolge einer leichten Dünung, die von dem alten Bassin trotz eines fünfhundert Meter langen, einige Kabellängen von der Durchfahrt errichteten Wellenbrechers nicht ganz fern gehalten wurde.

»Wenn uns schon im Hafen die Furcht vor der Seekrankheit plagt, nahm Herr Désirandelle wieder das Wort, dann wär's besser gewesen, diese Reise gänzlich zu unterlassen.

– Glaubst Du, ich hätte ihr jemals zugestimmt, Herr Désirandelle, wenn es sich dabei nicht um Agathokles handelte...

– Nun gut, da sie einmal beschlossen ist...

– Hat man doch gar keine Ursache, sich früher als nöthig einzuschiffen.

– Wir müssen aber unser Gepäck unterbringen, unsre Cabine einnehmen, unsre Plätze im Speisesalon wählen, wie mir Dardentor angerathen hat...

– Du siehst ja aber, erwiderte die Dame trocknen Tones, daß Dein Dardentor selbst noch nicht eingetroffen ist.«

Sie erhob sich, um ihr Gesichtsfeld zu erweitern und ließ die Blicke über den Molo von Frontignan schweifen. Die mit dem glänzenden Namen Dardentor bezeichnete Persönlichkeit war jedoch nicht zu sehen.

»Ach, rief Herr Désirandelle, Du weißt ja, das ist so seine Mode! – Er wird erst im letzten Augenblicke erscheinen! Unser Freund Dardentor setzt sich immer der Gefahr aus, daß man ohne ihn abfährt.

– Nun, ich dächte, rief Frau Désirandelle, wenn das jetzt zuträfe...

– So würde es nicht das erste Mal sein.

– Warum hat er das Hôtel dann schon vor uns verlassen?

– Er wollte noch Pigorin, einen ihm befreundeten Böttcher besuchen, und hat versprochen, mit uns auf dem Dampfer zusammenzutreffen. Sobald er kommt. wird er an Bord gehen, und ich möchte wetten, daß er nicht auf dem Molo bleibt, um die Zeit zu vertrödeln.

– Er ist aber noch gar nicht da...

– Das wird nicht lange dauern, erwiderte Herr Désirandelle, der sich festen Schrittes dem Landgange näherte.

– Was denkst Du darüber, Agathokles?« fragte Frau Désirandelle, indem sie sich an ihren Sohn wendete.

Agathokles dachte gar nichts, einfach weil er überhaupt niemals über etwas nachdachte. Warum hätte der Tropf sich für dieses See- und Handelsleben, für den Transport von Waaren, die Einschiffung von Reisenden, für den Lärm an Bord, der der Abfahrt eines Dampfers immer vorausgeht, auch interessieren sollen? Eine Seereise zu unternehmen, um ein ihm bisher unbekanntes Land kennen zu lernen, erweckte in ihm nicht die freudige Neugier, die natürliche Erregung, die bei Leuten seines Alters sonst zutage zu treten pflegt. Allem gleichgiltig, ja fremd gegenüberstehend, apathisch, ohne Phantasie oder Geist, ließ er den Dingen einfach ihren Lauf. Als sein Vater ihm gesagt hatte: »Wir werden nach Oran reisen,« hatte er mit einem »Ah« geantwortet; auf dieselbe Mittheilung seiner Mutter stieß er das nämliche »Ah!« hervor, und als Beide ihm sagten: »Wir werden dort einige Wochen bei Madame Elissane und ihrer Tochter wohnen, die Du bei ihrem letzten Aufenthalt in Perpignan kennen gelernt hast,« antwortete er wiederum: »Ah!« – Dieses Ausrufswort dient gewöhnlich als Ausdruck der Freude oder des Schmerzes, der Bewunderung oder des Mitleids. Was es im Munde des Agathokles bedeutete, ist schwer zu sagen, wenn nicht etwa ein Nichts in der Dummheit oder eine Dummheit im Nichts.

Als seine Mutter ihn aber fragte, was er darüber denke, so zeitig an Bord zu gehen, oder noch auf dem Kai zu bleiben, folgte er seinem Vater, als er diesen den Landgang betreten sah, einfach nach, und Frau Désirandelle mußte sich Beiden wohl oder übel anschließen.

Die beiden jungen Leute hatten auf dem Oberdeck des Dampfers bereits Platz genommen. Die lebhafte Bewegung ringsumher amüsierte sie. Das Erscheinen des einen oder andern Passagiers regte sie, je nach dem Typus des Individuums, zu dem oder jenem Gedanken an. Die Zeit der Abfahrt kam heran. Die Dampfpfeife zerriß die Luft. Dichter wirbelte der Rauch aus dem dicken Schornsteine nahe am Großmast, dessen Segelwerk von seinen gelblichen Hüllen bedeckt war.

Die Passagiere des »Argeles« waren zum größten Theile Franzosen, die sich nach Algerien begaben, Soldaten auf dem Rückwege zu ihren Regimentern oder Bataillonen, einige Araber und auch einzelne Marokkaner mit Oran als Ziel ihrer Reise. Die letzteren wendeten sich gleich nach dem Betreten des Decks dem für die zweite Classe bestimmten Theile des Schiffes zu. Auf dem Hintertheile vereinigten sich die Passagiere erster Classe, denen das Oberdeck, der allgemeine und der Speisesalon darunter, letztere mit Deckfenstern, die ihnen genügendes Licht zuführten, allein zugänglich waren. Die an den Seiten gelegnen Cabinen wurden durch Lichtpforten mit Linsengläsern erhellt. Auf dem »Argeles« herrschte offenbar weder der Luxus, noch die Bequemlichkeit, wie auf den Fahrzeugen der Transatlantischen Gesellschaft oder der Messageries maritimes. Die zwischen Marseille und Algerien verkehrenden Dampfer haben größern Tonnengehalt, schnelleren Gang und im allgemeinen bessre Einrichtung. Bei einer so kurzen Ueberfahrt wie hier, braucht man aber nicht zu wählerisch zu sein. Den Schiffen zwischen Cette und Oran, die geringere Fahr- und Frachtpreise fordern, fehlte es denn auch niemals weder an Passagieren noch an Frachtgütern.

Wenn sich heute gegen sechzig Passagiere auf dem Vordertheile befanden, schien es, daß die des Hintertheils die Zahl von zwanzig bis dreißig nicht überstiegen. Einer der Matrosen läutete jetzt um zwei Uhr dreißig Minuten. In einer halben Stunde sollte der »Argeles« seine Sorrtaue einziehen, und bei der Abfahrt von Dampfern giebt es meist nicht viele Nachzügler.

Von ihrer Einschiffung an hatte sich die Familie Désirandelle einen Platz nahe der doppelflügligen Thür gesucht, die nach dem Speisesalon führte.

»Ach, wie das Schiff schon schaukelt!« hatte sich des Agathokles Mutter auszurufen nicht enthalten können.

Der Vater hütete sich, ihr zu antworten. Er beschäftigte sich ausschließlich mit der Auswahl einer Cabine für drei Personen und mit dem Belegen von drei Plätzen im Speisesalon nahe der Offiz. Hier kamen die Speisen zuerst auf die Tafel und man hatte die Auswahl unter den besten Stücken und war nicht auf das angewiesen, was die Andern übrig gelassen hatten.

Die Cabine, der er den Vorzug gab, trug die Nummer 19. An Steuerbord gelegen, befand sie sich ziemlich mittschiffs, wo das Stampfen des Fahrzeugs am geringsten ist. Vor dem Rollen und Schlingern konnte man sich freilich nirgends schützen. Am Vordertheile, wie am Hintertheile sind diese Bewegungen dieselben und gleichmäßig unangenehm für die Passagiere, die den Reiz einer wiegenden Bewegung nicht zu schätzen wissen.

Nach Besitznahme der Cabine und Ablegung des Handgepäcks, begab sich Herr Désirandelle, der die Verpackung ihrer Colli seiner Gattin überließ, mit Agathokles nach dem Speisesalon. Da sich die Offiz an der Backbordseite befand, wendete er sich ebendahin, um sich am Ende der Tafel drei Plätze, die er beanspruchte, durch Belegung mit seiner Karte zu sichern.

Ein Reisender saß schon an diesem Ende, während sich der Restaurateur nebst seinen Leuten damit beschäftigte, die einzelnen Couverts für die Mittagstafel um fünf Uhr in Ordnung zu bringen.

Der erwähnte Reisende hatte also schon von einem solchen Platze Besitz genommen und seine Karte zwischen die Falten der Serviette gesteckt, die auf einem mit dem Monogramme des »Argeles« geschmückten Teller stand. Ohne Zweifel wollte er, in der Befürchtung, daß ihm ein Eindringling diesen Platz abwendig machen könnte, bis zur Abfahrt des Dampfers vor seinem Couvert gleich sitzen bleiben.

Herr Désirandelle warf ihm einen flüchtigen Blick zu und erhielt einen solchen zurück. Dabei hatte er aber die beiden Namen »Eustache Oriental« auf der Karte des Tischgenossen lesen können; dann belegte er dem Manne gegenüber seine drei Plätze und verließ den Speisesalon, um nach dem Oberdeck zurückzukehren.

An der Abfahrtszeit fehlten jetzt nur noch zwölf Minuten, und die auf dem Kai von Frontignan etwa verspäteten Passagiere mußten nun bald das letzte Signal der Dampfpfeife zu hören bekommen. Der Kapitän Bugarach überschritt den Landgang. Vom Vorderkastell aus überwachte der Obersteuermann des »Argeles« die Lösung der Haltetaue.

Herr Désirandelle wurde immer unruhiger und rief wiederholt mit ungeduldiger Stimme:

»Wenn er nun gar nicht käme!... Wo mag er stecken?... Was macht er denn?... Er muß doch wissen, daß es jetzt drei Uhr ist!... Er wird den Dampfer verfehlen!... Agathokles?...

– Was denn? fragte näselnd der jüngere Désirandelle, ohne daß er zu begreifen schien, was seinen Vater in so außergewöhnliche Aufregung versetzte.

– Du siehst Herrn Dardentor nicht?

– Ist er denn nicht gekommen?

– Nein, bis jetzt noch nicht.... Woran denkst Du denn?«

Agathokles dachte an nichts.

Herr Désirandelle lief auf dem Oberdeck von einem Ende zum andern, richtete einmal den Blick nach dem Kai von Frontignan und dann wieder nach der gegenüberliegenden Hafenmauer des alten Bassins. Der Ausgebliebne konnte nämlich auch auf dieser Seite auftauchen und ein Boot hätte ihn mit wenigen Ruderschlägen an die Seite des Dampfers befördert.

Kein Mensch war da zu sehen.

»Was wird Frau Désirandelle sagen! rief Herr Désirandelle in heller Verzweiflung. Sie sorgt sich so um ihn ab!... Ich kann es ihr doch nicht verhehlen! Wenn dieser Teufel von Dardentor nicht binnen fünf Minuten hier ist, was soll denn dann werden?«

Marcel Lornans und Jean Taconnat belustigten sich über die Verlegenheit des Männchens. Jedenfalls wurden die Sorrtaue des »Argeles« nun sehr bald losgeworfen, wenn der Kapitän nicht näher unterrichtet wurde und wenn man annahm, daß dieser keine hergebrachte Gnadenviertelstunde bewilligte – was übrigens kaum geschieht, wenn es sich um Personenschiffe handelt – so würde man ohne Herrn Dardentor abfahren.

Jetzt zitterten und dröhnten die Kessel schon unter dem Hochdruck des Dampfes und aus dem Abblaserohre schossen weiße Wolken hervor; der Dampfer stieß sich an der Mauer gegen seine aus Stricken geflochtnen Schutzballons, während der Maschinist die Kolben langsam in Gang setzte und die Schraube sich etwas einlaufen ließ.

In diesem Augenblicke erschien Frau Désirandelle auf dem Oberdeck. Trockner als sonst und blasser als gewöhnlich, wäre sie wohl in ihrer Cabine geblieben und hätte diese während der ganzen Fahrt nicht verlassen, wenn nicht auch sie eine wirkliche Unruhe hinausgetrieben hätte. Im Vorgefühl, daß Herr Dardentor doch nicht an Bord wäre, wollte sie trotz ihrer Schwäche den Kapitän Bugarach ersucht sehen, auf den noch ausgebliebnen Passagier zu warten.

»Nun...? redete sie ihren Gatten an.

– Er ist nicht eingetroffen! lautete die Antwort.

– Ohne Dardentor können wir aber unmöglich abreisen...

– Ja, wenn er jedoch...

– So sprich doch mit dem Kapitän, Herr Désirandelle!... Du siehst ja, daß mir die Kraft fehlt, zu ihm hinauf zu klettern!«

Der Kapitän Bugarach, der ein Auge auf alles hatte und der jetzt einen Befehl nach dem Vorderdeck und dann einen nach Hinterdeck ertheilte, schien nicht leicht zugänglicher Natur zu sein. An seiner Seite auf der Commandobrücke und die Hände auf dem Rade stand der Steuermann und wartete nur auf den Befehl, die Ketten des Steuerruders in Bewegung zu setzen. Jetzt war's der unpassendste Augenblick, ein Anliegen an ihn vorzubringen; auf Betrieb der ungeduldigen Frau Désirandelle kletterte der gehorsame Gatte aber doch die eiserne Leiter hinauf und hielt sich dann an den mit weißer Leinwand überzognen Leitstangen fest.

»Herr Kapitän?... begann er.

– Was wünschen Sie? antwortete ziemlich barsch »der Herr nächst Gott« mit einer Stimme, die durch seine Zähne rollte wie der Donner durch eine Wetterwolke.

– Sie denken abzufahren?

– Genau um drei Uhr... und daran fehlt nur noch eine Minute...

– Doch einer unsrer Reisegenossen hat sich verspätet...

– Desto schlimmer für ihn.

– Könnten Sie denn nicht etwas warten?

– Nicht eine Secunde!

– Es handelt sich aber um Herrn Dardentor!...«

Herr Désirandelle nahm mit Sicherheit an, daß die Nennung dieses Namens genügen würde, den Kapitän zu veranlassen, daß er die Mütze ziehend sich verneigte.

»Wer ist das?... Dardentor?... Kenne ich nicht!

– Herr Clovis Dardentor... aus Perpignan...

– Schön! Wenn Herr Clovis Dardentor aus Perpignan nicht binnen vierzig Secunden an Bord ist, so wird der »Argeles« ohne Herrn Dardentor abfahren... Die Taue vorn losmachen!«

Herr Désirandelle kam mehr purzelnd als gehend die Leiter hinunter und auf dem Deck an.

»Es soll also fortgehen?.. rief Frau Désirandelle, der der Zorn die schon erbleichenden Wangen für eine Secunde mit Purpur übergoß.

– Der Kapitän ist der reine Unhold!... Er hört auf keine Bitte und will abfahren!

– So steigen wir augenblicklich wieder aus!...

– Frau Désirandelle, das geht nicht an!... Unser größres Gepäck ist mit in den Frachtraum hinunter geschafft...

– Wir steigen aus, sag ich Dir!

– Unsre Plätze sind schon bezahlt...«

Bei dem Gedanken an den dreifachen Verlust des Fahrpreises von Cette nach Oran wurde Frau Désirandelle wieder leichenblaß.

»Die gute Frau streicht die Flagge! sagte Jean Taconnat.

– Sie wird sich also ergeben!« setzte Marcel Lornans hinzu.

Und sie ergab sich wirklich, doch nicht ohne einen Schwall nutzloser Vorwürfe loszulassen.

»Ach, dieser Dardentor... er ist doch unverbesserlich!... Niemals da, wo er sein sollte!... Statt graden Wegs nach dem Schiffe zu gehen, nein, da muß er noch einmal zu jenem Pigorin laufen!... Und was werden wir... da draußen... in Oran... ohne ihn anfangen?

– O, wir erwarten ihn einfach bei Madame Elissane, antwortete Herr Désirandelle tröstend, er wird uns mit dem nächsten Dampfer nachkommen, und sollt' er auch einen von Marseille aus benützen.

– Nein, dieser Dardentor!... dieser Dardentor!... wiederholte die Dame, deren Blässe bei den ersten leisen Bewegungen des »Argeles« noch zunahm. Ach, wenn es nicht um unsers Sohnes willen wäre... wenn sich's nicht um das Glück und die Zukunft meines Agathokles handelte!«

Ob seine Zukunft und sein Glück dem unbedeutenden Burschen, dieser negativen Größe, wirklich so besonders am Herzen lagen, das hätte man, wenn man ihn bei der leiblichen und geistigen Unruhe seiner Eltern so gleichgiltig sah, gewiß verneinen mögen.

Frau Désirandelle war am Ende ihrer Kräfte und sie konnte unter schwerem Aufseufzen nur die Worte rufen:

»Meine Cabine!... Meine Cabine!«

Der Landgang des Dampfers war eben von einigen Leuten nach dem Kai zurückgezogen worden. Nachdem der Dampfer sich am Vordertheile ein wenig von der Mauer entfernt hatte, machte er eine Wendung, um in die Richtung nach der Durchfahrt zu liegen zu kommen. Die Schraube arbeitete erst langsam rückwärts und erzeugte auf der Oberfläche des alten Bassins einen weißlichen Wasserwirbel. Die Dampfpfeife ließ ihren ohrzerreißenden Ton vernehmen, um in der Durchfahrt freies Fahrwasser für den Fall zu finden, daß noch ein Schiff hätte von außen da einlaufen wollen.

Herr Désirandelle warf noch einen letzten, verzweifelten Blick auf die Menschen, die der Abfahrt des Dampfers beiwohnten, und dann längs des Kais von Perpignan bis zu dessen Ende hin, wo der Nachzügler hätte auftauchen können... Mit einem Boote wär' es ihm ja auch jetzt noch möglich gewesen, den »Argeles« zu erreichen.

»Meine Cabine... meine Cabine!« murmelte Frau Désirandelle mit fast ersterbender Stimme.

Aergerlich über den widrigen Zufall und erbost über das Jammern seiner Frau hätte er diese sammt Herrn Dardentor am liebsten zum Henker gejagt. Das Dringlichste war es jedoch, Frau Désirandelle wieder in ihre Cabine zu schaffen, die sie gar nicht hätte verlassen sollen. Er bemühte sich also, sie auf der Bank, auf der sie halb ohnmächtig lag, emporzurichten. Dann faßte er sie um die Taille und trug sie mit Hilfe einiger Stewardesses vom Oberdeck nach dem Verdeck hinab. Nachdem sie so durch den Speisesalon und bis in ihre Cabine geschleppt worden war, wurde sie zum Theil entkleidet, niedergelegt und in Decken gewickelt, um ihre halb entschwundene Körperwärme wieder herzustellen.

Nach Vollendung dieser beschwerlichen Operation stieg Herr Désirandelle wieder zum Oberdeck hinauf, von wo aus seine wüthenden und drohenden Blicke die Hafendämme des alten Bassins überflogen.

Der Nachzügler war nicht da, und wäre er dagewesen, was hätte er anders thun können, als seine Schuld eingestehend sich an die Brust zu schlagen?

Nachdem der »Argeles« sich gewendet, dampfte er mitten in die Durchfahrt ein, wobei ihm eine Menge Leute, die sich theils auf dem Hafendamme, theils um den Molo Saint-Louis drängten, noch Abschiedsgrüße zuwinkten. Dann fiel er leicht nach Backbord hin ab, um einer Goelette auszuweichen, die eben ins Bassin eingelaufen war. Nach Passierung der Durchfahrt endlich ließ der Kapitän Bugarach so steuern, daß er im Norden vom Wellenbrecher vorüberfuhr und das Cap von Cette mit halber Dampfkraft umschiffte.

Zweites Capitel. Worin dem Leser die Hauptperson dieser Erzählung wirklich vorgestellt wird.

»Da wären wir nun unterwegs, sagte Marcel Lornans, unterwegs nach...

– Dem Unbekannten, ergänzte Jean Taconnat die Worte des Freundes, nach dem Unbekannten, das man durchstöbern muß, um etwas Neues zu finden, hat Beaudelair gesagt.

– Nach dem Unbekannten, Jean?... Hoffst Du dem bei einer einfachen Fahrt von Frankreich nach Afrika, auf einer Reise von Cette nach Oran zu begegnen?

– Handelte es sich nur um eine Seefahrt von dreißig bis sechsunddreißig Stunden, Marcel, um eine einfache Reise, deren erstes und vielleicht einziges Ziel Oran wäre, dann möchte ich das nicht behaupten. Doch weiß man denn, wenn man abreist, wohin man kommt?...

– Gewiß, Jean, mindestens wenn ein Dampfer Dich dahin befördert, wohin Du Dich begeben sollst, soweit nicht Unfälle auf dem Meere....

– O, wer spricht denn davon, Marcel? unterbrach ihn Jean Taconnat wegwerfenden Tones. Seeunfälle, ein Zusammenstoß, ein Schiffbruch, eine Kesselexplosion und so eine zwanzigjährige Robinsonade auf wüster Insel... ich danke bestens!.. Nein, das Unbekannte – was mir übrigens wenig Kopfschmerzen macht – das ist das X des Lebens, das Geheimniß unsrer Bestimmung, das die Menschen in alten Zeiten auf das Fell der Ziege des Amalthäos gravierten, das im großen Buche von Oben geschrieben steht, welches wir trotz der besten Brillen nicht lesen können; das ist die Urne, worin die Lose des Lebens liegen, die die Hand des Zufalls zieht....

– Halt! Einen Damm vor diese Hochfluth von Metaphern, Jean, rief Marcel Lornans, oder Du machst mich noch seekrank!

– Es ist die geheimnißvolle Decoration, vor der der Vorhang allmählich in die Höhe geht....

– Genug... genug!... Geh' nur nicht gleich von vornherein so ins Zeug!... Galoppiere nicht auf dem Steckenpferde der Chimären!... Reite nicht gleich mit verhängtem Zügel davon!

– Ah... sieh einmal an!... Jetzt scheint's mir, verirrst Du Dich ins Reich der Metaphern!

– Ja, Du hast recht, Jean! Nein, wir wollen nüchtern sprechen und die suchen ansehen, wie sie sind. Was wir vorhaben, liegt ja ziemlich klar vor Augen. Wir fahren, jeder mit tausend Francs in der Tasche, jetzt von Cette nach Oran, um dort bei den Siebenten Afrikanischen Jägern einzutreten. Das ist sehr klug und weise, sehr einfach, und von dem Unbekannten mit seinen phantastischen Perspectiven ist darin keine Spur.

– Ja, wer weiß?« antwortete Jean Taconnat, indem er mit dem Zeigefinger ein Fragezeichen in die Luft schrieb.

Dieses Zwiegespräch, das an gewissen unterscheidenden Zügen den Charakter der zwei jungen Leute erkennen läßt, wurde auf dem hintern Theile des Oberdecks geführt. Von der Bank an dem mit Netzwerk ausgefüllten Geländer wurde der Ausblick nach vorn nur durch die Commandobrücke unterbrochen. die zwischen Groß- und Fockmast des Dampfers emporragte. Etwa zwanzig Passagiere saßen auf den Seitenbänken oder auf Klappstühlen, die ein an spinnewebförmig verzweigtem Hißtau hängendes Zeltdach vor den Strahlen der Sonne schützte.

Zu diesen Passagieren gehörten auch Désirandelle und sein Sohn. Der erstere lief fieberhaft auf dem Deck hin und her und hielt die Arme einmal auf dem Rücken und dann wieder zum Himmel empor. Hierauf lehnte er sich über das Geländer und starrte in das Kielwasser des »Argeles«, als ob der zur Robbe verwandelte Herr Dardentor mitten in dem dahinwirbelnden Schaumstrome auftauchen sollte.

Agathokles beharrte bei der Bewahrung vollständigster Gleichgiltigkeit gegenüber der Fehlrechnung, die seinen Eltern so viele Unruhe und Aerger bereitete. 

Von den übrigen Passagieren lustwandelten die einen, die gegen die, übrigens nur schwachen Bewegungen des Schiffes unempfindlicher waren, hin und her, plauderten, rauchten und ließen ein Fernrohr vom Dampfer von Hand zu Hand gehen, um die zurückweichende Küste zu betrachten, an der nach Westen hin schon einzelne stolze Berghäupter der Pyrenäen auftauchten; die andern, die von dem Schwanken des »Argeles« mehr belästigt wurden, saßen still auf den Rohrlehnstühlen in der Ecke, der sie für die ganze Ueberfahrtszeit den Vorzug gaben. Einzelne in Decken eingehüllte Damen, die der unvermeidlichen Unbehaglichkeit der Fahrt ergeben, wenn auch mit dem Ausdruck völliger Niedergeschlagenheit entgegensahen, hatten sich unter dem Schutz der Deckbauten mehr nach der Mitte zu niedergelassen, wo man das Stampfen und Rollen des Schiffes am wenigsten spürt... Gruppen von Müttern mit ihren Kindern, die ein recht hübsches Bild abgaben, doch gewiß bedauerten, nicht schon um fünfzig Stunden älter zu sein. Zwischen den weiblichen Reisenden bewegten sich die Stewardesses des Dampfers hin und her; zwischen den Herren mehrere Schiffsjungen, jedes Winks gewärtig, um herbeizueilen und ihre unentbehrlichen und oft erwünschten Dienste anzubieten.

Der Schiffsarzt des »Argeles« legte sich schon immer die gewohnte Frage vor, wie viele von den Passagieren wohl an der Tafel im Speisesalon Platz nehmen würden, wenn nach etwa zwei Stunden die Glocke zum Essen rief. Er täuschte sich auch nicht in der Annahme, daß wie gewöhnlich sechzig bis siebzig Procent davon bei der ersten Mahlzeit fehlen würden.

Es war das ein kugelrundes, lustiges, schwatzhaftes Männchen von unerschütterlicher guter Laune und trotz seiner fünfzig Jahre von überraschender Lebhaftigkeit. Er aß und trank tüchtig und besaß eine unglaubliche Sammlung von Recepten und Verordnungen gegen die Seekrankheit, an die er selbst nicht im geringsten glaubte. Er hatte aber so viele tröstende Worte zur Hand und redete seiner Passagier-Kundschaft so überzeugend zu, daß die unglücklichen Opfer Neptuns zwischen allem Jammer lächeln lernten.

»O, es wird nicht so schlimm werden, pflegte er zu sagen. Achten Sie nur hübsch darauf, beim Aufsteigen des Schiffes aus- und beim Senken desselben einzuathmen. Sobald Sie den Fuß wieder auf festen Boden setzen, ist die Sache gänzlich vorbei, dann fühlen Sie sich erst recht gesund!... Das verhütet viele spätre Krankheiten!... Ich sage Ihnen, so eine Ueberfahrt ist mindestens so viel werth, wie ein Saisonaufenthalt in Vichy oder in Uriage!«

Die beiden jungen Leute hatten das lebhafte, muntre Männchen gleich anfangs gesehen, er nannte sich Doctor Bruno, und Marcel Lornans sagte zu Jean Taconnat:

»Das ist ja ein drolliger Doctor, der die Bezeichnung eines heimlichen Mörders nicht verdient...

– Doch nur, weil er eine einzige Krankheit behandelt, an der man überhaupt nicht zugrundegeht!«

Und Herr Eustache Oriental, der nicht auf dem Verdeck erschienen war, unterlag dessen Magen schon bedauerlichen Umwälzungen oder – um einen Ausdruck aus dem Seemannsjargon zu gebrauchen – »zählte er seine Hemden?« Man trifft Unglückliche, die solche dutzendweise haben – doch nicht in ihrer Reisetasche.