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"Aidan Snow – ein eiskalter Agent in brandheißen Abenteuern." - Stephen Leather, Autor von THE FOREIGNER (verfilmt mit Pierce Brosnan und Jackie Chan) SAS-Soldat Aidan Snow ist gerade dabei, eine neue Einheit polnischer Rekruten zu trainieren, als man ihn und seine kaum ausgebildeten Männer aussendet, einen Bankraub zu vereiteln. Dabei geschieht das Unfassliche – der Militärkonvoi wird aufgerieben, und Snow kämpft in einem der brennenden Wracks um sein Leben. Über ihm steht ein grünäugiger Soldat und beobachtet Snows vermeintlich letzte Atemzüge. Doch er erschießt ihn nicht. Zehn Jahre später. Snow lehrt in der Ukraine und versucht, nicht weiter aufzufallen. Doch das Schicksal hat andere Pläne mit ihm. Der grünäugige Soldat, Taurus Pashinski alias der Bulle, wurde unterdessen von seinen alten Armeekontakten angeworben, Waffen und Drogen über die Grenze in die Ukraine zu schmuggeln. Dort bekommt er Hinweise, nach denen zwei britische Investoren angeblich für den Tod seiner Brüder verantwortlich sein sollen. Es beginnt eine Menschenjagd quer durch England und eine Reihe dramatischer Ereignisse in der Ukraine, die auch Snow und seine Freunde immer tiefer in einen Strudel aus Geheimdienstaffären, Geschäftemachern und blutdürstigen Ex-Militärs ziehen. Schnell gleicht das Land einem Kriegsschauplatz. Was genau aber hat der Bulle vor? Und kann Aidan Snow ihm rechtzeitig das Handwerk legen?"Shaws Stil knistert von Seite zu Seite wie die Flamme an einer kurzen Lunte unmittelbar vor der Detonation. Fans von Clancy, McNab, Ryan und Leather werden Aidan Snow lieben." - Matt Hilton, Autor der "Joe Hunter"-Erfolgsthriller "Die perfekte Mixtur aus Spionageroman und Politikthriller." - Matt Lynn, Bestseller-Autor der "Death-Force"-Thriller
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Copyright © 2013 by Alex Shaw
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Hetman: vom 15. bis 18. Jahrhundert in Polen, der Ukraine und Litauen Titel des nach dem Monarchen zweithöchsten Feldherrn.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: HETMAN Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann Lektorat: Astrid Pfister
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-276-6
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
20. September 1996, Schreiner Bank, Posen, Polen
Nachdem er seine Uhr eingestellt hatte, zog er sich die schwarze Sturmmaske über das Gesicht und stieg aus dem Lieferwagen. Die Männer stürmten jetzt gemeinsam in die Bank. »Na podloge natychmiast!« – »Auf den Boden, sofort!«, kurz und bündig in abgehacktem, akzentuiertem Polnisch. Der einzige Wachmann der Schreiner Bank wurde sofort mit einer schnellen Salve aus einer Kalaschnikow neutralisiert.
Entsetzte Kunden kreischten und warfen sich auf den Boden, als zwei Männer in schwarzen Overalls ihre Automatikwaffen auf sie richteten. Der tote Wächter bewies nur zu gut, dass sie sich nicht davor scheuten, zu schießen. Zwei weitere Bankräuber, die leere Rucksäcke bei sich trugen, sprangen hinter die Schalter und gingen sofort zum Tresor. Nummer Fünf und Sechs saßen in zwei BMW-Sportlimousinen am gegenüberliegenden Bürgersteig. Sie parkten in Fahrtrichtung auf den Pflastersteinen, um rasch fliehen zu können. Außerdem standen an beiden Enden der Straße gleich aussehende Vans von Opel, die prall gefüllt mit Plastiksprengstoff aus russischer Fertigung waren. Die Mitglieder des Sturmtrupps nahmen nun ihre abgesprochenen Positionen ein, ohne dabei irgendwelche Worte zu wechseln.
Bull hatte schon die ganze Zeit auf der Lauer gelegen, die Gesandten erwartet und einen Regierungsangestellten zur Aushändigung der Gebäudepläne überredet. Jetzt war er bereit, seine vier Millionen Deutschmark einzustreichen. Die fassungslose Stille, die sich nun über den Banksaal legte, wurde nur vom Wimmern eines Teenagers unterbrochen. Bull schaute ihn abwertend von oben herab an. Sieben Jahre zuvor hätte ein solcher Junge noch seiner Befehlsgewalt in Afghanistan unterstanden.
Polizeiausbildungszentrum, Posen, Polen
Aidan Snow saß auf der Holzbank und rührte seinen Tee um. Die Stimmung im Ausbildungszentrum wäre fast idyllisch gewesen, wenn man niemanden schießen gehört und den damit einhergehenden Gestank nicht gerochen hätte. Als Teil einer vierköpfigen SAS-Ausbildereinheit weilte er schon seit mehr als zwei Monaten in Polen, um die PododdziałAntyterrorystyczny zu beraten, die Antiterroreinheit der hiesigen Polizei. Nun da der Kalte Krieg definitiv vorbei war, erfreute sich seine Abteilung – das 22. Special Air Service Regiment (SAS), bei den Regierungen der unabhängig gewordenen Staaten großer Nachfrage, weil sie ihnen beim Eindämmen der Tätigkeiten internationaler Verbrecher- und Terrororganisationen helfen sollte. Er schloss jetzt seine Augen, denn der Sommer, dessen letzte Sonne Snow gerade abbekam, schien Posen gar nicht mehr verlassen zu wollen.
Mit vierundzwanzig Jahren blickte er bereits auf Einsätze in zahllosen Krisengebieten zurück, teils offiziell in Ländern wie Nordirland, teils in streng geheimer Mission, und zwar sowohl von nationaler als auch internationaler Tragweite. Seine Zeit beim »Regiment« war durchaus ereignisreich verlaufen, entsprach aber nicht gerade dem Leben, was sich seine Eltern – eine Lehrerin und ein Diplomat – für ihn gewünscht hatten.
Er schaute jetzt weiter dabei zu, wie seine drei Kollegen den polnischen Ausbildern die richtige Art und Weise zeigten, ein bewegliches Ziel zu verfolgen und zu treffen. Dazu war eine Silhouette an einer zwischen mehreren Bäumen gespannten Seilrolle aufgehängt worden. Irgendein Witzbold hatte als plumpe Anspielung auf die Niederlage der englischen Fußballnationalmannschaft im Halbfinale gegen Deutschland ein Foto von Andreas Möller an die Scheibe geklebt, dem bekanntermaßen sechsten Schützen im Elfmeterschießen, wegen dem die Gastgeber nicht ins Finale hatten einziehen können. Die Rekruten amüsierten sich köstlich darüber. Die Männer vom SAS allerdings nicht.
Die Einheit hatte deutliche Fortschritte gemacht. Für ein SWAT-Team war sie wirklich gut – einsatzbereit, sollte der Ernstfall eintreten – aber sie brauchte noch Feinschliff, wenn sie zur Elite der Antiterrortruppen avancieren wollte. Die nächste Übung sollte Snow leiten. Sie galt der Anwendung von Hausräumungs- und Nahkampf-Techniken.
Das vom Regiment im Vereinigten Königreich verwendete Gebäude war zweistöckig, ein typisches möbliertes Haus mit je zwei Zimmern oben und unten, aber mit Spezialwänden mit Gummibeschichtung ausgestattet, um Projektile zu absorbieren, außerdem Lüftungen wegen des entstehenden Rauchs und Videokameras in allen Ecken, um das Verhalten der Auszubildenden in den Räumen mitschneiden beziehungsweise hinterher bewerten zu können. Man hatte in jedem Zimmer mindestens ein Ziel aufgestellt und es wurde scharf geschossen. Dank der SAS-Einheit gab es nun auch im Posener Ausbildungszentrum ein solches Haus, allerdings kleiner und weniger aufwendig ausgestattet, um die polnischen Polizisten im korrekten Betreten eines Raumes, Bewerten der dortigen Situation und Abwendung jeglicher Gefahr unterrichten zu können. Inspektor Zatwarnitzki, der Leiter der polnischen Antiterrortruppe, hatte ihnen ein dauerhaftes Gebäude für diese Zwecke nach britischen Standards versprochen, aber diesbezüglich war noch nichts in die Wege geleitet worden.
Snow nippte an seinem Tee. Es war keine schlechte Arbeit. Die Polen lernten rasch, weil die meisten von ihnen im Gegensatz zu den Beamten der britischen Polizei vor ihrer Einstellung bereits bei der Armee des Landes gedient hatten. Daher besaßen sie bereits ein Grund-Verständnis für Militärregeln und den Gebrauch von Schusswaffen. Mehrere von ihnen sprachen ganz annehmbar Englisch, was insofern gut war, weil niemand von der SAS polnisch sprach. Im Falle komplizierterer Unterhaltungen behalf sich Aidan stets des Russischen, das die Polen mehrheitlich als ihre erste Fremdsprache beherrschten.
»Und sind Sie von meinen Leuten beeindruckt, Snow?«
»Sie sind in der Tat äußerst vielversprechend, Inspektor.«
»Gut«, erwiderte Zatwarnitzki. »Die Geschichte ist schon merkwürdig. Sie hier zu haben wäre noch vor ein paar Jahren absolut undenkbar gewesen, denn der Westen galt als unser Feind. Unsere Hoffnung, Zukunft und Sicherheit lag nur bei unseren sowjetischen Beschützern. Und dann? Dann fielen sie um wie Dominosteine. Offengestanden wollten wir nie auf der Seite der Sowjets stehen. Aus diesem Grund brauchen wir Sie hier, Snow, denn wir sind die alten Methoden endgültig leid und möchten selbstverständlich von den Besten lernen.«
Snow lächelte höflich. Er war zugegen gewesen, als der Inspektor zu Besuch in Herford auf eine Einladung der Regierung Ihrer Majestät hin genau die gleichen Worte gewählt hatte. Er hatte alles genau so gemeint, obwohl er sich mehr oder minder für einen öffentlichen Redner hielt.
»Unser früherer Beschützer ist jetzt unsere größte Angst – Mütterchen Russland. Es hat stark gelitten, und nichts ist so gefährlich wie ein verwundeter Bär. Wir wissen es wirklich zu schätzen, dass Ihre Einheit hier ist, Snow.« Der ältere Mann bot dem SAS-Soldaten seine rechte Hand an.
»Danke sehr, Inspektor, aber wir tun hier nur unsere Pflicht. Sie sollten vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass Ihre Männer unglaublich hart arbeiten.«
»Ich hoffe, dass Sie ihnen auch beibringen, so bescheiden zu sein.« Zatwarnitzki hob seine Tasse wie zum Salut.
Auf einmal schrie jemand im Kommunikationsraum und beide Männer fuhren ruckartig hoch. Wenige Augenblicke zuvor war dem Funker sein Sprechteil aus der Hand gefallen. Der Notruf kam direkt aus der Sendezentrale. Bewaffnete Männer hatten eine Filiale der Schreiner Bank in der Ulica Wrocławska gestürmt. Die Rekruten waren nun einmal die nächste Spezialeinheit, und die Frage lautete jetzt, ob sie zur Unterstützung bereit waren.
Zatwarnitzki schaute Snow in die Augen. »Sind meine Männer bereit?«
»Ja.«
Wenige Minuten später saßen die Polen auf Befehl des Inspektors bereits mit ihren SAS-Ausbildern in einem Konvoi, dem ein sehr nervöser Rekrut vorausfuhr. Nach nur acht Wochen im Dienst befand er sich nun in seinem allerersten Einsatz – einer Stegreif-Aktion, wie es die Briten nannten – und er war der Zugführer. Der junge Offizier konzentrierte sich ganz auf die Aktion, während er den Verkehr in seinem neuen Opel Omega Polizeiwagen bewältigte. Die Autofahrer in Posen zeigten sich nicht allzu entgegenkommend, obwohl er sowohl Sirene als auch Blaulicht eingeschaltet hatte. Zatwarnitzki saß auf dem Beifahrersitz, und hinten befand sich Snow, der niemandem außer sich selbst hinter dem Steuer traute.
Wrocławska-Straße, Posen
Bull schaute auf seine Armbanduhr. Die örtlichen Ordnungshüter würden bestimmt noch fünf Minuten brauchen. Aus dem hinteren Teil der Bank erklang jetzt ein dumpfer Knall, seine Komplizen hatten offenbar gerade den Tresor gesprengt. In der Ferne hörte er noch etwas. Waren das Sirenen? Die waren aber früh dran! Die Männer, die mit dem Leerräumen des Tresors betraut waren, kamen nun in Sicht, schwer beladen mit vollen Rucksäcken und waren deshalb nur sehr langsam. Auf ihr vereinbartes Zeichen hin warfen Oleg, sein stellvertretender Befehlshaber und er Rauchbomben mitten in den Raum und auf die vor ihnen liegende Straße. Jetzt war es an der Zeit, zu verschwinden. Um sich noch einmal zu vergewissern, dass er den Fernzünder noch hatte, tastete er nervös danach. Die beiden Einsatzleiter gingen links und rechts neben der Tür in Wartestellung, um ihre Komplizen zu decken, während diese teils verborgen hinter dem wabernden Rauch über die Straße sprinteten. Die schweren Rucksäcke wurden nun hastig in die wartenden Fahrzeuge gewuchtet.
Als der Rekrut um die enge Kurve in die Ulica Wrocławska einbog, sah er bereits Qualm aus der Bank strömen und mehrere Männer in Schwarz mit Gewehren … In diesem Augenblick vergaß der junge Pole alles, was er während seiner Ausbildung gelernt hatte, und gab panisch Gas, ohne zuvor die Sirene abzuschalten.
Bull blickte erschrocken hoch. »Bljat!« Das hätte nicht passieren dürfen, die konnten nicht so schnell vor Ort sein. Aber er erkannte jetzt, dass es sich gar nicht um gewöhnliche Streifenwagen handelte. Der Erste hatte den Van zwar noch nicht erreicht, würde es aber jeden Moment tun. Der Befehlshaber ging auf einem Knie nieder und betätigte daraufhin den Auslöser, während seine Männer das Feuer eröffneten.
Dann geriet das zweite Auto in Sichtweite. Bei der Explosion des Opel-Van wurden Trümmer über beide Fahrspuren der Straße geschleudert. Der zweite Omega wurde von der vollen Wucht der Stoßwelle erfasst, hochgeworfen und zur Seite geschleudert wie ein Kinderspielzeug. Er krachte Sekunden später gegen die Fassade des Postamts. Während der Zugführer genau durch den Rauch fuhr, schrie er und verlor dabei die Kontrolle über das Auto. Die Explosion war so gewaltig, dass das Fahrzeug in den Eingang der Bank gelenkt wurde. Der Offizier und der Inspektor starben dabei auf der Stelle. Am Ende des Blocks zerfetzte es nun auch den anderen Van, wobei ein Zeitungskiosk ebenfalls dem Erdboden gleichgemacht und eine Bäckerei buchstäblich ausgeweidet wurde. Der erste BMW raste jetzt los und war kurz darauf verschwunden.
Während der Rest seiner Männer Feuerschutz gab, bemerkte Bull, dass sich jemand in dem ersten Omega rührte. Er näherte sich dem verheerten Fahrzeug vorsichtig. Der vordere Teil war ein einziger Wust aus verbogenem Stahl und Glasscherben, doch ein Insasse auf der Rückbank lebte noch!
Der Mann trug ebenfalls einen schwarzen Overall. Bull schaute hinab in ein junges blasses Gesicht mit dunkelbraunen Augen. Wer bist du?, dachte er.
Der Mund des Fremden bewegte sich, dann wisperte er gequält vor Schmerz: »Verpiss dich!«
Hatte er gerade Englisch gesprochen? Wer waren diese Polizisten, die so schnell hier gewesen waren?
Der Mann versuchte, sich zu bewegen, klemmte aber offenbar im Sitz fest. Blut floss ihm aus dem Mund und den Ohren. Dieser Held würde bald fallen. Bull zog seine Sturmmaske hoch und lächelte ihn an. Der Knabe sollte ihm dabei ins Gesicht schauen – dem letzten Menschen auf Erden, den er jemals sehen würde. Aber plötzlich flogen ihm Kugeln um die Ohren. Sie stammten von anderen schwarz gekleideten Gestalten, die gerade durch die schwelenden Trümmer rannten und das Feuer seiner Männer erwiderten.
»Bljat!«, fluchte Bull und lief zu seinem Auto zurück. Die übrigen Räuber verzogen sich mit quietschenden Reifen in Richtung Vorstadt. Tauras Paschinski, so sein bürgerlicher Name, lehnte sich im Ledersitz zurück und schloss die Augen. Er war nun ein sehr reicher Mann.
Juli 2006, Puschkinskaja-Straße, Kiew, Ukraine
Die frühmorgendliche Sonne, die ihm wärmend ins Gesicht fiel, und das aufgeregte Bellen des Nachbarhunds, der im gemeinsamen Treppenhaus aufgeregt darauf wartete, dass sein Herrchen aufsperrte und zu ihm kam, weckten Aidan Snow. Draußen vor der Tür drei Stockwerke tiefer hörte er ein leises Scharren. Es waren die Birkenzweige der Reisigbesen, mit denen die Straßenfeger die Gehsteige kehrten. Nachdem er die Augen geöffnet hatte, brauchte er eine Weile, um die Decke fokussieren zu können. Allmählich wurde das Bild schärfer, während sich seine Pupillen an das helle Sonnenlicht gewöhnten. Als er sich zur Seite drehte, fiel sein Blick auf eine leere Glasflasche Desna-Cognac, die zwischen seinem Kissen und der Armlehne des Schlafsofas klemmte. Frühaufsteher zu sein, wie er, war nach einem längeren nächtlichen Ausgang wahrlich kein Segen. Während er seine Beine zur Seite schwang, setzte er sich aufrecht hin. Niewieder, schwor er sich, zugegebenermaßen allerdings nicht zum ersten Mal. Der Parkettboden war klebrig von verschüttetem Bier. Snow ging langsam zur Balkontür, machte sie auf und atmete die frische Morgenluft ein. Der Wagen des Straßenreinigungsdiensts näherte sich gerade vom anderen Ende der Puschkinskaja-Straße. Die Männer besprühten die staubige Fahrbahn und die Gehsteige mit Wasserschläuchen. Kiew strahlte stolz im Licht des frühen Morgens, und die Arbeiter waren emsig damit beschäftigt, die Stadt noch stolzer zu machen. Eine gut geschmierte sowjetische Maschine, die noch fünfzehn Jahre nach dem Ende funktionierte.
Snow lehnte sich gegen das Balkongeländer und blickte über die ukrainische Hauptstadt, die jetzt seine Heimat war; dieser Aussicht musste er erst noch überdrüssig werden. Links ging es auf der Puschkinskaja – der Straße, in der er wohnte – an der Prorizna-Straße vorbei unter einem hohen, verschnörkelten Doppelbogen hindurch, hinab auf den Platz der Unabhängigkeit. Rechter Hand führte sie ebenfalls den Hang hinunter, vorbei an der Bohdan-Chmelnyzkyj-Straße und am Taras-Schewtschenko-Boulevard, bevor sie am Schewtschenko-Park vor der Universität endete. Die Namen der Verkehrsader und der Grünanlage gingen zurück auf den großen Nationalschriftsteller, der das ukrainische Gegenstück zu Shakespeare gewesen war, und nicht auf den Fußballer Andrij Schewtschenko vom britischen FC Chelsea, wie sein Freund Michael einmal beharrlich behauptet hatte. Die Enden der Puschkinskaja waren Treffpunkte für Einheimische in bierseliger Stimmung, die einfach nur das Leben genießen wollten, ganz zu schweigen von den vielen Gaststätten, die sich an der Straße entlang reihten. Snow hatte zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Polen wieder ein wenig Ruhe, zumindest insoweit das möglich für ihn war. Er holte noch einmal tief Luft. Ruhe … Nun ja, mal abgesehen von dem Kater, der ihn gerade plagte.
Es war eine jener Nächte gewesen, während derer sie in seiner Lieblingskneipe »Erics Bierstube« billiges Pils gebechert und das Verhalten ansässiger Ausländer beobachtet hatten. Mit dabei waren die üblichen Gesichter gewesen: In einer Ecke Englischlehrer mit dem Vorsatz, die verheißungsvollsten unter ihren hübschen Schülerinnen herumzukriegen, und in der anderen vorgeblich seriöse Geschäftsleute, die Schnaps kippten, um ihre Verträge zu besiegeln. Der Rest der Gäste hatte entweder aus um Lässigkeit bemühten »Neu-Ukrainern« oder Studenten der städtischen Universität bestanden, beides Trinker der gemächlichen Sorte.
Snow hatte an die Ziegelsteinmauer gelehnt auf seinem üblichen Platz gesessen und Mitch Turney und Michael Jones dabei zugesehen, wie sie mit ihrem Spiel »Rate die Körbchengrößen« zugange gewesen waren. Wie immer war das Obolon-Bier in Strömen geflossen. Michael hatte mindestens einmal richtig getippt, aber dann auf einen Anruf seiner Ehefrau Ina hin nach Hause zurückkehren müssen. Snow war daraufhin mit Mitch zu seiner Wohnung aufgebrochen, wo sie schließlich noch drei Stunden für ihren »letzten« Drink gebraucht hatten. Das Ergebnis waren fünf leere Bierflaschen und das Ende des Desna-Cognacs. Mitch war irgendwann in ein Taxi gefallen und Snow auf den Boden.
Nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte, sammelte er auf dem Weg in die Küche das Leergut ein. Ihm war schwindlig. Niewieder. In diesen Zeiten Single zu sein, erwies sich als Fluch und Segen zugleich. Es gab niemanden, der ihm das Saufen bis zum Umkippen untersagte, aber auch keinen Menschen zum Anlehnen. Deshalb trank und feierte er wie ein – O-Ton Mitch – »College-Student während der Semesterferien in Tijuana«.
Snow torkelte durch seine Funktionsküche und nahm einen Karton Joghurt aus dem Kühlschrank. Der Kühlschrank enthielt das Minimum dessen, was ein Junggeselle zu sich nahm: einen Laib Käse, Milch, Joghurt und einen Schinken. Der Platz, an dem normalerweise das Bier stand, war jetzt leer. Er schlürfte den sämigen Erdbeerjoghurt, ein ukrainisches Erzeugnis, direkt aus der Verpackung, die jener von Milchkartons entsprach, und öffnete anschließend das Küchenfenster. Es war Juli, und nichts deutete darauf hin, dass es kühler in Kiew werden würde.
Er kratzte sich an der linken Pobacke, wo ihn eine Mücke gestochen hatte. Er mochte, ja liebte die Hitze zwar, doch das elende Viehzeug nervte ihn unglaublich! Es schien sich tagsüber zu verstecken, nur um nachts über ihn herzufallen, wenn er es versäumte, den Ultraschall-Insektenschutz in die Steckdose zu schieben.
»Du bist ein Weichei«, warf sich der ehemalige SAS-Soldat vor. »Wie bist du überhaupt durch die Musterung gekommen? Ein Mann, der sich über ein paar Mückenstiche beschwert.« Dann lächelte er in sich hinein. »Mag sein, dass ich das tue, aber es juckt nun mal tierisch.« Snow öffnete eine Schublade und nahm eine Schachtel Tabletten heraus. Nachdem er sich zwei davon in den Mund gesteckt hatte, schluckte er sie mit ein bisschen Joghurt hinunter.
Nie auf leeren Magen, hatte ihn seine Mutter stets ermahnt.
Samstagmorgen … in ein paar Stunden würde es auf den Straßen der Hauptstadt nur so vor Menschen wimmeln. Kiewer beim Einkaufen oder Spazieren auf dem Boulevard Nummer eins vor Ort, dem Chreschtschatyk, außerdem Besucher aus anderen Regionen beim Abklappern der Sehenswürdigkeiten. Snow liebte Kiew, denn es war anmutig, kulturbeflissen und hübsch, wurde jedoch vom Westen gern übersehen. Anders als seine Lehrerkollegen war er nicht über die Ferien verreist, sondern genoss lieber den heißen ukrainischen Sommer.
Danach würde er sein drittes Jahr an der Internationalen Schule von Podilskyj antreten. Er fühlte sich hier bereits heimisch. Kiew war die drittgrößte Stadt der Sowjetunion gewesen, bewahrte sich jedoch hier im Zentrum, wo die Menschen in unmittelbarer Nähe der Einkaufsmeilen lebten, allen Prachtbauten zum Trotz größtenteils noch eine fast kleinstädtische Atmosphäre. Snow hasste die Provinz, doch Kiew war irgendwie anders und außerdem sehr grün. Es gab hier mehr Bäume als in jeder anderen europäischen Stadt (hatte ihm zumindest ein Einheimischer einmal erzählt), einige größere Parks und natürlich den Fluss (den breitesten in Europa, laut desselben Mannes) der mitten durch die Stadt verlief. Somit war es irgendwie städtisch und ländlich zugleich. Snow wohnte als einziger Auswärtiger in diesem Gebäude, und der Tourismus hatte Kiew noch nicht verdorben. Auf den Straßen hörte man nur selten andere Sprachen, und wenn doch, konnte er die Fremden in der Regel zumindest optisch einordnen, entweder als auswärtige Arbeiter oder als Gesandte.
Nur noch knapp ein Monat, bis der Unterricht wieder begann. Diese Zecherei musste also unbedingt aufhören oder wenigstens auf die Wochenenden beschränkt werden. Das konnte aber noch ein bisschen warten. Als er genug Joghurt gegessen hatte, zog er seine Jogging-Sachen an. Samstag hin oder her, dass er das Laufen einmal unterließ, kam nicht infrage. Es war eine feste Regel für ihn, die er beim SAS gelernt hatte und auch jetzt als Zivilist nicht aufgeben würde.
Snow ging die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, um seine Beinmuskulatur aufzuwärmen, bevor er draußen auf der Straße seine gewohnheitsmäßigen Dehnübungen vollzog. Es war kurz nach acht Uhr, also schon später als üblich, wenn er zum Laufen aufbrach, aber jetzt am Wochenende lagen noch viele in ihren Federn. Der Sport gehörte zu den Dingen, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren, und es half ihm dabei, einen klaren Kopf zu bekommen. Er joggte fast jeden Morgen, obwohl dies im ukrainischen Winter, bei durchschnittlich Minus zehn Grad, äußerst hart werden konnte. Schwierig machte es allerdings nicht die Kälte, sondern das Eis. Das Auf und Ab der städtischen Hügel gestaltete sich zu Fuß generell heikel, Laufen war hier geradezu selbstmörderisch. Snows Lösung bestand darin, Runden in einem der zentralen Stadien zu drehen, entweder in dem, des berühmten Fußballvereins Dynamo Kiew oder im »Respublikanski«, das für die Moskauer Olympiade 1980 erbaut und verwendet worden war. Der Umstand, dass die allgemeine Öffentlichkeit beide Anlagen betreten durfte, zählte ebenfalls zu den Vermächtnissen der Sowjetunion, die er sich gern gefallen ließ.
Nachdem er sich hinreichend gedehnt hatte, lief er im gleichmäßigen Tempo los. Er blieb auf der Puschkinskaja, bis er den Maidan erreichte. Dort machte er einen Bogen um die Marktverkäufer, die gerade ihre Stände aufbauten, und legte sich ordentlich ins Zeug, als es steil die Kostjolna-Straße hinaufging. Die morgendliche Luft war noch nicht diesig, und unten vom Dnjepr her wehte ein leichter Wind. Snow folgte seiner Wochenendstrecke, weil er keine Eile hatte und nirgendwohin musste. An einer Brüstung, die einen Ausblick auf den Fluss bot, bog er links ab und lief dann einen Pfad entlang. Der Park flankierte das Wasser bis zu seinem abrupten Ende am gewaltigen Bau des Innenministeriums. Als Snow in Richtung der britischen Botschaft joggte, die sich in der anschließenden Straße befand, beeindruckte ihn die schiere Größe wieder einmal. Dieses Gebäude der ukrainischen Regierung ähnelte dem Pariser Arc de Triomphe de l'Étoile sehr stark, war aber seinen Schätzungen zufolge noch höher und stand als Besichtigungsort bei internationalen Touristen nicht besonders hoch im Kurs. Doch er nahm sich trotzdem die Zeit, es zu bewundern. Es war eines der vielen Dinge, die ihn dazu veranlassten, in Kiew Wurzeln schlagen zu wollen.
Snow hatte im Laufe seiner Jugend eine Vorliebe fürs Ungewöhnliche entwickelt. Sein Vater war Mitte bis Ende der Achtzigerjahre für die britische Botschaft in Moskau Gesandter für Wirtschaftsfragen gewesen. Snow war deshalb die meiste Zeit während jener prägenden Jahre des jungen Erwachsenenalters zur dortigen Botschaftsschule gegangen. Daraus hatte sich ergeben, dass er alles andere als akzentfreies Moskauer Russisch sprach. Dem Widerstand seiner Eltern entgegen hatte er nach seinem Abschluss aber nicht zu studieren begonnen, sondern sich sofort für den Militärdienst verpflichtet. Nach der Mindestpflichtzeit von drei Jahren hatte er allerdings das Angebot abgelehnt, eine Offizierslaufbahn einzuschlagen, und den Dienst als »SAS-tauglich« quittiert. Bereits seit den Berichten über die sehr medienwirksam inszenierte Befreiung der Geiseln in der iranischen Botschaft 1980 am Prince's Gate (Operation Nimrod), als Snow neun Jahre alt gewesen war, hatte er sich gewünscht, ein »ausgewiesenes« Mitglied der Spezialeinheit zu sein. Seine Eltern hatten sich darüber lustig gemacht und ihm daraufhin eine schwarze Skimaske und eine Spielzeugpistole gekauft, doch mit der Zeit war Aidans Drang, sich dem SAS anzuschließen, nur noch stärker geworden. Letzten Endes hatte er es geschafft. Als sein Kindheitstraum erfüllt war, hatten seine Eltern durchaus ein wenig Stolz empfunden, wenn sie auch mit den Zähnen knirschten, wie er wusste. Aber dann war plötzlich alles aus den Fugen geraten.
Snow hörte auf zu joggen, als er zum Andreassteig kam. Auf der steilen Pflasterstraße, wo es viele Souvenirstände, Kunstgalerien und Bars gab, brach man sich schnell den Knöchel, wenn man nicht achtgab. Er setzte seinen Weg nach unten langsam fort, auch weil sein rechter Oberschenkel plötzlich zu schmerzen begonnen hatte. Das Gefühl weckte Erinnerungen an den Vorfall in Polen und an die fast unerträgliche Qual, während er bewegungsunfähig, ohne seine Waffe zu ziehen und sich verteidigen zu können, auf der Rückbank eines Wagens eingeklemmt gewesen war. Das Prasseln der Flammen, der grauenvolle Gestank von Benzin, der ihn beinahe erstickt hatte, und dann dieses Gesicht … ein Blick wie aus Schlangenaugen in seine eigenen, der einem Todesurteil gleichgekommen war.
Snow erschauderte trotz der Wärme an diesem Morgen. Nach diesem Einsatz hatten die Ärzte ihm prophezeit, dass er für immer humpeln werde, weil der Knochen bleibend geschwächt wäre, und die Muskeln eventuell nicht mehr richtig zusammenwachsen würden. Darum war seinem Arbeitgeber nahegelegt worden, ihn vom aktiven Dienst zu entbinden, ihn an einen Schreibtisch zu setzen oder ihm andere Aufgaben zuzuweisen. Er hatte diese Diagnose einfach ignoriert und sich daraufhin angestrengt, jegliche medizinische Einschätzung zu widerlegen, indem er noch härter mit sich ins Gericht gegangen war, als er es selbst für möglich gehalten hätte. Zahlreiche Stunden in der Reha, zuerst mit Krankengymnastiklehrern und später dann auf eigene Faust. Er war vierundzwanzig Jahre alt und Mitglied des 22. Special Air Service Regiment gewesen, niemand hatte ihm vorschreiben können, was er tun konnte oder was nicht.
Seine Bemühungen hatten sich am Ende ausgezahlt, denn er war vom Stabsarzt wieder als aktiv einsetzbar eingestuft worden – kein Humpeln, nur eine Narbe. Allerdings gestand es Snow niemandem und schon gar nicht sich selbst, dass er auch eine seelische Narbe davongetragen hatte … von den Albträumen, um es in Ermanglung eines eher machohaften Ausdrucks so zu nennen, die ihn nicht schlafen ließen und ihn vom umgänglichen Truppenmitglied in einen zurückgezogenen Einzelgänger verwandelt hatten. Aidan hatte zuerst psychiatrische Hilfe gesucht, sich aber schließlich mit den Tatsachen abgefunden. Noch im selben Jahr war er ehrenhaft aus dem Dienst entlassen worden; das jähe Ende seiner Militärkarriere.
Die Verspannung in seinem Bein löste sich langsam, als er den Bürgersteig erreichte, und wieder einmal machte er sich den Vorwurf, zugelassen zu haben, dass ihm die Vergangenheit – etwas, das sich nun einmal nicht ändern ließ – einen wunderbaren Tag verdarb. Die Sonne stand mittlerweile höher am Himmel, als er durch das Zentrum des Viertels Podil zum Hidropark joggte, der sich als größte Grünfläche im Flussgebiet Kiew über zwei ganze Inseln erstreckte. Sollte er vielleicht ein bisschen schwimmen gehen?
Tiraspol, Hauptstadt von Transnistrien, umstrittenes Autonomiegebiet in Moldawien
Die zwei Männer umarmten sich wie alte Genossen und das waren sie auch. Bull schaute seinem Freund und ehemaligen SpezNas-Bruder Iwan Lesukow mitten ins Gesicht. »Du bist dick geworden, alter Mann.«
»Und du hässlich.« Lesukow lachte herzlich. »Wie ich sehe, hat sich Sergeant Zukauskas nicht verändert. Du hast immer noch etwas von einem Schwein an dir!«
»Darum hassten mich die Muslime auch wie die Pest!« Oleg, ein Litauer mit breiter Brust, zwinkerte ihm zu.
Als Lesukow sein Glas hob, taten es ihm die anderen gleich. »Auf die gefallenen Kameraden.« Der Wodka war angenehm kalt, da Lesukow ihn im Kühlschrank seines Büros aufbewahrte.
Bull beglückwünschte ihn: »Du hast hier ein richtiges Imperium, Iwan.«
»Ich bin der König der Stühle«, entgegnete Lesukow mit Verweis auf ein Fenster, durch das man die Fertigungshalle im Erdgeschoss überblicken konnte. »Der Hauptwirtschaftszweig unseres Landes ist die Möbelindustrie und die Elektronikbranche, aber wegen dieser Mistkerle im Chișinău können wir die Sachen leider nicht international verkaufen.« Er zuckte mit den Schultern. »Die Regierung genehmigt unsere Produkte nicht, und weil der Staat Transnistrien außerhalb seiner Grenzen nicht anerkannt wird, dürfen wir auch keinen Auslandshandel betreiben.« Lesukow füllte die Gläser erneut. »Mir ist das alles aber vollkommen egal … die Elektronik und selbst meine Stühle. Ich habe euch heute nämlich herbestellt, um zu besprechen, wie ihr dem Exportbetrieb eines alten Haudegens auf die Sprünge helfen könnt.« Er hob sein Glas erneut. »Auf den Erfolg.« Abermals tranken sie ihre Gläser leer.
Bull sprach schließlich zuerst: »Soweit ich weiß, hast du in letzter Zeit einige logistische Schwierigkeiten, oder?«
»Unsere Freunde, die Russen, zeigen sich bezüglich unserer Sonderstellung verständnisvoll, falls sie uns nicht sogar unter die Arme greifen wollen. Immerhin winken sie meine Güter durch die Sicherheitszone. Streng genommen rühren einige davon sogar von den Waffen her, die sie für den Frieden horten.« Er tippte sich mit einem Zeigefinger an die Nase. »Mit den Russen hier in Transnistrien habe ich also keinerlei Probleme. Das sind allesamt gute Leute. Bauchschmerzen bereiten mir hingegen die Moldawier im Westen und die Ukrainer im Osten.« Er ballte die Hand zur Faust.
Die Lage zwischen dem De-facto-Regime und seinen beiden Nachbarländern war zurzeit stark angespannt, seit sich transnistrische Separatisten 1992 mit russischer Hilfe von Moldawien abgespalten und ihre Unabhängigkeit verkündet hatten. Mehr als eintausendfünfhundert Menschen waren während des kurzen Bürgerkriegs im Anschluss ums Leben gekommen. Bis jetzt herrschte ein unsicherer Waffenstillstand in der Region, den russische »Friedensstifter« erwirkt hatten. Infolge einer seltsamen Verkettung von Ereignissen befand sich der größte Bestand sowjetischer Waffen deshalb jetzt nicht mehr im Schoß von Mütterchen Russland, sondern in der Nähe der transnistrischen Stadt Kolbasna, bewacht von zweitausend russischen Soldaten, die als »Friedenswächter« fungierten.
Durch ein streng vertrauliches Abkommen von 1998 zwischen dem damaligen russischen Premierminister Wiktor Tschernomyrdin und Igor Smirnow, dem selbst ernannten Präsidenten von Transnistrien, kraft dessen man den Erlös aus dem Verkauf von vierzigtausend Tonnen an »unnötigem« Waffenmaterial geteilt hatte, waren Lesukow und andere Männer von seinem Schlag von jetzt auf gleich steinreich geworden. Dummerweise hatte es danach aber Proteste in Washington und einen europaweiten Medienskandal gegeben, nachdem der Nachrichtenagentur Associated Press eine Kopie jenes Abkommens in die Hände gefallen war. Russland hatte das Ganze als komplett aus der Luft gegriffen dementiert, und jeder hypothetische Waffenhandel war daraufhin von der Ukraine verurteilt, und die Anzahl der Truppen zum Schutz der Landesgrenzen aufgestockt worden.
Lesukow bekam die Konsequenzen so langsam ebenfalls zu spüren, denn seine Waren im Ausland zu verbreiten fiel ihm immer schwerer.
Nun machte er eine kurze Pause, um allen wieder nachzuschenken. »Wie viele Orlyì befehligst du eigentlich noch?« Diese Frage war an Bull gerichtet. Bei diesem Wort, dem russischen Plural von »Adler«, handelte es sich nicht um einen Militärtitel, sondern um eine gebräuchliche Bezeichnung für furchtlose Kämpfer.
»Zu meiner Brigada gehören noch sechs Mann, aber da wir jetzt unabhängig sind, befinden sich noch viele weitere gute Leute in unserem Aufgebot.«
Nach seinem Ausscheiden bei der GRU SpezNas hatte Bull noch andere ehemalige Soldaten der »Spezialeinheit« aus mehreren Sowjetrepubliken rekrutiert. Darunter waren einige der am besten ausgebildeten Soldaten der Welt gewesen, doch im Zuge des Zerfalls der Union hatte man sie schließlich wieder abgestoßen. Sie waren für wenig mehr als ein paar Hundert Dollar übergelaufen, da sie ihn als Helden aus dem Krieg in Afghanistan respektiert hatten. Während der vergangenen fünfzehn Jahre war er in verschiedenen Kampfgebieten zu dem Ruf gelangt, ein erbarmungsloser Anführer und Söldner und noch dazu erstaunlich gut als Geschäftsvermittler zu sein. Er hatte unter anderem Waffendeals mit den Mudschaheddin, Rebellen in der autonomen georgischen Republik Abchasien und afrikanischen Aufständischen in die Wege geleitet. Deshalb war es nur folgerichtig, dass nun einer der Hauptwaffenlieferanten seine unmittelbare Hilfe einforderte.
»Was schwebt dir denn vor, alter Freund?«, fragte Bull.
Lesukow lächelte und prostete den anderen einmal mehr zu. »Auf die Frauen.« Die beiden anderen erwiderten die Geste. Nicht dass sie der Frauenwelt eine besondere Ehre erweisen wollten, doch ihr gebührte gemäß sowjetischer Bräuche stets der dritte Trinkspruch. Danach legte er seine Hände flach auf den Tisch.
»Die Ukrainer haben eine Gruppe eigener Orlyì, die SOCOL heißen. Dies ist eine höchst effektiv arbeitende Einheit, die gegen Schmuggel und andere organisierte Verbrechen vorgeht. Unter normalen Umständen würde ich meinen Hut davor ziehen, aber jetzt haben sie es auf meine Güter abgesehen. Allein in den letzten zwei Monaten haben sie drei Sendungen aufgehalten …« Seine Stimme wurde leiser, während er an seinen dicken Fingern abzählte, wie viel er bereits verloren hatte. Schließlich nannte er den doppelten Betrag. »Das hat mich fast drei Millionen US-Dollar Gewinn gekostet!« Sein Gesicht war rot geworden und jeglicher Anschein von Frohsinn war verschwunden.
Er seufzte im Gedenken an die staubigen Gebirge von Afghanistan und wegen des jungen SpezNas-Kapitäns, der rund achtzehn Jahre zuvor an seiner Seite gekämpft hatte. »Du warst der Beste in Kabul und hast uns alle gerettet, also bitte ich dich jetzt darum, mich erneut zu retten. Ich will, dass du diese SOCOL-Einheit ein für alle Mal aufhältst.«
Oleg, der bis jetzt still zugehört hatte, leckte sich über die Oberlippe. Er war ein Tatmensch und genervt von den »Geschäftsangelegenheiten«. Sich wirklicher Ziele anzunehmen, dafür lebte er. Jetzt schaute er seinen Vorgesetzten an.
Bull verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. »Das lässt sich machen, hat aber natürlich seinen Preis.«
Lesukows Augen funkelten, er hatte diese Reaktion geahnt. »Ich gebe dir zehn Prozent der Erlöse aus jeder Lieferung, die unbehelligt in die Ukraine gelangen.«
»Danke, das klingt zwar nach einem guten Angebot, mein Freund, aber darf ich fragen, ob du es leicht findest, deine Waren aus der Ukraine zu befördern?«
Da Lesukow keine Sekunde lang zögerte, sah sich Bull in seinen Erwartungen bestätigt. »Die werden mich in die Zange nehmen … sowohl die SOCOL als auch die Grenzkontrolle. Das sind Zollbeamte, die sich nicht schmieren lassen und …«
»Dreißig Prozent, Iwan.«
»Was?«
»Dreißig Prozent, dann kümmere ich mich um die Einfuhr in die Ukraine und den weiteren Export aus dem Gebiet.« Bull hielt die Arme weiterhin vor seiner Brust verschränkt.
Lesukow kratzte sich an der Nase. »So hoch sind meine Gewinnspannen nicht, Tauras. Ich könnte dir zwanzig Prozent geben.«
»Fünfundzwanzig, und wir fangen direkt heute an.« Bull hielt ihm seine Rechte hin. Lesukow zögerte kurz, bevor er einschlug.
»Abgemacht, aber wir werden heute nicht mehr anfangen. Ein bisschen Spaß muss sein, nicht wahr? Ich kenne da einen interessanten Klub!« Er schenkte Wodka nach und führte anschließend ein kurzes Telefongespräch.
Dieses Mal richtete Bull den Trinkspruch aus. »Auf das Geschäft.«
Sie tranken. Auf einmal klopfte es an der Tür. Lesukow winkte einen jungen Mann herein. »Meine Herren, das ist mein Neffe Arkadij. Er wird euch ins Hotel bringen.«
»Zdravstvujte«, begrüßte Arkadij Tscheban die Männer auf Russisch, während er die Hände der beiden Gäste schüttelte.
Lesukow schaute seinen beiden Kameraden hinterher, als diese die Treppe hinunter zum Fabrikausgang geführt wurden. Er selbst war auch einmal ein SpezNas-Krieger gewesen, bekleidete jedoch nun den Posten des Leiters einer Stuhlfabrik – offiziell zumindest.
Businesscenter Regus, London, Großbritannien
Die Vorabbesprechung der bevorstehenden Reise von Vertretern der städtischen Industrie- und Handelskammer in die Ukraine fand im Businesscenter Regus im Herzen von London statt. Die vierzehn teilnehmenden Konzerne hatten an diesem verregneten Julitag größtenteils ihre Hauptrepräsentanten geschickt. Alistair Vickers befand sich unter den Ersten, die eintrafen, und hatte an einem Ende des langen, ovalen Tischs Platz genommen, ganz so, wie es einem Gesandten der Botschaft und dem offiziellen Gastsprecher gebührte. Rechts neben ihm saß Nicola Coen, die die gesamte Gruppe als Leiterin nach Kiew begleiten sollte. Und zu ihrer Linken befand sich Wendy Jenkins von Watergate Travel. Vickers hatte einen Scherz wegen des Unternehmensnamens gemacht, doch dieser war offenbar nicht verstanden worden, jedenfalls was die Angestellte betraf. Nicola hingegen hatte geschmunzelt und auf ihre Papiere geschaut, weil sie sich nicht über ihre »Reiseverkehrskauffrau« lustig machen wollte.
Der Platz rechts neben Vickers war unbesetzt geblieben. Er war für einen zweiten Gastsprecher reserviert worden, Bhavesh Malik. Alistair hatte ihn im Vorfeld einmal getroffen, und zu jenem Anlass war der Kerl auch schon zu spät gekommen. Der britische Attaché nahm sein Exemplar der Merkblätter für das Meeting in die Hand und las die vollmundigen Informationen über Bhaveshs Vater Jasraj, die man von der Unternehmenswebseite übernommen hatte:
NewSound – eine Erfolgsgeschichte! Im Alter von fünfzehn Jahren war Jasraj ins Vereinigte Königreich nach Portslade in East Sussex gezogen, eigentlich um für den Hörgerätevertrieb seines Onkels zu arbeiten. Mit einundzwanzig war »Jas« jedoch, wie er von all seinen Freunden und Kunden genannt wurde, qualifizierter Audiologe und hatte sich angeschickt, selbst Hörhilfen zu entwickeln. Seine Geräte zählten zu den ersten HdO- bzw. Hinterohr-Modellen, die in Großbritannien in den Handel gelangt waren! Jetzt nach siebenundvierzig Jahren harter Arbeit in der Branche waren aus Jas' Vorderzimmerwerkstatt längst drei Fertigungsstätten für hochwertige Hörgeräte geworden, eine im Königreich, in Pakistan und der Ukraine.
Vickers sparte sich die eher der Selbstbeweihräucherung dienenden Passagen und ging stattdessen zu dem Abschnitt über, von dem die Reiseteilnehmer mehr erfahren sollten:
… die 1999 in Odessa eröffnete Fabrik befindet sich auf dem Gelände eines ehemaligen Nachrichtentechnikwerks, dessen Existenz die Sowjetunion streng geheim gehalten hat. Mithilfe von Subventionen der Europäischen Union und mit dem Vorteil, in einem von der ukrainischen Regierung geförderten Investitionsgebiet angesiedelt zu sein, begann die Fabrik bald mit der Massenproduktion …
Nachdem Vickers die Blätter wieder auf den Tisch gelegt hatte, griff er zu der Reisebroschüre mit den Beschreibungen der verschiedenen britischen Konzerne, die große Hoffnungen hegten, der Ukraine ihre jeweiligen Güter schmackhaft machen zu können. Dazu gehörten unter anderem ein Fertiger von Messapparaten für die Chemieindustrie, eine Beraterfirma im Bereich Führungskräfteausbildung, ein Lieferant für Betriebsmittel zum Schweißen von Nickellegierungen, ein Arzneimittelhersteller und -vertrieb, eine Sprachschule, ein Geschenkartikelhändler sowie zu Vickers Erheiterung ein Modeschneider mit einem Lokal an der Savile Row in Westminster.
Als er sich im Raum umschaute, waren die meisten Mitglieder der Handelsdelegation bereits angekommen. Man wartete nur noch darauf, dass sich die letzten beiden einen Kaffee eingeschenkt und entschieden hatten, welches Gebäck sie dazu auf ihre Untertassen legen wollten. Die hohe Doppeltür ging plötzlich auf, und Bhavesh Malik trat ein. Er lächelte Nicola und Vickers zu, bevor er seinen Schirm in einen Ständer steckte, Regentropfen von seinem Mantelaufschlag strich und sich ebenfalls setzte.
Coen begann jetzt mit der Einführung. »Ihnen allen danke ich dafür, dass Sie heute hergekommen sind. Mir ist bewusst, dass sich eine Reise nach London für einige von Ihnen nicht gerade einfach gestaltet. Wie Sie sehen, haben alle Begleitmaterial für die Besprechung erhalten und auch den Ablaufplan für heute. Außerdem Belegexemplare der Broschüre und Kopien der Informationen, die ich Ihnen gemeinsam mit Wendy noch geben werde. Zuallererst möchte ich allerdings unsere beiden heutigen Gastsprecher vorstellen. Alistair Vickers ist Handelsattaché der britischen Botschaft in Kiew. Er wird Sie über die derzeitige Geschäftssituation in der Stadt und dem Rest der Ukraine aufklären.«
Vickers lächelte und sah nichts als erwartungsvolle Gesichter vor sich, als er sich im Zimmer umschaute.
»Bhavesh Malik ist Betriebsleiter von NewSound UK, dessen Unternehmensgeschichte an ein Erfolgsmärchen grenzt, falls ich das so sagen darf. Er wird Sie in die Geheimnisse einweihen, die man kennen muss, um in der Ukraine ernsthaften Handel betreiben zu können. Die praktischen Dinge gehen allerdings vor und Miss Jenkins hier, mit der die meisten von Ihnen, glaube ich, bereits telefoniert haben, kann Ihnen etwas Gutes mitteilen. Wendy?«
Die Angesprochene zog ihre verschränkten Arme auseinander und öffnete einen Umschlag. Sie sprach Estuary English, was Vickers überhaupt nicht behagte. »Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass die Air Ukraine International Ihre Flüge nunmehr bestätigt und mir die Tickets geschickt hat. Und dass es mir gelungen ist, Ihnen freien Zugang in die Businesslounge in Gatwick und vor Ihrer Rückreise am Flughafen Boryspil zu verschaffen, gefällt Ihnen bestimmt auch sehr.«
Vickers trank einen Schluck Tee und hörte weiter zu, während Wendy die Flugscheine austeilte und gemeinsam mit Nicola den Reiseverlauf durchging. Die üblichen Punkte mussten zuerst abgehakt werden, doch er wusste nicht, warum er dazu anwesend sein musste. Nichtsdestotrotz spielte er Interesse vor, anstatt wiederholt auf die Wanduhr gegenüber zu schauen, deren Zeiger sich quälend langsam bewegten. Nach den Formalitäten erteilte man ihm dann endlich das Wort. Vickers las nun die vom britischen Außenministerium zusammengestellten Fakten über die Ukraine vor … die Geschichte seit der Unabhängigkeit 1991, Details zum Investitionsklima, zur amtierenden Regierung und natürlich die mit dem Handel auf einem Schwellenmarkt einhergehenden Risiken. »Jetzt beantworte ich gern Ihre Fragen, sollten Sie welche haben.«
»Im Fernsehen und in der Presse gab es seinerzeit viele Berichte über die Orange Revolution.« Dies sagte der Vertreter der Sprachschule beziehungsweise der Direktor eines Zentrums für internationale Studien, wie unter seinem Eintrag in der Reisebroschüre stand. »Wie schätzen Sie ihr Ergebnis auf lange Sicht hin ein, und welche Folgen wird das Ganze haben?«
Vickers nickte; diesbezüglich hatte er natürlich zwei Meinungen, seine eigene und die offizielle der Regierung Ihrer Majestät. Er wählte deshalb die subjektive, womit er ein Wagnis einging. »Wie Ihnen allen bestimmt bewusst ist, herrschte der ehemalige Präsident zwei Legislaturperioden lang und durfte deshalb nicht zu einer dritten antreten. Weitere Reformen waren daraufhin vonnöten, und die neue Regierung hat sie auch erzielt. Der nächste Präsident Wiktor Juschtschenko war zuvor Premierminister und Vorsitzender der ukrainischen Staatsbank gewesen. Seine Partei gelangte dadurch an die Macht, dass sie sich für die Reformen aussprach. Damit ging sie zumindest meines Erachtens nur auf Stimmenfang. Sie wissen bestimmt auch, dass der Hauptrivale im Wahlkampf der damalige Premier Wiktor Janukowytsch war, der voll und ganz hinter dem Noch-Präsidenten stand.«
»Leonid Kutschma?«
»Richtig, Kutschma. Als Juschtschenko siegte, wollte er sich dem Westen annähern, aber das ist jetzt schon länger als ein Jahr her. Bei den jüngsten Parlamentswahlen erhielt Janukowytsch die Stimmenmehrheit, weshalb er jetzt wieder Premierminister ist. Man kann deshalb wohl behaupten, ihm ist eher daran gelegen, engere Bande mit Moskau zu knüpfen.«
Der Studiendirektor zog seine Augenbrauen hoch. »Denken Sie, die Parlamentswahlen wurden manipuliert, so wie die erste Präsidentenwahl?«
Vickers erkannte, dass er sich jetzt auf dünnem Eis bewegte. »Dazu kann ich mich leider nicht äußern. Ich vermute, dass die Wählerschaft geglaubt hat, dass der Wandel schneller vonstattengehen würde. Vielleicht ergab sich daraus, dass jetzt sowohl Juschtschenko als auch Janukowytsch am Drücker sitzen. Das ist aber nur mein eigener Eindruck. Die Reformen sind noch nicht abgeschlossen, und die Situation für Wirtschaftstreibende scheint sich mittlerweile gebessert zu haben. Juschtschenko zumindest strengt sich offensichtlich an, ausländische Unternehmen und Investoren ins Land zu holen.«
Die nächste Frage stellte der Pharmavertreter: »Auf anderen Märkten, die ich besucht habe, wurden Fälschungen meiner Produkte verkauft. Müssen wir so etwas auch in der Ukraine befürchten?«
»Das Land ist noch kein Mitglied der Welthandelsorganisation, hofft aber darauf, bald Anschluss zu finden. Auf Freiluftmarktplätzen findet man natürlich immer wieder Raubkopien von DVDs, CDs und Modeartikeln. Es gibt vom Subkontinent importierte Arzneimittel, deren Herkunft man ermittelt hat. Dennoch verdingen sich internationale Marken in der Ukraine, und diese haben weder mir noch der ukrainischen Handelskammer ernstliche Verstöße gemeldet. Dass Fälschungen in der Tat kursieren, möchte ich damit aber wohlgemerkt nicht in Abrede stellen.«
Der Pharmavertreter notierte sich etwas auf seinem Block. Die letzte Frage kam vom Exportleiter des Geschenkhandels: »Leben und arbeiten Sie denn gern in der Ukraine?«
Während Vickers seinen Blick über die runden Gesichter der Delegierten schweifen ließ, kam er sich ein wenig hilflos vor. Er mochte die Ukraine definitiv, tat sich aber schwer damit, seine Gefühle in Worte zu fassen. »Das tue ich. In Kiew wachsen mehr Kastanienbäume als in jeder anderen europäischen Hauptstadt, daher sind sie auch die Wappenpflanze der Stadt. Besonders im Mai, wenn sie blühen, geht es vor Ort äußerst lebendig zu. Es gibt viele Parks, und die altertümliche Architektur sorgt für ein recht malerisches Ambiente. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie im Laufe der nächsten anderthalb Jahrzehnte zu einer sehr wichtigen Stadt wird. Bisher gibt's aber noch keine Billigflugverbindung!« Dieser Witz brachte einige zum Grinsen, wie er stolz feststellte.
Danach sollte Bav Malik über sein Unternehmen sprechen und laut Handout erklären, wie es ihm gelungen war, Kapital daraus zu schlagen, dass er in einer steuerfreien Investitionszone agierte, indem er eine Fabrik in der Nähe von Odessa errichtet hatte. Er erging sich ausführlich in der Beschreibung ihrer Mittel und der Vorgehensweise, was einige Fragen bei den Versammelten aufwarf. Als der offizielle Teil des Meetings endlich vorbei war, wurden kleine Erfrischungen und Wein serviert. Einige Teilnehmer brachen schnell zu ihren Büros auf, um noch Tagesgeschäfte zu erledigen, doch manche von ihnen blieben zum Plauschen oder um Nicola mit Fragen zu löchern und sich den angebotenen Chardonnay schmecken zu lassen.
Bav wandte sich nun mit einem Glas an Vickers. »Das lief ja gut. Sie haben verschwiegen, dass Sie die Ukraine auch wegen des günstigen Biers lieben, stimmt's?« Er trank von seinem spendierten Wein.
»Ich ziehe günstigen Wodka vor«, konterte der Brite. »Wollte Ihr Vater nicht eigentlich auch kommen?«
»Er hat es leider nicht geschafft. Er wurde bei Besprechungen in Odessa verlangt, also musste ich für ihn einspringen.« Verantwortlich für den Erfolg von NewSound in der Ukraine und auf vielen ihrer Exportmärkte war eigentlich Bavs Vater Jas Malik. Der Junge war jetzt mit siebenunddreißig in die Fußstapfen seines alten Herrn getreten und sollte irgendwann Vorstandsvorsitzender werden, und sein Cousin in Pakistan Geschäftsführer.
»Verschlägt es Sie oft nach Odessa?« Vickers kannte die Antwort zwar, wollte aber irgendetwas sagen.
»Früher nicht unbedingt, aber jetzt, seit man sich den ganzen Aufwand mit den Aufenthaltsvisa sparen kann, ist es viel leichter. Man kann sich einfach in den nächsten Flieger setzen.«
»Das«, erwiderte Vickers, »ist das Positivste, was die Ukrainer je für den Tourismus getan haben. Ursprünglich gab der Eurovision Song Contest den Ausschlag dafür. Haben Sie ihn gesehen?«
Bav schmunzelte. »Ist nicht ganz mein Musikgeschmack.«
»Ach nein?« Vickers konnte dem Ganzen einiges abgewinnen.
Er ließ nun seine Gedanken schweifen. Im Mai des Vorjahrs hatte in Kiew eine richtige Karnevalsstimmung geherrscht, noch ausgelassener als üblich. Vickers war breit grinsend über den Chreschtschatyk flaniert. An den Wochenenden wurde der Boulevard stets für den Fahrzeugverkehr gesperrt und zu einer weitläufigen Fußgängerzone. Dies war eine der wenigen Anordnungen des ehemaligen Präsidenten, die man willkommen geheißen hatte. Straßenkünstler jonglierten dann mit Bällen oder Flaschen, Kabarettisten gaben Witze zum Besten, und über Nacht waren Zeltbars wie Pilze aus dem Boden geschossen, und Pärchen spazierten von einem Ende der Straße zum anderen. Viele Menschen trugen immer noch das Orange der Revolution und des neuen Präsidenten.
Dieser konnte sich jedoch nicht allein damit brüsten, für die Hochstimmung im Land gesorgt zu haben, denn ein Teil der Ehre gebührte auch der schwarzhaarigen Sängerin Ruslana, die den 2004er Eurovision Song Contest mit ihrer sehr sportlichen Tanznummer für die Ukraine gewonnen hatte. Großbritannien war ebenso ins Finale gelangt wie natürlich auch die Gastgeber mit »Rasom nas bahato«, übersetzt »Gemeinsam sind wir viele«, der Protesthymne zur Orange Revolution. Tausende hatten sie im vorangegangenen Dezember bei Minustemperaturen zum Ausdruck des Unmuts der Nation über die »berichtigten« Wahlergebnisse, wegen denen der von Moskau begünstigte Wiktor Janukowytsch zeitweilig Präsident gewesen war, nachts auf dem Platz der Unabhängigkeit gesungen.
Jetzt nach einer rechtmäßigen Wahl regierte Wiktor Juschtschenko, und der europäische Musikwettbewerb wurde hier in der Stadt ausgerichtet. Und diese befand sich endlich einmal aus erfreulichen Gründen im Auge der Medien weltweit, weshalb die Bevölkerung enormen Nationalstolz an den Tag legte. Die Teilnehmer hatten tagsüber lange geprobt, abends gefeiert und spontan Konzerte in lokalen Gaststätten und Klubs für das stets dankbare Kiewer Publikum gegeben. Vickers konnte sich nicht daran erinnern, den Eurovision Song Contest jemals nicht geliebt zu haben. Seine Mutter war ein riesiger Cliff-Richard-Fan gewesen, wohingegen er Bucks Fizz den Vorzug gab. Dieses Geheimnis behielt er aber gern für sich.
Als seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurückkehrten, schaute er auf seine Uhr. »Ich geh mich jetzt wohl besser mal bei Nicola bedanken.« Er streckte seine rechte Hand aus. »Hat mich gefreut, Sie wiederzusehen, Bav.«
Malik gab ihm ebenfalls die Hand. »Die Freude war ganz meinerseits, Alistair.«
Vickers verließ den Unternehmer und ging durch das Zimmer zu der zierlichen jungen Frau aus Yorkshire, die gerade mit mehreren Männern mittleren Alters plauderte. »Meine Herren, verzeihen Sie mir bitte, aber ich würde mich jetzt gern von Nicola verabschieden.«
Sie schaute in das Gesicht des großen dünnen Mannes, bevor sie seine Hand überraschend kräftig schüttelte. »Ich danke Ihnen vielmals.«
Vickers deutete eine Verbeugung an. »War mir ein Vergnügen. Sehr gern geschehen.« Nachdem er das Businesscenter verlassen hatte, nahm er ein Taxi nach Vauxhall Cross. Er musste nämlich jetzt zu einem weiteren, wichtigeren Meeting, zu dem der Geheimnachrichtendienst Ihrer Majestät bat.
Büros der Personalleitung, Militärbezirk Moskau, Russland
Die beiden hochrangigen GRU-Offiziere horchten auf, als sie bemerkten, dass sich jemand mit schweren Stiefeln, steten Schrittes auf dem Flur näherte. Der Oberst nahm die Akte, die ihm der Major gegeben hatte, und überflog noch einmal das Entlassungsschreiben. Er schüttelte betrübt den Kopf. Zu Sowjetzeiten hätte er es kategorisch ablehnen können, einen so herausragenden jungen Dienstmann aufzugeben, doch dies war das »Neue Russland«, und die Umstände hatten sich geändert. Jetzt konnte ein fähiger Kerl wie dieser in der Geschäftswelt das Hundertfache seines gegenwärtigen Soldes verdienen. Der russische Militärgeheimdienst war außerstande, ihn zu behalten, wenn er es nicht wollte – das war die harte Realität des neuen Russlands.
Die Doppeltür des gewölbeartigen Raumes wurde von einem niederen Gehilfen aufgemacht, der den Gast hereinließ. Er ging nah an den Schreibtisch heran, bevor er strammstand und seinen beiden Vorgesetzten salutierte.
Der Oberst erwiderte den Gruß. »Rühren Sie sich, Gorodezki. Bitte nehmen Sie Platz.«
»Jawohl, Kamerad Oberst.« Der junge Mann setzte sich auf einen Stuhl, den er gezeigt bekam.
Eine lange Pause folgte, während dieser der Oberst noch einen Blick auf das Formular warf. Dann sah er den Mann an, der vor ihm saß. »Sie haben Ihre zweite Pflichtzeit nun hinter sich gebracht, Kapitän, und eine Menge geleistet.«
»Vielen Dank, Kamerad Oberst.«
Der Ältere runzelte die Stirn. »Sie sind noch jung; vor Ihnen liegt eine äußerst aussichtsreiche Militärlaufbahn.« Der Oberst zeigte auf seine Abzeichen. »Deshalb drängt sich mir eine Frage auf: Warum? Warum wollen Sie sich nicht länger verpflichten?«
Sergej Gorodezki schaute zuerst den Oberst und dann seinen Major an – den Mann, dem er seinen Entlassungsantrag ursprünglich ausgehändigt hatte. »Ich bin dankbar für das, was ich von der russischen Armee gelernt habe, würde nun aber gern anderen Interessen nachgehen. Mir wurde die Gelegenheit angeboten …«
Der Oberst grunzte und schnitt ihm sofort das Wort ab: »Das hier ist Ihre Gelegenheit, Kapitän.«
Gorodezki fuhr fort: »Bei allem Respekt, Kamerad Oberst. Es gibt da etwas, das ich unbedingt tun muss.«
Dies beeindruckte den Oberst allerdings überhaupt nicht, denn er hatte hier einen seltenen Typus von Soldat vor sich, die »Intelligenzia« der SpezNas. Mit seinen ausgezeichneten Fremdsprachenkenntnissen könnte Gorodezki jederzeit glaubwürdig als gebürtiger Ausländer auftreten, während er gleichzeitig todsicher mit einem Dragunow-Scharfschützengewehr umzugehen wusste. »Ich habe Ihren Bruder gekannt. Sie sind besser, als er es je gewesen ist.«
Der Jüngere nickte. Er war sich nicht ganz sicher, wie er diese Bemerkung deuten sollte. Sein Bruder hatte der SpezNas ebenfalls gedient, war jedoch in Afghanistan umgekommen. Der Oberst sprach nun weiter: »Sie haben Ihre Familie sehr stolz gemacht und den Namen Ihres Bruders in Ehren gehalten. Allerdings könnten Sie noch so viel mehr tun. Möchten Sie Ihre Entscheidung nicht vielleicht noch einmal überdenken?« Er bettelte ungern, aber Teufel auch, dieser Mann gehörte zu den Besten, die ihm je unter die Augen gekommen waren.
Gorodezki schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe mich bereits festgelegt, Kamerad Oberst. Tut mir leid.«
»Einem SpezNas-Offizier sollte nie etwas leidtun.« Der Ältere streckte eine Hand aus, woraufhin ihm der Major einen Stift gab. Nach einem weiteren Blick auf den jungen Soldaten unterschrieb er das Formular und versah es mit einem offiziellen Stempel. Anschließend standen alle drei auf. Der Oberst reichte Gorodezki die Papiere. Dieser salutierte erneut und verließ dann das Zimmer.
»So ein Dummkopf«, murmelte der Major.
»Eher das genaue Gegenteil«, widersprach ihm der Oberst.
Community College Horley, Großbritannien
»Mein Dad behauptet, alle Franzosen sind Schwuchteln«, sagte Danny Butterworth vor der ganzen Klasse, deren Schüler alle um die fünfzehn waren.
»Sam spricht doch Französisch oder?«, fragte Dale Sall daraufhin, der ihm bei seinem Scherz zur Seite stand.
Samantha war gerade mit dem Auffrischen ihres Lidschattens vertieft, weshalb sie noch nicht einmal von ihrem Spiegel aufschaute. »Voulez-vous coucher avec moi?«
»Das hat doch schon jeder hier getan, oder, du Matratze?«, rief Dale.
Arnaud, der vorn saß, holte tief Luft. »Das reicht jetzt!« Er schlug sein Französisch-Lehrbuch auf den Tisch und starrte die Kinder an. »Ich habe um Ruhe gebeten und werde es nicht noch einmal tun!« Hinten meldete sich jetzt jemand. »Ja bitte, Danny?«
»Auf welcher Seite sind wir denn gerade, Mister?«, fragte der Junge mit einem engelsgleichen Gesichtsausdruck.
Arnaud hielt kurz inne und seufzte innerlich, bevor er antwortete: »Seite 69. Le week-end.«
Gekicher ertönte im Saal. »Genau, am Wochenende übt Sam ihr Französisch«, schrie Danny durch die Klasse.
»Du bist ein Arschloch!« Sam legte ihr Schminkdöschen nieder und zeigte ihm einen Stinkefinger.
»Steh auf.«
Eine Pause folgte, dann erhob sich Samantha … ein grell geschminktes Mädchen mit wasserstoffblonden Strähnen in den Haaren. Arnaud schaute ihr in die Augen und ließ den Blick dann auf ihr ruhen. »Was ist los?«
»Was los sein soll? Ich dulde solche Schimpfwörter nicht in meinem Unterricht.«
»Aber das stimmt wirklich mit dem Französisch am Wochenende«, rief Dale.
»Und sie ist eine Matratze, Sir!«, schob Danny hinterher.
Sam warf daraufhin ihr Buch auf die beiden Jungen. »Ihr Wichser!«
»Raus. Geh einfach nur raus.« Arnaud wurde rot. Unfassbar. Das war wirklich unfassbar.
Sam machte möglichst viel Lärm dabei, indem sie ihren Tisch nach vorn schob, und verließ dann den Saal, nachdem sie sich noch nach ihrer Tasche gebückt hatte. Bevor sie allerdings die Tür zuknallte, sagte sie noch: »Nur raus hier, ganz richtig!«
Danny und Dale sahen einander an. Der eine hob seine rechte Faust, woraufhin der andere mit seiner dagegen stieß. Sie machten sich ganz offensichtlich einen herrlichen Spaß aus dem Ganzen. Ihr wöchentliches Spiel, mit dem sie den »tuntigen Pauker« auf die Palme brachten, wurde umso besser, wenn sie gleichzeitig auch Sam Reynolds damit ärgern konnten. Danny lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch, Dale öffnete gemächlich eine Dose Cola. Arnaud, der nun vor der weißen Tafel stand, bekam nichts davon mit und versuchte weiter, ruhig durchzuatmen, während er in seiner saubersten Handschrift die Seitenzahl, das Datum und den Titel der Lektion niederschrieb. Nach der Stunde würde er diese Anmaßungen umgehend bei der Leitung melden. Sam, die er bereits auf dem Kieker hatte, sollte am besten für ihren Ausraster vom Unterricht ausgeschlossen werden. Der Lärmpegel unter den Schülern hinter ihm stieg langsam aber sicher immer weiter an, weshalb er sich gerade wieder umdrehen und ihnen die nächste Standpauke halten wollte.
»Füße vom Tisch und du, wirf sofort die Dose in den Abfalleimer.« Der Mann an der Tür schaute Arnaud mit strenger Miene an. »Nennen Sie mir die Namen derjenigen, die zur Mittagspause den Müll aufsammeln.«
Arnaud wandte sich mit ebenso kritischem Gesichtsausdruck an ihn. »Das werde ich, Mr. Middleton.«
Der Mann nickte, warf den beiden Jungen noch einen finsteren Blick zu und schloss dann die Tür. Draußen hörte man ihn herumbrüllen. Arnaud seufzte laut, setzte sich ans Pult und schlug sein Buch auf.
»Le week-end. Kann mir jemand die Übersetzung dafür sagen?«
Der Rest der Stunde verlief kaum weniger undiszipliniert. Sam kehrte irgendwann in den Saal zurück, nachdem Middleton sie zurechtgewiesen hatte, und setzte sich missmutig in die erste Reihe, verweigerte jedoch sämtliche Mitarbeit und kritzelte nur vor sich hin. Danny und Dale waren jetzt ruhig, aber nur, weil sie Musik auf ihren iPods hörten. Tatsächlich waren die einzigen Schüler, die überhaupt aufpassten, die sechs in den ersten zwei Reihen. Um zehn vor elf klingelte die Pausenglocke, und alle strömten eilig hinaus. Umgekippte Stühle wurden nicht aufgehoben, Bücher blieben auf den Tischen liegen. Arnaud seufzte einmal mehr beschwerlich und machte einen Vermerk auf Sams Verweis. Sie schaute auf den Zettel und dann voller Hass in sein Gesicht, bevor auch sie ging. So hatte er sich das Lehramt bestimmt nicht vorgestellt. Als er die Verpackung eines Süßigkeitenriegels aufheben wollte, verschmierte sie ihm wie zum Dank die ganze Hand mit klebriger Schokolade. Nachdem er sie mit einem A4-Papier abgewischt hatte, packte er seine Französisch-Lehrbücher zusammen.
Zwanzig Minuten Pause, dann noch zwei Stunden bis zum Mittag, und hinterher frei bis zur fünften Unterrichtseinheit – es sei denn, er bekam nicht noch eine Vertretung aufgebrummt. Es handelte sich dabei um zwei andere neunte Klassen und danach noch die schwächste zehnte Klasse ihres Jahrgangs. Jetzt begriff er, weshalb die Regierung ihn dafür bezahlt hatte, dieses Studium durchzuziehen! Dessen ungeachtet hatte er sein Jahr als Referent fast hinter sich und würde im September ein vollständig qualifizierter und angesehener Lehrer sein.
Er schloss die Tür und sperrte sie sorgfältig ab. Prompt wurde er geschubst, denn Schüler drängelten sich auf dem Weg zur Kantine an ihm vorbei, wo sie sich bestimmt mit so viel Junkfood wie nur menschenmöglich vollstopfen.
Er war mittlerweile immun gegen diese Rempelei. Arnaud unterrichtete nun schon fast zwei Jahre am Community-College Horley, teils als Student, als man ihm noch die eher entspannten Klassen gegeben hatte, und dann als Referendar, also als frischgebackener Lehrer. Die Schule hatte ihm eine dauerhafte Anstellung angeboten, und er war dummerweise darauf eingegangen. »Man arbeitet am besten zuerst an einer schwierigen Schule, das ist wie eine Feuertaufe«, hatte sein Mentor ihm empfohlen. Ja, schon klar. Wenigstens war es heute schön draußen. Vielleicht benahmen sich die Kids darum auch so gereizt. Er konnte es ihnen eigentlich auch nicht verübeln, denn wer wollte schon drinnen herumsitzen und sich auf französische Grammatik konzentrieren oder fragen, was 1kg pommes kostete, wenn man auch aus dem Fenster schauen und sehen konnte, dass endlich Sommer war?
Noch eine Woche, rief sich Arnaud ins Gedächtnis, dann sind Sommerferien und keine Arbeit mehr. Nun ja, nicht ganz. Immerhin hatte man ihm in dem Kündigungsschreiben mitgeteilt, dass sein Vertrag Ende August auslief, doch die Anstalt könne ihn aushilfsweise weiter anstellen, falls er noch nichts anderes gefunden hätte. Eine Aushilfe? In Horley? Er lachte leise, als er das Lehrerzimmer betrat; Beirut kam ihm da wesentlich sicherer vor.
Arnaud setzte sich erschöpft auf den abgewetzten Stuhl in einer Ecke des Raums. Ringsherum beeilten sich seine Kollegen, um so viel Kaffee in sich hineinzuschütten, wie sie während der Pause konnten. Als er die sexy, blonde Lehramtsanwärterin entdeckte, die er bereits im Zug gesehen hatte, wünschte er sich, sie würde sich auf dem freien Platz neben ihm niederlassen. Aber das tat sie nicht. Sie setzte sich zwischen zwei fit wirkende Typen in kurzen Hosen. Sportlehrer! Pah! Als Arnaud aus seiner heißen Tasse schlürfte, verbrannte er sich natürlich sofort die Zunge. Mist.
»Schon etwas von der Schule gehört, an der Sie sich beworben haben?«, fragte Richard Middleton, der Vorsitzende des Amts für Auslandsstudien und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Noch nicht.«
»Sie war in Kiew, richtig?«
»Ja.« Als er die Zunge im Mund bewegte, spürte er die Verbrennung.