Colours of Life 1: Schneerot - Anna Lane - E-Book

Colours of Life 1: Schneerot E-Book

Anna Lane

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Beschreibung

Welche Farbe hat die Freiheit? Nach zwei Jahren in Gefangenschaft hat die sechzehnjährige Crys Levine jeden Glauben an eine Rettung aus der geheimen Forschungsanstalt im Norden Englands verloren. Genau wie ihr bester Freund Ace erhielt sie durch das Militär eine besondere Gabe und ist dadurch zu einer wertvollen Waffe im Krieg geworden. Als jedoch eines Tages der gutaussehende Cameron in die Einrichtung verschleppt wird, ist sie sofort fasziniert – von seinem Kämpferwillen, den sie selbst schon vor langer Zeit verloren hat. Anders als Crys hat Cameron nicht vor, sich dem Militär zu unterwerfen. Sein Plan? Ein Ausbruch. Womit er nicht gerechnet hat? Sich in Crys zu verlieben. Liebe und tödliche Geheimnisse im eisigen Winter des Lake Districts.

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Colours of Life 1Schneerot

Anna Lane

Zitate am Anfang der Kapitel,wenn nicht anders angegeben, aus:Oscar Wilde: The Ballad of Reading Gaol (1898)

© 2018 Calad Verlag

Ein Imprint des Amrûn Verlag Traunstein

Covergestaltung: Christian Günther | Atelier tag-eins

Lektorat: Nadine Stritzke, Anna Lane

Endlektorat/Korrektorat: Tatjana Weichel | Wortfinesse

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-365-4

Besuchen Sie unsere Webseite:

calad-verlag.de

amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1 18

Inhalt

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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11

12

13

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15

16

17

18

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Danksagung

Für meine Familie und für Tobias.

Ich Hab Euch Alle Wahnsinnig Lieb.

Prolog

»Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!«

FRIEDRICH NIETZSCHE: ALSO SPRACH ZARATHUSTRA

Meine Ketten sind nicht real. Sie sind aus Gedanken gemacht und werden von Mauern, die nur in meinem Herzen existieren, gehalten. Sie haben kein Gewicht, das ich spüren könnte. Sie sind leicht wie die Schneeflocken draußen im Wald.

Diese Fesseln sind nicht aus Stahl, nicht aus Metall – völlig unsichtbar.

Aber wie kann man zerstören, was man nicht sieht? Wie kann man gegen einen Feind kämpfen, den man nicht kennt?

Und wie kann man lieben, wenn man nicht frei ist?

1

Like two doomed ships that pass in storm

we had crossed each other’s way:

But we made no sign, we said no word,

We had no word to say;

CRYS

Es hat keinen Sinn, Schneeflocken zu zählen. Eine um die andere segelt zu Boden, federleicht. Draußen scheint alles so ruhig, so vollkommen – so frei. Ohne Ketten und ohne Krieg, als wäre jede schlimme Nachricht nur ein Gespinst unserer eigenen Vorstellung.

Die Gitterstäbe vor meinem Fenster beschränken die Sicht, doch ich sehe genug, um Sehnsucht zu verspüren. Ruhe. Freiheit. Und bloß eine Ahnung von Erlösung.

Ich will rennen, weil ich Füße habe, die mich tragen können.

Ich will mich fallen lassen, und dem Schnee erlauben, mich wieder aufzufangen.

Aber das geht nicht. Nicht hier, nicht jetzt.

Meine Hände sind eisig kalt vom Fensterrahmen, und wo mein Gesicht sich im dreckigen Glas hätte spiegeln können, beschlägt mein langsames Atmen die Scheibe. Da ist es wieder. Das Brennen in meiner Brust, das immer nur dann wiederkehrt, wenn ich mir erlaube, nach draußen zu sehen. Doch so schnell das Gefühl in mir auflodert, so rasch verschwindet es wieder und rollt sich in meiner Magengrube zusammen wie eine faule, alte Hauskatze.

Ich seufze und wende mich ab. Meine Zeit der Rebellion ist schon lange vorbei. Vor einem Jahr hätten mich die dicken Flocken draußen noch dazu verführt, mir wieder und wieder die Fäuste an der grauen Eisentür blutig zu hämmern. Versessen darauf, gehört zu werden. Befreit, von wem auch immer. Bis ich eingesehen habe, dass keine Rettung möglich ist. Nicht für jemanden wie mich.

Langsam schlurfe ich zu meiner Pritsche und lasse mich auf die ungemachte Decke fallen.

Nicht, dass ich mich nicht gewehrt hätte. Ich habe mir so oft die Seele aus dem Leib gebrüllt, dass meine Stimmbänder mehr als einmal ihren Dienst verweigerten. Und wofür? Je mehr ich bettelte, desto mehr ignorierten sie mich. Kein menschlicher Kontakt, kein Essen, kein Trinken. Nichts. Je mehr ich mich gesträubt habe, meine Gabe zuzulassen, desto grober fassten sie mich an, wenn sie mich aus meiner Zelle holten und zum Verhörraum brachten.

Ich lache leise auf.

Der Wille zum Aufstand verschwindet spätestens nach jeder warmen Mahlzeit wieder, die die Soldaten auf dem einfachen, weißen Holztisch neben dem Bett abstellen.

»Keine Sorge, es wird uns nicht treffen«, flüstere ich mir selbst zu, ehe ich den Kopf schüttle. Was sind die Worte, die ich am letzten Tag vor meiner Entführung meiner Schwester zugeflüstert habe, jetzt noch wert? Tag für Tag wird mein Geist immer kleiner, die Winkel meines Gehirns immer enger. Wie dumm ich doch war. Doch ich habe meinen Teil dazugelernt. Wer einmal durch die Tore dieser Versuchsanstalt gegangen ist, kommt nicht mehr wieder, das weiß ich jetzt.

Ich beiße mir hart in die Innenseite meiner Wange. Tränen kommen schon lange nicht mehr, der Schmerz des Gefangenseins hat jede einzelne verdampfen lassen. Hier drinnen sind wir wertvoll – zumindest die von uns, die überleben. Ich habe die Behandlung überstanden. Oder zumindest glaubte ich das am Anfang meiner Zeit hier. Dabei ist unsere Existenz hier nur ein Tod auf Zeit. Aber wir sind die Guten. Opfern wir uns deswegen nicht gern für das Wohl unseres Landes?

Aber natürlich macht das Militär das nicht zum Spaß. Immerhin ist Krieg.

Irgendein Superhirn hat vor wenigen Jahren Stoffe entwickelt, die beträchtlich auf die menschlichen Charaktereigenschaften einwirken und diese noch verstärken. Und deshalb sind wir hier. Um unser Leben der Wissenschaft und dem Krieg zu opfern. Um die ersten zu sein, an denen diese Drogen getestet werden. Um den Beitrag zu leisten, der diesem Land zum Sieg verhelfen wird.

Dabei denkt keiner daran, dass wir vermisst werden.

Dass unsere Eltern nicht damit einverstanden sind, dass ihre Töchter und Söhne an den Nebenwirkungen einer Chemikalie sterben.

Doch es ist egal, wenn uns eine dieser Substanzen umbringt. Offizier Carter hat mal gesagt, dass die wahren Schlachten hier drinnen in der Anstalt geschlagen werden. Weil wir schlimmer und unkontrollierbarer sind als alles, was einem draußen über den Weg laufen kann. Obwohl … warum rede ich immer von wir? Um ehrlich zu sein … bin da eigentlich nur ich.

»Du da!«

Ich fahre in die Höhe, aufgeschreckt durch eine tiefe Stimme, die von der Tür her den gesamten, spärlich eingerichteten Raum erfüllt.

»Es ist Zeit.«

Ich wende mich nur kurz zur Seite und nicke. Ich muss tun, was der Soldat sagt. Noch eine Sache, die ich gelernt habe. Und sollte ich sie jemals vergessen, erinnern mich die Narben auf meinem Rücken daran, dass Widerstand zwecklos ist. Dass ein Peitschenhieb sofort jegliche Intention zu rebellieren zerschlitzen kann.

Mit einem tiefen Einatmen streiche ich mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die mir aus meinem Pferdeschwanz entwischt sind und stehe auf, um meine Glieder zu strecken. Um Zeit zu schinden, zupfe ich noch ein brünettes Haar von der weißen Hose und kremple die Ärmel des ebenso hellen Pullovers nach oben.

»Beeil dich«, schnauzt er mich an und verzieht die aufgesprungenen Lippen nach unten. Verzichtet aber nach wie vor darauf, mich anzusehen. Es bereitet den meisten Soldaten Unbehagen, dass ich in ihren Gesichtszügen lesen kann wie in einem offenen Buch. Jede winzige Bewegung verrät mir eine Geschichte, die nur ich entziffern kann.

Das ist es, was mich so gefährlich macht. Und auch dermaßen wertvoll. Denn ich bin das, was die anderen Inhaftierten die Henkerin nennen. Ich bin die, die über Leben und Tod entscheidet. Weil ich die Menschen kenne. Weil ich spüre, wie schlecht oder gut sie sind.

»Crys! Setz dich endlich in Bewegung, verdammt!«, faucht der Wärter nun und beginnt mit dem schweren, schwarzen Stiefel auf den Boden zu tappen. Du versteckst deine Nervosität echt hervorragend, denke ich und folge ihm durch die schwere Eisentür, die er offen stehen lässt.

Die meisten Soldaten, die zum Wachdienst rekrutiert werden, fühlen sich unwohl in meiner Gesellschaft. Warum sollten sie auch nicht? Ich sehe alles. Höre alles. Jede kleine Unebenheit in ihrer Stimme, wenn sie lügen. Kann ihre persönlichen Probleme, Ängste und Freuden aus der Art filtern, wie sie sich bewegen. Blicke in ihre Seele, wenn sie die Augen auf mich richten. Aber natürlich nur, wenn ich will. Überraschung – meistens will ich nicht.

Der Soldat hält sich nicht mal mehr damit auf, mir sicherheitshalber Handschellen anzulegen. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper und gehe ihm nach.

Das Weiß des Aufenthaltsraumes, der das Aussehen der gesamten Anstalt spiegelt, droht mich zu erdrücken, als der Soldat mit mir im Schlepptau das kleine Zimmer durchquert. Farblose Wände, grauer Linoleumboden, ein Tisch und ein paar Stühle.

Ace, Daniel, Zare und ich sollten uns über so viel Freiraum freuen. Immerhin ist das geräumige Apartment, wie es die Angestellten hier spöttisch nennen, ein Luxus, der nur uns Auserwählten zuteilwird, weil wir unbeabsichtigt eine zweite Gabe erhalten haben, obwohl uns nur ein Mittel verabreicht wurden. Juhu. Als wäre eine Fähigkeit nicht schon unnatürlich genug. Das Militär sieht das selbstverständlich anders. Wir sind ein Forschungserfolg. Ein Durchbruch. Die Prunkstücke der Anstalt. Oder so. Immerhin hat uns das, was sie uns eingeimpft haben, nicht umgebracht. Und das ist doch schon etwas, oder?

Die Ärzte haben keinen blassen Schimmer, wieso manche Injektionen bei gewissen Menschen sofort wirken und bei anderen einen langsamen, qualvollen Tod auslösen. Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass ihnen der Verlust von Menschenleben nichts ausmacht. Sie können ihre Verantwortung einfach abgeben. Und zwar auf mich.

Ace hat einen der Stühle besetzt, an dem ich vorbei schlurfe, die Füße gemächlich auf der Tischfläche platziert. Nur das Rascheln der Seite, die er gerade umblättert, reißt den Raum aus seiner Totenstille. In seinem Schoß liegt ein Buch, eines aus dem spärlich gefüllten Regal an der Wand. Die Seiten sind unten eingerissen, der rote Einband ist schmuddelig. Golden, mittlerweile schon zu Braun verblasst, hebt sich der Name des Autors vom Buchdeckel ab – Oscar Wilde.

Als Auserwählte haben wir ein paar Privilegien. Die Armee besorgt uns Dinge, die uns bei Laune halten. Bücher, ein Schachspiel, Pokerkarten, die ich noch nie angerührt habe, und sogar ein Laufband. Nur keine Dinge, die uns persönlich gehören oder an zu Hause erinnern. Unsere Verwandten können uns jedoch Briefe schreiben, wenn sie wollen, auch wenn wir sie nicht beantworten dürfen. Das ist deren Art, uns zu zeigen, dass wir hier gefangen sind. Dass es draußen Leben gibt, zu dem wir keinen Zugang mehr haben.

Ich kann nur raten, wie oft Ace diese Geschichte schon gelesen hat, aber man ist hier über jede Form von Ablenkung dankbar.

Er sieht von der Seite auf, und seine grauen Augen treffen meine. »Viel Spaß bei der Arbeit«, sagt er ohne jeden Humor.

Darauf kannst du wetten, erwidere ich bitter in Gedanken.

Über Aces Gesicht huscht ein kaum erkennbares Lächeln. Seine braunen Haare fallen ihm wieder in die Augen. Gerade, als ich den Blick abwenden will, rutscht der linke Ärmel seines T-Shirts etwas höher, und wie jedes Mal, wenn ich die tätowierten Kombinationen aus Zahlen und Buchstaben auf unserer Haut erblicke, wird mir in Sekundenschnelle schlecht.

SN-1413, der Name der Droge, die ihn zu einem Gedankenleser gemacht hat und als zweiten Effekt jede fremde Sprache verstehen lässt, hebt sich wie eine schwarze Narbe von seinem Arm ab. Auch mir hat man gesagt, die Kennzeichnung diene nur zur Unterscheidung.

Doch sehr schnell wurde mir klar, dass es eher ein Brandmal als eine Orientierungshilfe ist, die sie uns aufdrücken. Mehr als eine Aneinanderreihung von Zahlen und Buchstaben.

Die Tattoos ruft uns jeden Tag in Erinnerung, was wir wirklich sind, nämlich das Eigentum des Militärs. Diese Nummern haben unsere Seelen ersetzt. Oder zumindest wollen sie uns das weismachen.

Der Wärter und ich gehen durch die engen, hell erleuchteten Gänge. Nach zwei Jahren hat sich der Weg zum Verhörraum in mein Gedächtnis eingebrannt. Das winzige Zimmer würde ich sogar im Schlaf finden. Nur das Quietschen meiner Turnschuhe überzeugt mich nun davon, dass ich nicht träume. Und das ist das Schlimme. Denn ich will einfach nur aufwachen und feststellen, dass das alles nur ein Albtraum war.

Die Wände werden vom grellen Neonlicht beschienen. Sie bilden einen Tunnel, der kein Ende zu haben scheint. Nur die in unregelmäßigen Abständen aufgehängten Banner versichern mir, dass wir uns überhaupt von der Stelle bewegen. Das erste Banner ist Grün. Grün für Ace. Im Gegensatz dazu steht das leuchtende Rot für Zare, die die Schwerkraft austricksen kann und deren Tastsinn durch ihre Droge AY-9217 um ein Vielfaches verstärkt wurde. Auf den gelben Stoff daneben ist Daniels Chemikalie gestickt. Durch MA-7312 kann er sich in jedes feindliche Computersystem einhacken. Außerdem wäre das Militär ohne sein technisches Wissen, das für mindestens zwanzig Leute reicht, total aufgeschmissen.

Und zum Schluss, blau. C-4109. Für Crystal – genannt Crys – mich. Mentalistin mit einem Blick in die Zukunft. Henkerin für Hunderte. Ich sortiere die Jugendlichen und Kinder aus, die für die Anstalt nicht von Nutzen sind. Sie werden in den Verhörraum geführt und ausgefragt, aber nicht, um wie vermutet ihre Daten zu übernehmen, sondern um von mir studiert zu werden. Ich sitze hinter einer Spiegelscheibe … im Verborgenen. Sie wissen nicht, dass ich sie beobachte, jeden ihrer Atemzüge analysiere, jedes Blinzeln, jedes Zittern ihrer Finger, wenn sie ihre Hände auf dem hellen Tisch vor ihnen zu Fäusten ballen. Sie können mich nicht sehen. Aber ein Blick in ihre Richtung reicht mir, um sie zu sehen.

Ich beobachte sie, während die Soldaten mich beobachten. Jede meiner Regungen wird durch eine kleine Kamera in der Ecke aufgezeichnet. Sie nehmen jedes meiner Worte auf, registrieren jeden meiner Atemzüge.

Sobald wir die winzige Kammer betreten haben, reicht man mir ein Headset, in das ich meine Vermutungen über die passende Droge eingebe. Denn jede einzelne Chemikalie ist auf einen individuellen Typ Mensch abgestimmt, und meine Aufgabe ist es, zu einer Droge die passende Person zu finden. Natürlich wäre es um ein Vielfaches einfacher, die Schafe einfach selbst zu befragen. Aber in deren Augen bin ich bloß ein Werkzeug des Militärs. Und seitdem die Offiziere damit angefangen haben, einfach Kinder und Jugendliche aus ihrem Umfeld zu reißen und sie zu Forschungsobjekten zu degradieren, ist man gerade in den äußeren Teilen des Landes nicht sonderlich gut auf die Militärmacht zu sprechen. Also auch nicht gut auf mich. Überraschung.

Die Schafe – mein Spitzname für die völlig ahnungslosen Jugendlichen – kommen aus einem der Dörfer, die sich wie eine schützende Spirale um die Stadt winden.

Jeder einzelne Jugendliche, der hier in der Anstalt gefangen ist, kommt aus einem der fünfzehn kleinen Siedlungen auf dem Land.

Ich stamme aus dem viertäußeren Dorf direkt am Meer. Wir waren weder besonders reich noch arm, wir hatten immer genug zu essen, aber nie ausreichend Geld, um uns zusätzlichen Luxus, wie zum Beispiel Strom für einen Fernseher, leisten zu können. Meine Zwillingsschwester und ich gingen am Morgen zur Schule, am Nachmittag arbeiteten wir, gingen nach Hause. Lebten einfach.

Mit den Jahreszeiten änderten sich auch unsere Arbeiten. Im Winter besserten wir vom Frost zersprungenen Asphalt aus, im Frühling forsteten wir den Wald auf, im Sommer fischten wir, und im Herbst ernteten wir Gemüse. Beschwerliche Arbeit, gleich in welcher Saison. Trotzdem, ich mochte das Meer schon immer. Die Weite. Die Vorstellung, allem zu entkommen, wenn man es nur irgendwie überqueren könnte.

Ich fühle einen Stich in meiner Brust, als ich an zu Hause denke. An meine Eltern, an das Gesicht von Violet, das meinem so sehr ähnelt.

Die Tür schließt sich hinter mir mit einem dumpfen Laut, ich bin nun allein im verdunkelten Raum. Sie haben die Lichter gedämpft, damit ich besser sehen kann, was hinter der Glasscheibe vor sich geht.

Routiniert lasse ich mich am Tisch auf den klapprigen Stuhl nieder, setze das Headset auf und bringe das eingebaute Mikrofon ein wenig näher an die Lippen. Der weiche Schaumstoff streicht leicht über mein Kinn, als ich tief durch den Mund einatme. Der Kloß, der sich wie jedes Mal, wenn ich hier bin, hinter meinem Gaumen bildet, will zu einem Schrei mutieren, doch ich lasse ihn nicht. Ich muss ruhig bleiben. Still. Genau wie sie mich haben wollen. Genau wie ich mich selbst vor weiteren Peitschenhieben schützen kann. Obwohl die Wut noch in mir ist, zum Greifen nah, kann ich sie nicht fassen. Stumm zähle ich bis zehn. Eins, ich presse die Zähne aufeinander. Fünf, das Brennen in meiner Brust lässt nach, und ich zwinge die Rage wieder hinunter in meine Magengrube. Neun, gleich bin ich wieder die Alte. Zehn, alles ist so, wie es schon die letzten zwei Jahre lang war.

Ich beachte den Zettel, der vor mir liegt, gar nicht mehr. Mittlerweile kenne ich den Namen jeder Droge und ihrer Wirkung auswendig. Natürlich, jeden Monat erfinden die Wissenschaftler ein oder zwei neue, aber das macht nichts. Ich habe sie alle im Kopf und muss nicht mehr auf die gedruckten Zahlenkombinationen auf dem Papier vor mir achten.

Ich lehne mich in meinem Stuhl etwas zurück, wissend, dass es lange zwei Stunden werden. Ich beiße meine Zähne zusammen, als ein Adrenalinstoß durch meine Adern fährt. Meine Gabe zu aktivieren ist wie Luftholen. Die Wärme fließt von meinem Brustkorb in alle Richtungen, schlägt Wellen vom Epizentrum in die feinsten Verzweigungen meiner Venen.

Diese Sekunden der totalen Kontrolle und Überlegenheit sind genau dann vorbei, wenn ich die Angst in den Augen der Schafe sehe, das Pochen ihrer Halsschlagader, die wütend verkrampften Fäuste.

Ich habe keine Ahnung, wie sie die Drogen verwendet haben, bevor ich kam. Vermutlich haben sie sie einfach wahllos an den Jugendlichen ausprobiert, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viele bei diesen Versuchen gestorben sind.

Das Militär geht immer nach dem gleichen Muster vor: Da die Mehrheit der Menschen im mittleren Alter zum Kriegsdienst einberufen wurde, bleiben viele Kinder verwaist zurück. Sie werden aufgelesen und mitgenommen. Wenn sie Geschwister haben, wird immer nur der oder die Älteste in die Anstalt verbannt. Der Rest einer Familie wird dann mit einer so geringen Summe an Geld entschädigt, dass sie sich gerade mal eine Woche über Wasser halten können. Genau darum war ich auch so verdammt sicher, dass ich nicht betroffen sein würde. Weil meine Eltern nicht im Krieg waren und mich so davor hätten beschützen können.

Ich kann mich noch gut an den Abend erinnern, an dem sie mich mitgenommen haben. Violet und ich machten uns gerade auf den Weg zum Meer, wir verließen das Haus schon etwas früher, um vor unserer langen Schicht noch ein schnelles, erfrischendes Bad zu nehmen. Für Nordengland war es heiß in diesem Spätsommer. Vater und Mutter waren schon den ganzen Tag auf einem Fischkutter draußen auf dem Meer. Wir verließen gerade unser kleines Haus am Waldrand und liefen direkt zwei Offizieren in die Arme, die aus einem dunklen Jeep stiegen. Einer von ihnen, ein Mann mit Glatze, fragte nach unseren Eltern. Wir erwiderten, sie seien draußen auf dem Meer …

Ich schließe kurz die Augen und schlucke, während ich darauf warte, dass das erste Schaf in den Verhörraum geführt wird.

Nicht schon wieder diese Erinnerung.

In letzter Zeit lässt mich der letzte Abend in meiner Heimat schweißnass von der Pritsche hochfahren. Als wäre es nicht schlimm genug gewesen, die Angst an jenem Tag durchlebt zu haben.

Selbst ein fester Biss auf die Innenseiten meiner Wangen kann mich nicht davor bewahren, hinter geschlossenen Augen Violets Gesicht zu sehen.

Die Fratze, die ihr zuvor glückliches Lächeln ausradiert hat, nachdem ich sie mit einem Witz zum Grinsen gebracht habe, an den ich mich gar nicht mehr erinnern kann.

Ein Stich fährt durch mein Herz, und ich presse die Lider noch eine Sekunde länger zu, um die Tränen zurück hinter meine Augen zu drängen. Dorthin, wo sie niemand sehen kann.

Ich liebe Violet, wie nur eineiige Zwillinge einander lieben können. Und ich bin hier gefangen, weil ich freiwillig mitgegangen bin. Um ihre Freiheit zu retten.

Das war die beste und gleichzeitig die schlechteste Entscheidung meines Lebens. Denn jetzt bin ich hier drin, und sie ist draußen. Allein. Ohne mich.

Ich kann sie nicht beschützen.

Je mehr Tage vergehen, desto häufiger sagt mir das Ziehen meines Herzens, dass irgendetwas nicht stimmt. Nicht hier drinnen in der Anstalt, hier läuft eh alles falsch, was nur falsch laufen kann.

Draußen. Bei meiner Schwester.

Der Gedanke, dass ihr irgendetwas zugestoßen sein könnte, bringt mich um den Verstand.

Oder vielleicht bin ich ja schon verrückt? Zwei Jahre in dieser Hölle, und obwohl ich erst sechzehn bin, kenne ich mich selbst nicht mehr.

»Bist du so weit, Crys?«

Ich zucke zusammen, als die Stimme laut in mein Ohr dröhnt. Wie jedes Mal drückt der Kopfhörer unangenehm gegen meinen Kopf, und routiniert nicke ich einmal. Meine Arbeit kann beginnen.

Offizier Carter betritt den Raum nebenan, unverändert aussehend seit zwei Jahren, wenn man die neueste Narbe an seinem rechten Unterkiefer außer Acht lässt.

Er wendet sich dem Spiegel zu und nickt in meine Richtung, obwohl er mich von dieser Seite des Glases unmöglich sehen kann. Seine grauen Augen wandern einmal kurz über die gesamte Glasscheibe, eher er einen der beiden Stühle aus Metall neben dem weißen Tisch in der Mitte des Raumes zu sich zieht. Wie immer lässt er sich mit dem Rücken zu mir nieder, rückt dann den Stuhl etwas zur Seite, damit seine breiten Schultern mir nicht die Sicht versperren.

Als Erstes wird ein rothaariger Junge in meinem Alter hereingeführt. Ein Blick auf ihn genügt, und ich weiß, welche Droge auf ihn ansprechen wird. SX-1143. Gedankenlesen. Anders als die Chemikalie, die Ace verändert hat, ist sie wesentlich schwächer und menschenfreundlicher, ohne die Nebenwirkungen wie Übelkeit, Schwindel oder die Krämpfe. Dafür ist Aces Gabe um ein Vielfaches effektiver. Er sieht nicht nur die Gedanken, sondern auch die Absicht dahinter. Hätte ich jemals vor, Ace im Geiste anzulügen, würde er mich sofort durchschauen.

Diese Aufgabe ist schon fast beleidigend, da auf SX-1143 immer nur eine Art Mensch anspricht: reichere Teenager aus dem inneren Ring zwischen fünfzehn und achtzehn. Selbstgefällig, arrogant, jähzornig. Ohne Gnade, wenn es wirklich zu einem Kampf kommt.

Ich seufze und überfliege die Liste mit den Abkürzungen für die Drogen. Das Mädchen, das als Nächstes Carter gegenübersitzt, scheint auf den ersten Blick zu keiner Chemikalie zu passen. »Auf alle Fälle braucht sie eine fördernde Chemikalie«, murmle ich, während ich überlege. Ich habe keine Ahnung, wofür diese Kategorie gut sein soll. Fördernde Drogen bringen keine neuen Kräfte hervor, sondern verstärken die Sinne. In ihrem Fall den Geschmackssinn. Sehr nützlich, wenn es darum geht, giftige Speisen und Pflanzen zu identifizieren. Blöd nur, dass die Droge einen nicht resistent gegen die tödliche Wirkung von Giften macht. Ein wahrer Geniestreich von den Entwicklern dieser Substanzen.

Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie mein Blick zu der Uhr an der Wand gegenüber huscht. Nur, um mich Sekunden später wieder vom regungslosen Minutenzeiger abzuwenden. Seit Monaten warte ich darauf, dass irgendjemand die leere Batterie wechselt.

Ich sehne mich nach dem Ticken, weil es mir wie ein Freund immer und immer wieder versichert hatte, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist. Dass sie weitergeht. Dass ich die Millionen von Augenblicken, die ich hier drinnen verbringe, letzten Endes doch noch überleben kann. Dass ich frei sein werde, wenn ich nur lange genug darauf warte.

Ich schüttle leicht den Kopf und beginne, die Kanten des oberen Blattes nach innen zu falten. Mittlerweile habe ich meine Papierflieger-Baukünste perfektioniert und bin versucht, mich zur Abwechslung an einen Kranich zu wagen. Nur aus den Augenwinkeln sehe ich, wie im Nebenraum die Tür aufgeht und ein neuer Inhaftierter hereingeführt wird. Gelangweilt bastle ich weiter an meinem Vogel, als ich zusammenzucke und mein Blick zu dem Opfer schnellt. Meine Hand erstarrt in ihrer Bewegung, schwebt reglos über dem Tisch.

»Nein«, keuche ich. Ich schlucke einmal hart und spreche dann mit gebrochener Stimme in das Mikrofon. »Das kann nicht euer Ernst sein. Das ist noch ein Kind!«, zische ich, doch ich erhalte keine Antwort.

Meine Brust hebt und senkt sich immer schneller.

»Crys, beginne mit der Identifizierung. Sofort.«

Die Stimme in meinem Ohr ist weit, weit entfernt. Der Schock verbeißt sich in meiner Magengrube, als wäre er ein tollwütiger Wolf. Die Tränen in den Augen des kleinen Jungen, der im Stuhl fast verschwindet, treiben mir einen stechenden Schmerz unter die Lider.

»Hat das Militär es jetzt schon nötig, Zehnjährige in seinen Dienst zu stellen?«, spucke ich aus. Sie wollen diesen kleinen Jungen als Kampfmaschine ausbilden? Sie verlangen, dass ich über sein Schicksal bestimme? Dass ich wie Cäsar meinen Daumen nach unten oder oben drehe, um ihn leben oder sterben zu lassen? Dieses … Kind?

Das hellbraune Haar des kleinen Jungen steht nach allen Seiten ab. Seine Schultern zittern bei jedem hastigen Atemzug.

Carter scheint verwirrt zu sein, er erwartet einen Befehl durch sein Headset, doch ich habe meine Entscheidung gefällt.

»Crys?«

Ich unterdrücke den Drang, diesen bescheuerten Kopfhörer von meinem Ohr zu reißen und darauf zu treten. Zuerst schweige ich. Mein Herz wirft sich mit aller Gewalt gegen meine Rippen, und für einige Momente höre ich nur das aufgebrachte Pochen in mir. Der halbfertige Kranich wird in meiner Faust zu einem zerknüllten Klumpen Papier.

»Sofort!«, ordnet die tiefe Stimme an.

Damit jeder der Menschen hinter dem Monitor meinen Trotz und Hass sehen kann, recke ich das Kinn und blicke direkt in die Videokamera in der oberen rechten Ecke des Raumes.

»Nein«, sage ich laut.

Eine kurze Pause entsteht. Ich starre immer noch in das Auge der Kamera, während ich auf eine Antwort warte. Schwarz, kalt und unerbittlich erwidert es meinen Blick.

»Gut, dann lässt du uns keine andere Wahl.« Ich höre die emotionslose Stimme, wie sie etwas weiter entfernt zu jemand anderem sagt: »Weg mit dem Jungen.«

Was? »Halt!«, kreische ich und springe auf.

Carter, der ebenfalls gerade aufgestanden ist, um das Kind wegzuführen, hält inne. Meine Lungenflügel ziehen sich schmerzhaft zusammen.

»I-ich finde etwas für den Jungen«, stammle ich, plötzlich unfähig, zu sprechen. »Nur tötet ihn nicht. Bitte.«

Auch wenn die Anstalt einer Hölle nahekommt, ist sie immer noch besser, als zu sterben. Wenn ich die richtige Chemikalie finde, wird es ihm sicher gutgehen, beruhige ich mich. Hastig streiche ich das Papier glatt, um zum ersten Mal seit anderthalb Jahren einen genauen Blick darauf zu werfen.

Nachdem Carter sich wieder niedergelassen hat, beginnt er damit, den Jungen auszufragen, der leise und ängstlich antwortet. Je mehr ich über ihn erfahre, desto hektischer suche ich nach der passenden Substanz für ihn.

Name: Finn Wenly. Alter: neuneinhalb. Kommt aus dem äußeren Ring, liebt Schokolade, Kekse und seinen Hund Barry. Hat Angst im Dunkeln.

Mit klammen Händen drehe ich den Zettel um, während ich versuche, ruhig zu bleiben, weil ich auf Sendung bin. Wenn ich keine Chemikalie finde, die zu Finn passt, muss ich wohl oder übel lügen, um ihn am Leben zu erhalten.

Ich schlucke und zwinge mich, ruhiger zu atmen. Mein Blick fliegt über die Zahlenkombinationen, an die ich mich plötzlich nicht mehr erinnern kann. Meine Gedankenkammer ist wie leergefegt. Blackout.

Der Großteil der fördernden Chemikalien würde ihn höchstwahrscheinlich umbringen, denn die Nebenwirkungen sind bei Weitem höher als bei den schaffenden Chemikalien, die eine ganz neue Gabe erzeugen.

XX-20, jemand anderen Wahrnehmung beeinträchtigen; MT-429, Resistenz gegenüber Gift und giftigen Gasen; LNM-927, fotografisches Gedächtnis.

Mein Blick huscht gehetzt zur nächsten Spalte, weil ich bemerke, dass nichts passt. Oder … halt.

TG-80081. Nachtsicht. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. Das ist es.

Ich atme einmal aus, erleichtert. Mit nur wenigen Nebenwirkungen wie Augenschmerzen und leichtem Kopfweh ist diese Chemikalie eine der harmlosesten. Vermutlich wird das Stechen des Tattoos mehr wehtun, als diese Chemikalie in die Augen getropft zu bekommen. Hoffentlich. Erschöpft lasse ich mich wieder an die Lehne des Stuhles sinken.

»TG-80081 für den Jungen. Nachtsicht«, flüstere ich in das Mikrofon. Es ist mir unmöglich, lauter zu sprechen und dabei das Zittern in meiner Stimme zu verbergen.

Da ist sie wieder.

Violet.

Ein zaghaftes Lächeln zieht meine Mundwinkel nach oben. Wäre Finn in der Kindergartengruppe, die meine Schwester hin und wieder betreut, wäre sie sicherlich total vernarrt in ihn. Ihr glockenhelles Kichern, das ich manchmal sogar vom Spielplatz bis in unser Haus gehört habe, hallt in meinem Kopf wieder.

Violet wäre sicher stolz auf mich. Obwohl … was würde sie dazu sagen, dass ich zwar Finns Leben gerettet habe, doch dafür Hunderten vor ihm zum Tode verurteilt habe?

Das Grinsen rutscht von meinen Lippen und fällt mit einem Klirren zu Boden. Ja, was würde sie dann sagen? Der finstere Unterton meines Bewusstseins lässt mich nach Luft schnappen, und ich schiebe den Gedanken beiseite.

»Eine kurze Pause«, meldet der Mann in meinem Ohr.

Gott. Sei. Dank. Ich lege meine Stirn auf die Tischplatte und genieße die Kälte des Aluminiums auf der Haut, während sich mein Herzschlag beruhigt. Die Tür öffnet sich, und jemand stellt ein Glas Wasser vor mir auf den Tisch, doch ich lasse meine Augen weiter geschlossen.

Die kalte Stimme dringt wieder an mein Ohr. »Weiter geht’s!«, verkündet sie unbarmherzig.

Langsam richte ich mich auf und hebe das Glas zu meinen Lippen. Mittlerweile sind meine Gedanken wieder zur Ruhe gekommen.

Ich bin so weit.

Während Carter und ich auf das nächste Schaf warten, dreht er sich zum Spiegel um. Seine Lippen formen die Worte »Gut gemacht«. Auch wenn er es nicht sehen kann, nicke ich ihm zu. Manchmal glaube ich, dass einige Soldaten ihren Job genauso hassen wie ich den meinen.

Die Tür geht auf, und das nächste Schaf betritt den Raum. Es ist ein weiterer Junge, diesmal in meinem Alter oder vielleicht sogar etwas älter.

»Setz dich«, fordert Carter ihn auf und deutet auf den Platz ihm gegenüber.

Die vollen Lippen des Jungens verziehen sich zu einem abfälligen Lächeln. Die Augen auf die Glasscheibe zwischen uns gerichtet, geht er zum Tisch und zieht langsam den Stuhl zu sich heran.

Ich zucke zusammen. Das Scharren der Stuhlbeine auf dem Boden klingt wie ein hohes, sterbendes Kreischen an meine Ohren. Der Typ lässt sich nieder und legt einen Arm über die Stuhllehne. Seine Augen starren weiter auf die Scheibe, und ich rutsche unruhig auf der Sitzfläche hin und her. Dieser Psychoblick jagt mir eine Gänsehaut über die Arme. Ich fühle mich beobachtet. Was natürlich totaler Schwachsinn ist. Er kann mich unmöglich sehen. Oder?

Verärgert über mich selbst schüttle ich den Kopf und blinzle - und stürze plötzlich ab. Meine Sicht verfinstert sich, und die Ränder meines Blickfeldes werden von Dunkelheit verschluckt. So ist es immer, wenn eine Vision meine Gedanken aus meinem Kopf zerrt und in die Zukunft verschleppt.

Meine Hände krallen sich an den Tischrand, als mich eine Welle der Schwärze überrollt. Die Visionen treten selten auf, hin und wieder, ohne sich vorher anzukündigen.

Zuerst bin da nur ich. Meine brünetten Haare schwingen über die Schultern, als ich herumfahre und zusammenzucke. Der Mond erhellt meine Züge, doch mein Umfeld wird von Finsternis verschluckt.

Neben mir steht ein Junge. Ich kenne ihn. Noch eben haben sich seine Augen durch die Glasscheibe des Verhörraums gebohrt. Jetzt sieht er mich an. Und ich ihn. Die Zeit steht still. Genau wie die Schneeflocken, die plötzlich auf ihrem Weg zum Waldboden innehalten.

Doch dann … Ich ziehe scharf die Luft ein, weil neue Bilder nun in Sekundenschnelle auf mich einprasseln. Der rothaarige Junge von vorhin, sein Gesicht zum Schrei verzerrt. Ace, wie er mich zu Boden zieht und mir etwas zuschreit, das ich nicht verstehe. Ein Messer in meiner Hand, blutig.

Mit einem tiefen Atemzug reiße mich selbst zurück in die Realität. Meine Finger zittern, und ich lasse die Tischkante los. Zum zweiten Mal an diesem Tag klopft mein Herz wie verrückt – ein dumpfes, zu schnelles Pochen. Ich schlucke den Drang herunter, mich zu übergeben. Jede Reise in die Zukunft, auch wenn sie nur in meinem Kopf stattfindet, treibt mir die Übelkeit in den Magen.

Obwohl die Vision unendlich lang schien, sind in Wahrheit kaum mehr als wenige Momente vergangen. Carter beginnt gerade mit der Befragung. Ich klammere mich fieberhaft am Stuhl fest, aus Angst, mich noch einmal zu verlieren. Es ist unwahrscheinlich, aber sicher ist sicher.

»Gut. Erzähl mir etwas über dich. Dein Name?«

Der Junge ignoriert Carters Bitte vollständig. Keine Antwort. Er legt nur den Kopf schief und streicht sich die schwarzen, etwas längeren Haare aus den fast genauso dunklen Augen. Beinahe gelangweilt zieht er eine Augenbraue hoch.

»Dein Name?«, wiederholt der Soldat noch einmal, kaum mehr als ein Hauch von Ungeduld in seiner Stimme.

Der Junge schüttelt langsam seinen Kopf. Leicht hebt er das Kinn, trotzig. Das Licht malt dunkle Schatten unter seine hohen Wangenknochen. Seine braunen Augen scheinen mich noch eine Sekunde zu erfassen, dann wendet er sich endgültig dem Offizier zu.

Mit einer tödlich ruhigen Stimme, leicht wie Seide, deutet er mit seinem Kinn auf den Spiegel. »Da hinten sitzt sie?«

Ich erstarre. Gefriere zu Eis.

»Wer?«, fragt Carter seltsam angespannt.

Der Junge lacht, ein bitterer Laut ohne jede Sympathie. Seine Zivilkleidung lässt darauf schließen, dass er aus dem inneren Kreis kommt. Sein dunkelblaues Hemd ist aus Stoffen gemacht, die ich nicht einmal kenne und mir vermutlich selbst nach einem ganzen Monat Arbeit nicht leisten könnte. Nicht mehr lange, und das Militär wird auch ihn in die weiße Anstaltskluft stecken.

»Das Mädchen, von dem alle reden. Die Person, die über Leben und Tod entscheidet. Das Aushängeschild dieser kleinen, netten Einrichtung hier.« Er verzieht angewidert sein Gesicht.

Aushängeschild. Ich fühle mich, als hätte er mir das Wort mitten ins Gesicht gespuckt. Ich wusste nicht, dass die Armee sich auch außerhalb dieser Mauern mit uns Auserwählten brüstet.

Carters Miene verhärtet sich. »Bist du dann fertig?«, fragt er ruhig. Trotzdem kann ich erkennen, wie eine Ader an seiner Schläfe pocht.

Komm schon, rede!, flehe ich den Jungen in Gedanken an. Ich lehne mich vor und warte auf seine Reaktion. Wieso ist dieser Typ in meiner Vision aufgetaucht? Ich kann mir absolut keinen Reim darauf machen. Gespannt lehne ich mich vor, als Carter erneut zwischen den Zähnen hindurchpresst: »Wie heißt du? Wo kommst du her?«

»Ihr wisst schon, dass das mit Anmeldeformular schneller gehen würde?«, fragt der Junge mit einem süffisanten Lächeln. Wenn er sich noch länger einen Spaß daraus macht, Carter zu ärgern, waren das wohl die letzten provokativen Kommentare seines Lebens.

Carter verschränkt seine Arme und wartet. Er kann gut warten. Sogar einen halben Tag lang. Das weiß ich, weil ich hierbleiben muss, bis er mit den Vernehmungen fertig ist.

Nach ein paar Minuten absoluter Stille zwischen den Beiden verdreht der Junge die Augen. »Mein Name ist Cameron Walden. Ich wurde im inneren Kreis geboren, meinen Vater kenne ich nicht, und meine Mutter wurde vor einem Jahr als Helferin in ein Flüchtlingslager im Kriegsgebiet geschickt.« Desinteressiert betet er die Daten herunter, als hätte er es schon hunderte Male getan. Er zuckt nicht, sein Gesicht ist frei von jeder Emotion. Außer Hass.

Während er erzählt, aktiviere ich langsam meine Gabe. Meine Augen saugen jede kleinste Bewegung auf, meine Ohren reagieren auf jede Schwankung in seiner Stimme. Während er spricht, fällt mir der seltsame Tonfall auf. Eine Mischung aus Rebellion, Schmerz und dem starken Willen, zu kämpfen. Was darauf schließen lässt, dass er nicht denkt, seine Mutter werde je zurückkehren, und der Trotz, mit dem er widerwillig die Informationen an Carter weiterreicht, weist darauf hin, dass er auch nichts mehr zu verlieren hat.

Ich beobachte seine Hände, die ineinander verschlungen auf dem Tisch liegen. Ein Versuch, sich selbst zur Ruhe zu zwingen. Er scheint aus einer reichen Familie zu stammen, nicht nur wegen seiner Kleidung und der Tatsache, dass er aus der Nähe der Stadt kommt. Ich beobachte, wie er immer wieder die Ärmel über seine Handgelenke zieht, als wolle er etwas verbergen.

Cameron fährt sich durch seine schwarzen Haare, wobei ich unterhalb seines Ohres eine kleine Schnittwunde entdecke, die ihm jemand absichtlich und professionell zugefügt haben muss. Vielleicht, um ihn außer Gefecht zu setzen, ihn jedoch nicht zu töten. Vermutlich einer der Soldaten, die ihn gezwungen haben, mitzukommen. Eigentlich hat er Glück gehabt. Wäre er nur zwei Jahre älter, wäre er zum Kriegsdienst eingezogen worden, womöglich an die Front.

Eine schwierige Entscheidung. Nach und nach gehe ich die einzelnen Chemikalien durch, lege den Kopf schief. Ich spüre, dass keine von den fördernden Chemikalien infrage kommt. Auch keine von den besonders leichten, gut verträglichen Drogen. Es mag vielleicht grausam klingen, aber Cameron scheint sich gut für eine der härteren und stärkeren zu eignen. Er ist einfach der Typ dafür. Meine Augen fliegen zu den zuletzt entwickelten Drogen. Ich lege den Kopf schief, als ich meine Idee abwäge.

R-1794, schnellere Regenerierung der menschlichen Zellen. Unverwundbarkeit. Ich habe diese Chemikalie erst zwei Mal an jemandem anwenden lassen. Für die beiden ist es nicht sonderlich gut ausgegangen. Aber irgendwie … ich fühle, dass es die richtige Entscheidung ist.

»R-1794.«

Eine kurze Pause entsteht, ehe mir jemand antwortet. »Bist du dir ganz sicher? Du kannst dich daran erinnern, was mit den anderen passiert ist?«

Ein bitterer Geschmack legt sich auf meine Zunge. »Natürlich.« Wie könnte ich es auch vergessen, dass ich jemanden in den Tod geschickt habe?

»Du wirst die Konsequenzen tragen, falls es wieder schiefgeht. Dieser Junge scheint viel Energie zu haben. Nützlich im Kampf.« Die Stimme zweifelt immer noch.

Die Konsequenzen? Klar doch.

»R-1794. Wenn ihr mir nicht glauben wollt, dann macht den Job selber.« Ich lege die Kopfhörer auf den Tisch und stehe auf. Mit verschränkten Armen bleibe ich vor der Tür stehen, damit man mich hinauslässt. Ich habe keine Lust mehr. Es ist alles zu viel. Zuerst wollten sie den kleinen Jungen töten, und jetzt? Jetzt sitzt Cameron vor mir und ist Teil einer Vision. Mein Kopf ist kurz vorm Explodieren.

Und trotzdem kann ich den Blick nicht von ihm abwenden. Über die Schulter beobachte ich Carter und Cameron, die sich beide erheben.

Camerons Mundwinkel kräuseln sich, als Carter ihn anweist, durch die Tür zu seiner Rechten den Raum zu verlassen. Doch anstatt froh zu sein, endlich Carters Mangel entgehen zu können, dreht er sich noch einmal um. Sein Blick bohrt sich durch die Glaswand und … trifft meinen.

Camerons hasserfülltes Starren treibt mir sofort die Hitze in die Wangen. Für eine Nanosekunde ist es, als würde die Uhr an der Wand wieder ticken. Die Rage in seinen Augen springt auf mich über wie ein Funke Glut. Ich fühle mich in Brand gesetzt.

Doch das Gefühl von Leben wird von der ersten Silbe, die über seine Zunge rutscht, wie durch eiskaltes Wasser gelöscht. »Niemand kann über mein Schicksal entscheiden. Niemand kann mich kontrollieren. Nicht einmal du. Denn ich beherrsche meine Freiheit auf eine Art, die auch du nie brechen können wirst.«

Dann dreht er sich um. Verschwindet aus der Tür. Doch seine Worte hat er hier gelassen. Sie stecken wie Pfeile in meiner Brust. Und ich könnte wetten, einer davon hat mein Herz durchbohrt.

2

Right in we went, with soul intent

On Death and Dread and Doom.

CRYS

Ich weiß nicht, wie ich lernen soll, mit deiner Abwesenheit klarzukommen. Jeden Tag, wenn ich das Gesicht unserer Eltern sehe, weiß ich, wie sehr sie dich vermissen. Ich bin eben ich, aber ich werde nie dazu fähig sein, die Lücke, die du hinterlassen hast, zu schließen. Ich weiß es. Und kann nichts dagegen tun.

Wie sehr wünsche ich mir, dass du mir antworten könntest! Natürlich, mir wurden die Regeln erklärt. Dennoch ertappe ich mich regelmäßig dabei, mich zu ängstigen. Mir Sorgen um dich zu machen. Wie immer. Und da ist eine Traurigkeit in meinem Herzen, die nicht einmal Mom und Dad vertreiben können.

Der Winter ist beschwerlich, hart und kalt. Wenigstens kann ich beruhigt sein, dass du es warm hast. Oder nicht? Wenn ich doch nur einen Brief von dir erhalten würde, einen Zettel mit einem kurzen Satz darauf.

Tut mir leid, ich weiß, ich sollte stark sein. Aber du kennst mich. Du bist die Starke und wirst es auch immer bleiben. Jeden Tag verfluche ich mich aufs Neue. Denn es wäre meine Pflicht gewesen, zu gehen. Nicht deine. Ich schäme mich dafür, dass ich dich so einfach habe gehen lassen. Ich müsste jetzt an deiner Stelle sein.

Ich vermisse dich. Immer. Komm heim, bitte.

Violet

Atmen. Tief, ruhig. Jeder einzelne Buchstabe sticht mir ins Herz wie ein Messer. Jedes Wort legt sich wie ein schwerer Stein auf meine Seele, drückt sie weiter in die kalten Tiefen meines Körpers. Ich halte es nicht aus. Diesen …

Mit einer raschen Handbewegung knülle ich den Brief zusammen und werfe ihn in die hinterste Ecke meiner Zelle. Weit weg von mir.

Der Mond malt dunkle Schatten auf das zerknitterte Blatt Papier, während ich mich mit einem tiefen Seufzen zurück an die Wand lehne, an der meine Pritsche steht. Mehr als eine Stunde ist es her, dass mich die Bilder meiner Vision heimsuchten und weckten.

Seitdem schlaflos, habe ich mir mehrmals hintereinander diesen letzten Brief von Violet durchgelesen, der bis jetzt ungeöffnet monatelang auf meinem kleinen Tisch in der Zelle gelegen hatte.

Wieso? Es ist Folter, ihre Worte zu lesen. Ihre Liebe zu spüren, obwohl sie mir fehlt. Wie bei einem Phantomschmerz. Die Teile, die verschwunden sind, tun am meisten weh.

Ich hebe keinen ihrer Briefe auf. Ich kann nicht. Ich … will nicht.

Ich fühle die Tränen heiß auf meiner Wange. Ich bin traurig – nein. Ich bin wütend. Einfach nur in bittere Rage versetzt. Und da ist dieses Brennen in mir, dieser Zug in meinem Wesen, der mich einfach nicht zur Ruhe kommen lässt. Ich bin rastlos. Ein Tier in Ketten, das keinen Ausweg sieht, egal, wie lange es sich windet und brüllt.

Aber ich bin machtlos. Violets Leben geht ohne mich weiter, und ich friste hier mein Dasein. Für wie lange? Weiß ich nicht.

Meine Füße kitzeln. Am liebsten würde ich losrennen. Einfach irgendwo hin, würde sogar den kalten Schnee und den anschließenden Schmerz mit Freuden aushalten. Frei sein. Das wünsche ich mir. Ruckartig stehe ich auf, tigere in der halbdunklen Zelle auf und ab.

Mein Körper dürstet danach, sich zu bewegen, was hier drinnen unmöglich ist. Sieben Quadratmeter, die ich mit drei Schritten durchmessen kann. Vollgestopft mit einer Pritsche, einem Tisch und einem Stuhl, einem Waschbecken, gegenüber ein kleiner Kasten. Ich seufze leise. Ich muss noch gute vier Stunden totschlagen, bevor ich raus kann.

Verdammt.

Weil mir nichts Besseres einfällt, gehe ich zu dem wackeligen Schrank und fange an, mir die Haare zu bürsten. Sehr kreativ, ich weiß. Und total unnötig, weil hier keine Jungen sind, die mich beachten könnten. Ich hatte noch nie ein Date. Noch nie einen Kuss, noch nie den süßen Schmerz einer ersten Liebe. Obwohl … wenn ich so weiterspinne, fällt mir noch viel mehr ein, was ich nicht habe und auch niemals haben werde.

Nach einigen unangenehmen Versuchen, die Knoten in meiner welligen, brünetten Mähne auszukämmen, gebe ich schließlich auf und entwirre sie mit den Händen, was sich als noch schmerzhafter erweist. Ich beiße die Zähne zusammen. Mit nackten Füßen gehe ich Richtung Spiegel, um mein Werk zu betrachten.

Das Auffallendste an meinem Gesicht sind meine Augen. Nicht, weil sie besonders blau oder groß sind. Sie sind … ungewöhnlich. Im Licht schimmern sie verwaschen grün, als ob die Farbe aus ihnen gewichen wäre. Sie sind durchscheinend wie das Wasser eines Wildbaches. Ace meint, das seien die komischsten Augen, die er je gesehen hat.

Für das, was ich vorhabe, muss ich möglichst präsentabel und anders aussehen, sodass ich mich daranmache, mein Haar zu einem Zopf zusammenzufassen.

Ich spritze kaltes Wasser in mein Gesicht und versuche so, die Schatten unter meinen Augen zu vertreiben.

Alles im allem sehe ich recht durchschnittlich aus, daran zweifle ich nicht. Wäre es meine Bestimmung, schön zu sein, wäre ich auch schön geworden. Aber wie es scheint, bin ich auf der Welt, um Menschen in den Tod zu führen und ihr Leben zu zerstören.

Aus dem kleinen Schrank, in dem sich nur Kleidung und ein leerer Rucksack befinden, hole ich mir einen Sweater und eine unförmige Hose, ebenfalls in Weiß. Wie alles hier. In dem moosgrünen Rucksack befinden sich Waschzeug und Unterwäsche, überreicht an meinem ersten Tag.

Ich schaudere bei dem Gedanken an die Vision und wende mich von meinem Spiegelbild ab. Mein letzter Blick streift mein Tattoo, zu schwarz und dominant auf der bleichen Haut.

Hastig ziehe ich mich an und gehe an das Fenster. Ich kann mich nicht mehr ansehen, ich will mich nicht ansehen müssen. Wenn ich gefragt würde, was wahre Schönheit und Anmut für mich bedeutet, würde ich antworten: der Mond. Nichts ist so vollkommen wie dieses Licht am Rande der endlosen Nacht. Kein Stern wird sein Leuchten je überstrahlen, keine Wolke wird ihn je ganz verdecken können. Dieses Licht wird für immer währen, ganz gleich, wie schwarz die Dunkelheit auch sein mag. Ich schlucke. Heute Nacht ranken sich zerrissene Wolken um die Seiten des Vollmondes und lassen sie verschwommen wirken. Zerfranst.

Unwirklich steht er am Himmel, als wäre er eigens für mich dorthin gehängt worden. Nur um angesehen zu werden. Mit einem Seufzer lehne ich meine Stirn gegen das Gitter und betrachte diese Vollkommenheit. Und ich weiß, dass ich weitere vier Stunden nichts anderes tun werde .

Während Ace sich beinahe zu Tode hustet, rührt Zare lustlos in ihrem Kaffee. Daniel erbarmt sich und klopft dem Gedankenleser ein paar Mal auf den Rücken. Verdammt.

Ich hätte besser aufpassen müssen. Anscheinend habe ich mich nicht gut genug im Griff, denn als ich nur kurz an meinen Plan gedacht habe, hat Ace sich an seinem Brot verschluckt und mich unter tränenden Augen angesehen. Was ist sein Problem? Ich will nur in den Speisesaal und nicht aufs Schlachtfeld.

»Geht’s wieder?«, fragt Zare desinteressiert, während sie sich ihre kinnlangen, schwarzen Haare aus dem Gesicht streicht.

Ace nickt nur und beobachtet mich noch immer. Sein braunes Haar verdeckt sein linkes Auge.

Ich tue so, als ob ich nichts bemerken würde und buttere meine Scheibe Schwarzbrot. So sehr ich mich auch bemühe, gelassen und gleichgültig zu wirken, schaffe ich es doch nicht. Der halbgekaute Bissen bleibt mir im Hals stecken, und nur eine ganze Tasse Kaffee kann ihn lösen.

Zare sieht mich gedankenversunken an, die Fröhlichkeit, die einst in ihren lachenden, dunklen Augen steckte, verschwand schon vor langer Zeit.

»Wie kannst du das nur trinken?«, meint Daniel angewidert.

Äußerlich wirken Zare und Daniel wie bei der Geburt getrennte Zwillinge, beide dunkelhaarig, mit mandelförmigen Augen. Der einzige Unterschied zwischen den beiden bleibt ihre Hautfarbe, jene von Zare schimmert in einem warmen Goldton, während Daniels genauso hell ist wie meine.

»Er hat recht. Du bist verrückt!«, wirft Ace ein, obwohl ich sicher bin, dass er nicht den ekligen Kaffee meint.

Ich zucke bloß unschuldig mit den Schultern. Ist mir egal, was er von meinem Plan hält. Immerhin bin ich für mich selbst verantwortlich.

Mit einem Seitenblick zu Ace meine ich: »Ich finde, es gibt Schlimmeres.«

Keiner der beiden anderen würde je auf die Idee kommen, dass Ace und ich einen geheimen Dialog führen. Wenn man permanent unter Beobachtung steht, muss man einen anderen Weg finden, sich auszutauschen.

Er wirft mir von der Seite einen missbilligenden Blick zu. »Auf deine Verantwortung.«

Ich kann nicht anders, als mit den Augen zu rollen. Sein Großer-Bruder-Gehabe wäre unter anderen Umständen vielleicht ganz süß, aber ich lasse mich nicht von meiner Idee abbringen.

Was soll schon passieren?, frage ich ihn in Gedanken.

Daraufhin bedenkt er mich mit einem mörderischen Blick und fährt sich leicht mit dem Zeigefinger über den Hals.

Leicht schüttle ich den Kopf. Nicht, wenn ich meine Identität wahre. Niemand wird erfahren, wer ich bin.

Er schnaubt einmal. »Besser für dich«, murmelt er so leise, dass nur ich es hören kann.

Mit einem frustrierten Blick erhebt sich Zare und geht in ihre Zelle. In letzter Zeit zieht sie sich immer weiter zurück und kommt nicht einmal mehr heraus, wenn wir dürfen. Sie vergräbt sich in ihrem Leid, hier gefangen zu sein.

Daniel kann sie nicht einmal mehr zu einer ihrer geliebten Schachpartien überreden. Die Figuren verstauben irgendwo in ihrem Kasten.

Nach ein paar weiteren Minuten wird Daniel zur Arbeit abgeholt. Vermutlich muss er sich wieder in feindliche Computersysteme hacken oder so.

Keiner von uns spricht über das, was er außerhalb des Apartments tun muss, und keiner fragt danach. Ace nimmt nun Daniels Platz neben mir ein, mit einer Hand streicht er mir eine Strähne hinter mein Ohr. Ein Zeichen dafür, dass er mit mir reden will. Über die Monate hinweg haben wir eine Art gefunden, uns ohne Rücksicht auf Kameras und Wärter unterhalten zu können.

Es erfordert einiges schauspielerisches Talent, aber bis jetzt wurden wir noch nie erwischt. Als er nun noch seine Hand auf meiner Schulter liegenlässt, beginne ich zu erröten und zu kichern.

In meinen Ohren hört es sich ein wenig zu schrill an, aber niemand sonst scheint es zu merken.

Keiner der Soldaten hält uns auf, während wir uns auf den Weg zum Waschraum machen. Ace hat einen Arm um mich gelegt, und ich lehne meinen Kopf gegen seine Schulter.

Die Wächter gehen davon aus, dass wir diesen Raum aufsuchen, um uns zu küssen, und nicht, um über geheime Dinge zu streiten. So lassen sie uns passieren, mit einem merkwürdigen Grinsen im Gesicht.

Als die Tür hinter uns zufällt, verwandelt sich seine zarte Berührung in einen harten Griff, seine Finger graben sich schmerzhaft in meine Schultern.

»Bist du verrückt?«, zischt er mich mit gesenkter Stimme an, während er mir eindringlich in die Augen schaut.

»Hör auf damit!«, protestiere ich. »Du tust mir weh.«

Auf der Stelle lässt er mich los, seine Hände ballen sich zu Fäusten.

Okay … Er ist echt aufgebracht.

»Ich will nur sehen, ob es dem kleinen Jungen gut geht«, will ich ihn beschwichtigen, die Hände abwehrend erhoben.

Er lacht einmal leise auf, und als er weiterspricht, liegt ein bitterer Ton in seiner Stimme: »Das ist nicht der Hauptgrund dafür, dass du gehst. Die Wahrheit ist, du willst wissen, was es mit dieser Vision auf sich hat.« Er wirft mir einen selbstgefälligen Blick zu.

Ich verschränke die Arme vor meiner Brust.

»Na und?«, blaffe ich ihn an. »Immerhin kann ich tun und lassen, was ich will. Ich bin mein eigener Herr.«

Er zieht eine Augenbraue hoch: »Ach, tatsächlich? Wieso bist du dann überhaupt hier?«

Schweigend werfe ich ihm einen bitteren Blick zu.

Ace schlägt die Hände vor das Gesicht. Ich bin mir sicher, dass er am liebsten laut aufgeschrien hätte. »Das ist so, als ob du dich freiwillig für den Galgen melden würdest!«

»Ich wollte schon immer mal wissen, wie es ist, erhängt zu werden«, antworte ich trocken.

Aus seiner Verzweiflung wird Wut, einen Moment lang streckt er die Finger aus, als wolle er mir an die Gurgel gehen, lässt sie dann wieder sinken. Geschlagen. Meine Sturheit hat schon immer gesiegt. Mit einem Seufzer lehnt er sich gegen die geflieste Wand, seine Schultern sinken nach unten. Ace sieht müde aus. Genauso wie wir anderen. »Ich werde jedenfalls keine Grabesrede halten.«

Ein leichtes Lächeln schwebt über meine Lippen. »Hatte ich auch nie erwartet.«

Ein langes Seufzen entwischt Aces Lippen, ehe wir aus dem Waschraum schlüpfen. Wir passieren einen Wärter, der uns angrinst.

Ace räuspert sich, während er schnell einen Schritt Abstand zwischen uns bringt.

Ich lasse seine Hand los und erröte wieder.

Er ist ein wirklich bemerkenswerter Schauspieler, ein besserer, als ich je sein werde. Zur richtigen Zeit räuspert er sich, wendet verlegen den Blick ab oder lächelt mir zu. Das Einzige, was ich dazu beitrage, nicht erwischt zu werden, ist mein Erröten. Ich bin ein wahres Talent, wenn es darum geht, binnen vier Sekunden rot wie eine Tomate zu werden. Eine meiner wenigen ausgeprägten Qualitäten.

Nie im Traum würde ich daran denken, mich tatsächlich in Ace zu verlieben. Immerhin ist er so etwas wie ein Bruder für mich. Er ist da, wenn ich ihn brauche, hört mir zu und – das Wichtigste – erträgt mich.

Ohne ein weiteres Wort kehren wir in unsere Zellen zurück. Ich bitte den Wächter, der die Metalltür hinter mir schließt, die kleine, vergitterte Luke zu öffnen. Nun habe ich von meiner Pritsche aus einen guten Blick auf das Geschehen im Gang. Keine Ahnung, wie lange ich auf eine autorisierte Person warten werde, der ich meinen Wunsch vorbringen kann.

Nach einer halben Stunde erkenne ich endlich ein vertrautes Gesicht.

»Carter!«, rufe ich und springe von der Pritsche.

Mittlerweile ist der stämmige Mann aus meinem Blickfeld verschwunden, doch dann tauchen seine grauen Augen vor der Luke auf.

»Für dich immer noch Offizier Carter, wenn ich bitten darf!«, erinnert er mich mit einem halbherzigen Grinsen. Obwohl er ungefähr so alt wie mein Vater ist, sieht er ungleich älter und angespannter aus. Carter zieht fragend die Augenbrauen in die Höhe, seine Stirn legt sich in Falten.

»Was gibt es, Inhaftierte Levine?«, fragt er mit ernster Miene. Ich kann nicht anders, als ein wenig zu grinsen.

Keine Ahnung, weshalb ich heute so fröhlich bin. Ich kann nichts dagegen tun. Vielleicht habe ich es einfach satt, in meiner Zelle zu hocken und meine Zeit hier abzusitzen.

»Car… Offizier Carter, wäre es möglich, heute mit den anderen zu Mittag zu essen?« Ohne dass ich meine Bitte genauer formuliere, nickt er einmal. Fragt nicht nach. »Ich werde sehen, was sich da machen lässt. Aber sei vorsichtig«, ermahnt er mich, »denn wenn die erfahren, wer du bist, könnte das schlecht enden. Nicht viele der Häftlinge sind gut auf dich zu sprechen. Du weißt, warum.«

Ich seufze. Mir scheint, als hörte ich diese Ermahnung heute schon zum zweiten Mal.

Carter ist noch nicht fertig mit seiner Belehrung: »Besonders vor solchen Typen wie Walden würde ich mich in Acht nehmen. Er hasst dich.«

»Keine Sorge. Ich werde niemandem sagen, wer ich bin. So lebensmüde bin ich nun auch wieder nicht.«

Der Offizier nickt nochmals und ignoriert meinen schwachen Witz.

Dann füge ich hinzu: »Solange ich keine Sonderbehandlung erhalte, wird schon alles glattgehen.«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung winkt Carter ab: »Die Wärter in der Halle haben dich noch nie zu Gesicht bekommen. Sie kennen zwar deinen Namen und deine Droge, aber solange du beides geschickt verbirgst, bist du nichts als eine gewöhnliche Gefangene.«

Zweifelsohne gibt es auch im Militär Personen, denen die Obrigkeit nicht vertraut. Carter sagt es zwar nicht direkt, aber es ist logisch. Warum sonst sollten sie Informationen über uns Auserwählte zurückhalten?

Dankend senke ich den Kopf und möchte den Rückzug auf meine Pritsche antreten, um die restlichen drei Stunden bis zum Mittagessen totzuschlagen.

»Warte!«, befiehlt Carter in einem Ton, der keine Widerrede zulässt.

Ich wende mich zu ihm um.

Ein Hauch von Neugierde liegt in seinem Blick. »Woher der plötzliche Sinneswandel, Crystal?«, will er wissen.

Nun bemühe ich mich, ein gleichgültiges Gesicht zu wahren: »Ich bin hier zu eingeengt. Ace nervt mich. Ich muss mal andere Gesichter sehen. Bitte.«

»Hey!«, ertönt es aus der Zelle nebenan. Ace lauscht doch tatsächlich.

Carter zieht eine Augenbraue zweifelnd in die Höhe, gibt sich jedoch mit der Antwort zufrieden. »Da habe ich aber etwas anderes gehört«, murmelt er, doch er belässt es dabei und geht mit einem weiteren Nicken.

Die Pritsche quietscht leise, als ich mich auf sie werfe. Grinsend drücke ich mein Gesicht in das Kissen, bis die Erschöpfung meine Mundwinkel locker werden lässt und ich einschlafe.

3

His soul was resolute, and held

No hiding-place for fear;

He often said that he was glad

The hangman’s hands were near.

CRYS

Rot. Gelb. Grün. Blau.

Ein Banner hässlicher als das andere.

Mir wird schlecht, weil sie sogar hier im Speisesaal mit uns angeben. Kein Wunder, dass die anderen Inhaftierten uns so hassen.

Die Bahnen aus Stoff schmücken die hohen Wände der sonst spartanisch eingerichteten Halle mit ihren etwa drei Dutzend Tischen. Durch die Fenster fällt weißes, vom Schnee reflektiertes Licht auf die Jugendlichen.

Wie angewurzelt bleibe ich in der Tür stehen. Jedes einzelne Gesicht, über das mein Blick schweift, jagt mir einen weiteren Stich in die Magengrube.