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Dein neuer Kollege? Unromantisch, kühl und gar nicht so leicht zu entschlüsseln ...
Als Software-Entwicklerin bei einer Dating-App glaubt Emmy eigentlich fest an ein Happy End, auch wenn ihr eigenes Liebesleben gerade stillsteht. Stattdessen liefert sie Frauen mit ihrem geheimen Broken Hearts Ghosting Service eine Antwort darauf, wieso sie nie wieder etwas von ihren Dates hören - und zeigt den Männern, dass ihr Verhalten Konsequenzen hat. So soll sie auch Leon zur Rede stellen, der ihre beste Freundin nach einem Treffen geghostet hat. Leon ist abweisend, reserviert ... und unverschämt attraktiv. Und zu allem Überfluss entpuppt er sich als Emmys neuer Kollege und Bruder ihres Chefs. Ausgerechnet Emmy soll ihn einarbeiten und mit ihm das Start-up retten, wodurch sie ihm immer näherkommt. Aber in einen unromantischen Typen wie ihn könnte sie sich nie verlieben - oder?
»Mit charmanten Figuren, coolem Setting und einem herrlichen Schreibstil codiert Anna Lane eine knisternde Liebesgeschichte, die man einfach nicht aus der Hand legen kann.« APRIL DAWSON
Band 1 der DATING-Reihe von Anna Lane
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Seitenzahl: 564
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
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Epilog
Danke
Bonuskapitel
Die Autorin
Impressum
Anna Lane
Love, decoded
Roman
Emmy ist Coderin für rdently, eine Dating-App, bei der sie tagtäglich Menschen dabei hilft, ihr Happily Ever After zu finden. Ihr eigenes Liebesleben sieht – bis auf einen Mini-Crush auf ihren Chef – allerdings ganz anders aus: Statt auf Dates zu gehen, ist sie viel eher damit beschäftigt, ihren geheimen Broken Hearts Ghosting Service zu betreiben. Ihr Ziel: für Frauen herauszufinden, warum ihre Dates sich nicht mehr melden, indem sie die Männer zur Rede stellt. Als ihre beste Freundin sich an sie wendet und sie um Hilfe bittet, kann Emmy nicht Nein sagen, und trifft Leon, der so abweisend wie gut aussehend ist. Nach einer eher peinlichen Begegnung, die ein bisschen aus dem Ruder läuft, hofft Emmy einfach nur, diesen Typen niemals wiedersehen zu müssen. Bis er am nächsten Morgen in ihrem Büro steht, sich als ihr neuer Kollege und zu allem Überfluss auch noch als Bruder ihres Chefs entpuppt. Obwohl die beiden aufgrund ihrer unterschiedlichen Vorstellungen von der Liebe nicht nur einmal aneinandergeraten, müssen sie zusammen ein Dating-Event auf die Beine stellen, um das Start-up zu retten. Doch schon bald merkt Emmy, dass sich hinter Leons distanzierter Fassade sehr viel mehr zu verbergen scheint. Und dass ausgerechnet er ihr Herz schneller schlagen lässt …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier einen Contenthinweis.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Anna und euer LYX-Verlag
Für Alex, der das Gegenteil eines Geistes ist.
Thank you for everything.
Woman – Harry Styles
I Did Something Bad – Taylor Swift
Lavender Haze – Taylor Swift
Broken Mirror – Elderbrook
Boys – Charli XCX
Figure You Out – VOILÀ
Lose Control – MEDUZA, Becky Hill, Goodboys
my boy – Billie Eilish
Mastermind – Taylor Swift
Vigilante Shit – Taylor Swift
Lost In Yesterday – Tame Impala
I Don’t Know Why – Imagine Dragons
Voodoo – Art of Sleeping
Love Is Madness (feat. Halsey) – Thirty Seconds To Mars, Halsey
I Walk The Line – Halsey
Stone – Jaymes Young
Woman Woman – AWOLNATION
Anti-Hero – Taylor Swift
Ghostkeeper – Klangkarussell, GIVVEN
Ghosting (Nomen)
Das plötzliche Beenden eines Kontakts oder einer Beziehung durch Abbruch jeglicher Kommunikation und ohne zu erklären, warum.
Oder:
Lässt Herzen zerbröseln wie den letzten Oreo-Keks in der Packung, überschüttet Selbstvertrauen mit Benzin und steckt es lichterloh in Brand, macht Bridget Jones’ All By Myself-Interpretation zu siebenhundertzweiunddreißig Prozent nachvollziehbar.
If catastrophe calls, don’t pick up
»Wunderschön, Emmy. Schöner gehts nicht. Richtig … sexy.«
Jonathan beugt sich über mich, während er durch die bunten Zeilen Code am Screen meines Macs scrollt und dabei so intensiv auf den Bildschirm starrt, als hätte er eine Star-Wars-Graphic-Novel vor sich. Der Duft seines herben Aftershaves nebelt mich genauso penetrant ein wie der Filterkaffeegeruch, der von der Küchenzeile neben Max’ Büro zu unseren aneinandergereihten Schreibtischen wabert.
»Deine Vorlage war schon beinahe perfekt, ich hab bei der Fehlersuche nur Überflüssiges herausgenommen.«
Ich rücke etwas von ihm ab, was meinen Corgi Mochi den Kopf heben lässt, bevor er die Schnauze wieder auf die weiß-braunen Pfoten legt und erneut unter dem Tisch eindöst.
»Unsere Teamleiterin ist nicht umsonst die Bug-Queen aka Jedi-Meisterin. Sie dominiert unsere Software und garantiert auch bald den Rest der Welt«, sagt TJ, ohne dabei den Blick von seinem Bildschirm zu nehmen. Ein abschätziges Augenbrauenheben kassiert er trotzdem von mir. »Irgendjemand muss ja die Fehler ausmerzen, die du in den Code streust. Glücklicherweise bin dieser Jemand nicht ich.« Jetzt lächelt er Jon an, sein Zahnlücken-Grinsen genauso weiß wie die gebleichten, langen Haare.
»Tim-Jannik!«, warne ich, doch sein Gesichtsausdruck wird davon nur schelmischer. Es bereitet ihm höllischen Spaß, Jon auf die Palme zu bringen. Ich gebe ihnen einen Monat bis zum ersten Date. Der Chaot und der Perfektionist – Romantik findet auch außerhalb unserer Dating-App ihre Wege.
TJ zwinkert mir zu, während Jon sich mit einem Seufzen wieder an seinen Platz mir gegenüber fallen lässt und sich die Kapuze seines schwarzen Hoodies über den Kopf schiebt.
Ich sehe zwischen meinen Teammitgliedern hin und her. »Fehler passieren. Euch, mir – der Code ist nur so gut wie die Person, die ihn schreibt. rdently läuft so reibungslos, weil wir als Team zusammenhalten und einander Feedback geben. Mach dir keinen Kopf, Jon, und lass dir mehr Zeit beim Programmieren. Eine App zu coden ist kein Sprint, sondern ein Marathon.« Bis zum Mittelpunkt der Erde und wieder zurück, aber das behalte ich für mich. Soweit ich das beurteilen kann, machen wir alle gerne unseren Job – und das mit Leidenschaft. Eine Tatsache, die gut zu dem Namen der App passt, die sich von dem englischen Wort ardently – leidenschaftlich – ableitet.
»Max hat mit seinen Klischee-Ansprachen schon auf dich abgefärbt«, murrt Chris, womit er nur zur Hälfte recht hat. Wenn man in dem Psychotherapie-Haushalt meiner Eltern aufwächst, werden positive Affirmationen zum Default Setting.
Überrascht sehen die anderen zu ihm – normalerweise hält sich unser ältestes Team-Mitglied aus den meisten Gesprächen heraus. Selbst in Meetings bleibt er stumm, bis ihm eine direkte Frage gestellt wird. Bei meinem Jobantritt vor einem Jahr konnte ich sein Verhalten nicht einordnen. Nicht alle Typen können damit umgehen, eine Teamleiterin vor die Nase gesetzt zu bekommen, die halb so alt wie sie selbst und blond – copy and paste erschrockenes Emoji – ist. Während meines Studiums musste ich tagtäglich beweisen, dass das Beherrschen von Programmiersprachen nicht an den Besitz männlicher Geschlechtsorgane geknüpft ist.
Chris ist glücklicherweise keines dieser Arschlöcher, die Frauen in Technikberufen belächeln würden. Abgesehen davon: Er lächelt nie.
»Emmys Ansprachen halten die Motivation hoch – außerdem haben die beiden doch recht, bei uns läuft’s wie geschmiert. Wie viele App-Updates haben wir diesen Monat schon rausgebracht?« TJ überkreuzt Daumen und Zeigefinger zu einem Herzen und grinst uns an. »Zwei?«
»Heute lade ich das dritte Update hoch, TJ«, bestätige ich. Für Mitte September gar nicht übel, damit liegen wir schon vor dem eigentlichen Zeitplan, der vier Updates im ganzen Monat vorsieht.
Ich sehe zu dem verglasten Büro in der hinteren Ecke des Dachgeschosses, das wir mit unserem Start-up erst vor ein paar Monaten bezogen haben. Max’ dunkler Schopf ist über den Tisch gebeugt, die offenen Haare verbergen seine attraktiven Züge. Schnell wende ich mich ab.
Jon wirft einen Blick über die Schulter. »Gerade wirkt Max nicht mehr so gechillt«, flüstert er. »Genauer gesagt, seit Vanessa weg ist.«
TJ murrt zustimmend, Chris hat sich schon wieder ausgeklinkt und streicht sich über den Vollbart, völlig in seine Arbeit versunken. Bevor sich das Gespräch weiter in Richtung Büroklatsch entwickeln kann, sage ich: »Das mit Vanessa ist Max’ Privatsache. Logisch, dass er gestresst wirkt. Seitdem arbeitet er doppelt so viel.« Sicherlich kriegt er kaum mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht, denn nach der Trennung hat er auch Vanessas Marketing-Aufgaben übernommen. Der Zeitstempel seiner Nachrichten in der Task-Management-Software überführt ihn regelmäßig.
»Was sie abgezogen hat, war echt nicht okay.«
»TJ«, warne ich erneut. Ich sollte mir ein Schild mit seinem Namen besorgen, das ich wortlos hochhalten kann, sobald er über die Stränge schlägt.
»Jaja, heilige Emmy.« Er verdreht die Augen, aber immerhin tut er das mit einem freundschaftlichen Lächeln.
Ich strecke ihm die Zunge raus.
Eine Heilige?Wenn du wüsstest. Auch in so eine Rolle bin ich schon geschlüpft, denke ich nur und werfe Max erneut einen kurzen Blick zu. Jetzt starrt er auf den PC, die Augenringe über die paar Meter Distanz deutlich sichtbar. Normalerweise hat der rdently-CEO einen lockeren Spruch auf den Lippen und kommt auch mal mit einem Sixpack Bier für den späten After-Work-Drink durch die Tür. Jetzt sieht er nur mehr fertig aus.
Die anderen widmen sich wieder ihrer Arbeit. Sie kennen die Zero-Bullshit-Philosophie, die ich im Job fahre, Klatsch eingeschlossen. Ein notwendiger Ausgleich zu dem Mount Everest an Halbwahrheiten, der sich mein Privatleben schimpft.
Ich update auf die neueste rdently-Version in den App-Stores, bei der wir ein paar Fehler behoben haben, ehe ich auf die Zeit am Screen schiele. Wie kann es bitte schon achtzehn Uhr sein? Jeder Arbeitstag ist vollgepackt mit Aufgaben, die mich das Zeitgefühl vergessen lassen. Ein freudiges Kribbeln breitet sich in mir aus, als ich an meinen Plan für heute Abend denke: Nichtstun. Null Aufträge. Keine Fake Dates. Nur das Sofa, Mochi, eine große Portion Pasta, und ich.
Ich packe die Hundefutter-Box ein und lege einem müden Mochi das Geschirr um. Dabei blickt er mich vorwurfsvoll an, weil ich ihn aus dem Schlaf gerissen habe – er benimmt sich, als hätte er neuneinhalb Stunden am PC gehangen. Typisch, was für ein Faulpelz.
Ich stehe auf und sehe in die Runde. »Macht nicht mehr zu lange, okay? Heute haben wir vier Meetings durchgedrückt, das war intensiv.« TJ und Jon nicken. Ob Chris mich gehört hat, bleibt ein Rätsel.
Bevor ich nach Mochis Leine greifen kann, steckt Max den Kopf aus der offenen Glastür. »Emmy, hast du ’ne Minute?«
»Klar.« Ich sperre den Computerbildschirm und begutachte mich für eine Millisekunde im spiegelnden, schwarzen Screen. Dank der Tonne Gel, die ich heute Morgen verwendet habe, sind meine sonst wilden langen Locken weiterhin zu ordentlichen Boxerzöpfen geflochten.
Ich rücke den fliederfarbenen, flauschigen Bucket Hat etwas zurecht und streiche mir auf dem Weg zum Büro ein paar violette Pulloverflusen vom Faltenrock. Max beobachtet mich beim Näherkommen, mustert mein Outfit von oben bis unten. Er mag Röcke, das weiß ich. Vanessa hat immer welche getragen, aber der enge Bleistiftschnitt ist nicht mein Stil.
Einer liegt ja in deinem Schrank, du könntest doch mal ausprobieren, den zu stylen – halt, stopp.
Das war eine Rolle, weise ich die Stimme in meinem Kopf zurecht. Business-Emmy, die Kommentare zum Leitzins locker in ein Gespräch einfließen lassen kann, nicht ich – die leider etwas tollpatschige, Corgis und die Farbe Lila liebende Original-Emmy. Das habe ich mir geschworen: Dass ich ich selbst bleibe, in meinem echten Leben.
Ich fühle eine Berührung am Bein. Mochi klebt an mir, noch immer nicht ganz wach, und sieht mit seinem treuherzigsten Blick zu mir hoch. »Bin gleich wieder da, Mo. Sitz.«
Max ist kein Hunde-Mensch, aber er wollte mich unbedingt im Team haben. Mochi mitnehmen zu können war meine Bedingung. Der Corgi antwortet mir mit einem Gähnen, ehe er sich auf den flauschigen Hintern sinken lässt.
Ich mache einen großen Schritt über ein Kabel, das mir schon mehrere Male zum Verhängnis geworden ist, und trete in Max’ Büro. »Konntest du dir meine Notizen bereits ansehen? Ich hatte gestern Abend ein paar Eingebungen, wie wir die App durch positive Psychologie verbessern könnten.« Zugegebenermaßen hat mir Papa die Idee bei unserem letzten Telefonat geliefert, aber der steht ja nicht auf der rdently-Gehaltsliste.
»Noch nicht. Schließ die Tür bitte hinter dir.«
Okay, das ist ernst. Max’ Tür ist immer offen, solange er nicht mit Investierenden oder Melanie, unserer Buchhalterin in Berlin, spricht.
Er seufzt ergeben und lehnt sich im Stuhl zurück, wartet, bis ich ihm gegenüber Platz genommen habe. Mit einem müden Blick streicht er sich die welligen, braunen Haare aus dem Gesicht und knotet sie mit dem Haargummi, den er immer ums Handgelenk trägt, zu einem Man Bun. Sein linker Bizeps versucht alles, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – und fast, fast gebe ich nach. Aber ich bleibe professionell. Immerhin sitzt mein Chef vor mir. Auch, wenn der schon einigermaßen heiß ist.
»Es ist schon Feierabend, also komme ich gleich auf den Punkt: Die Download-Zahlen unserer App stagnieren, Emmy, aber das weißt du ja. In Zeiten wie diesen klingt Stagnation für die Investierenden nur leider nach Rückwärtsfahren. Einen Berg runter.«
Ich öffne den Mund, um ihm zu versichern, dass die neuen Features bei der Zielgruppe garantiert einschlagen werden, aber er gibt mir gar nicht die Chance dazu. »Und – das ist das Wichtigste – das liegt nicht an eurer Arbeit. Ihr seid tolle Entwickler. Du bist grandios in deinem Job und wie du dieses Team führst.«
Dieses Kompliment wärmt mir das Herz und die Wangen. »Danke. Wir stehen alle hinter dieser App.«
»Das weiß ich. Deshalb brauchen wir großartiges Marketing für ein großartiges Produkt wie dieses. Ich dachte, ich kann das schultern, nachdem …« Er hält inne und lehnt sich im Stuhl vor, sein schwarzes T-Shirt mit dem Firmenlogo – ein geschwungenes R mit Herz, entworfen von meiner besten Freundin und höllisch guten, freischaffenden Grafikdesignerin Kimberly – spannt ihm dabei über der Brust.
Eine Sekunde lang lässt er seinen Blick über das Chaos auf seinem Schreibtisch schweifen, ehe er mich wieder eindringlich ansieht. »Alleine kann ich das nicht liefern. Wir brauchen einen Experten, der uns schnell Exposure und einen Haufen PR bringt. Lukas will bis Ende des Jahres einen saftigen Anstieg in Downloads sehen, sonst siehts mit der nächsten Investitionsrunde im Frühjahr schlecht aus.«
»Oh.« Lukas ist eine Business-Koryphäe, unser größter Geldgeber und ein wirklich anstrengender Typ, einer der Sorte höher, weiter, schneller. »Kann ich etwas tun?«
»Deswegen wollte ich mit dir sprechen. Morgen fängt unser neuer CMO an.« Er bemerkt meinen überraschten Blick. »Mega kurzfristig, ich weiß. Ich fliege heute Nacht nach Paris, das heißt, du müsstest ihm die Einführung in eure Arbeit geben, bis ich übermorgen wieder im Office bin. Ist das okay?«
Ich nicke. Auch, wenn das Timing nicht gerade großartig ist. Aber es hilft alles nichts, Max wurde schon vor Monaten eingeladen, Speaker auf einer Konferenz in der französischen Hauptstadt zu sein.
Er sieht mich mit einem Welpenblick an, in dem die Bitte steht, nicht böse zu sein. Wie könnte ich auch? So was passiert. Hin und wieder frage ich mich trotzdem, ob er weiß, welche Wirkung dieser verständnisvolle und treuherzige Gesichtsausdruck hat.
»Natürlich, das ist absolut kein Problem.« Ich nicke und zwinge mich zu einem Lächeln.
Max atmet erleichtert aus. Es kommt häufiger vor, dass er hastig agiert. Viele Entscheidungen bespricht er jedoch mit mir. Einen neuen Chief Marketing Officer, kurzCMO, einzustellen, klingt definitiv auch nach etwas, was man dem Chief Technology Officer gegenüber erwähnen könnte. Aber das hat er ja jetzt. Im Nachhinein.
Max atmet aus und lässt sich gegen die lederne Stuhllehne sinken. »Danke, Emmy. Keine Ahnung, was ich ohne dich machen würde.«
Ich will fragen, ob es noch etwas gibt, das ich wissen oder tun sollte, da klingelt Max’ iPhone.
»Lukas. Ich hab schon genug zu tun, Alter«, murmelt er. Sein Finger schwebt über dem grünen Telefon-Symbol, dann sieht er mich mit warmem Blick an. »Gib mir gerne per Mail einen Statusbericht, wie es läuft, okay? Aja: Mochi wird sich freuen. Er kriegt Gesellschaft.« Max verzieht die Lippen, als würde ihn diese Neuigkeit definitiv nicht glücklich machen. Dann nimmt er das Gespräch an.
Er lächelt mich verabschiedend an, und ich schenke ihm ein schmallippiges Grinsen zurück. Leise schließe ich die Tür hinter mir. So wie ich Lukas kenne, kaut er Max mindestens eine Stunde lang ein Ohr ab.
Mochi liegt auf dem Rücken und lässt sich ausgiebig von TJ am Bauch kraulen. Ich ziehe die Jacke über und schultere meine Tasche, während das Gewicht der Blicke meines Teams auf mir lastet.
»Du siehst mittelmäßig happy aus.« TJ sieht aus der Hocke zu mir hoch. Die Pailletten auf seinem T-Shirt glitzern im Deckenlicht. »Hat er meinen Pyjama-Freitag abgelehnt?«
Erst jetzt spüre ich den verkniffenen Zug um meine Mundwinkel und glätte meine Mimik. »Sweatpants im Office gehen in Ordnung, aber ich habe keine Lust, jemanden von euch in einem Ninja-Turtles-Pyjama zu sehen. Schon wieder.«
Jon protestiert. »Das war nur ein Mal! Ich hatte verschlafen und dann vergessen, dass –«
»Morgen kriegen wir einen neuen CMO.«
TJ und Jon wechseln wortlos einen Blick. Laut des dramatischen TJs hat Vanessa die Position mit Darth-Vader-Vibes besudelt, wodurch sie nur mehr von Arschlöchern angenommen werden kann. Hoffentlich ist diese Vorhersage bloß Schwachsinn. Obwohl … Er hat einen sechsten Sinn dafür, wann die Kaffeemaschine wieder zu streiken beginnt.
»Wen?«, fragt Chris, ohne vom Bildschirm aufzusehen.
Ich verziehe die Lippen. Wie kann man vergessen, nach dem Namen des neuen Mitarbeiters zu fragen? Manchmal habe ich keine Ahnung, was Max während des Networking-Events, bei dem wir uns kennengelernt haben, an mir beeindruckt hat. »Schätze, das werden wir morgen sehen.« Ich bemühe mich um ein neutrales Lächeln. Innerlich nagt die Neugierde an mir wie ein hungriger Goldhamster.
Als die Mutmaßungen losgehen, wer es sein könnte – ein berüchtigter LinkedIn-Marketing-Guru liegt dabei auf Platz eins –, mache ich mich mit Mochi auf dem Arm aus dem Staub.
»Und, Emmy?«
Ich fahre herum, während vor mir der Aufzug aufgleitet. Max steckt den Kopf aus dem Büro, die Hand über das Telefon gelegt. »Lass dich nicht von ihm unterkriegen, ja?«
Always there for a friend of mine
Noch im Aufzug sende ich eine WhatsApp-Nachricht an Max: Wen dürfen wir morgen erwarten? Grinsende Katze. Nachdenklicher Smiley. Rakete.
Nervöse Emmy.
Lass dich nicht von ihm unterkriegen, ja?
Von wem? Das klingt ja fast so, als läge TJ mit seiner Prophezeiung richtig. Emmy gegen Darth Vader? Würde nicht gut für mich ausgehen, so viel steht fest.
Zwei Stunden später habe ich noch immer keine Antwort erhalten. Wahrscheinlich ist er auf dem Weg zum Flughafen oder hat vergessen, zurückzuschreiben. Wäre nicht das erste Mal. Die zwei blauen Haken helfen mir nicht dabei, weniger nachzugrübeln.
Ich hänge mit einem Teller aufgewärmter Pasta mit Supermarkt-Tomatensoße auf der Couch herum. Netflix läuft gedämpft im Hintergrund, während ich mich zum hundertsten Mal frage, wie Max das gemeint haben könnte. Ich scrolle durch verschiedenste Apps, Instagram, LinkedIn, sehe aber nicht wirklich hin.
Gerade, als ich das iPhone zur Seite legen und in meiner liebsten, koreanischen Romance-Serie versinken will, grinst mich Kim vom Display an. Ich hebe ab.
»Emily!« Die letzte Silbe meines Namens schießt eine Oktave nach oben, als sie meinen Namen zwitschert. Sie klingt etwas aufgekratzt, als hätte sie fünf Espressi hintereinander geext. Wäre keine Überraschung.
»Kimberlyyy!«, singe ich in unserer Standard-Begrüßung zurück, die mich jedes Mal zum Grinsen bringt, obwohl wir uns schon anderthalb Jahre lang kennen. Dass unsere beiden Namen mit ly enden, amüsiert mich noch immer mehr, als es vermutlich sollte. Mich hat Mama nach einer der Brontë-Schwestern benannt, Kims Mutter hat den Namen ihrer zukünftigen Tochter im Aufzug eines New Yorker Luxushotels aufgeschnappt – von Vornamen-Büchern halten unsere Eltern scheinbar gleich wenig.
»Hi!«, sagt Kim jetzt, und ich fühle mich durch das Telefon umarmt. »Es gibt News! Und keine guten. Leider. Haha.«
Ich setze mich auf. »Oh-oh. Sind deine Lieblingsreiswaffeln im Supermarkt wieder alle?«
»Gott, nein. Nach dieser Beinahe-Apokalypse letzten Monat habe ich mir einen Vorrat angelegt, der bis in mein hohes Alter reicht. Ich meine, hallo? Hat ganz München plötzlich rausgefunden, dass Reiswaffeln mit Joghurtglasur absolut geil sind? Diese Sache ist … auch unangenehm.« Sie holt Luft. »Er ghostet mich. Mich – kannst du dir das vorstellen?«
»Wer?« Am Fußende der Couch hebt Mochi den Kopf und rollt sich auf den Rücken, damit ich seinen Bauch kraule. Ein zufriedenes Grummeln entfährt ihm, als meine Hand in seinem weichen Fell versinkt.
»Dieser hotte Typ.«
»Der von letzter Woche? Socken-beim-Sex-Adam? Ich dachte, den fandest du doch nicht so gut.« Kim verliebt sich in zweiundneunzig Prozent ihrer Dates schon in den ersten fünf Minuten, hat allerdings auch harte Knock-out-Kriterien. Dass er die Sneakersocken beim Herummachen angelassen hat, hat der fehlenden Connection zwischen den beiden auch nicht gerade geholfen.
»Urgh, erinnere mich nicht an den. Der hat sich disqualifiziert, als er meinte, online nach Second-Hand Luxushandtaschen zu stöbern, wäre ein – Anführungszeichen – Akt der Verzweiflung. Klar, dass einer dieser Finance-Bros denkt, Grafikerin wäre kein richtiger Beruf, und ich mir deswegen nur Fälschungen und trockenes Brot leisten könnte. Dabei zahle ich einfach nur fett Miete, die sogar einen Justus Aurelius zum Weinen bringen würde.« Das Augenverdrehen schwingt durch die Leitung. »Leon meine ich. Hast du mir bei unserem Gespräch am Montag nicht zugehört?«
»Doch, mit Sicherheit, aber …« Ich seufze. Kim ist meine beste Freundin, aber manchmal verliere ich die Übersicht oder vergesse, was sie erzählt hat. Vage erinnere ich mich an die gemeinsame Gassirunde letztens, aber mein Kopf war voll mit einem Datenbankproblem, das ich erst nach zwei Tagen lösen konnte. So viel dazu, dass ich die rdently-Software dominiere.
Jetzt klingt Kim ungeduldig, ihr Modus Operandi, den sie nur beim Feiern oder notgedrungen während unserer halbjährlichen Spa-Tage ablegt. »Leon, du weißt schon. Groß. Dunkelhaarig. Brille. Trainiert. Sexy, auf eine James-Dean-Harvey-Specter-Art. Scharfer Anzugtyp. Der Leon.«
Jetzt fällt der Groschen. »Ah, scharfer Anzugtyp! Jep, bin dabei.«
War klar, dass Kim eine Verbindung zu ihrer Lieblingsserie Suits herstellt. Sie liebt Typen mit Krawatte und teuren Designerhemden. Wahrscheinlich verstehen wir uns so blendend, weil wir die gleiche Art von Cocktails (Gin mit vier Ausrufezeichen) lieben, aber auf verschiedene Kerle stehen. Sie ist die Amanda zu meiner Iris, die Wednesday zu meiner Enid, selbst wenn ich sie noch nicht dazu überreden konnte, The Holiday oder das Netflix-Remake der Addams Family mit mir anzuschauen. »Er ghostet dich?«, hake ich nach. Mit diesem Thema kenne ich mich leider viel zu gut aus.
Ich streiche über Mos Segelohren, während am Ende der Leitung eine Tastatur klappert. Kim ist echt gut im Multitasken, ein Skill, den sie mir erst beibringen muss.
»Also«, fängt sie an, etwas im Hintergrund rattert, »wir haben uns gegenseitig auf eurer wundervollen App geherzt. Und … Oh, verdammt, eine Patrone ist leer.« Sie grummelt. Es raschelt. »Einen Augenblick … So, bin wieder bei dir. Leon hatte diesen wortkargen Vibe, bei dem mir ganz … Du weißt schon. Wir haben uns vorgestern in einem Lokal in der Innenstadt getroffen. Und er war so scharf wie erwartet. Zum Schluss hab ich ihn gefragt, ob wir uns heute wiedersehen, bevor ich übers Wochenende zu meinen Eltern nach Passau fahre. Er meinte, dass er da schon Pläne hat. Du weißt aber: Ein Nein stecke ich nur schwer weg, deshalb wollte ich ihn abends anschreiben und fragen, ob ich nicht einfach mitkommen kann. Aber er war weg.« Traurigkeit und Ärger mischen sich in ihre Erzählung, die in einem Seufzen endet.
»Wie, weg?«
»Na, weg von rdently. Nicht mehr da. Puff.«
»Er hat sein Profil gelöscht«, mutmaße ich und kraule Mochi am Kopf. »Hast du seine Nummer?«
Kim beginnt zu kauen. Ich halte das iPhone etwas vom Ohr weg, bis sie fertig ist. »Irgendwann killt deine Reiswaffelsucht noch mein Trommelfell.«
Sie ignoriert den Kommentar. »Keine Nummer, leider. Aber … hör mir erst zu … er hat mir von einem Pub namens Green Ivy erzählt, das jeden Mittwoch eine Craft-Beer-Nacht veranstaltet, bei der es auch … tadaa … Snakebites mit Johannisbeersirup geben soll.« Ein schmatzendes Geräusch füllt die Leitung, als würde sie sich über die Lippen lecken. Noch ein Getränk, das wir beide lieben – obwohl es mehr als einmal der Grund für einen Schwips bei einer unserer Pubcrawls war. »Das hat sich total gut angehört, deshalb habe ich gegoogelt – die nächste findet jetzt gerade statt. Ich schätze mal, Leon ist dort. Nicht, dass ich mir was davon erhoffe, aber …« Sie stockt. Stille. Eine Sekunde, zwei, drei. »Wortlos abhauen geht gar nicht.« Tiefes Durchatmen. »Deshalb habe ich überlegt, heute Abend in genau dieses Lokal zu gehen.«
Meine linke Braue schießt in die Höhe. Sämtliche Alarmglocken schrillen, Red Flags wehen durch mein Blickfeld, als ich vorsichtig nachfrage: »Willst du wirklich jemanden wiedersehen, der sich einfach so verzieht?« Nicht selten das Rezept für eine Katastrophe.
Sie überlegt kurz. »Mein Gehirn sagt Nein, mein Ego sagt Nein, mein gesunder Menschenverstand sagt Nein. Mein Stolz allerdings schreit FUCK JA!« Ihr Brüllen lässt Mochi in die Höhe fahren. Er blickt sich erschrocken um, dann lässt er den flauschigen Kopf wieder auf die Couch sinken. »Ganz ehrlich? Ihm soll alles aus dem Gesicht fallen, wenn er mich entdeckt.« Jetzt klingt sie richtig trotzig. »Denn damit rechnet so einer sicher nicht.«
Kim ist die willensstärkste Frau, die ich kenne. Es gibt nichts, das ich ihr ausreden könnte, falls sie es insgeheim doch tun möchte.
»Du klingst, als fändest du es eine gute Idee, nachzusehen, was er treibt.«
»Du kennst mich zu gut, Emmylein.«
»Was erhoffst du dir davon?«
»Verrechnest du diese Therapiesitzung?«
Ich grinse. »Zum doppelten Stundentarif.«
Das bringt Kim zum Lachen. »Das, was du mir schon mal gegeben hast und wofür nun andere Frauen bei meiner besten Freundin Schlange stehen: das Warum. Ich will wissen, wieso er nicht einfach schreiben konnte: Sorry, passte nicht.« Eine kurze Pause folgt. »Ich frage mich ernsthaft: Warum glaubst du, ghosten Männer?«
»Jeder Mensch kann ghosten und geghostet werden. Das beschränkt sich nicht nur auf Kerle.« Ich grüble darüber nach, was ich von betroffenen Frauen und den jeweiligen Fake Dates gelernt habe: »Zusammengefasst: Für viele ist ein Tschüss schwerer als ein Hallo, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Manche haben Angst vor der Reaktion, scheuen sich vor Bindung und Verantwortung. Andere sind einfach ausgemachte Arschlöcher, die nicht genug Eier haben, um zu ihren eigenen Entscheidungen zu stehen. Aber jeder verdient ein Warum, das ist das Mindestmaß an Respekt, wenn du mich fragst.«
Sie zieht die Luft ein. »Genau! Und ich verdiene dieses Mindestmaß, oder? Aber die Sache ist … Was, wenn Leon echt eines dieser Arschlöcher ist, die sich nicht verabschieden und mehrere Frauen am Start haben? Oder noch schlimmer: Wenn ich dieses schlechte Remake der Daniel-Situation nicht so gut wegstecke, wie ich dachte? Oder ich mich dabei blamiere? Mein Ego könnte mir das nie verzeihen.« Ein angestrengtes Schlucken dringt an meine Ohren. »Deshalb will ich nicht ins Green Ivy gehen. Ich möchte, dass du hingehst. Bitte. Mit einer Schmalspurversion deines üblichen Services, ohne Vorbereitung, ohne Konversation, ohne eine deiner Rollen. Mehr verlange ich gar nicht. Aber wenn er wirklich heute da ist, will ich wissen, ob er es mit einer anderen Frau ist.« Sie schluckt hörbar.
»Kim.« Ihr Name hinterlässt einen schalen Geschmack auf meinen Lippen.
»Emmy. Ich würde dich nicht bitten, wenn es mich nicht«, sie schluckt hörbar, »so fies an Daniel erinnern würde. Was mache ich falsch? Habe ich echt so ein scheiß Gespür für Männer? Da, jetzt ist es raus! Das damalige Verhalten meines Ex-Freunds beeinflusst noch immer meine Beziehung zu Männern«, zischt sie, und ich frage mich, ob ihr das erst jetzt klar geworden ist. »Dafür würde er sich garantiert selbst auf die Schulter klopfen.«
Am liebsten möchte ich sie an mich ziehen und lange umarmen. Daniel hat ihr das Herz gebrochen. Eine andere Frau gedatet, als sie zusammen waren.
Während mein Ventil für Herzschmerz und schlechte Dating-Erfahrungen seit Langem anonyme Artikel auf dem rdently-Blog sind, hat Kim die Sache mit Daniel in sich vergraben, sobald sie das Warum hatte. Weil Verliebtsein häufig mit Unsicherheit einhergeht, kommen alte Erinnerungen gerne zu den unpassendsten Zeitpunkten aus ihrem Versteck.
»Ich weiß, Leon und ich hatten nur ein Date. Aber ich verstehe nicht, warum er mich sitzen gelassen hat. Was ihn gestört hat. Und ob ich echt immer den gleichen Typ Mann anziehe.« Sie holt tief Luft. »Ich will es einfach nur wissen, verstehst du?«
Ja. Das tue ich. Für alle Frauen war es bisher wichtig, die Wahrheit zu wissen, um damit abschließen zu können.
Das mit Daniel war alles andere als okay. Das einzig Gute an Kims Erlebnis mit ihm ist, dass es uns zusammengebracht hat. Ich sollte ihm für ihr Hi, ich habe deinen Artikel über Ghosting gelesen und mich SO darin wiedergefunden – hast du schon mal daran gedacht, Frauen IRL zu helfen? Ich date einen Typ namens Daniel … dankbar sein. Irgendetwas an Kims Verzweiflung hat mich dieser abenteuerlichen Idee zustimmen lassen, Daniel über rdently zu kontaktieren und zu einem Date zu überreden. Kim hat mir sämtliche Details geliefert – Vorlieben, Hobbys, Traumfrau – und ich bin in meine erste Rolle geschlüpft, Business-Emmy.
Ich schließe die Augen. In der Erinnerung an Daniel sitzen wir uns gegenüber: Ich warte, bewundere wie von Kim aufgetragen sein Wissen, verwickle ihn in ein Gespräch über Kryptowährungen, das ich unglaublich souverän navigiere. Alles ist Fake, ich bin Fake, aber mein Körper summt, das Adrenalin weckt mich auf, auf, auf. Dann, klammheimlich, steuere ich die Konversation. Sachte, neue Themen. Liebe. Dating. Ein unverfänglicher Kommentar zu Ghosting. Daniels Grinsen wird wächsern, kleiner. Mein Lächeln wird selbstsicherer, es fühlt sich so verdammt gut an. Weil ich bald bei dem Warum angekommen bin, das er Kim nie gegeben hat. Wieso hast du diese andere Frau getroffen? Warum hast du dich nie mehr bei Kim gemeldet und entschuldigt?Ist dir bewusst, dass eine kurze Antwort ein ganzes halbes Jahr an Schmerz hätte verhindern können?
»Bitte«, fleht Kim und reißt mich damit aus diesen Gedanken.
Ich blinzle. Schweige, und Kim mit mir. Sie braucht Techno-Musik, um zu denken, ich brauche Stille.
»Du kennst meine Regel: Normalerweise gehe ich nur mit einem Kerl pro Frau aus«, antworte ich schließlich. Eine Notwendigkeit, um genug Abstand zu den verschiedenen Emmy-Versionen wahren zu können, die ich bei den Fake Dates auspacke. Ich will mich nicht darin verheddern. Niemals.
»Normalerweise hilfst du damit aber auch nicht deiner besten Freundin aus. Bitte, Emmy. Und im Grunde gehst du nicht mit ihm aus. Du musst auch gar nicht mit ihm reden, ich will nur wissen, ob er allein da ist.«
Ich sage nichts. Max’ Hundeblick, Kims weicher Tonfall.
Immer bin ich die einzige Rettung, die es gibt. Ich helfe anderen Menschen gerne, eine Eigenschaft, die manchmal extrem anstrengend ist – wie in Momenten wie diesem. Ich reibe mir über das Gesicht. Atme lange aus. Kann bereits fühlen, wie der eiserne Griff um diesen Grundsatz abzurutschen beginnt.
»Dein Angebot heißt doch Broken Hearts Ghosting Service. Mein Herz ist gebrochen, und ich wurde geghostet. Doppelcheck.«
»So hast du das immer genannt. Ich nenne es, die Wahrheit herausfinden. Das kann ich für dich tun, aber dein Herz ist nicht gebrochen. Oder täusche ich mich?« Mein Tonfall ist standhafter als mein Gewissen.
»Nein, eher angeknackst, weil es schon wieder nicht geklappt hat mit einem Mann. Er ist hot, also muy-caliente-hot, aber … Wenn er mich so offensichtlich nicht will, will ich ihn zehnmal nicht.« Sie schnaubt. Isst noch eine Reiswaffel.
Theoretisch habe ich heute nichts mehr vor, außer mit Mochi auf der Couch zu kuscheln und dabei Netflix zu schauen. Ich will mich selbst erwürgen. »Hast du ein Foto von ihm?«
Kreischen am anderen Ende der Leitung. »Klar, du kennst mich doch! Ich mache von allen rdently-Hotties Screenshots. Eine Sekunde – hab’s dir auf WhatsApp geschickt.«
Wie schnell kann man bereuen, dass man etwas zugesagt hat? Ich: in weniger als einer Nanosekunde.
»Sieht er nicht supergut aus?«
Keine Ahnung, ich werde ihn mir später ansehen. Jetzt muss ich mich erst mal davon abhalten, den Kopf gegen die Wand zu schlagen.
»Hat er gesagt, wann das Event da losgeht?« Ich google nach der Adresse. In zwanzig Minuten zu Fuß erreichbar, in der Nähe des Alten Botanischen Gartens.
»Nein.«
»Ich kann frühestens in einer halben Stunde dort sein.« Ich drücke mich vom Sofa in die Höhe, klemme das iPhone zwischen Ohr und Schulter und falte die Kuscheldecke. Bis bald, alte Freundin, denke ich und hänge sie über eine Armlehne meiner hellbeigen Couch, auf der lilafarbene Kissen verteilt sind. »Du bist eine der wenigen Menschen, für die ich noch einmal meinen Pyjama ausziehe, sobald ich ihn anhabe. Darauf kannst du dir was einbilden.«
»Eine Ehre. Ich teile mir das gern mit deinem future boyfriend«, sagt sie mit einem Lächeln, das ich klar durch die Leitung höre. Jetzt ist es an mir, die Augen zu verdrehen. »Wann warst du zum letzten Mal auf einem Date, Emily?«
»Letzten Freitag.« Das war ein richtig unreflektierter Typ, toxisch hoch zehn. Ich schüttle mich und bin froh, dass sich meine »Kundin« mit meinen Informationen über die verkorkste Beziehung seiner Eltern und den daraus resultierenden Bindungsängsten bereits aus dem Liebeskummer graben konnte. Ein gutes Gefühl, jemandem dabei geholfen zu haben, das eigene Herz zu reparieren – auch wenn meine Mittel moralisch nicht gerade unbedenklich sind. Nachdem ich im August drei Aufträge hintereinander hatte, war ich nun froh, mal etwas Ruhe zu haben.
»Nicht für den Service. Eines für dich. Mit einem Typen, den du magst.«
Im Schlafzimmer schlüpfe ich aus den Kuschelsocken, auf die kleine Corgis gedruckt sind, und kicke sie neben das weiße Gestell des Himmelbetts. So lange ich kann, zögere ich das Beantworten dieser Frage hinaus.
»Letzten Dezember.« Das ist fast zehn Monate her.
»Vermisst du das nicht?«
»Was? Geghostet zu werden?« Das Universum hat ein Gespür für Ironie, das muss man ihm lassen. Warum ich so gut darin bin, die Beziehungen anderer zu navigieren, wenn ich selbst – rein technisch gesehen – noch nie eine richtige hatte, bleibt ein Rätsel.
»Verliebt zu sein.« Eine kurze Pause. »Was ist eigentlich mit Max? Der sieht dich doch an wie ein Bonbon, das er gerne auspacken würde, das hab ich gesehen.« Keine Ahnung, wie oft sie mir das seit dem gemeinsamen Meeting zum Logodesign schon gesagt hat. Irgendwann habe ich aufgehört, mitzuzählen.
Das mit Max … Ich betrachte mich selbst in den Spiegeltüren des Kleiderschranks. Den zerzausten Haarknoten – aka Feierabendlook – auf meinem Kopf, den zerknitterten Pyjama, an dem ein paar Flusen von der Wolldecke hängen. Ob er mich gut findet? Gut genug, um noch mal was mit einer seiner Angestellten anzufangen, nachdem das mit Vanessa so fundamental schiefgelaufen ist? Will ich das überhaupt?
Meine Kehle wird trocken, dann wende ich mich ab. »Ich lege jetzt auf. Null Versprechen, dass ich diesen Typen auch wirklich zu Gesicht kriege. Null.«
Kim bedankt sich noch mal überschwänglich und verabschiedet sich mit tausend Küsschen durch das Telefon.
Immer wieder, Emmy. Du lässt dich immer wieder zu irgendwelchen absurden Ideen überreden. Ich tippe mit dem Fuß auf den weißen Flauschteppich vor dem Bett, während das Foto in Kims WhatsApp-Verlauf lädt.
Dieser Leon ist definitiv ihr Typ. Dunkle Haare, die etwas zu lang sind, um noch als kurz zu gelten, aus dem kantigen Gesicht gestrichen. Die schwarze Brille auf der Nase wirft Schatten auf seine kräftigen Wangenknochen. Er lächelt nicht. Seine Lippen – okay. Nicht übel, ähnlich voll wie die von Max. Alles an dem Foto – der Hemdkragen samt dunkelblauer Krawatte, der neutrale Hintergrund, die gute Belichtung – schreit nach Business-Headshot. Wer zur Hölle verwendet ein Foto, das perfekt auf der Homepage einer Anwaltskanzlei aussehen würde, bei einer Dating-App? Vermutlich ist er einer der Typen, die die Hürden in ihrem Alltag auf LinkedIn zu einem weltbewegenden Learning aufbauschen oder bei Restaurantbesuchen einen Monolog über ihr NFT-Portfolio halten.
Es sollte nicht zu schwer sein, ihn im Green Ivy ausfindig zu machen. Der Pub hat auf Google nicht sonderlich groß gewirkt.
Nach einem Blick aus dem Fenster – Schmuddelwetter, juhu – werfe ich den Flanell-Pyjama auf das Bett und ziehe mir ein rosa Oversize-Pulloverkleid über. Bevor ich das Haus mit einem Regenschirm bewaffnet verlasse, fülle ich noch mal Mochis Futterschale auf, über die er sich sogleich gierig hermacht.
Draußen empfängt mich ein Regenschwall, der meine Laune so rapide sinken lässt wie ein mehrstündiges Software-Update. Der aufbrausende Wind ist genauso grimmig wie die Intention, es einfach hinter mich zu bringen. Mit einem Fluchen setze ich einen Fuß vor den anderen und fühle mich dabei wie die Ghostbusters, als ich auf Geisterjagd gehe.
I wish I’d kept my mouth shut
Ich hätte ein Taxi nehmen sollen. Besser noch, mich von Kim persönlich kutschieren lassen. Der Regenschirm hat auf halbem Weg das Zeitliche gesegnet, und alles an mir ist klitschnass – Trenchcoat, Blümchen-Converse, Strumpfhose. Nur die Kapuze hat ihren Job gemacht und meine Haare zumindest ansatzweise trocken gehalten.
Während ich aus dem Mantel schlüpfe und meine wirre Mähne durchwuschle, lasse ich den Blick durch das lauschige Lokal schweifen. Zu der draußen angepriesenen Craft Beer Night sind einige Leute gekommen, die sich in den gemütlichen Nischen angeregt unterhalten. Eine Kellnerin huscht flink zwischen den schwarzen Holzstühlen hin und her, ihre Bewegungen unterlegt von der irischen Live-Musik der Band. Nicht die Szene, in der ich mir jemanden wie CEO-Leon vorstellen würde.
»Willkommen, lass!«, grüßt mich der Barkeeper, als würden wir uns schon ewig kennen.
Lass? Ich drehe mich um, aber da ist niemand, den er meinen könnte. Er sieht die Verwirrung und schenkt mir ein breites Grinsen aus seinem Stoppelbart. »Irischer Slang für Mädchen und junge Frauen wie dich«, sagt er mit einem kaum merklichen Akzent. »Hast du reserviert?«
Ich schüttle den Kopf, während ich mich auf die Zehenspitzen stelle und in den Nebenraum schiele. Da sind eine Gruppe Frauen, scheinbar auf einem Junggesellinnenabschied, ein paar Pärchen und ein großer Tisch mit Männern in Anzügen und gelockerten Krawatten. Vielleicht mein Jackpot?
»Heute ist alles voll, sorry. Aber hier an der Bar ist noch frei.« Er klopft auf den blitzblank geputzten Tresen vor sich, an dem nur ein Typ mit einem halbleeren Glas Bier sitzt, den Kopf über ein Buch gebeugt.
Mit einem Nicken platziere ich den Mantel auf der Lehne und hänge mir die kleine Umhängetasche um, ehe ich mich setze und die Getränkekarte studiere. Die Optionen sind endlos.
»Unsere heutigen Specials: Honigbier aus Kilkenny, dunkles Malz aus Dublin oder Snakebite mit hausgemachtem Johannisbeer-Sirup. Softdrinks haben wir auch, frisch aus Irland importiert.«
Der Barkeeper wartet auf meine Bestellung, was mich beim Durchsehen der Karte etwas stresst. »Snakebite«, sage ich schließlich, ohne weiter nachzudenken. Johannisbeeren sind immer gut.
Mein Blick gleitet an dem breitschultrigen Typen neben mir vorbei, der mir halb den Rücken zudreht. Auf der anderen Seite des Raums sehe ich die Tür zum WC. Obwohl ich daheim auf der Toilette war, gleite ich vom Barhocker und schlängle mich zwischen den Stühlen hindurch. Das gedämpfte Licht macht es schwierig, Gesichter im Detail auszumachen, aber auch bei den Anzugträgern scheint Leon nicht dabei zu sein. Ich gehe kurz aufs Klo, um mir die klamm-kalten Hände zu waschen. Kaum bin ich zurück, landet schon ein großes Glas mit einer violett-rötlichen Flüssigkeit samt Schaumkrone vor mir. Eine kleine Schale mit Nüssen folgt, die mir der Barkeeper mit einem Zwinkern zuschiebt. Ich bedanke mich und nehme einen Schluck, mein Mund von der fruchtigen Note sofort erfüllt.
»Hat dich dein Date versetzt?«, fragt der Kerl hinter dem Tresen, nachdem er mich einige Zeit lang dabei betrachtet hat, wie ich die Gäste im Nebenraum beobachte.
»Nope. Kein Date«, sage ich und trinke mehr von dem Snakebite. War ja klar, dass das kommt. Auch wenn der Typ nett scheint – Frauen, die ohne Begleitung Restaurants, Cafés oder Bars besuchen, sind für viele noch immer ein Novum. »Man kann ja auch allein ausgehen. Auf ein …«, ich drehe das Glas in der Hand, »Bier.«
»Dann bist du wie der hier.« Mein Gesprächspartner nickt in Richtung des Barnachbarn. »Der gehört auch zum Typus Einsiedlerkrebs.«
Die Schultern des besagten Kerls sinken einmal langsam auf und ab. Dann schlägt er das Buch fester als notwendig zu. Sein Blick fängt den des Barkeepers auf.
Heilige Sch–
»Versuch ja nicht, mich schon wieder zu verkuppeln, Brad. Mein Ernst.«
Dann dreht er sich zu mir.
Groß.
Dunkelhaarig.
Keine Brille.
Definitiv trainiert.
Laut Kim sexy, auf eine James-Dean-Harvey-Specter-Art.
Bekannt als scharfer Anzugtyp, obwohl er besser tätowierter T-Shirt-Typ heißen sollte. Mein Herz schlägt schneller, wohl so überrumpelt wie ich von Leons Nähe. Beruhig dich mal, warne ich das Organ in meiner Brust, das etwas zu aufgebracht reagiert. Kim findet diesen Typen gut. Nicht du.
So viel zu nicht mit ihm reden.
»Nichts für ungut«, sagt Leon mit tiefer Stimme. Und dann … dreht er sich wieder weg, trinkt den letzten Schluck und öffnet sein Buch.
Der Barkeeper hebt ergeben die Hände und verschwindet murmelnd durch eine Tür hinter der Bar.
»Alles okay«, flüstere ich und werfe mir eine halbe Handvoll Erdnüsse in den Mund. Während ich kaue, gehe ich im Kopf meine Möglichkeiten durch. Erstens: Ich trinke in Ruhe aus und verschwinde nach Hause. Leon ist allein da, punkt, aus, Job erledigt. Zweitens: Ich tue, was ich immer tue – Antworten finden. Kim hat das doch verdient, nicht?
Eine adrenalingeladene Neugierde kitzelt an dem Vorsatz, mich schnellstmöglich aus dem Staub zu machen. Was, wenn ich bleiben würde?
Eine grottenschlechte Idee. Oder? Ich fahre mir über das Gesicht, lasse die Hände danach auf den Tisch fallen.
Und stoße dabei versehentlich den Snakebite um.
Dritte Möglichkeit: Leon und Leons Buch vollsauen.
»Shit«, zischt er und schnappt sich eine Serviette aus dem Halter, der zwischen uns steht, um die Flüssigkeit aufzusaugen, das tropfende Buch in der anderen Hand. »Was war das denn? Hat dich das halbe Glas schon so betrunken gemacht, dass du deine Gliedmaßen nicht mehr kontrollieren kannst?«
Ich stelle das Glas auf, bevor es vom Tresen rollen kann, die Finger klebrig. »Was? Nein! Es tut mir leid, ich … Das war ein Unfall.« Das Buch wellt sich und hat genau wie das T-Shirt eine ordentliche Ladung des Getränks abgekriegt. Der schwarze Stoff klebt an seinen wohldefinierten Bauchmuskeln. Schnell wegsehen, Emmy. An ihm ist nichts heiß. Er ist nur ein Arschloch, das deine beste Freundin geghostet hat.
Ich ziehe ein paar der dünnen Papierservietten aus dem Halter, um den Rest davon abzuhalten, sich weiter auszubreiten.
»Tollpatschig«, knurrt Leon und begutachtet das fleckige Papier, ehe er damit weitermacht, das T-Shirt abzutupfen.
»Sorry.« Ich reibe die Holzfläche vor ihm trocken, mittlerweile bestimmt knallrot im Gesicht.
Brad kommt wieder durch die Tür zum Lager und pfeift durch die Zähne. »Kinder, kaum lass ich euch einen Moment alleine …«
Leon stiert geradeaus, die Mundwinkel gekräuselt, als Brad nach meinen kläglichen Reinigungsversuchen mit einem feuchten Geschirrtuch über die klebrige Oberfläche wischt und einen kleinen Behälter mit Feuchttüchern vor uns abstellt. Dankbar verwende ich eines davon, um meine Fingerspitzen zu säubern.
»Kann ich dir ein Bier ausgeben? Als Wiedergutmachung?« Ich setze ein freundliches Lächeln auf, in der Hoffnung, diesen suboptimalen Gesprächsstart herumreißen zu können.
»Danke, ich passe.«
»Was?« Brad schüttelt den Kopf und wirft sich das Geschirrtuch über die Schulter, bevor ich überhaupt dazu komme, den Mund zu öffnen. »Diese hübsche Lady will dir ein Getränk ausgeben und du sagst Nein? Du unromantischer Vogel, dir ist echt nicht mehr zu helfen.«
Hitze kriecht erneut in meine Wangen. »Das ist kein …«
Brad setzt ein neues Glas Bier und einen vollen Snakebite auf dem Tresen ab. »Geht aufs Haus.« Er zwinkert mir zu. Und zu Leon: »Benimm dich gefälligst und bedank dich bei ihr.«
»Für einen Drink, den du ihr gerade kostenfrei überlassen hast? Ich bin nicht taub, weißt du? Und echt schlechtes Businessmodell, einfach Drinks zu verschenken, Brad. Nur mal so am Rande.« Leons Augenbraue wandert rauf, die Mundwinkel nach unten. Er sieht verdammt genervt aus.
»Klar bist du taub. Hier drinnen.« Brian klopft sich auf die Brust und nimmt mit einem weiteren Kopfschütteln ein paar Bierkisten vom Boden. »Also?«
Leon räuspert sich und dreht sich auf dem Hocker wieder ansatzweise in meine Richtung. »Vielen Dank«, er sieht mich fragend an.
»Emmy.«
Er verzieht die Lippen. »Vielen Dank, Emmy, dass du mir dieses Bier spendiert und mich vollgesaut hast.« Säuerlicher könnte seine Stimme gar nicht sein.
Langsam fängt er an, mir auf den Senkel zu gehen. Ich hebe mein Glas und schenke ihm ein süßes Lächeln. »Gern geschehen. Auf diesen wunderschönen Münchner Abend und Unfälle, die einfach mal passieren können.«
Seine blauen Augen verengen sich zu Schlitzen, ehe er das Bier an die vollen Lippen hebt und mich über den Rand hinweg taxiert.
Ich senke den Blick ins Glas und trinke selbst ein paar Schlucke. Natürlich könnte ich gehen, aber eigentlich habe ich mich schon längst entschieden. Leon scheint ein ausgemachtes Arschloch zu sein. Schade, dass das Innere nicht mit dem Äußeren übereinstimmt. Vielleicht steckt auch mehr dahinter, wer weiß, aber das ist sein Problem und nicht das von Kim. Deswegen bleibe ich hier – um ihr später beruhigend davon berichten zu können, dass dieser Typ einen weiteren Gedanken nicht wert ist.
Im Nebenraum fließt die fröhliche Fiedelmusik in eine wehmütige Melodie, die eine perfekte Öffnung für eine Konversation bietet. Unauffällig schiele ich zu Leon. Lockere Kleidung, die sich trotzdem um die Muskeln seiner breiten Schultern schmiegt. Schwarze Tinte auf samtiger Haut. Geometrische Formen zwischen Vögeln im Flug und geschwungenen Worten, die ich aus kürzerer Distanz sehen müsste, um sie entziffern zu können. Sein linker Arm ist voll davon, auf dem rechten ist kein einziges Tattoo sichtbar.
Wahrscheinlich hat er bei dem Date ein langärmeliges Hemd getragen, ansonsten hätte Kim auf dem Absatz kehrtgemacht. Sie hasst Tätowierungen. Ich hingegen liebe es, wenn Menschen Geschichten damit erzählen, die sie für ewig bei sich tragen wollen.
»Ist es gut?« Ich ziehe die Ärmel des Hoodie-Kleids über die Finger und schließe sie um das Getränk, deute nur mit dem Kopf auf den Business-Ratgeber.
Fast gebe ich den Versuch, mit ihm reden zu wollen, auf, weil er ewig nicht reagiert, doch dann lässt er sich mit einem Seufzen zurück gegen die Lehne sinken.
»Ja. Gelesen?«
»Würde ich dann fragen, ob es was taugt?«
Er zuckt mit den Schultern. »Was liest du denn so? Wenn du nicht gerade damit beschäftigt bist, das geschriebene Wort in Alkohol zu ertränken.«
Ha, witzig. Ich muss mich davon abhalten, nicht die Augen zu verdrehen. »Mal so, mal so.« Mein Leseverhalten ist stimmungsabhängig. Hauptsache, die Charaktere finden die Liebe, wenn ich schon kein Glück damit habe.
Darauf erhalte ich keine Antwort. Nur gelangweiltes Starren.
»Hast du vor, ein Unternehmen zu gründen oder bist du einfach nur interessiert?« So improvisiert bin ich schon lange nicht mehr an diese Sache herangegangen. Normalerweise bereite ich mich mindestens eine Woche auf ein Date vor.
Seine Züge verhärten sich. »Das war ernst gemeint vorhin.«
»Was?«
»Dass ich nicht verkuppelt werden will.«
Warum gehst du dann auf Dates, schreit eine Stimme in mir – aber diese Frage kann ich nicht stellen. Noch nicht. Wenn ich jetzt damit anfange, explodiert das Universum – und Leons Geduld.
»Dann sind wir schon zu zweit. Das hier«, mein Finger mit dem lila-lackierten Nagel wirbelt zwischen uns her, »nennt sich Small Talk. Vielleicht ist dir das Konzept fremd: Zwei Menschen unterhalten sich über Belangloses, um sich die Zeit zu vertreiben oder eine Verbindung aufzubauen.«
»Also willst du eine Verbindung zu mir aufbauen, Emmy.« Sein Mundwinkel zuckt. Perfekt, er macht sich über mich lustig.
Er leidet definitiv unter selektivem Gehör.
Tief durchatmen, mit solchen Nervensägen hast du es ja schon mehrfach zu tun gehabt.
»Vielleicht will ich nur mein Getränk trinken und mich nett unterhalten?« Meine Stimme wird leiser, als ein paar Leute ihre Mäntel aus der Garderobe neben der Bar holen.
»Vielleicht will ich nur mein Getränk trinken und in Ruhe mein Buch lesen?« Er schüttelt den Kopf und nimmt seine Lektüre vom Tresen. »War … interessant, dich kennenzulernen, Emmy. Da hinten ist gerade ein Platz frei geworden, der nach einer Oase der Ruhe aussieht, wenn du verstehst.«
Direkt neben der Band? Ja, klar.
»Und wie ich verstehe, Leon«, murmle ich ins Glas, während ich meinen Kopf nach einer Möglichkeit durchforste, das Gespräch nicht abreißen zu lassen. Aber was soll ich machen? Auf seinen Schoß springen, damit er nicht aufstehen kann?
Sein scharfer Blick durchzuckt mich so unerwartet, dass ich mich beinahe verschlucke.
»Woher kennst du meinen Namen?«, zischt er und tritt einen Schritt näher an mich heran.
Oh, verdammt. Schnell denken, Emmy. »Brad hat ihn vorher erwähnt.«
»Hat er nicht.«
»Doch.« Ich exe den Rest des Snakebites. Die Kohlensäure-Ladung bringt meinen Bauch zum Rumoren.
»Ich bin mir verdammt sicher, dass das nicht der Fall war.«
Das Schlucken ist plötzlich ziemlich anstrengend. Was zur Hölle ist los mit dir? Krieg dich in den Griff, du musstest doch schon öfter in solchen Situationen improvisieren, rüge ich mich selbst. Aber Leons Nähe … so wie er dasteht, Buch in der Hand und Arme verschränkt, kann ich mich aktuell an kein einziges meiner Fake Dates erinnern.
Und das ist schlecht.
Verdammt schlecht.
Im Sitzen hat er nicht so groß ausgesehen. Nun ragt er bedrohlich über mir in die Höhe, fixiert mich.
Ich schnipse einen Zehner auf den Tresen. Dann bin ich auch schon auf den Beinen und reiße den Mantel von der Lehne, um hineinzuschlüpfen.
»Emmy?« Leon klingt ungeduldig, doch ich höre ihm nur halb zu, weil ich feststecke. Mein Armband muss sich in der Fütterung verhakt haben. Ich kann mich keinen Zentimeter mehr bewegen. Dann flüchte ich eben wie ein einarmiger Bandit.
»Hey, warte mal«, sagt Leon hinter mir. Er dreht mich an der Schulter herum, genau in dem Moment, in dem sich das Armband löst und die Hand durch den Ärmel rutscht. Mein Ellenbogen kollidiert hart mit seiner Magengrube.
Panik und Scham springen wie kleine Stromschläge durch meinen Körper. Nein, nein, nein!
Leon steht leicht nach vorne über gebeugt, eine Hand auf der Magengegend. »So verdammt tollpatschig«, presst er hervor.
»Das wollte ich nicht, Leon.« Ich muss meine Klappe halten, dringend. »Sorry. Echt! Ist alles okay?«
Leon nickt und richtet sich langsam wieder auf. Seine Finger reiben über die Stelle, während er mich mit verengten Augen beobachtet. »Emmy. Antwort.«
Ich gehe im Zeitlupentempo rückwärts in Richtung Tür. Nur nicht das Raubtier aufschrecken.
Genauso vorsichtig winke ich Brad zu, der summend aus dem Lagerraum kommt und mitten in der Bewegung einfriert.
»Snakebite war lecker. Danke, Brad! Der Rest ist Trinkgeld.«
»Was zur Hölle soll –«, Leon macht einen Schritt auf mich zu, aber ich bin schon aus der Tür.
Keine fünf Minuten lang muss ich im Regen an der Straße entlanglaufen, bis ein Taxi an mir vorbeifährt, das ich aufhalte. Meinen schrottigen Regenschirm habe ich natürlich im Lokal vergessen.
Kaum habe ich mich völlig durchgeweicht auf den Rücksitz fallen gelassen, atme ich tief durch. Die Scham revoltiert tief in meiner Magengrube.
Was für ein arrogantes Arschloch! Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Kim wird mich diese Peinlichkeit nicht vergessen lassen. Ich seufze, dann grummle ich. Was für eine unüberlegte Aktion. Dass ich mich zu so etwas habe überreden lassen, ist meine eigene Schuld.
»Hast du was gesagt?«, will die Fahrerin wissen, aber ich schüttle nur den Kopf und ziehe den feuchten Mantel enger um mich. Mein Herz springt, betrunken und absolut peinlich berührt von dieser Begegnung, fast aus meiner Brust und ich bin einfach nur froh, diesen Typen nie, nie, nie, nie wieder sehen zu müssen.
In life, you’ll always meet more than once
Der große Cappuccino wärmt meine Finger durch den Pappbecher hindurch, während ich ein Gähnen unterdrücke. Die Aufzugtür gleitet hinter mir zu, und ich drücke nach dem Scannen meiner Schlüsselkarte auf den Knopf für die vierte Etage. Mochi streckt sich und hebt den Kopf, um mich mit müdem Blick anzusehen. Ich beuge mich vorsichtig vor – diesmal ohne irgendetwas zu verschütten – und kraule ihn hinter den Ohren, bevor ich den Karabinerhaken der Leine löse.
Nach dem gestrigen Gespräch mit Kim, bei dem sie amüsiert und beruhigt geklungen hat, konnte ich lange nicht einschlafen. Zwar war Leon offensichtlich allein im Pub, aber das Warum konnte ich Kim nicht verschaffen – etwas, das sie trotzdem weiterhin beschäftigen wird, das konnte ich an ihrem Tonfall hören. Dass Leon mich so aus dem Konzept gebracht hat, dass ich mich wie eine blutige Anfängerin verhalten habe, nagt noch immer an mir. Kein Gelächter, das ich für meine regelmäßigen Kabel-Stolper-Unfälle ernte, ist mir so lange im Gedächtnis geblieben wie Leons grimmiges Starren, dessen Intensität mir selbst jetzt noch einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Meistens kann ich über mich selbst schmunzeln, aber heute ist mir absolut nicht danach zumute. Glücklicherweise bietet der Berg an To-dos, der am Vormittag auf mich wartet, ausreichend Ablenkung.
Die Türen des Aufzugs gleiten auf. Das Licht ist an, wahrscheinlich hat einer der anderen gestern vergessen, es auszumachen. Kaum haben wir den Fahrstuhl verlassen, erstarrt Mochi und beginnt, wie wild zu bellen. Dann prescht er aus meinem Blickfeld.
»Hey!« Ich haste hinterher. Heißer Kaffee schwappt durch die Trinköffnung über meine Finger.
Ich fluche leise. Aber der Schmerz ist vergessen, sobald ich sehe, wer auf meinem Platz sitzt. Nicht unter oder neben dem Tisch, wie es Mochi immer tut, sondern auf dem Stuhl. Ein riesiger schwarzer Schäferhund sieht mit schiefgelegtem Kopf auf Mo herab, der ein Kläffkonzert hinlegt. Vom Besitzer – unserem neuen Mitarbeiter? – keine Spur.
Das andere Tier bemerkt mich und hüpft mit unglaublicher Leichtfüßigkeit von dem Bürosessel. Mochi ist derweil mit einem Knurren zur Seite gewichen, doch nicht so mutig, wie er sich aufführt. »Sitz«, sage ich zu ihm und sehe mich noch mal um.
Beide Hunde setzen sich zeitgleich auf ihre Hinterteile, der Schäferhund grummelt und lässt sich weiter zu Boden gleiten, bis er auf dem Rücken liegt, die Augen halb geschlossen. Ich stelle den Becher ab und lasse mich auf die Hacken sinken, um den Neuankömmling zu streicheln. Bei fremden Hunden bin ich üblicherweise vorsichtig, aber der hier bettelt so offensichtlich, dass ich nicht anders kann.
Mochi, total eifersüchtig, brummt leise vor sich hin.
»Hi, du Schöne«, flüstere ich und streichle den weichen Bauch der Schäferhündin, die sogar in Rückenlage träge mit dem Schwanz wedelt. So schnell sie sich in die kuschelige Position gerollt hat, ist sie nach ein paar Streicheleinheiten wieder auf den Beinen und drängt sich so fest gegen mich, dass ich das Gleichgewicht verliere. Mit einem Lachen falle ich auf den Po.
Mochi hat genug gesehen und marschiert auf uns zu, erneut aus vollster Seele kläffend. »Ganz ruhig, Mo.« Ich strecke meine Hand nach dem Corgi aus, aber er hält Abstand. Wetten, dass er den Rest des Tages schmollt? »Das ist eine ganz Liebe.« Ich kraule die schwarze Riesin am Hals. »Hat dich dein Besitzer vergessen?«
Was mich dazu führt: Warum hat unser neuer Mitarbeiter eine der Schlüsselkarten, die man braucht, um in das oberste Stockwerk fahren zu können? Ich hatte gedacht, dass mir Max eine zur Übergabe auf den Tisch legen würde, aber das scheint er selbst übernommen zu haben. Danke für die Info. Nicht.
Die Schäferhündin ist drauf und dran, mir meinen flauschigen lila Lieblingshut vom Kopf zu ziehen. Ich kann sie mit einem Lachen gerade noch davon abhalten. Mochi läuft in Kreisen um uns herum, unsicher, ob er mich vor diesem Biest verteidigen soll. Das leise Ding des Fahrstuhls kriege ich nur am Rande mit.
»Frida. Aus.«
Die männliche Stimme lässt sowohl Frida als auch mich erstarren, doch im Gegensatz zu mir schafft die Hündin es wenigstens, sich nach einer Sekunde aufrecht hinzusetzen. Halb auf dem hellen Holzboden liegend, wird mir gleichzeitig heiß und kalt. Diese Stimme … Hoffentlich tut sich der Erdboden unter mir auf.
Das darf nicht wahr sein. Das darf bitte nicht wahr sein.
Dann: ein Räuspern.
Diesmal schieße ich in die Höhe. Ich muss jedes Quäntchen an Willenskraft aufbringen, um nicht zu schreien.
Drei, zwei, eins. Ich will mich nicht umdrehen, aber ich tue es trotzdem.
Leons Blick hängt an dem Hut, der mir dank Frida schief auf dem Kopf sitzt, ehe er zu meinem Gesicht gleitet. Eine Sekunde lang weiten sich seine Augen hinter den Brillengläsern, dann verbirgt er die Überraschung wieder hinter einer Maske der Belanglosigkeit.
»Du«, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust. Der Anzug spannt dabei über seinen breiten Schultern. Max hätte ihm wenigstens mitteilen können, dass bei uns ein legerer Dresscode angesagt ist.
Mir fehlen die Worte. Die Erinnerung an gestern Abend flammt in mir auf. Ich öffne den Mund, dann schließe ich ihn wieder. Bald ist mein Trenchcoat durchgeschwitzt. Der Schal um meinen Hals hat sich schon längst in eine Boa constrictor verwandelt.
»Du arbeitest hier?« Er legt eine theatralische Pause ein. »Emmy?«
Mehr als ein Nicken bringe ich nicht zustande. Etwas streift mein Bein. Mochi drückt sich an mich, von Leon eingeschüchtert. Da sind wir schon zwei.
Ich hebe ihn hoch, sein Gewicht und das warme Fell erden mich auf eine Art, die mich endlich den Mund öffnen lässt. »Ich schätze, du bist unser neuer CMO?« Oder doch ein Einbrecher? Bitte, lass Leon ein Einbrecher sein.
Leon seufzt und nickt dann, sichtlich unglücklich darüber, dass ich tatsächlich hier arbeite.
»Man hat mir gesagt, ich kriege eine Einführung.« Er sieht sich um. »Wann kommt er?«
»Wer?« Ich drücke Mochi an mich. So langsam wird er schwer, aber er ist mein Anker, der mich vorm Ausflippen bewahrt.
Kim wird mir das garantiert nicht abkaufen.
»Der CTO.«
Dieser Kommentar entlockt mir ein Schnauben. Die Scham verpufft augenblicklich, und ich straffe die Schultern, klammere mich an den Ärger. Er ist tausendmal besser, als weiter über gestern Abend nachzugrübeln. »Sie steht vor dir.«
Leon macht ein WTF-Gesicht.
Ich nehme Mochi auf den linken Arm und strecke mit erhobenem Kinn meine Hand aus. »Emily Graf. Chief Technology Officer von rdently. Willkommen bei unserem Start-up.«
Ein Wimpernschlag vergeht, dann tritt Leon vor und schüttelt kurz und äußerst effizient meine Hand. Seine Haut ist weich, und der feste, wärmende Griff prickelt an meinen Fingern. Laut Kim ist ein Handschlag direkt abhängig von der Selbstsicherheit eines Menschen. Ein Wunder, dass meine Finger nicht in einem Schraubstock landen. Stattdessen war diese Berührung … angenehm.
Leon schenkt mir ein knappes Nicken, seine Miene weiterhin unlesbar. »Es tut mir leid, dass ich angenommen habe, dass der CTO ein Mann ist. Mein Bruder hat immer nur von dem CTO gesprochen.«
»Passiert häufiger. Leider.« Mein bitteres Lächeln zerkrümelt. »Dein Bruder?«
Leon wirft mir einen komischen Blick zu. »Maximilian?«
»Max ist dein Bruder?« Bald ist meine Stimme so hoch, dass nur mehr Mochi und Frida sie hören können.
»Vetternwirtschaft bringt noch immer die besten Resultate.« Er räuspert sich. »Nicht ernst gemeint.«
»Oh.« Keine Ahnung, was ich dazu sagen soll.
»Ich wollte mich beruflich verändern, und Max hat mir Vanessas Position angeboten. Max ist der Redner in unserer Familie, ich der Zahlenmensch. So einen braucht ihr gerade, hat er gesagt.«
Ich nicke. Noch immer habe ich nicht verdaut, dass Leon und Max verwandt sind. Brüder. Je länger wir uns gegenüberstehen, desto mehr Ähnlichkeiten sehe ich zwischen den beiden, aber da ist nichts von Max’ Wärme. Alles an Leon schreit nach Distanz – seine aufrechte Haltung, sein analytischer Blick, die Lippen, die kein Lächeln tragen.
Mit einer Handbewegung lockt er Frida zu sich. Seine Finger streichen abwesend über ihren Kopf, die andere Hand verschwindet in der Tasche seiner dunkelblauen Anzughose. »Was war das?«
»Hm?« Mochi beginnt zu strampeln, weil ihn die Umarmung langsam zerquetscht. Ich setze ihn ab.
»Muss ich meine Frage von gestern wirklich wiederholen?« Leon seufzt, reibt sich über das Gesicht.
Oh, klar, dieses Thema. »Brad hat dich beim Namen genannt.« Ich zucke so nonchalant mit den Schultern, wie ich kann. »Woher sollte ich ihn denn sonst kennen?«
Leon zieht eine Braue nach oben und sieht mich lange an. Ohne etwas zu sagen. Dann lässt er die Frage fallen, das sehe ich. Zu viel verschwendete Energie, keine logischere Erklärung als meine.
Groß machen, Schultern zurück, Selbstbewusstsein vortäuschen – Kims Erfolgsrezept. »Ich würde sagen, wir lassen den gestrigen Abend hinter uns«, schlage ich vor.
»Nichts lieber als das.« Jetzt sieht er amüsiert aus. Grübchen zeichnen sich unter dem Bartschatten ab – sie sind das einzige Merkmal, bei dem sich Kims und mein Geschmack überlappen. Jemand, der so grimmig ist wie Leon, sollte kein Recht auf sexy Grübchen haben. Die sind definitiv an ihn verschwendet – immerhin weiß er ja nicht mal, wie man richtig lächelt. Ich muss mich davon abhalten, eine finstere Miene aufzusetzen.
»Gut.« Ein Schwall an Luft verlässt meine Lungen.
»Sehr gut.«
Ich streife endlich die Jacke ab, hänge sie über meine Stuhllehne. Lasse mir Zeit damit, Mochis Wasserschale aufzufüllen. Frida macht sich gierig darüber her, obwohl Leon bei seiner Ankunft schon zwei gefüllte Näpfe für sie an die Wand gestellt hat. Mochi sitzt grummelnd in der Ecke. I feel you, denke ich.
Ein Knacken ertönt, dann füllt ein sanftes, elektronisches Summen den Raum. »Perfekt, sie haben die Klimaanlage repariert.«
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und sehe Leon an, als ich meinen Laptop vom Tisch nehme.
»Deshalb war ich vorhin nicht da. Die stickige Luft hat mich fast erschlagen, als ich hier rein bin.«
Stickig? Es gibt Fenster, die man öffnen kann. Ein unangenehmer Luftzug füllt den Raum und erinnert mich daran, wieso sich bis jetzt niemand die Mühe gemacht hat, das Problem beim Portier zu melden.