Comicverführer – Über 250 aufregende Empfehlungen und Abbildungen – durchgehend vierfarbig - Timur Vermes - E-Book

Comicverführer – Über 250 aufregende Empfehlungen und Abbildungen – durchgehend vierfarbig E-Book

Timur Vermes

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Beschreibung

Warum Comics großartig sind und wir sie lieben sollten Peanuts, Batman, Tim und Struppi – Comics sind ein Universum für sich. Ein Universum, in dem fantastische Geschichten wahr werden, in dem Zeitreisen möglich sind, in dem geheimnisvolle Erotik und große Kunst uns die Welt vergessen lassen. Die einen von uns reisen durch diese Unendlichkeit, seit sie denken können, während andere den Raumanzug an den Nagel gehängt haben. Und manche blicken nur verständnislos in einen Himmel voller Bilder, der immer ein Mysterium für sie war. Mit dem »Comicverführer« nimmt Bestsellerautor Timur Vermes uns mit in sein ganz persönliches Comicuniversum. Er erzählt, was ihn an dem Genre so fasziniert, und gibt Empfehlungen: von »Die Rückkehr des Dunklen Ritters« über Art Spiegelmans »Maus«, von düsteren Horror-Epen wie »Swamp Thing« bis zum verstörend-mysteriösen »Panter« von Brecht Evens. Geistreich, pointiert, launig und mit sehr viel Witz. Eine Geschichte der Comics für alle, die sich nach großen Abenteuern sehnen. Für Anfänger, Wiedereinsteiger und Fortgeschrittene – eine Reise zu den Helden unserer Kindheit und weit darüber hinaus Über 250 aufregende Empfehlungen und Abbildungen – durchgehend vierfarbig

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Seitenzahl: 346

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Originalausgabe © 2022 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Konzeption, Gestaltung und Umsetzung von Dominic Wilhelm, wilhelm typo grafisch, www.wilhelm.black Coverabbildung von Panther Media GmbH, Ciubotaru Daniel-Constantin/ Alamy Stock Photo, Olga Popova, Keith Homan, Stefano Chiacchiarini '74, Monika Boncuk, Elena Seiryk, Walter Cicchetti, Molly NZ, spatuletail / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749904983www.harpercollins.de

00Bevor es losgeht

Warum dieses Buch lesen und womöglich noch kaufen?

Warum soll ausgerechnet ich wissen, wie Sie Spaß an Comics neu- oder wiederentdecken?

Wer weiß schon, was ich für einen Geschmack habe? Mal sehen:

Breaking Bad | The Sopranos | Mad Men | The Wire

Kennen Sie? Gucken Sie? Ich auch.

Grand Theft Auto | Red Dead Redemption | Fifa | Far Cry | Portal

Kennen Sie? Spielen Sie? Ich auch.

Sie bleiben regelmäßig bei Star Trek- und James Bond-Filmen hängen? Sie haben sich bei Blair Witch Project mitgefürchtet und bei Brokeback Mountain mitgeheult? Und ein Blockbuster ist für Sie kein Teufelszeug, weil Sie wissen, dass man mit viel Geld Großartiges machen kann wie die Guardians of the Galaxy und Fades wie Evan Allmächtig?

Sehe ich auch so.

Mein Geschmack ist nicht außergewöhnlich. Näher an Pommes frites und Bratkartoffeln als an der Molekularküche. So ähnlich war auch mein Comicgeschmack als Kind: Ich fand gut, was die meisten Kinder gut fanden. Asterix, Lucky Luke, Lustige Taschenbücher, Fix und Foxi, Clever & Smart, die Superhelden von DC (die von Marvel waren mir irgendwie zu »anders« gezeichnet). Die Sachen aus Primo und Zack. Gespenster Geschichten. Buffalo Bill, Bessy und Silberpfeil.Rex Danny. Die Peanuts.

Klingt schon wieder vertraut? Sehr gut!

Also, das ist der Plan:

Ich werde Comics empfehlen. Ich werde versuchen, für alles, was es damals gab, Ersatz zu finden, der heute wieder funktioniert. Für Gruseliges, für Western, für Superhelden. Dazu Themen, für die wir uns früher nicht interessiert haben. Lustig, spannend, nachdenklich, traurig, die ganze Bandbreite. Ich werde das empfehlen, was ich mit meinem Breaking Bad-Bratkartoffelgeschmack selbst mag. Die Erfolgsaussichten sind ziemlich gut, denn: Ich werde nicht den neuesten heißen Scheiß empfehlen, sondern das Beste aus den letzten fünfzehn bis dreißig Jahren. Heißt: Comicfans werden vieles schon kennen, aber Sie sind ja kein Comicfan. Noch nicht. Sie werden’s aber werden oder wieder werden, da bin ich ziemlich sicher.

Für alle Fälle gibt’s darunter noch die Outtakes. Da finden Sie Comics, die

a) sich super verkaufen (die ich aber weniger gut finde);

b) gut aussehen, aber mich erzählerisch nicht überzeugen;

c) toll sind, aber leider nicht mehr leicht erhältlich.

Nächste Spielregel: Man muss die Comics auf Deutsch kriegen können. Möglichst auf Papier, bei einigen werden Sie wohl auf E-Books oder auf Ihre Stadtbibliothek zurückgreifen müssen – oder auch mal auf einen Gebrauchtbuchhändler. Das ist leider so: Der Comicmarkt in Deutschland ist so klein, dass es Verlage oft nicht riskieren können, eine zweite Auflage nachzudrucken. Das ist anders als beim Buchmarkt: Wenn man von einem Buch fünfzigtausend Exemplare verkauft hat, kann man hoffen, dass man noch mal fünftausend weitere loswird. Wenn man aber von einem Comic gerade mal mühsam dreitausend Stück verkauft hat, kann man nicht sicher sein, ob man noch tausend weitere Käufer findet. Mit weniger Exemplaren braucht man einen Nachdruck aber gar nicht erst zu erwägen – er rechnet sich dann einfach nicht.

Was noch? Ich werde ein paar Fach- und Sachgeschichten rund um den Comic erzählen. Wann und ob ein Comic »gut« ist, wie man am sinnvollsten nach neuen Comics sucht, was es bedeutet, wenn »Graphic Novel« draufsteht. Wie es ist, wenn man Comics in Deutschland zeichnet und davon leben will.

Aber im Wesentlichen verspreche ich Ihnen Tipps zwischen Bratkartoffeln und Breaking Bad. Nur eine kleine Vorwarnung muss noch rein – denn ich habe seit meiner ersten Liebe zu den Lustigen Taschenbüchern ein paar Dinge dazugelernt.

Nämlich, dass …

… Kaffee und Bier gut schmecken können, obwohl sie eher bitter sind.

… es gute Popsongs gibt, in denen keine E-Gitarre vorkommt.

… Häppchen aus rohem Fisch mit Reis sehr lecker sind.

… Trickfilme genauso gute Geschichten erzählen können wie Realfilme.

… exzellente Szenen auch in Videospielen möglich sind.

… das Privatfernsehen furchtbar ist – und trotzdem Stromberg gemacht hat.

… Dinge, die »anders« sind, besser sein können als Dinge, die »genauso» sind.

Und jetzt geht’s los.

01

Ein Oberlehrer im Umhang geistert durch die Nacht, und die Polizei sperrt alle ein, die er gefesselt zurücklässt: Batman war so was von out – bis ein Comic ihn so durchgeknallt zeigte, wie er schon immer war.

© Piotr Krzeslak/Shutterstock

Wiedereinstiegsdrogen I

Die Rückkehr des Dunklen Ritters

1

1In einer gewaltigen Gewitternacht feiert Batman sein Comeback, und Frank Miller zeigt ihn erst einmal sehr lange – nicht. Weil natürlich jeder wissen will: Wie ist Batman drauf nach zehn Jahren Ruhestand?

© Joe Josephs/Shutterstock

Frank Miller ist schuld.

Also nicht daran, dass ich Comics lese. Aber daran, dass ich wieder Comics lese. Ich habe nämlich zwischendrin mal aufgehört, ich las praktisch überhaupt keine mehr …

Aber dann kam Die Rückkehr des Dunklen Ritters. Und die hat für mich alles geändert. Vom Start weg. Denn Frank Miller ließ Batman erstmals zu mir sprechen. Natürlich nicht nur zu mir, sondern zu allen Lesern: Ich-Perspektive. Die Sprechblasen blieben Sprechblasen, normale Comicdialoge, aber die Erzählung, der Text in den Textkästen, das kam alles direkt aus dem Kopf von Bruce Wayne. Seine ersten Worte waren: »Die Zielgerade liegt vor mir, als die Computerdaten keinen Sinn mehr ergeben. Ich schalte auf Handsteuerung um ...«

Denn Bruce Wayne ist zwar immer noch Multimillionär, aber inzwischen Mitte fünfzig, und er fährt Autorennen – so riskant wie möglich, aus schierer Langeweile. Seit zehn Jahren ist er nicht mehr als Batman unterwegs, alle Superhelden haben sich zurückgezogen, nur Superman jobbt heimlich für die Regierung. Wayne sitzt zu Hause, schlägt die Zeit tot und sieht zu, wie die Gangkriminalität in Gotham zunimmt. Aber noch immer glüht in ihm der stillgelegte Batman, meldet sich verlockend wie eine Droge beim Süchtigen: Wie schön wäre es, diese Gangster zu bestrafen, sie zittern zu sehen. Mit Alkohol hält Wayne Batman im Griff, bis schließlich in einer Gewitternacht Abb. 1 die Fernsehnachrichten so viele Gewaltverbrechen melden, dass sich die Fledermaus nicht mehr beherrschen lässt. Er rettet eine Rentnerin, verprügelt einen Zuhälter, verfolgt drei Bankräuber. Den letzten von ihnen erledigt er aus dem Hinterhalt, und hier sieht man erstmals, was ihn bei der Arbeit bewegt.

Sieben Methoden, so doziert er akribisch, gäbe es für diese Situation. Drei seien tödlich, drei würden den Gegner mit minimalem Kontakt entwaffnen. Eine aber, verrät er, bevor er sie genussvoll anwendet, »eine tut weh«.

»Sie haben den Mann zum Krüppel getreten«, protestiert ein junger Polizist am Tatort, und die Antwort lautet, eher dunkel als ritterlich: »Er wird leben.« Dieser Batman schleppt zum Verhör einen bereits verletzten Gangster mit verbundenen Augen auf Gothams höchstes Gebäude. Er lässt ihn an den Füßen von der Gebäudespitze hängen und enthüllt ihm erst dann lustvoll, in welcher Situation er sich befindet. Um sich dann zu freuen: »Allein der Schrei ist es wert.«

Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht: Dieser Batman ergab mehr Sinn als alle vorherigen zusammen. Selbst traumatisiert, eindeutig verhaltensgestört und absolut ambivalent – er war nachvollziehbar und inakzeptabel zugleich. Und so ist auch die Welt, in der er lebt – nur vorgeblich die nahe Zukunft, tatsächlich aber unsere Gegenwart. Immer wieder blendet Miller TV-Sendungen ein. Es gibt Spekulationen über Batmans Comeback, es gibt Kritiker, Befürworter und den allgegenwärtigen Quatschfunk, für den Batman einfach ein buntes Trendthema ist. Und: Es gibt eine junge neue Polizeichefin, für die es keine Frage ist, dass man auch im Fledermauskostüm nicht einfach selbst mal Polizei spielen darf.

Was – ganz nebenbei – ja nicht nur eine Frage der Legalität oder Selbstjustiz ist, sondern auch schlichtweg mit den normalen Erfordernissen der Strafverfolgung zu tun hat: Jeder Erwachsene weiß, dass man nicht einfach Leute einsperren kann, nur weil man sie gefesselt und mit einem Batman-Logo etikettiert am Fuß eines Laternenpfahls findet. Miller warf daher mit der erstmals gesetzeskonformen Reaktion der Polizeichefin elegant mehrere Fragen auf: Wo waren in den letzten fünfzig Jahren die Anklagen, wo die Zeugen? Hatte Batman je vor Gericht ausgesagt oder dabei seine Identität nachgewiesen? Auf welcher rechtlichen Grundlage wurde etwa der Joker in Arkham eingesperrt? Weil das »der Typ mit dem Umhang« gesagt hat, von dem die Behörden nicht mal wissen, wer’s ist? Und selbst wenn man unterstellt, die Polizei beträte gelegentlich die Grauzonen der Legalität: Sie wäre wohl kaum so dämlich, mit einem großen Scheinwerfer nachts anzukündigen, dass sie wieder mal jemanden beauftragt, der – bei genauerer Betrachtung – kein bisschen legaler arbeitet als eine philippinische Todesschwadron. In einer echten Welt hätte also jemand wie Batman vielleicht noch nachts herumgeistern können. Aber seine Opfer hätten kein Gefängnis zu erwarten, sondern Schadensersatz. Vielleicht nicht von ihm, aber auf jeden Fall von einem Staat, der diesen ordnungswütigen Hooligan toleriert.

Miller arbeitete die Realität penibel ab: Von Batmans Rückkehr ermutigt, treten weitere Rächergestalten auf, und nicht alle sind sich darin einig, was man als Verbrechen betrachten sollte: Einer geht ins Pornokino und erschießt dann angewidert die Besucher. Zwei Jugendliche laufen zunächst der schicken Verbrechergang der Mutanten hinterher und wechseln dann – nachdem Batman ihren Boss verprügelt hat – nahtlos in das Lager der »Söhne Batmans«. Ein Ladenbesitzer traut sich einfach mal, sich zu wehren. Batman inspiriert alle gleichermaßen, Miller wertet nicht, er bildet nur ab.

Es ist zudem vor allem Batmans Comeback, das den Joker aus seiner Lethargie erweckt – erneut völlig logisch. Der Superheld zieht erst das Rampenlicht auf sich, das dann wiederum Möchtegernschurken und Superschurken anlockt: Konsequenterweise wird der Joker Gast einer Talkshow, dreißig Jahre vor dem Film mit Joaquin Phoenix.

Mich hat all das aus den Socken gehauen. Plötzlich war Batman wieder fesselnd. Die Zeichnungen taten ein Übriges: Sie waren nicht ganz so naturalistisch wie die von Jim Aparo oder Neal Adams, aber genauso explosiv, und sie genossen Freiheiten, die den mir vertrauten Zehn-Seiten-Abenteuern nicht zur Verfügung standen. Miller konnte Batmans erstem Auftritt eine ganze Seite spendieren, gigantisch segelt der durchs Bild und freut sich darüber, dass er sich gar nicht wie ein Mittfünfziger fühlt, sondern wie mit dreißig oder, völlig glücksbesoffen, wie mit zwanzig. Als Batman seinen Batmobil-Panzer verlässt, weil er sich mit dem Boss der Gangster prügeln will, grinst er breit und voller Vorfreude auf die Prügelei. Ist das noch ein einsamer Rächer voller Pflichtgefühl Abb. 2 – oder nicht eher ein seelischer Krüppel, der heiter in die Schlachten zieht, weil das die einzigen Momente sind, in denen sein Kindheitstrauma ihn in Ruhe lässt?

In jedem Fall war dieser Batman einer, den man einfangen musste, und wer würde sich dazu besser eignen als Superman, dieser ewige Jasager und Gutmensch in Blau?

Batman war mein Liebling von früher. Also gab ich ihm 1990 eine Chance. Ich kaufte den Ritter, der inzwischen weit dicker und weit teurer war als ein Comicheft, und setzte mich mit ihm aufs Bett.

Ich las die zweihundertzwanzig Seiten in einem Rutsch durch.

Und als ich fertig war, fing ich sofort noch mal von vorne an.

Kurze Zeit darauf betrat ich das örtliche Comicgeschäft: Ultra-Comix in Nürnberg. Aber diesmal guckte ich nicht mehr ziellos herum. Diesmal wusste ich, was ich suchte: mehr von dieser erwachsenen Art, Geschichten zu erzählen.

Weil Nachmittage mit Comics plötzlich wieder möglich waren.

Und es heute, dreißig Jahre später, immer noch sind.

2

2Wegen einer Perlenkette sterben Bruce Waynes Eltern: Ein Räuber reißt sie Mutter Wayne vom Hals – das Bild des zum Zerreißen gespannten Schmuckstücks bleibt dem Sohn ins Gedächtnis gebrannt.

© Morozova Oxana/Shutterstock

Der Titel aus diesem Kapitel

→ Frank Miller, Die Rückkehr des Dunklen Ritters, Panini/Carlsen

02

Fast alle von uns lesen als Kind Comics.Und das sogar gerne. Aber beinahe genauso viele von uns hören plötzlich auch wieder damit auf. Warum eigentlich?

© Monika Boncuk/Shutterstock

Und dann war auf einmal Schluss mit lustig

Kürzlich habe ich einem Freund von meinem Burgbaukasten erzählt, den ich als Kind hatte. Und er sagte: »Davon wusste ich ja gar nichts!« Das stimmt. Und er wunderte sich zu Recht: Wir sind so in der sechsten, siebten Klasse zusammengekommen, und ich bin ziemlich sicher, dass der Baukasten damals noch im Einsatz war. Aber es war riskant, davon zu erzählen.

Als Kind mit zwölf, dreizehn lebt man auf einem Minenfeld. Wer weiß, ob andere Kinder auch noch mit Burgbaukästen spielen? Und ist man überhaupt noch Kind? »Jawohl«, hat der Freund erzählt, »kenn ich.« Bei ihm war’s Playmobil. Hat er mir auch nicht erzählt, hat er anderen auch nicht erzählt. Mit zwölf oder dreizehn, da genügt ein falsches Wort, und du bist das Gespött der ganzen verdammten Schule.

1

1Wenn Mädchen anfangen sich für Influencerinnen oder Greta Thunberg zu begeistern, kann Minnie Maus mit ihrer langweiligen Niedlichkeit einpacken. Interessante Frage: War eigentlich ihr Spitzenhöschen immer schon so sichtbar?

© Elena Seiryk/Shutterstock

Deswegen ist die Pubertät häufig auch entscheidend für den Ausstieg aus der Comicszene. Comics verraten einfach zu viel. Von den eigenen Wünschen, den eigenen Träumen und Schwächen. Superman ist eine Idealvorstellung für Jungs, die eben keine erwachsenen Oberarme besitzen. Von sehr jungen Männern, denen dauernd alle sagen, was sie zu tun haben. Superman ist die passende Comicfigur zum Kindergedanken »Ich gehe weg und werde berühmt, und dann komme ich zurück, und dann wird es euch leidtun«, die Figur zum Wenn-ihr-wüsstet-wie-toll-ich-wirklich-bin. Später hat man diesen Traum schon auch noch, aber in der Pubertät ist man obendrein noch zunehmend damit beschäftigt, cool zu wirken. Und zur Coolness passt leider nicht immer der Traum vom Superhelden. Ich beispielsweise musste eher überlegen, ob die zerfetzten T-Shirts von Ratt besser zu mir passten als die Nietengurte von Mötley Crüe – und wie sich beides in meinen Schulalltag integrieren ließ, ohne als Schwachkopf dazustehen.

Mir ging zunehmend auch Batmans ewige Vorbildlichkeit auf die Nerven. Wer das Twisted-Sister-Video zu »I Wanna Rock« betrachtet, sieht ziemlich genau meine Problemstellung – und es war nicht anzunehmen, dass Batman sich dabei auf die Seite der geschminkten Typen schlagen würde, die knapp bekleideten Schülerinnen zeigen, wie man fachgerecht mit dem Schädel gegen einen Blechspind headbangt. Für ihn blieben dadurch immer weniger Geschichten übrig, die ich noch mochte: etwa die von Neal Adams gezeichneten, die ins Übersinnliche spielten. Der Grund liegt auf der Hand: Eine Gruselgeschichte nahm den Fokus vom Superheldenwunsch, übrig blieb die bis heute faszinierende Optik.

Ähnliches gilt für Donald Duck. Sobald Mädchen interessant werden, ahnt man allmählich, dass die Begeisterung für einen ständig versagenden Comic-Erpel im Matrosenanzug einen bei ihnen nicht attraktiver macht. Logischerweise flog Micky Maus samt seinen albernen Detektivgeschichten noch schneller raus als Batman. Und von den Duck‘schen Abenteuern blieben nur die, die einen unbestreitbaren Witz hatten: meistens also jene von Carl Barks. Es ist eindeutig kein Zufall, dass man selbst in der tiefsten Pubertät noch am ehesten zu Asterix und Lucky Luke stehen konnte oder auch zu den Peanuts – eben zu außerordentlich gut gemachten Humorprodukten.

Dritter Punkt: Das Gefühl der eigenen Unterlegenheit verschwand immer wieder mit dem Auftauchen fester Freundinnen. Der Traum vom eigenen Superheldendasein wurde ersetzt durch den Traum von handfestem Gefummel und der Selbstsicherheit, dass man diese allgemein anerkannte Fummelei schon mal halbwegs erfolgreich praktiziert hatte. Was ja obendrein ein Bereich war, der überhaupt nicht Batmans Baustelle war. Und das gilt für fast alle Varianten des Superheldenthemas. Diese ganzen einsamen Wölfe waren mir alle zunehmend egal, weil: Ich war ja nicht mehr einsam und musste daher diese Einsamkeit auch nicht mehr verklären. Oder jedenfalls gerade mal nicht. Und wenn, dann waren dafür eher Judas Priest und Cinderella zuständig.

Warum Mädchen mit Comics aufhören? Ich kann’s nicht aus erster Hand beurteilen, aber das mit der Coolness ist sicher ebenfalls ein Grund. Erwachsenwerden, erwachsen sein zu wollen, bedeutet, sich als eigenständige Persönlichkeit zu profilieren – und das Bewundern von anderen im Allgemeinen und Minnie Maus Abb. 1 im Besonderen wirkt nun mal wenig eigenständig. Doch das Hauptproblem ist, dass die Welt der Kindercomics einfach nicht nahtlos in die Welt der Erwachsenencomics überführt wird.

Gucken Sie sich zum Vergleich das Fernsehen an. Die Mode. Kino. Videospiele. Internet. All diese Geschäftszweige würden nie zulassen, dass ihnen irgendeine Altersklasse durch die Finger rutscht. Eine Firma wie Lego findet sich nicht damit ab, dass die Menschen erwachsen werden, sie versucht sie zu Sammlern zu machen. Und Influencer erfinden für jede Gruppe ab drei Personen einen eigenen Kanal und versuchen ihn zur werberelevanten Marktreife zu entwickeln. Warum? Weil es Milliardenmärkte sind. Aber Comics, jedenfalls die gedruckten, sind es nicht. Was bedeutet: Es gab damals und gibt noch heute keine derart geschlossene Produktkette von der Wiege bis zur Bahre.

Und so verliert irgendwann der Pups seinen Witz und stinkt nur noch. Die Schule der magischen Tiere, Harry Potters Hogwarts, überall zeigt sich, dass für Erwachsene Zauberei als Alltagskonzept untauglich ist. Übrig bleiben Kinderprobleme, die mit magischem Brimborium und Quidditch künstlich aufgeblasen wurden. Und Superman – was hat ein Kerl mit der Realität zu tun, der einen Hitzeblick hat, eine Kältepuste und einen Türschlüssel von der Größe eines Kranauslegers? Im erwachsenen Alltag gibt es keine Superschurken, sondern nur ganz normale Arschlöcher und nicht funktionierende Updates.

Obendrein müssen wir als Erwachsene zusehen, wie der Comic-Superman Abb. 2 und seine Kollegen an der Realität scheitern.: Es ist schlicht nicht denkbar, dass der edle, aber illegale Einwanderer vom Planeten Krypton tatenlos dabeistehen würde, wenn die US-Regierung Migrantenkinder von ihren Eltern trennt. Und dennoch wurde in vier Jahren Donald Trump keine Geschichte gezeichnet, in der Superman oder sonst ein namhafter Superheld eine angemessene Reaktion auf die Rassistentruppe im Weißen Haus gezeigt hätte. Heldendarsteller wie Robert Downey jr. oder Mark Ruffalo bezogen Stellung, aber im Comic haben weder Iron Man noch der Hulk sich je explizit gegen Trump positioniert.

Als Kind kommt man damit klar, denn Supermans Feind ist ja Lex Luthor.

Als Erwachsener denkt man: Tja, aus dem Alter für Comics bin ich raus.

Aber das ist ein Trugschluss: Es ist nur Zeit für andere Comics.

2

2Berühmte Sachbeschädigung: Schon in seinem ersten Abenteuer zerlegt Superman völlig unnötig ein leeres Auto. Für Kinder cool – für Erwachsene seltsam, für Juristen unzumutbar.

© Walter Cicchetti/Shutterstock

© Molly NZ/Shutterstock

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Silberpfeil nervt? Buffalo Bill langweilt?Diese Comics stellen die Westernwelt auf den Kopf, zeigen den »lonesome cowboy« in anderem Licht – und sind manchmal nur neu, weil sie so alt sind

© spatuletail/Shutterstock

Ein Sattelfest: Lucky Luke und seine Enkel

Comicwestern gibt es wie Sand am Meer. Vielleicht liegt’s an Lucky Luke, vielleicht an Leutnant Blueberry, vielleicht an Bud Spencer und Terence Hill, aber genau hier liegt auch der Hase im Pfeffer. Das Genre lebt, aber es lebt vor allem von den Ideen von früher. Es gibt den lustigen Western, es gibt den harten Western mit dem einsamen Wolf, aber schon beim Blick aufs Cover können Sie sich – gerade wenn Sie dem Western seit Längerem wohlwollend gegenüberstehen – meistens denken, welche Quelle der jeweilige Comic gerade anzapft. Und obwohl das keineswegs immer ein schlechtes Zeichen sein muss, ist es nur selten ein gutes: Der Comic erscheint dadurch so vertrauenerweckend wie irgendeine italo-spanisch-französische Koproduktion aus dem Jahr neunzehnhundertsoundsiebzig, Titel irgendwas wie Drei Ohrfeigen für vier Himmelhunde oder Geier mögen keine blauen Bohnen, 0 Uhr 35 bei Tele 5. Es gibt Besseres.

Etwa, um konservativ zu beginnen, einen Comic, der neu ist, weil er so alt und unbekannt ist: Ticonderoga. Eine über sechzig Jahre alte Serie, erschienen in Argentinien, gezeichnet vom nicht ganz unbekannten Hugo Pratt, geschrieben von Héctor Germán Oesterheld. Sie spielt im britisch-französischen Krieg um Nordamerika, also im Lederstrumpf-Setting, aber aus Jungensicht, Abb. 1 sozusagen der Perspektive von Jim Hawkins in der Schatzinsel. Das ist gleich dreifach gut: Einerseits wirkt das Altmodische dadurch angemessen und selbstverständlich. Andererseits ist man immer wieder überrascht, wie hart und schonungslos hier gerade in Anbetracht des jungen Zielpublikums gestorben und getötet wird. Und Pratt tuscht die Action Prinz Eisenherz-würdig, Natur und Landschaft mit viel Sinn für großes Kino, jede Menge historischer Details aus der Zeit, als Gewehre noch mit Pulverhorn und Stock geladen wurden. All das wirkt erstaunlich lebendig in Schwarz-Weiß-Grau, obwohl das Querformat Pratt anfangs nicht mal Platz für Splashes lässt. Schön gebunden, im Schuber mit vielen Extras. Damit machen auch Nostalgiker nichts falsch.

Von hier geht’s vorsichtig in die 1980er, wir bleiben bei Pratt – der aber diesmal schreibt. Zeichnen lässt er den Italiener Milo Manara. Das ist etwa so, als würde Martin Scorsese mit Teresa Orlowski drehen, denn Manara ist vor allem für seine Erotikcomics bekannt – aber im Comic sind die Grenzen viel durchlässiger. Erfreulicherweise, weil Manara nicht nur ausgezeichnete Brüste zeichnet, sondern auch Landschaften, Gesten, harte Action. Ein indianischer Sommer spielt im siebzehnten Jahrhundert, als in Nordamerika Siedler und Ureinwohner noch nebeneinanderher leben können. Schon der Einstieg ist so fesselnd wie ambivalent: Zwei junge Indianer treffen an einem idyllischen Meeresstrand eine junge Siedlerin und vergewaltigen sie. Anschließend gehen sie gut gelaunt im Meer baden. Plötzlich taucht ein junger Siedler auf. Er erschießt die Vergewaltiger und skalpiert sie anschließend. Die Skalps gibt er der Vergewaltigten. Der Vorfall ist Auftakt zu einem eskalierenden Konflikt zwischen Ureinwohnern, Dörflern und Farmern, in dem keine Seite sonderlich gut wegkommt.

Das Ungewöhnlichste ist, dass Pratt und Manara so gut wie nicht kommentieren. Die Empörung oder auch nur die Bewertung überlassen sie ihren Lesern. Sie stellen nur Vorgänge nebeneinander, die alle beide gleich inakzeptabel sind: die Vergewaltigung neben den eiskalten Doppelmord an den wehrlosen Tätern. Wer mäkeln will: Die Menschen sehen im Durchschnitt alle etwas zu gut aus. Und für eine extrem prüde Zeit sieht man doch immer wieder ungewöhnlich viel Haut. Aber mit beidem kann man sich arrangieren.

1

2

1, 2Nichts für Zartbesaitete: TICONDEROGA erzählt die Abenteuer des Kadetten Caleb (u.). Das Querformat (o.) nutzt dabei geschickt ein einziges Bild für eine ganze Filmszene.

TICONDEROGA © avant-verlag & Cong A., 2019

Noch was Altes, noch mal neu: Lucky Luke. Es gibt derzeit einen Trend, klassische Comics von modernen Zeichnern neu interpretieren zu lassen. Das kann weniger gut gehen wie bei Flix, der sich an Spirou versuchte, oder sich wunderbar ergänzen – wie beim Berliner Markus »Mawil« Witzel, der die Möglichkeit bekam, den berühmtesten Cowboy der Comicwelt zu vermawilen. Mawil, leidenschaftlicher Radfahrer, verpasst Luke in Lucky Lukesattelt um eine Beziehungskrise mit seinem Pferd Jolly Jumper und notgedrungen eine Affäre mit einem Drahtesel. Abb. 3, 4 Das ist schön frech, rutscht aber nicht ins Doofe ab: Lucky Luke hat wie in jedem anständigen Album ein richtiges Abenteuer zu bestehen, es ist eben manches dabei ein bisschen anders und auch ein bisschen deutsch. Unterm Strich eine so schöne neue Geschmacksrichtung, dass das Experiment mit einem weiteren Deutschen wiederholt wurde: Ralf König. Ob er den Cowboy auch anderes schneller ziehen lässt als sein Schatten, wird hier nicht verraten – aber König gelingt der Balanceakt zwischen Veralbern und Würdigen geradezu traumwandlerisch sicher. Abb. 5 Vielleicht noch eine Spur besser als Mawil, aber das liegt am kniffligeren Thema: Kann man eine traditionell sexlose Figur mit dem Thema konfrontieren, ohne sie zu beschädigen? König benutzt einen Trick: Er lässt einen schwulen Cowboy von seiner Begegnung mit dem Cowboypromi erzählen. Damit nimmt er nichts vorweg und gewinnt auch noch die Bewegungsfreiheit, sich so nah an Lucky Lukes Sexleben heranzupirschen, wie er’s gerade für angemessen hält.

3

4

3, 4Liebevoll: Mawil lässt Lucky Luke nicht nur das Reittier wechseln – sondern spielt die Idee dann auch variantenreich durch. Die unterschiedlich großen Räder lassen alles extrem rasant wirken.

LUCKY LUKE SATTELT UM, Mawil © Egmont Comic Collection, 2019

5

5Feinfühlig: Ralf König unterfüttert den Klassiker mit der Schwulenthematik. Das Ergebnis ist wie das Herrengespräch im Bild: gleichzeitig sehr ernsthaft und sehr komisch.

LUCKY LUKE – ZARTER SCHMELZ, Ralf König © Egmont Ehapa Media, 2021

6

GUS 2, Christophe Blain © Reprodukt Verlag

7

6, 7Wie kein Zweiter mischt Christophe Blain Parodie und Hommage: Der Sprung des Liebespaars über die Schlucht (links) ist albern und atemberaubend in einem. Blain kann auch anders (rechts): Bei Brigitte Bardots Auftritt im Klassiker BLUEBERRY ist der Parodie-Anteil kaum noch sichtbar.

UNE AVENTURE DU LIEUTENANT BLUEBERRY 1 – AMERTUNE APACHE © DARGAUD 2019, by Joann Sfar & Christophe Blain, after Jean Giraud & Jean-Michel Charlier, www.dargaud.com, All rights reserved

Passenderweise outet sich König auf Seite 53 als Fan des nächsten Tipps: Christophe Blains Serie Gus, die allerdings etwas mehr Umgewöhnung braucht. Die drei Helden, die Gangster Gus, Gratt und Clem, berauben hauptberuflich Banken und Züge und haben weniger Schwierigkeiten damit, irgendwelche Leute über den Haufen zu schießen, und mehr Schwierigkeiten mit Frauen. Clem ist glücklich mit Ava verheiratet, hat eine überwältigende kleine Tochter und eine Affäre mit der aufregenden, tollkühnen, kunstinteressierten Isabella. Abb. 6, 7 Gus ist so schüchtern, dass er in einer Bank, die er eigentlich ausspionieren will, lieber ein Konto eröffnet, weil ihm die Kassiererin so gut gefällt und er es sonst nicht wagt, sie anzusprechen. Und Gratt ist schlichtweg zu verkopft. Bei diesen Voraussetzungen muss man aufpassen, dass es nicht klamaukig wird – Blain löst das Problem, indem er sein Trio zu brutalen Raubmördern macht, die ihr Gewissen nur entdecken, wenn es um Frauen geht. Und indem er immer wieder das Komische ernst nimmt und das Ernste veralbert, und das kann ruckzuck gehen, von einem Panel zum nächsten. Er kann die Cowboys äußerst finster dreinblicken lassen – inklusive Schattenwurf, Körperhaltung und allem, was dazugehört –, und kurz darauf zeigen sie mit acht oder zehn Armen in alle Richtungen zugleich, weil sie so hibbelig und aufgeregt sind. Gerade eben noch präsentiert Gus fünfhändig den beiden Freunden stolz seine Künste im Fahren von Dampflokomotiven, fünf Panels später rauscht die Lok oben auf einem gigantischen hölzernen Viadukt aus der Kurve, schön mit dem Blick von gaaaanz unten eingefangen. Schon vorher gibt‘s die für Western fast obligatorische Szene, in der jemand auf den Zug klettert und über die Dächer der Waggons zur Lok rennt – so was kann man bei Blain zugleich absolut ernst nehmen, weil Zug, rasende Geschwindigkeit und Kameraperspektiven alle wunderbar passen, und dennoch sehr, sehr lustig finden, denn Gus‘ Körperhaltung ist hier eindeutig Parodie. Und so finden Sie alles wieder, was Sie am Western lieben: weite Landschaften, Verfolgungsjagden im Canyon, Schießereien, Hitze, Sand, Felsen, Saloons, Theater, die staubigen Straßen, die Westernstadt, Pferde sowieso – alles übertrieben und doch auch genau so, wie sich’s gehört. Und wenn’s Ihnen noch zu lustig ist, dann schauen Sie am besten in den Band Leutnant Blueberry – Das Trauma der Apachen. Abb. 7 Da hat sich Blain derart zurückgenommen, dass von einer Parodie kaum noch was zu spüren ist. Und warum?

Weil er’s einfach kann.

Eine wirklich erstaunliche Westernvariante gibt’s noch, ebenfalls humoristisch. Sie heißt Mondo Reverso und arbeitet im Prinzip mit einem einzigen Gag: Männer sind Frauen, und Frauen sind Männer. Das klingt nach nicht viel, und ich hätte vorher auch gewettet, dass nach zehn Seiten jede irgendwie denkbare Situation durchgespielt ist. Aber das ist nicht so. Es beginnt im Haushalt, beim jungengerechten Spielzeug, Abb. 8 das natürlich aus Puppen besteht. Es setzt sich fort in alltäglichen Situationen, in denen Männer dumm angemacht werden, weil man etwas zu viel Ausschnitt sieht, während Zeichner Dominique Bertail den Frauen die Brüste halb aus dem Hemd purzeln lässt. Das geht weiter bei modernen Erzählweisen, denn so, wie heute viel öfter die starke, selbstbewusste Frau (immer noch als ungewöhnliches Element!) eingesetzt wird, gibt es hier auch den starken, selbstbewussten Mann, der sich unter vielen Frauen behaupten muss – oder die Dame mit Bart, die im Zirkus auftritt wie in früheren Tagen auch, also als Jahrmarktsattraktion, doch diesmal ist sie die Jahrmarktsattraktion, weil – äh, weil sie einen Bart hat, aber der Bart was anderes meint oder Dings … Wie Mondo Reverso dieses Männer-Frauen-Spiel immer wieder umkehrt und doppelt umkehrt und dann noch mal, das ist schon außerordentlich verwirrend und vergnüglich. Und das brandaktuelle Thema Homosexualität haben wir noch gar nicht mal einberechnet. Harmlos ist dabei nichts, es sausen Kugeln in Köpfe, die Frauen behandeln sich untereinander so zurückhaltend wie Clint Eastwood und Eli Wallach in Zwei glorreiche Halunken.

Und ab hier entlasse ich Sie in die weite Comicprärie. Im Western ist die Qual der Wahl mit am größten. Verlage wie Schreiber & Leser oder Splitter haben eine enorme Auswahl an Titeln, die mindestens ansprechend aussehen. Bocola hat die alten Serien Cisco Kid und Lance ausgebuddelt, Salleck erforscht mit White Indian die Comicwurzeln des Fantasygroßmeisters Frank Frazetta. Letztlich bleibt vieles eine Geschmacksfrage. Es ist wie mit Pizza Salami: Irgendwie kriegt auch der Texmex-Chinese an der Ecke eine hin – wenn Sie wissen wollen, ob sie auch was taugt, müssen Sie sie probieren.

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8, 9Sparsame Mittel extrem effektiv eingesetzt: Mondo Reverso vertauscht Männer mit Frauen (o.) – und schon stellt sich (unten) die Frage: Ist die einsame Reiterin womöglich ein Mann, der nicht am Herd stehen mag?

MONDO REVERSO 1, Cornelia & Lindbergh © Verlag Schreiber&Leser

Die Titel aus diesem Kapitel

→ Héctor Germán Oesterheld (Text)/Hugo Pratt (Zeichnungen), Ticonderoga, avant-verlag

→ Hugo Pratt (Text)/Milo Manara (Zeichnungen), Ein indianischer Sommer, Panini

→ Mawil, Lucky Luke sattelt um, Egmont Comic Collection

→ Ralf König, Zarter Schmelz, Egmont Comic Collection

→ Christophe Blain, Gus, Band 1–3, Reprodukt

→ Joann Sfar (Text)/Christophe Blain (Zeichnungen), Leutnant Blueberry – Das Trauma der Apachen, Egmont Comic Collection

→ Arnaud Le Gouëfflec (Text)/Dominique Bertail (Zeichnungen), Mondo Reverso, Band 1–2, Schreiber & Leser

→ José Luis Salinas, Cisco Kid, Bocola

→ Warren Tufts, Lance, Bocola

→ Frank Frazetta, White Indian, Salleck

Outtakes

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10Gewagte Perspektiven – und mutige Farbkombinationen: Antonio Hernández Palacios mischt die Wüstentöne im Hintergrund vorne mit kaltem Blau, Weiß, Violett.

MANOS KELLY © avant-verlag, A. H. Palacios, 2014

Antonio Hernández Palacios,Mac Coy, Manos Kelly, beides avant-verlag

Gutes von früher. Abb. 10 Palacios Schwäche ist das Erzählen, aber die Zeichnungen sind unerreicht abwechslungsreich, explosiv, experimentierfreudig bunt und immer schön dreckig abgenutzt. Und für Pferdeliebhaber ein Paradies, weil Palacios nicht nur eine Handvoll Standardpositionen kennt, sondern Hunderte. Optisch ist Palacios der Sergio Leone unter den Comiczeichnern.

Olivier Jouvray (Text)/Jérôme & Ann-Claire Jouvray (Zeichnungen),Lincoln, Schreiber & Leser

Lincoln, ein übellauniger Faulpelz, begegnet dem lieben Gott, der ihm die Unsterblichkeit schenkt und nebenher irgendwas mit dem Teufel laufen hat. Die Parodie zündet nur mittelgut. Lincoln riskiert als Unsterblicher nichts und macht letztlich doch, was Gott will. Puh. Dazwischen sorgen ein paar ordentliche Gags und ein paar heftige Szenen für allgemeine Unentschlossenheit.

Paolo Eleuteri Serpieri,Serpieri Collection,Lakota,beides Schreiber & Leser

Auf Anhieb erinnert Serpieris Stil an Palacios. Und die Storys sind vergleichbar nichtssagend. Aber Serpieri zeichnet sauberer, und was Action angeht, ist er zurückhaltender: Entweder liegt sie ihm nicht, oder er zeichnet einfach gern seitenweise Dialoge. Da er nur über wenige Inszenierungsideen verfügt, hat man sich rasch sattgesehen. Das hinterlässt eine rechte Enttäuschung, denn vom Untergang General Custers am Little Big Horn erwartet man doch ordentlich Drama und Krawumms. Geschickterweise vergisst Serpieri nie sein Hauptstandbein Erotik: Bei Serpieri besteht immer die Möglichkeit, dass einfach mal enorme Frauenbrüste ins Bild ragen. Muss man mögen.

Alejandro Jodorowsky (Text)/François Boucq (Zeichnungen), Bouncer, Schreiber & Leser

Ein einarmiger Held in einer verwahrlosten Welt: Klingt nach Für ein paar Dollar mehr, was gut ist. Nicht so gut: Es fehlt jede Doppelbödigkeit, und damit morden und vergewaltigen die Schurken letztlich nur, damit es einen Grund zur Rache gibt. Hübsche, letztlich handelsübliche Optik. Nice to have. Nice to have not.

Tiburce Oger, Ghost Kid, Splitter

Sehr ansehnliche Geschichte um einen sehr alten Cowboy, Geschmacksrichtung Erbarmungslos, wenn auch weniger düster.

04

Hefte, Alben, Graphic Novels. So viele Regale, so viele Stapel. Superhelden. Cartoons. Mangas. Serien. Die (schw)erste Frage im Comicshop lautet: Wo fang ich an? Und wie?

HARD BOILED © Dave Stewart, Frank Miller, Geof Darrow. All rights reserved, Deutsche Ausgabe © Cross Cult

Der rote Faden für den Blasendschungel

Kleiner Witz für Kinder der 1970er: Was sagt Nina Hagen im Comicladen?

»Ich kann mich gar nicht entscheiden, is‘ alles so schön bunt hier!«

Es gibt natürlich mehrere Wege, sich im Comicdschungel zurechtzufinden. Aber anders als bei Musik oder Comedians stolpert man als Nichtcomicfan eher selten im Internet über sie. Oder im Radio. Das Letzte, was ich im Radio gehört habe, war bei Bayern 5, dem hiesigen Nachrichtenkanal, über den neuen Comic von Mathieu Sapin (den ich für Mist halte) – und berichtet wurde darüber eigentlich auch nur, weil davor Sapin einen Comic über Gérard Depardieu gemacht hat (der mindestens genauso großer Mist war – warum, lesen Sie auf S. 58). Oder Sie hören von Sabrina, der ersten Graphic Novel, die für den Man Booker Prize nominiert wurde und die, ehrlich gesagt, auch nur was ist für Leute mit einer Vorliebe für den abwechslungsreichen Geschmack von Sägemehl. Zum Reinschnuppern ist das nix.

Sie können selbstverständlich, wenn Sie eine gut sortierte Stadtbibliothek haben, einfach dort mal in die Comicabteilung gehen. Aber das fällt nicht jedem leicht, denn: Wo fängt man da an? Und dann gucken einem womöglich Leute zu und sehen, dass man sich nicht auskennt … Und dann kommen vielleicht welche von diesen Fachleuten und wollen Ihnen helfen, und dann muss man sagen, dass man keine Ahnung hat, und steht irgendwie dumm da, und dann sagen sie, was sie schon alles gelesen haben und nennen einem einhundertdreizehn Titel, und alles ist noch verwirrender als vorher, und es kommt noch ein zweiter dazu und sagt: »Haben Sie schon mal Mangas probiert?«, und dann kann man nur noch aufschreien:

»Ich wollte doch nur einen einzigen verdammten Comic lesen und nicht die ganze Scheißbibliothek!«

Letztlich können Sie eigentlich nur einen Fehler machen. Und das ist der Fehler der Marke.

Sie nehmen nicht den neuen Batman. Sie nehmen nicht das neueste Lustige Taschenbuch.

Sie machen es wie bei Büchern: Sie nehmen den neuen Fitzek.

Sie machen es wie bei Filmen: den neuen Spielberg.

Noch ähnlicher: Sie machen es wie bei Bands. Und wenn die Band sich auflöst, dann folgen Sie demjenigen, der die Songs geschrieben hat. Oder der gesungen hat, weil Sie die Stimme mochten.

Und deswegen nehmen Sie auch ganz bestimmt NICHT den neuen Asterix. Der Asterix von heute ist ein wandelnder Leichnam, der nicht sterben darf. Dieser Asterix wird auch nicht (wie LUCKY LUKE, S. 24) mal für einen Band von Mawil oder Ralf König gezeichnet, sondern von zwei Typen, die ihre Geschichten abreißen wie ein Student seine Nachtschicht beim Burgerausliefern (okay, Lewis Trondheim durfte jetzt seinen HERRN HASE, S. 298, im Asterixlook ins alte Gallien schicken, aber Asterix heißen soll er dort nicht).

1990 stand ich genauso da, nachdem ich Frank Millers Batman-Comeback Die Rückkehr des Dunklen Ritters gelesen hatte. Ratlos. Ich wusste nur, dass die Lösung nicht »Irgendwas anderes mit Batman« heißen konnte. Denn der langweilige alte Batman hatte mich ja überhaupt erst verscheucht. Der Unterschied musste in diesem Herrn Miller liegen.

Also habe ich nach mehr von Frank Miller gesucht. Ganz vorsichtig. Und weil die Comicabteilungen der Buchläden damals schaurig dünn waren, so dünn, dass man sich wundern musste, warum meine Eltern überhaupt »keine Comics« auf meine Gutscheine schrieben, ging ich in den schönen Comicladen »Ultra-Comix« in Nürnberg. Es stellte sich heraus, dass es durchaus noch mehr von diesem Frank Miller gab.

Ziemlich genauso dick, in einem ähnlichen Zeichenstil, eine andere Graphic Novel von Miller, sie hieß Ronin. Die war auch gut. Aber leider gab es nicht mehr, was Miller alleine gemacht hatte. Es gab jetzt nur noch Sachen, die Miller mit anderen Leuten zusammen produziert hatte. Da hatte er gar nichts gezeichnet, kein einziges Bild, da hatte er nur den Text geliefert. Ich stand vor der Wahl: aufhören – oder etwas probieren, was nur zum Teil von Miller war. Was mich zur ersten bewussten Erfahrung mit dem Szenarist-Zeichner-Konzept führte.

Das ist weder neu noch revolutionär – ich wusste ja, dass Asterix immer von Uderzo und Goscinny stammte, das stand dick drüber. Aber ich hatte bis dahin nie genauer darüber nachgedacht, ob das normal war oder nur die Ausnahme, ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Bücher schreibt ja auch immer nur einer allein, außer vielleicht bei Iny Lorentz.

Die Antwort: Es ist ziemlich normal. Die Methode entstand, weil es sich mit dem Erfolg der Comics irgendwann lohnte, sie schneller und serienmäßig zu produzieren. Wenn man jedoch alle vier Wochen oder alle vierzehn Tage ein Dutzend neue Hefte rausbringen muss, dann merkt man irgendwann, dass gar nicht allen Zeichnern alle vier Wochen eine gute Geschichte einfällt. Oder dass einige Zeichner zwar schöne Ideen für Storys haben, ihre Zeichnungen aber leider nur Durchschnitt sind, wenn nicht gar fade. Als Verlagschef macht man dann natürlich das Naheliegende: Man lässt den einen die Texte machen und den anderen die Zeichnungen. Das Ergebnis ist eine Win-win-win-win-Situation: Die Qualität der Geschichten wird nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich besser, die Leser lesen lieber und kaufen mehr, der Verleger wird reich und macht noch mehr Hefte.

Allerdings konnte man früher kaum drauf achten, selbst wenn man gewollt hätte: Es wurde oft bewusst verschwiegen. In den Lustigen Taschenbüchern fand sich damals keine einzige Autorenzeile. Kaum eine der Fix und Foxi-Geschichten hat Rolf Kauka gezeichnet, dessen Name trotzdem häufig auf dem Cover stand. Gespenster Geschichten, Silberpfeil, Tarzan – nirgends war ein Hinweis auf die Autoren. Man hatte einfach keine Chance herauszufinden, wer für bessere und wer für schlechtere Geschichten zuständig war.

Bei den Franzosen und Belgiern war das anders. Die machten Albumserien wie Asterix, Buck Danny, Michel Vaillant oder Bruno Brazil, und da arbeitete meist ein festes Team. Doch weil die Qualität durch die festen Teams und die geringere Erscheinungsfrequenz so ziemlich dieselbe blieb, gab es keinen Grund, sonderlich auf die Autoren und Zeichner achten. Man musste Superheldencomics lesen, um den Zusammenhang zu ahnen.

Superheldencomics hatten den großen Comicheftboom überhaupt erst ausgelöst. Sie waren das Zugpferd der Branche, deshalb erschienen sie – je nach Beliebtheit ihres Helden – öfter, als es ein festes Team leisten konnte. Aber bei den US-Comics, bei Superman oder Batman, wurde stets akribisch vermerkt, wer gezeichnet, wer getextet hatte. Bei Marvel-Publikationen wie Spiderman oder X-Men wurden die Autoren sogar gerne ironisch bejubelt und bekamen in einem Textkasten so etwas wie einen eigenen Kleinauftritt. Aber obwohl ich natürlich merkte, dass mir Batman mal mehr und mal weniger gefiel *, dass er bei Jim Aparo breit war wie ein Schrank und sich bei Kurt Schaffenberger bewegte wie ein Körperklaus, der Held blieb für mich früher unbeirrbar die Hauptsache. Das war jetzt anders geworden.

*Unter http://ralf-h-comics.de/stammbaum/stammbaum-batman.html findet sich eine erstaunlich reichhaltige Auflistung der verschiedenen Batmen und ihrer Zeichner-Tuscher-Kombinationen samt Einordnung des Ergebnisses. Und nicht nur der Batmen, auch von Superman oder Fix und Foxi.

Batman war jetzt austauschbar, Ronin hatte ja auch funktioniert. Es war Miller, wegen dem es sich lohnte, wieder Comics zu lesen. Er hatte zweimal nicht enttäuscht. Ein bisschen Miller schien daher besser als gar keiner. Ich hoffte also, dass er einen guten von einem schlechten Kollegen unterscheiden konnte, und las todesmutig Hard Boiled. Die Zeichnungen Abb. 1 dazu stammten von einem gewissen Geof Darrow.

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1Faszination durch Details: Geof Darrow zeigt in HARD BOILED den Crash bis in die kleinste Schraube – wer einmal angefixt ist, will mehr.

HARD BOILED © Dave Stewart, Frank Miller, Geof Darrow. All rights reserved, Deutsche Ausgabe © Cross Cult

Das Experiment gelang. Denn auch Darrow war einer, der was konnte. Darrows Zeichnungen waren nicht nur ein akzeptabler Ersatz, sie waren geradezu grandios. Der nächste Vorteil war, dass ich hier nahtlos weiterlesen konnte, denn Darrow hatte noch einen Comic mit Miller zusammen gemacht, Big Guy.

Darrows Nachteil war, dass er unglaublich langsam arbeitete. Weshalb es auch von ihm nicht allzu viel gab. Ich wechselte also zu einem weiteren Kumpel von Frank Miller: Bill Sienkiewicz, mit dem Miller Elektra: Assassin fabriziert hatte. Das war schon sehr gewagt, weil Sienkiewicz einen sehr unkonventionellen, collageartigen Stil hat, das sah schon sehr nach Kunst aus. Es war dennoch gut!

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2, 3Weniger ist mehr: SIN CITY reduziert in seinem Schwarz-Weiß sogar die Striche. Der Bodyguard oben hat keinen Umriss mehr, unten besteht das Dach nur noch aus Flächen.

SIN CITY © Frank Miller. All rights reserved, Deutsche Ausgabe © Cross Cult

Inzwischen war ich mit Millers Werkkatalog so ziemlich durch. Doch ich war nun schon dermaßen oft im Comicladen gewesen, dass ich allmählich anfing, den Verkäufern zu trauen. Die überzeugten mich von Alan Moore, angeblich ein Genie, das überhaupt nie zeichnete und sich nur Geschichten für andere ausdachte. Zum Beispiel Watchmen (S. 224).

Watchmen war eine Hürde, weil ich den Zeichenstil von Dave Gibbons veraltet fand. Das sah nicht so aus, wie ich es wollte. Doch die Geschichte war unglaublich gut, und je länger man sie las, desto besser passte der Stil zu ihr.

Außerdem zeigte sich, dass man sich an die Zeichenstile von Miller, Darrow, Sienkiewicz oder Gibbons so gewöhnen kann wie an Leute, mit denen man täglich zu tun hat. Ihre Eigenheiten verschwinden, Sprachfehler, Muttermale, Hautfarbe, Behinderung, Akzent, all das fällt einem von Tag zu Tag weniger auf, bis nur noch der Mensch übrig ist – und beim Comic kann das mit der Optik genauso klappen.

Alan Moore entpuppte sich als gigantische Fundgrube. Ich fand einen telefonbuchdicken Wälzer namens From Hell (S. 237), irgendwie sehr krakelig vom mir unbekannten Eddie Campbell gezeichnet und noch dazu nur schwarz-weiß. Das fand ich schade, aber kurz zuvor hatte Frank Miller grade etwas Neues abgeliefert, Sin City (S. 46), und das war auch nur in Schwarz-Weiß, Abb. 2 aber so reduziert und einfallsreich und aufregend, dass ich Schwarz-Weiß nicht mehr automatisch mit »langweilig« kombinierte.

Etwa zu dem Zeitpunkt fiel mir Maus