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Radsportfieber in Auciel Haute! Cluzet hilft bei der Ausrichtung des Rennens um den Hausberg - und wird prompt in einen Mordfall verwickelt: Der Trainer des örtlichen Frauen-Nachwuchsteams ist tot! Sind die Spannungen und Eifersüchteleien im Team der Grund? Denn zwei Fahrerinnen konkurrieren um die Teilnahme bei der Tour de France, doch nur für eine ist Platz. Cluzet und Polizistin Saidi ermitteln in der Welt des Radsports und geraten ziemlich ins Schwitzen.
Über die Serie:
Urbain Cluzet ist Commissaire de Police in Paris. Besser gesagt, er war es. Denn nach dem Tod seiner geliebten Frau und seiner Pensionierung zieht er sich in seinen Geburtsort, das beschauliche Auciel Haute in der Normandie, zurück. Doch das Ermitteln kann er nicht lassen. Zumal Sandrine Saidi, die begabteste Polizistin des Ortes, von ihrem inkompetenten Chef, dem Major de Police Melki, ausgebremst wird.
Dennoch - oder gerade deswegen - genießt Cluzet das gemütliche Leben in Auciel Haute, wo er im kleinen Gartenhäuschen der Pension seiner Wahl-Enkelin Nathalie Bosc wohnt und sich regelmäßig mit seinem besten Freund, dem Apfelbauern und Schwarzbrenner Bruno, auf einen Calvados trifft.
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Seitenzahl: 199
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Radsportfieber in Auciel Haute! Cluzet hilft bei der Ausrichtung des Rennens um den Hausberg – und wird prompt in einen Mordfall verwickelt: Der Trainer des örtlichen Frauen-Nachwuchsteams ist tot! Sind die Spannungen und Eifersüchteleien im Team der Grund? Denn zwei Fahrerinnen konkurrieren um die Teilnahme bei der Tour de France, doch nur für eine ist Platz. Cluzet und Polizistin Saidi ermitteln in der Welt des Radsports und geraten ziemlich ins Schwitzen.
Urbain Cluzet ist Commissaire de Police in Paris. Besser gesagt, er war es. Denn nach dem Tod seiner geliebten Frau und seiner Pensionierung zieht er sich in seinen Geburtsort, das beschauliche Auciel Haute in der Normandie, zurück. Doch das Ermitteln kann er nicht lassen. Zumal Sandrine Saidi, die begabteste Polizistin des Ortes, von ihrem inkompetenten Chef, dem Major de Police Melki, ausgebremst wird.
Dennoch – oder gerade deswegen – genießt Cluzet das gemütliche Leben in Auciel Haute, wo er im kleinen Gartenhäuschen der Pension seiner Wahl-Enkeln Nathalie Bosc wohnt, und sich regelmäßig mit seinem besten Freund, dem Apfelbauern und Schwarzbrenner Bruno, auf einen Calvados trifft.
ALEXANDRE DUPONT
Commissaire Cluzet
und das mörderische Rennen
Er war dick und dicht, aber nicht schwer. Manchmal sogar regelrecht leicht, wenn er sich nach der Decke des Raums streckte. Er kam auf Wunsch. Und wenn sie lang genug blieben, ging er mit ihnen eine beinahe symbiotische Beziehung ein. Denn er brachte sie zum Schwitzen und nahm dann ihren Schweiß in sich auf. Nicht allen. Sondern nur ein bisschen. Bis er satt war.
Das hatte auch der Mann stumm eingefordert, der auf der unteren Edelholzbank saß und sich ans Herz griff. Der seinen Puls am Hals fühlte. Der schon beim Eintreten geschwitzt hatte. Seine Miene war verzerrt und seine Bewegungen schwerfällig. Dann wieder hektisch.
Er kam nicht auf die Beine. Sie schienen im wegzusacken. Er griff nach einer Planke der Holzbank. Seine Fingernägel gruben sich hinein. Blindlings und panisch fuhr seine Hand über die Bank. Sie bekam ein Handtuch von der Bank darüber zu fassen. Der Mann wischte sein Gesicht damit ab, warf es entkräftet gegen die Glasfront zum Badezimmer.
Schließlich, nachdem er schrecklich gezuckt, gejapst und sich wieder ans Herz gegriffen hatte, sackte der Mann in sich zusammen. Blieb liegen. Regungslos. Mit starren, weiten Augen.
Und er, der dick und dicht und zugleich nicht schwer war, kroch noch etliche Minuten über ihn hinweg. Kräuselte sich über ihm. Labte sich am Schweiß des Mannes.
Er war der einzige Zeuge. Doch er verschwand spurlos, als der kleine Ventilator unter der Decke ansprang und ihn, den Dampf, einfach aus der Sauna sog.
Urbain Cluzet war spät dran. Aber Nathalie war noch später, wie er enttäuscht feststellen musste, als er die Haustür öffnete. Das übliche Papiertütchen mit den Zimtröllchen, das morgens immer an der Türklinke hing, war nicht da.
Normalerweise waren sie fester Bestandteil seines Morgenkaffees. Sie kamen jeweils mit der Lieferung der Bäckerei für das Vieux Moulin, und Nathalie brachte sie dann sofort zu ihm. Danach machte er sich auf zu seinem Spaziergang durch die Felder und Apfelplantagen in der Umgebung oder den Ortskern Auciel Hautes.
Aber heute Morgen war offensichtlich alles durcheinander geraten. Er hatte verschlafen und war nicht spazieren gegangen. Dass es keine Zimtröllchen gab, folgte also gewissermaßen einer inneren Logik.
Cluzet schloss die Eingangstür wieder und lockerte den Gürtel an seinem braunen Morgenmantel. Dann ging er zur kleinen Küchenzeile, die gerade groß genug war, um sich eine einzelne Mahlzeit zuzubereiten. Er nahm den Zimtstreuer aus dem Gewürzregal über der Spüle, drehte den Deckel ab und tippte behutsam eine Prise Zimt auf den Schaum des Kaffeeaufgusses in der Cafetière. Die feine Geruchsnote erfüllte die Luft, als er langsam den Stempel der Cafetière runterdrückte.
Zumindest an Kaffee würde es nicht fehlen.
Er wählte einen der Becher aus, die am Küchenregal neben den Gewürzen hingen. Das Kochbesteck aus Edelstahl an den Haken daneben klirrte, als er es dabei berührte. Der Becher war ein Geschenk von Nathalie mit einem Bild von ihnen beiden darauf. Sie hatte es gemalt, als sie noch klein gewesen war. Eigentlich waren es nur zwei blaue Strichmännchen, die sich umarmten. Und er und Nathalie waren auch nur zu erkennen, weil rote Pfeile die Männchen mit ihren Namen verbanden: Nathalie und GP. Sein Spitzname, mit dem seine Wahlenkelin ihn bedacht hatte. Die Abkürzung stand für Grand-Père, Großvater, ein Ehrentitel!
Cluzet schenkte sich von dem kräftigen, schwarzen Gebräu ein und löffelte ordentlich Zucker aus der weißen Keramikdose hinein. Dann ging er mit dem Becher zum Tisch mit der Messingplatte. Er stand gleich neben dem grünen, ledernen Ohrensessel an der Eingangstür. Sein Lieblingsplatz in dem alten, kleinen Häuschen. Das hatte ansonsten noch einen Küchentisch mit zwei Stühlen und ein Bett zu bieten, das durch die weiße Holzverkleidung an den Seiten an die Schlafkoje eines Kapitäns auf einem alten Segelschiff erinnerte. Es war bescheiden, aber seit Cluzet die Pariser Stadtwohnung aufgegeben hatte und nach Auciel Haute umgezogen war, war er genügsamer geworden.
Was vielleicht daran lag, dass das kleine Bruchsteinhaus ihn an die beengten Verhältnisse in seinem Elternhaus am anderen Ende Auciel Hautes erinnerte. Darin hatte es neben seinem und dem Schlafzimmer seiner Eltern nur eine große Wohnküche gegeben, in der fast das gesamte Familienleben stattgefunden hatte. Jedenfalls hatte er sich vom ersten Moment an in dem kleinen Haus heimisch gefühlt und es deswegen auch Nathalie abgekauft.
Cluzet stellte den Becher neben das Foto seiner verstorbenen Frau Bérénice, das von einem Strauß aus lila Wiesenglockenblumen geschmückt war. Bérénice hatte ihren Duft geliebt, wenn sie die Urlaube in der Vieux Moulin verbracht hatten. Also pflückte Cluzet alle paar Tage einige für sie vom Rand der Blumenwiese vor dem Haus.
Cluzet schaltete das kleine Radio auf der Fensterbank neben der Eingangstür ein. Klaviermusik ertönte, und Cluzet stellte einen anderen Sender ein. Klassik war etwas für den Abend. An diesem sonnigen Morgen war ihm nach Chansons.
Anschließend stellte er sich rücklings vor den Sessel und ließ sich vorsichtig hinabsinken. Seine Oberschenkel zogen, als wollten sie zerreißen. Cluzet presste zunächst die Lippen aufeinander, dann aber entfuhr es ihm doch: »Mist!«, knurrte er leise und ließ sich einfach in die weichen Polster fallen.
Es schmerzte noch mehr, aber es war eben auch schnell vorbei.
Cluzet strich sich über die Oberschenkel und seufzte, als der Schmerz nachließ. Er hatte sich einen kapitalen Muskelkater eingefangen. Eine deutliche Erinnerung, dass er doch nicht mehr der Jüngste war.
Warum hatte er sich gestern auch auf dieses verflixte Wettrennen eingelassen?
Das bevorstehende Radrennen der Frauen rund um den Burgberg Auciel Hautes, den Colline Cotillon, versprach ein aufregendes Wochenende. In allen Hotels der Umgebung, den Pensionen und Gästehäusern waren Radteams aus ganz Frankreich untergekommen. Sogar zwei aus Spanien und Norwegen gaben bei dem kleinen Rennen ihr Stelldichein. Ein Teil des örtlichen Teams hatte im Vieux Moulin Quartier bezogen. Acht Fahrerinnen und die Teamärztin. Übermorgen würden noch die Mechaniker und der sportliche Leiter hinzukommen. Nur der Trainer war in einem Hotel außerhalb untergekommen.
Halb Auciel Haute war wegen des Rennens auf den Beinen. Ob als Streckenposten oder Betreuer für Medien oder Fans und Zuschauer. Oder für die Organisation der Pressekonferenzen oder der Siegerehrung. Oder, wie Cluzet, als lokaler Ansprechpartner, der die Teams begleitete und ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich machte.
Ob ausgerechnet das örtliche Frauenteam tatsächlich einen solchen Begleiter gebraucht hätte, ließ Cluzet mal dahingestellt. Aber es sollte jeder gleich behandelt werden. Cluzet hatte sich mehr oder weniger freiwillig gemeldet, nachdem sowohl der Bürgermeister als auch die Organisatoren deswegen an ihn herangetreten waren. Und seine Verbindung zu Nathalie und dem Vieux Moulin hatte die Entscheidung leicht gemacht, wo er eingesetzt wurde.
Cluzet hatte die jungen Frauen zwischen sechzehn und achtzehn Jahren gestern durch die Stadt geführt. Ihnen Start und Ziel gezeigt. Alle für sie relevanten Stationen. Auch wo sie ihr Fahrerinnenlager während des Rennens haben würden.
Auf dem Rückweg hatte er sich herausfordern lassen. Wer zuerst am Vieux Moulin sein würde. Doch trotz des Vorsprungs, den die jungen Frauen ihm wegen seines Alters und seines alten, roten Klapprads gewährt hatten, hatte er keinerlei Chance gegen die durchtrainierten Fahrerinnen gehabt. Aber es war ein riesiger Spaß gewesen. Allerdings mutmaßte Cluzet inzwischen, dass sie so ausgelassen gelacht hatten, weil sie wussten, was ihm heute Morgen blühen würde.
Cluzet nahm den Kaffeebecher und hielt ihn mit beiden Händen. Der kräuselnde Dampf roch zwar nach Zimt, und der erste Schluck hatte ebenfalls eine feine Note davon. Aber das war nur ein magerer Ersatz für sein Lieblingsfrühstück.
So konnte er den Tag einfach nicht starten!
»Ich warte!«, quengelte Cluzet in Richtung Nathalie, nicht ganz ernst gemeint, als er sich in der Küche des Vieux Moulin aufgebaut hatte. Er hatte sich ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Hose übergestreift und umgehend auf den Weg gemacht.
»Du musst lauter reden«, erwiderte Nathalie durch das Rauschen der Abzugshaube. Sie stand in einer schwarzen Schürze mit der Aufschrift »Auberge Vieux Moulin« am Herd und bereitete in einer gusseisernen Pfanne eine große Menge Rührei zu. Unter der Schürze trug sie eine schwarze Hose und ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Wie immer hatte sie ihre braunen Locken streng, aber praktisch im Nacken zusammengebunden.
Obwohl die Haube auf voller Leistung lief, roch es deutlich nach knusprig gebratenem Schinken.
»Meine Zimtröllchen«, hob Cluzet die Stimme. »Du hast sie noch nie vergessen!«
»Hab ich Alexia gegeben. Sollte sie rüberbringen.« Nathalie verwies auf die Pfanne und anschließend hinter sich auf den alten, kleinen Holztisch, der zwischen Kühlschrank und Fenster gequetscht stand. In einer großen Glasschüssel warteten Obstsalat und in der roten Porzellanschüssel daneben dampfende Spaghetti mit grünem Pesto darauf, die Küche zu verlassen. »Du siehst ja, was hier los ist.«
»Das ist doch Mittagessen«, murmelte Cluzet. Den Hinweis, dass es so gar nicht französisch, geschweige denn normannisch war, unterschlug er.
»Was? Du musst lauter sprechen!«
»Sehr außergewöhnlicher Geschmack am Morgen!«, sagte Cluzet lauter.
»Frag mich nicht. Die Radmädels haben andere Essgewohnheiten. Sie haben sich das gewünscht, und die Ärztin hat es abgesegnet.« Nathalie hob die Pfanne vom Herd und füllte das Rührei in eine weitere rote Schüssel. »Dann kriegen sie das auch.«
Cluzet zog kurz die Mundwinkel nach unten und zuckte mit den Schultern. »Und welche von denen ist Alexia?«
Die Fahrerinnen und er hatten sich bei der Runde durch die Stadt zwar vorgestellt. Aber er hatte sich nicht alle Namen merken können.
Nathalie schaltete die Abzugshaube aus und ließ die Pfanne in die Spüle gleiten. Es zischte, als sie aufs Wasser traf. Dann nahm sie die Schüssel mit dem Rührei und hielt sie Cluzet schmunzelnd hin. »Alexia Poirier. Die, die dich gestern in Grund und Boden gefahren hat.«
Cluzet schürzte kurz die Lippen und nahm ihr die Schüssel ab. »Das war doch nur zum Spaß. Und es war knapp.«
Eigentlich fand er, dass er sich gut geschlagen hatte. Alexia war sechzehn oder siebzehn und er immerhin fast viermal so alt. Außerdem fuhr sie eine Präzisionsmaschine und er nur sein altes Klapprad. Trotzdem war sie ihm nicht völlig davon gerauscht. Er hatte noch sehen können, wie sie in die Einfahrt zum Vieux Moulin eingebogen war. Was er zumindest als Achtungserfolg wertete.
»Glaube ich sofort. Dass sie nur Spaß gemacht hat«, lachte Nathalie. »Ich hab’s gesehen. Sie war nicht mal außer Puste. Und wie geht’s dir heute?«
Cluzet wusste, dass es keinen Grund gab, sich in seiner Ehre verletzt zu fühlen. Trotzdem verschwieg er seinen Muskelkater und überspielte ihn mit einem Lächeln.
Dennoch strich Nathalie ihm tröstend über die Wange und setzte ein mitleidiges Gesicht auf. »Armer, alter GP …«
»Ich möchte noch einmal an meine Zimtröllchen erinnern«, erwiderte Cluzet trocken.
»Du weißt, wer sie hat.« Nathalie schmunzelte und wies durch die Tür zum Gastraum. »Bring den Mädels das Ei, bitte. Baguette steht schon auf dem Tisch. Ich sehe inzwischen nach, ob ich noch Zimtröllchen habe.«
Cluzet nickte und schob sich rückwärts durch die Schwingtür aus dunkelbraunem Holz.
»Und setz ein Lächeln auf, hörst du?«, rief Nathalie ihm hinterher.
Die acht Fahrerinnen und die Teamärztin saßen im Nebenzimmer rund um die eingedeckte Tischinsel, als Cluzet die Schüssel hereintrug. Die Stimmung war gelöst. Die Mädels tuschelten und kicherten in ihren himmelblauen Radtrikots. Einige von ihnen hatten noch nasses Haar, und es roch nach diversen Shampoos. Sie alle warteten offensichtlich auf eine Ansprache der Teamärztin Chloé Joncastel, die aber noch ganz auf das Tablet in ihrer Hand konzentriert war.
Cluzet schätzte die Frau auf Ende dreißig. Sie war attraktiv und trug ihr lockiges, blondes Haar auf Kinnlänge gestutzt. Wenn sie lächelte, zeigten sich feine Grübchen in ihren Wangen, die ein bisschen im Widerspruch zu den ernsten Fältchen über der Nasenwurzel standen.
Cluzet wünschte »Guten Morgen« in die Runde, während er sich zwischen zwei der Fahrerinnen schob und die Schüssel auf den Tisch stellte. Die jungen Frauen bedienten sich sofort.
Er sah sich unter den Fahrerinnen um, bis er Alexia Poirier erkannte, die ihn fröhlich anstrahlte. Sie hatte ein Muttermal auf der Wange und ihre glatten, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Doch bevor Cluzet etwas sagen konnte, ergriff auch schon Madame Joncastel das Wort: »Ich weiß nicht, wo euer Trainer bleibt. Eigentlich wollten wir das hier zusammen machen. Habt ihr schon über die Trainingseinheit heute gesprochen?«
»Nein, er ist gestern ziemlich schnell ins Hotel abgerauscht«, antwortete eine der jungen Frauen.
Cluzet trat dezent vom Tisch zurück, während Nathalie die Schüssel mit den Spaghetti brachte und wieder Richtung Küche verschwand.
»Na gut …« Madame Joncastel sah wieder auf das Tablet. »Ich habe vorhin die Laborwerte bekommen. Es sieht alles gut aus, ich bin sehr zufrieden. Trotzdem würde ich euch bitten, es heute ganz ruhig anzugehen. Haltet die Muskulatur in Bewegung, aber fordert euch nicht zu sehr.« Joncastel wischte einige Male über das Tablet. »Nur bei zwei Sachen muss ich kurz nachhaken. Lisa, bei dir hab ich eine Abweichung bei deinen Eisenwerten. Hast du gerade deine Peri…«
»Können wir das nachher besprechen?«, unterbrach besagte Lisa sie. Die junge Frau, die direkt vor Cluzet saß, nickte in seine Richtung.
Sie hatte welliges, rotes Haar, das ihr locker über die Schulter fiel. Am Vortag, als Cluzet die jungen Frauen durch Auciel Haute geführt hatte, war sie am wenigsten zugänglich gewesen. Sie hatte durchweg hochkonzentriert gewirkt. Jede Form der Ablenkung schien sie schlicht nicht zu interessieren.
Madame Joncastel sah kurz vom Tablet auf und bemerkte Cluzet anscheinend erst jetzt. »Oh! Natürlich. Komm nachher einfach zu mir aufs Zimmer.« Dann wandte sie sich Alexia zu. »Die Nierenwerte. Mal wieder. Hast du ausreichend getrunken?«
»Wie immer«, antwortete Alexia.
»Nicht ganz«, schob eine weitere der jungen Frauen dazwischen.
»Mara?«, hakte Madame Joncastel nach.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht verpetzen«, sagte Mara an Alexia gerichtet. »Aber deine Wasserflasche steht noch unberührt auf dem Nachttisch.«
Alexia machte ein überraschtes Gesicht. »Mist! Ich weiß, wir haben darüber gesprochen. Täglich mindestens einen halben Liter mehr.«
Madame Joncastel beschwichtigte sie mit einer Geste und zeigte wieder ihre Grübchen. »Gib einfach darauf acht.« Anschließend sah sie wieder zu Cluzet auf. »Monsieur, Sie lauschen uns so aufmerksam. Können wir etwas für Sie tun?«
»Sie nicht«, antwortete Cluzet. Dann deutete er auf Alexia. »Du schon. Du weißt, wovon ich rede?«
Alexia strahlte ihn an. »Mein Preisgeld?«
»Welches Preisgeld?«
»Wir hatten gestern um die Zimtröllchen gewettet!«
Cluzet stutzte. Er konnte sich nicht daran erinnern.
»Die waren sooo lecker!«, schwärmte Alexia und schob einen gedehnten Seufzer hinterher.
Cluzet wollte nicht, aber er musste lachen. Wirklich geärgert hatte er sich sowieso nicht. Abgesehen davon, wie hätte er ihr oder einer der anderen am Tisch ernsthaft böse sein können?
Als Kommissar in Paris hatte er es meist nur mit Jugendlichen zu tun gehabt, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Nicht wenige von ihnen waren das Produkt mangelnder Chancen im Leben gewesen. Beinahe alle hatte er in Projekten untergebracht, die ihnen eine Ausbildung vermittelt hatten oder auf andere Weise die Chancenungleichheit behoben. Trotzdem hatte es ihn nicht selten an den Rand der Verzweiflung gebracht zu sehen, wie leicht sie auf die schiefe Bahn gerieten.
Es erfreute ihn, diese zielstrebigen, jungen Frauen zu beobachten.
»Alexia, stimmt das?«, hakte Madame Joncastel ernst nach. »Oder hast du dir die Röllchen angeeignet?«
»Wettschulden sind Ehrenschulden«, wollte Cluzet die Situation entschärfen und zwinkerte Alexia unauffällig zu.
Doch Letzteres entging Madame Joncastel nicht. Sie stand auf und wies Cluzet in den Gastraum. »Monsieur Cluzet, kann ich Sie kurz sprechen?«
Die Tische im Gastraum waren leer. Madame Joncastel sah sich dennoch einen Moment um, bevor sie sich für den Tisch direkt am Eingang neben dem alten Pult mit dem Gästebuch entschied und Cluzet dorthin führte.
»Monsieur, Sie dürfen nicht so nachsichtig mit ihnen sein. Wir versuchen, sie nicht nur in sportlicher Hinsicht zu fördern, sondern auch in menschlicher. Die Mädchen müssen Vorbild sein.«
Madame Joncastel rutschte auf die dunkle Holzbank und legte das Tablet vor sich ab. »Sie könnten alle eine sehr erfolgreiche Zukunft als Athletinnen vor sich haben. Deswegen ist es wichtig, ihnen auch Disziplin und sportliches Verhalten beizubringen. Andere werden vielleicht mal zu ihnen aufschauen.«
Cluzet versuchte, Madame Joncastels Miene zu entschlüsseln, während er sich ihr gegenüber auf die Bank setzte. In ihrem Blick lag echte Sorge. Aber da war noch etwas, das er nicht recht deuten konnte. Etwas, das über Sorge hinausging. »Lastet da nicht ein bisschen viel Verantwortung auf diesen jungen Schultern?«
Er konnte es einfach nicht lassen. Als Kommissar hatte er gelernt, immer nachzustochern, wenn ihm etwas fragwürdig erschien. Es war beinahe ein Reflex geworden, den er offensichtlich noch immer nicht überwunden hatte.
Madame Joncastel atmete tief ein, stieß die Luft wieder aus und zeigte ihre Grübchen. »Um ehrlich zu sein: Ich habe nur gesagt, was ihr Trainer sagen würde.«
»Und was würden Sie sagen?«
»Na ja, ich vertrete ihn gerade. Übrigens …« Sie sah auf die Smartwatch an ihrem Handgelenk. »Er sollte längst hier sein.«
»Ich nehme also an, Sie wären nicht so streng mit ihnen?«, ließ Cluzet nicht locker.
Madame Joncastel setzte an, etwas zu sagen, unterbrach sich aber, als Nathalie mit dem Obstsalat aus der Küche kam. Nathalie ging weiter in das Nebenzimmer, aus dem lautes Gelächter und das Klirren von Besteck drang.
»Ich bin keine Trainerin. Ich bin in erster Linie für das leibliche Wohlergehen der Mädchen zuständig. Und manchmal bin ich für sie auch so was wie eine Psychologin. Zum Glück habe ich keine eigenen Kinder. Sonst wäre mir das vielleicht zu viel. Ich denke, er packt sie gelegentlich zu hart an. Aber das ist wohl der Preis, wenn man Profi werden will.« Sie sandte einen mitfühlenden Blick Richtung Nebenzimmer. »Immerhin: Der Erfolg gibt dem Trainer recht.«
»Tut er das?«
»Haben Sie es noch nicht gehört? Oscar Onnesseur hat sich für den Nachmittag angekündigt. Er hält eine Pressekonferenz im Rathaus. Und das Team ist eingeladen.«
»Oscar Onnesseur?«, offenbarte Cluzet seine Unwissenheit.
Anders als einige Franzosen war er kein Radsportverrückter. Aber er war interessiert genug, um Rennen wie die Tour de France am Bildschirm zu verfolgen. Auch die eine oder andere Zieldurchfahrt in Paris hatte er an der Strecke miterlebt.
Als Kind hatte er sich kurzzeitig für Eddy Merckx begeistern können. Das war 1969, als für Merckx eine Welle der Bewunderung durchs Land ging, gleichzeitig aber auch das Gefühl einer nationalen Tragödie. Ein Belgier und kein Franzose hatte die Tour gewonnen. Dazu hatte er alle damit verbundenen Titel eingeheimst.
Später dann, als Cluzet nach Paris übergesiedelt war, war die Stadt tagelang aus dem Häuschen gewesen, weil ein Franzose, Bernard Hinault, im gelben Trikot über die Ziellinie gefahren war.
Seinen letzten Sieg 1985 allerdings hatte Cluzet verpasst. An dem Tag hatte er seine Frau Bérénice in einem Café kennengelernt und sofort gewusst, dass nichts auf der Welt so wichtig sein konnte, wie den Namen dieser Frau zu erfahren.
»Monsieur Onnesseur ist der Besitzer von Union-PJ.«
Cluzet hob das Kinn. Madame Joncastel musterte ihn, als würde sie eine Reaktion erwarten. Dann aber schien sie zu realisieren, dass er auch nicht wusste, wer oder was Union-PJ war.
»Entschuldigung!«, lächelte sie. »Wenn man zu lange in dieser Welt ist, meint man immer, jeder andere müsse sich auch auskennen. Union-PJ ist sein Radteam. Er hat vor einigen Jahren ein unbekanntes Juniorenteam gekauft und es über die Zeit in die Weltspitze geführt. Es spricht alles dafür, dass er mit unserem Team Ähnliches vorhat.«
Cluzet hob erstaunt die Augenbrauen und deutete zum Nebenzimmer. »Sind sie so gut?«
»Was dachten Sie denn?«
»Na ja«, wiegelte Cluzet ab, »es ist Auciel Haute. Man vermutet so was nicht gleich vor der Haustür.«
»Onnesseur besitzt bereits ein Damenteam. Aber ihm fehlt der Nachwuchs. Die Mädchen könnten erstklassige Helferinnen für seine Spitzenfahrerinnen werden. Dazu ist Alexia eine ausgezeichnete Sprinterin. Und Lisa bringt alle Voraussetzungen mit, um eine Rundfahrtspezialistin zu werden. Sie ist mit einem unglaublichen Talent gesegnet.« Ihre Stimme war voller Bewunderung. Dann zeigte sie ihre Grübchen. »Sie könnte vor dem Sprung in Onnesseurs Profiteam stehen. Es gibt vielversprechende Hinweise.«
»So?« Cluzet realisierte immer mehr, dass die jungen Frauen nicht nur ein Freizeitteam waren. Sie hatten sich am Vortag fröhlich und unbeschwert gegeben. Aber Cluzet begriff, wie minutiös alles um sie herum geplant war.
»Ihr Trainer war früher als Scout für Onnesseur unterwegs«, sagte Madame Joncastel und sah erneut auf ihre Smartwatch. »Ich verstehe das nicht. Er ist nie zu spät. Da ist er immer sehr penibel. Entschuldigen Sie mich kurz?« Ohne seine Antwort abzuwarten, holte sie ihr Smartphone aus der Tasche, stand auf und verließ den Gastraum in Richtung Flur.
Cluzet blickte wieder zum Nebenzimmer. Auch ohne die Fahrerinnen sehen zu können, konnte er hören, wie die Stimmung umgeschlagen war. Inzwischen ging es gereizter zu, und Besteck landete klirrend auf Tellern. Gleich darauf kamen sie, angeführt von Lisa, aus dem Nebenzimmer und marschierten an Cluzet vorbei zum Ausgang.
Alexia folgte ihnen als Nachzüglerin und schob sich noch etwas mit Rührei belegtes Baguette in den Mund.
»Alles in Ordnung?« Cluzet streckte seinen Arm nach ihr aus.
Alexia rollte mit den Augen und sprach mit vollem Mund: »Lisa treibt uns wieder mal alle an.«
»Alles für den Erfolg«, sagte Cluzet aufmunternd.
»Ihren Erfolg«, erwiderte Alexia und eilte den anderen hinterher. Das Metall ihrer Schuhplatten klackerte auf dem Steinboden.
Kaum hatte sie den Gastraum verlassen, kehrte Madame Joncastel zurück. Nachdenklich wischte sie auf dem Smartphone herum, als suchte sie etwas. »Ich erreiche ihn nicht. Das ist wirklich sehr ungewöhnlich.« Sie trat zu Cluzet an den Tisch und nahm ihr Tablet wieder an sich. »Die Mädchen fahren zu ihm. Ich sollte dabei sein.« Sie lächelte Cluzet zu. Von ihren Grübchen keine Spur.
»Sie sind besorgt«, interpretierte Cluzet das.
»Der Trainer hasst es, wenn die Mädchen vom Plan abweichen. Er kann dann sehr aufbrausend werden.« Madame Joncastel strich sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. »Ich wäre froh, wenn ich etwas Unterstützung hätte.«
»Soll ich Sie begleiten?«, fragte Cluzet.
»Würden Sie?«, antwortete sie überlegend. »Es wäre sicher kein Fehler, Sie in der Nähe zu wissen. Dann könnte ich Sie zur Not rufen.«