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Eine neue Zeit. Eine neue Mission. Ein neuer Held: Erleben Sie die Geburt einer neuen Legende! COTTON RELOADED ist das Remake der erfolgreichen Kultserie "Jerry Cotton".
Drei spannende Thriller in einem Band:
Linda Budinger: 40: Ein schmutziges Nest: Harper’s Hill ist eine typische Südstaaten Kleinstadt, in der die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Doch dann erschüttert eine Reihe rätselhafter Selbstmorde die Gemeinde. Getarnt als Ehepaar, sollen die Special Agents Jeremiah Cotton und Philippa Decker in der Stadt ermitteln. Aber in Harper‘s Hill herrscht ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich scheinbar jeder hält: Frag nie nach der Vergangenheit! Und wer gegen dieses Gesetz verstößt, begeht einen tödlichen Fehler ...
Nadina Buranasena: 41: Heißes Pflaster Hawaii: Ein Luxushotel im Urlaubsparadies Hawaii: Plötzlich fallen Schüsse, mehrere Männer bezahlen mit dem Leben, der Täter entkommt unerkannt. Zunächst. Denn die Auswertung der Bilder aus den Überwachungskameras versetzt die Polizei in höchste Alarmbereitschaft. Bei dem Schützen handelt es sich um Vincent van Dijk - auch genannt "The Mad Dutchman".
Die FBI-Agents Jeremiah Cotton und Philippa Decker vom G-Team kämpfen in der Hitze Hawaiis nicht nur gegen ein mörderisches Kartell, sondern auch gegen vollkommen unerwartete Naturgewalten ...
Peter Mennigen: 41: Buthochzeit:
Special Agent Jeremiah Cotton vom G-Team freut sich auf seinen wohlverdienten Urlaub, als ihn seine Kollegin Philippa Decker um einen Gefallen der etwas anderen Art bittet. Er soll sie als ihr "Verlobter" zur Hochzeit der Schwester begleiten. Doch dann taucht die Leiche eines Mädchens auf und wirft einen blutigen Schatten auf die Hochzeit ...
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Seitenzahl: 424
Cover
Was ist COTTON RELOADED?
Über dieses Buch
Die Autoren
Impressum
Cotton Reloaded 40 – Ein schmutziges Nest
Cotton Reloaded 41 – Heißes Pflaster Hawaii
Cotton Reloaded 42 – Bluthochzeit
Dein Name ist Jeremiah Cotton. Du bist ein kleiner Cop beim NYPD, ein Rookie, den niemand ernst nimmt. Aber du willst mehr. Denn du hast eine Rechnung mit der Welt offen. Und wehe, dich nennt jemand »Jerry«.
Eine neue Zeit. Ein neuer Held. Eine neue Mission. Erleben Sie die Geburt einer digitalen Kultserie: COTTON RELOADED ist das Remake von JERRY COTTON, der erfolgreichsten deutschen Romanserie, und erzählt als E-Book-Reihe eine völlig neue Geschichte.
Dieser Sammelband enthält die Folge 40 -42 von COTTON RELOADED.
Drei spannende Thriller in einem Band:
Ein schmutziges Nest: Harper’s Hill ist eine typische Südstaaten Kleinstadt, in der die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Doch dann erschüttert eine Reihe rätselhafter Selbstmorde die Gemeinde. Getarnt als Ehepaar, sollen die Special Agents Jeremiah Cotton und Philippa Decker in der Stadt ermitteln. Aber in Harper’s Hill herrscht ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich scheinbar jeder hält: Frag nie nach der Vergangenheit! Und wer gegen dieses Gesetz verstößt, begeht einen tödlichen Fehler …
Heißes Pflaster Hawaii: Ein Luxushotel im Urlaubsparadies Hawaii: Plötzlich fallen Schüsse, mehrere Männer bezahlen mit dem Leben, der Täter entkommt unerkannt. Zunächst. Denn die Auswertung der Bilder aus den Überwachungskameras versetzt die Polizei in höchste Alarmbereitschaft. Bei dem Schützen handelt es sich um Vincent van Dijk – auch genannt »The Mad Dutchman«.
Die FBI-Agents Jeremiah Cotton und Philippa Decker vom G-Team kämpfen in der Hitze Hawaiis nicht nur gegen ein mörderisches Kartell, sondern auch gegen vollkommen unerwartete Naturgewalten …
Buthochzeit: Special Agent Jeremiah Cotton vom G-Team freut sich auf seinen wohlverdienten Urlaub, als ihn seine Kollegin Philippa Decker um einen Gefallen der etwas anderen Art bittet. Er soll sie als ihr »Verlobter« zur Hochzeit der Schwester begleiten. Doch dann taucht die Leiche eines Mädchens auf und wirft einen blutigen Schatten auf die Hochzeit …
Linda Budinger ist freie Autorin und Übersetzerin. Sie schreibt seit mehr als 20 Jahren Romane und Kurzgeschichten, vor allem im Bereich Fantasy und Phantastik. Mehrfach wurden Geschichten von ihr für den Deutschen Phantastik Preis nominiert. Bekannt wurde sie durch Veröffentlichungen für das Rollenspiel »Das Schwarze Auge« und als Mitautorin der Bastei-Romanreihe »Schattenreich«.
Nadine Buranaseda, Jahrgang 1976, ist gebürtige Kölnerin mit thailändischen Wurzeln väterlicherseits und lebt in Bonn. Sie studierte Deutsch und Philosophie und wurde im Hörsaal entdeckt: Für einen ihrer letzten Scheine, den sie für die Anmeldung zum Ersten Staatsexamen benötigte, durfte sie statt einer analytischen Arbeit einen Kurzkrimi schreiben, den ihr Professor einem Verlag vorgelegt hat. Mit »Seelengrab« erschien 2010 ihr erster Bonn-Krimi. 2011 gehörte sie zu den vier Stipendiaten des Tatort-Töwerland-Krimistipendiums. Im Herbst 2012 erschien die Fortsetzung ihres Debüts »Seelenschrei« um die Ermittler Lutz Hirschfeld und Peter Kirchhoff.
Peter Mennigen wuchs in Meckenheim bei Bonn auf. Er studierte in Köln Kunst und Design, bevor er sich der Schriftstellerei widmete. Seine Bücher wurden bei Bastei Lübbe, Rowohlt, Ravensburger und vielen anderen Verlagen veröffentlicht. Neben erfolgreichen Büchern, Hörspielen und Scripts für Graphic Novels schreibt er auch Drehbücher für Fernsehshows und TV-Serien.
BASTEI ENTERTAINMENT
Digitale Originalausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Projektmanagement: Esther Madaler
Covergestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung von Motiven von© shutterstock: DmitryPrudnichenko | Pavel K | costix | Sergio Stakhnyk | d1sk | Real Illusion
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4427-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Ein schmutziges Nest
Linda Budinger
Donnerstag, 14. Januar,Ein Wald bei Harper’s Hill, North Carolina
Die Schlinge zog sich um Janets Kehle zu. Janet brachte nur ein ersticktes Keuchen hervor. Flüssiges Eis sprudelte über sie hinweg, riss ihr die Brille aus dem Gesicht. Ihr Atem stockte, aber ihr Herz raste dagegen an. Janet versuchte verzweifelt, die Finger zwischen den Strick und ihre Haut zu schieben. Nur ein winziges Stück! Bloß noch einen Atemzug. Sie tastete höher, um den Knoten zu lösen. Doch der Knoten saß zu fest.
Panik schnürte ihre Brust ein. Der Little Creek peitschte Janet mal in die eine, mal in die andere Richtung. Wasser drang in Augen, Ohren und den Mund, der vergeblich nach Luft schnappte. Das Leben war plötzlich unendlich kostbar und jede Mühe wert!
Weil das Ende des Stricks nicht mittig, sondern am Ufer befestigt war, bekam Janet einen Linksdrall. Unter ihr brodelte der Kessel des Wildbachs. Sie musste die Schlinge loswerden.
Janet nutzte den Schwung des Wassers, das sie wie ein wütender Riese durchschüttelte, und kämpfte sich zu einer Felsnase vor. Ihr Arm passte knapp herum. Es genügte, um das Genick ein wenig von dem gnadenlosen Zug zu entlasten. Aber die Schlinge hatte sich tief in das Gewebe gegraben und gab nicht nach.
Jetzt schien die verbrauchte Luft Janets Brustkorb zu sprengen. Ihr Herzmuskel pumpte und pumpte im verzweifelten Bemühen, Sauerstoff in ihr Gehirn zu transportieren. Die Atemnot machte Janet wahnsinnig. Sie presste die Finger in die Kehle, ignorierte den Schmerz. Die Muskeln ballten sich zusammen und wurden zu Strängen aus Stacheldraht, die sie von innen aufrieben. Ein Krampf schüttelte sie. Janet verlor den Halt an dem glitschigen Felsen und sackte tiefer.
Irgendwo in der Dunkelheit, die sich um sie schloss, blitzten Lichter auf. Janet spürte keinen Schmerz, bloß Kälte, und das Wasser riss die letzten Sekunden ihres Lebens hinweg.
*
»Wir stecken fest. Sind Sie nun zufrieden, Cotton?«
Special Agent Philippa Decker klappte das Handschuhfach des Ford Explorers heftig zu und prüfte die Taschenlampe.
»Denken Sie wirklich, wir brauchen Licht?«, fragte Cotton. »Ist ja nicht mal richtig dunkel.«
»Das ist keine Straße, sondern ein Waldweg!«
»Nichts, mit dem der Wagen nicht fertigwerden würde.«
»Sie meinen der Fahrer!«, bemerkte Decker. »Seien Sie vorsichtig, sonst müssen wir hinterher wieder ein totes Streifenhörnchen aus dem Radkasten ziehen.«
Grummelnd schaltete Cotton die Scheinwerfer ein. Dann wendete er den Mietwagen und planierte dabei großzügig den mit welkem Adlerfarn bewachsenen Randstreifen.
»Ich glaube, der Weg führt zur alten Mine«, sagte Decker. »Es muss einige Wirtschaftswege geben, obwohl Harper’s Gold längst aufgegeben wurde.«
»Das wäre nicht passiert, wenn Harper’s Hill im Navi gespeichert wäre.«
»Es wäre nicht passiert, wenn wir hinter dem Möbelwagen geblieben wären«, widersprach Decker. »Geben Sie schon zu, dass Sie sich verfahren haben, Cotton.«
»Sie können gerne das Steuer übernehmen.«
»Danke für Ihr großzügiges Angebot. Ich werde jetzt erst mal prüfen, ob die Datenbank auf dem Pad hier voll funktionsfähig …« Decker brach ab. »Halten Sie mal an!«
Cotton trat auf die Bremse. Der Wagen rutschte leicht über den unbefestigten Weg. Die kahlen Laubbäume ringsum schirmten das Licht ab, aber auf der Anhöhe gegenüber glänzte noch die letzte Abendsonne.
Dort bot sich etwa hundert Yards entfernt der spektakuläre Anblick eines kleinen Wasserfalls.
»Möchten Sie Gold waschen?«, fragte Cotton ungnädig. Er wollte gerne vor dem Umzugswagen in Harper’s Hill sein.
»Ich dachte, ich hätte da etwas gesehen!«, murmelte Decker. »Zweimal.«
»Vielleicht ein Hirsch!« Cotton ließ den Blick schweifen. Dabei erregte etwas seine Aufmerksamkeit, das sich gleichmäßig in der Strömung bewegte. Klemmte da ein Baumstamm an der Kante der Klippe? »Sehen Sie das Blinken?«
Die Sonne fing sich in einem Stück Glas. Und was da im Wasser hing, war ganz sicher kein Baumstamm!
*
Cotton sprang aus dem Wagen und setzte über den Bach. Sekunden entschieden hier über Leben und Tod. Aber der Weg durch das wilde Terrain auf die Klippe kostete Zeit.
Das Seil an der Ulme war eben lang genug, um den Körper über den Rand des Wasserfalls zu bringen. Haltlos schwang der Schädel der Frau im peitschenden Wasser von einer Seite zur nächsten. Vielleicht war das Opfer nur bewusstlos.
Gerade war Decker noch bei ihm gewesen, aber jetzt sah er sie nicht mehr. Im Bach spürte Cotton den Sog des Wildwassers. Die groben Kiesel unter seinen Schuhsohlen glitten weg, obwohl er das Seil als Sicherung nutzte. Schließlich hakte Cotton die Wade hinter einen Felsbrocken und stemmte den anderen Fuß gegen einen Stein. Er fasste den baumelnden Körper unter den Achseln und zog ihn hoch. Das Gewicht hebelte ihm fast die Schultergelenke aus.
Er hatte die junge Frau eben ans Ufer gebracht und die Schlinge gelockert, als auch Decker eintraf. Sie maß den Puls der Frau und begann mit einer Herzdruckmassage.
Cottons Zähne klapperten. Er joggte auf der Stelle und ballte hilflos die Fäuste. Die Chancen, dass sie noch lebte, waren verschwindend gering. Sie hatte sich mit einem orangefarbenen, groben Kunststoffseil erhängt. Ein Strick ohne fachgerechten Henkersknoten verursachte immense Quetschungen. Gewebeschäden an Adern und Kehle verschwanden nicht einfach, wenn der Druck nachließ. Das hatte schon viele reuige Selbstmörder ins Verderben gerissen.
»Ich löse Sie ab!«, bot Cotton an, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. Decker stoppte die Wiederbelebungsversuche, schüttelte aber den Kopf. Der Kiefer der jungen Frau war schlaff und die Gesichtshaut purpurn verfärbt. Das Opfer war vermutlich längst erstickt.
»Ich rufe Sheriff Small an!«, sagte Cotton, den Geschmack des Versagens auf der Zunge. Er war tropfnass, und die Kälte kroch ihm in die Knochen. »Wo waren Sie eigentlich gerade? Angst, sich die Füße schmutzig zu machen?«
Decker zog die Augenbrauen zusammen und wandte sich ab.
Cotton wusste, dass sie genauso frustriert war. Kein Grund, seinen Unmut an ihr auszulassen.
Er entschuldigte sich und tippte auf die eingespeicherte Kurzwahlnummer des Sheriffs.
»Ein Stück weiter habe ich einen Fotoapparat gefunden«, erklärte Decker danach. »Vielleicht gehört er der Frau. Und ich könnte schwören, da war noch jemand, aber …« Sie brach ab und strich sich über die Stirn.
»Ja?«, wollte Cotton wissen.
»Nichts.« Decker winkte ab. »Was für ein Empfang!«
»Willkommen in Murderer’s Hill«, sagte Cotton.
Wären sie nur fünf Minuten schneller gewesen! Er schob die Selbstvorwürfe zur Seite und hüstelte. Das würde jetzt heikel werden. »Wir sollten uns langsam mal beim Vornamen nennen«, meinte er. »Philippa.«
Sie machte große Augen, dann nickte sie knapp. Ein ironisches Lächeln löste ihre angespannten Züge. »In Ordnung, Jeremiah …«
*
Decker und Cotton blieben vor Ort, bis Sheriff Small mit dem Coroner eintraf. Er hatte ein Spurensicherungs-Kit dabei. Die Leiche würde später in die nächste größere Stadt geschickt werden. Harper’s Hill besaß keine Gerichtsmedizin.
Small nickte ihnen zu. Ein breiter Hut überschattete sein Gesicht. »Sie müssen die Chaplins sein, nicht wahr? Sie sind ja richtige Glückspilze. Ich meine, direkt am ersten Tag in so eine Geschichte zu stolpern.« Er sah sich unbehaglich um. »Das ist Lou Greenstein. Viel zu tun für sie in letzter Zeit.«
Die Leichenbeschauerin trug eine dicke Kapuzenjacke. Sie hob grüßend die behandschuhte Rechte, als sie ihren Namen hörte. »Nun mach den beiden keine Angst, Mike. Harper’s Hill ist ein wunderbarer Ort, um eine Familie zu gründen.«
Cotton senkte die Stimme, damit nur Sheriff Small die Worte verstand. »Hab gehört, seit ein paar Wochen liegt hier etwas im Argen.«
Der Sheriff nickte leidgeprüft. »Vielleicht liegt es an der Jahreszeit, Mr Chaplin. Aber haben Sie keine Sorge. In meiner Stadt sind Sie sicher.«
»Sehen Sie, Mr Small …« Decker nahm den Sheriff zur Seite. Während Cotton zu Lou Greenstein trat, hörte er irgendetwas über einen Fingernagel. Er blockierte die Sicht auf Decker und Small. Cotton musste Greenstein ablenken, solange Decker und der Sheriff über ermittlungstechnische Details redeten. Außer Small kannte keiner in Harper’s Hill ihre wahre Identität, und das sollte auch so bleiben. Und auch Small kannte nur die halbe Wahrheit.
Cotton zwang sich, noch einmal zu der Toten zu schauen. Sie war jung, schlank. So weit man das bei dem aufgedunsenen Gesicht sagen konnte, ähnelte sie der Schauspielerin Halle Berry. Warum warf man so ein Leben weg?
»Es ist hoffentlich kein Problem, dass ich die Ärmste rausgezogen habe! Ich wollte nur helfen«, meinte er zum Coroner. »Meine Frau ist ganz durcheinander. Sie hat jetzt Angst, wir könnten in etwas verwickelt werden. Kein toller Start in der neuen Heimat.« Er verschränkte frierend die Arme vor der Brust. Seine Jacke war im Wagen geblieben.
»Ich bin Bestatterin und, wenn Sie den flachen Witz entschuldigen, ich kann schweigen wie ein Grab«, versprach Lou Greenstein. »Über Berufliches würde ich ohnehin nicht reden.«
»Was können Sie mir denn sagen?«
Greenstein lachte trocken. »Ich glaube, eine autoerotische Komponente können wir ausschließen.«
Cotton nickte unbewusst. Mitte Januar lag die Temperatur auf dem Piedmont Plateau nur wenig oberhalb des Gefrierpunkts. Die Tote war vollständig bekleidet, inklusive Stiefel. Eine Manipulation zur Steigerung der Lust war tatsächlich sehr unwahrscheinlich.
Die Brille der Frau hatte sich an ihrer Jacke verfangen, also hatte sie die vermutlich getragen. Es juckte Cotton in den Fingern, die Kamera zu untersuchen, von der Decker gesprochen hatte. Aber das musste er dem Sheriff überlassen.
Lou Greenstein stand auf. »Ich bin hier fertig.«
»Kennen Sie die Frau eigentlich?«, fragte Cotton und musste seine Neugier nicht einmal vortäuschen.
»Harper’s Hill ist klein, aber nicht so klein, Mr …«
»Chaplin.« Cotton fischte eine durchweichte Visitenkarte aus der Hemdtasche.
»Jeremiah Chaplin, Cyberedge«, las die Leichenbeschauerin vor.
»Philippa und ich entwickeln Software. Wir haben uns bei der Arbeit kennengelernt …« Immer nah an der Wahrheit bleiben, das war sein Grundsatz bei verdeckten Einsätzen.
»Aus New York! Ein weiter Weg.«
»Tja, dank ständig schneller werdender Datennetze müssen wir nicht im Büro anwesend sein. Wir machen einen Neuanfang, Mrs Greenstein.«
»Nennen Sie mich Lou, und lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben!« Sie zog resolut ihre Latex-Handschuhe aus. Der schnappende Laut hatte etwas zutiefst Abstoßendes. »Harper’s Hill ist stolz auf seine Vergangenheit. Die Mine, aufrechte Bergleute aus Cornwall, Gold. Aber das ist lange vorbei, und wir leben in der Gegenwart! Wundern Sie sich nicht, wenn die Menschen hier ein bisschen zugeknöpft sind.«
»Danke!«, sagte Cotton.
Wer warst du, Lou Greenstein?, überlegte er. Wer bist du früher einmal gewesen?
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich denke, ich habe die Frau in den letzten Wochen einige Male gesehen, kann sie aber nicht einordnen. Wahrscheinlich wohnt sie noch nicht lange in Harper’s Hill.«
*
»Immer muss ich den Sitz nach hinten verstellen, weil Sie so am Lenkrad kleben, Cotton.« Decker sortierte ihre langen Beine, die in einer rehbraunen Cordhose steckten, und schaltete die Sitzheizung ein.
Cotton schluckte den Tadel und rutschte tiefer in den Beifahrersitz. So viel zum Thema Vorname.
Dabei sah Decker in der legeren Freizeitkleidung zugänglicher aus als sonst. Ihre eleganten Hosenanzüge, die sie gewöhnlich im Dienst trug, waren eine Art Uniform.
Cotton als ehemaliger Cop kannte die Macht einer Uniform. Dienstkleidung schützte und verlieh Autorität. Sie bildete eine Barriere zwischen dem Ich und den schrecklichen Dingen, denen man als Polizist täglich ausgesetzt war. Aber irgendwann musste man sie wieder ausziehen …
Cotton hatte gelernt, die Welt an sich heranzulassen. Näher, als es vielleicht gesund war. Genau das half ihm, seinen Instinkt wachzuhalten und jedem Opfer auf einer persönlichen Ebene zu begegnen.
Die Heizung im Ford lief inzwischen auf vollen Touren. Cotton hatte eine trockene Hose und ein Holzfällerhemd aus seiner Reisetasche angezogen. Trotzdem fror er. Sein Nacken war verspannt von der langen Fahrt. Er freute sich auf einen informellen Abend vor dem Kamin und ein Glas Whisky, um den Tag abzuschütteln. Auf den Fotos hatte das Haus sehr gemütlich ausgesehen.
Doch ehe sie zurück auf die Straße gelangten, brachte Decker den Wagen erneut zum Stehen.
Cotton sah alarmiert auf.
»Der Sheriff meinte, man hätte Preston, eines der vorherigen Opfer, nicht weit von hier gefunden«, erläuterte sie. »Ich würde mir die Stelle gerne ansehen, ehe es zu dunkel für alles ist …«
»Sie meinen den Journalisten. Marcus Preston?«
Decker nickte. »Genau. Opfer Nummer zwei.«
Sie verließen den Wagen und folgten einige Hundert Yards dem Auf und Ab der Hügel. Cottons nasse Schuhe hingen wie Eisklumpen an seinen Beinen. Die Appalachen bewahrten das Plateau vor allzu rauem Wetter, aber an manchen Stellen der Laubdecke lag verharschter Schnee. Beim Marsch durch den winterlich kahlen Wald gelang es Cotton schließlich, das Bild der erhängten Frau aus dem Kopf zu bekommen. Jetzt musste er sich auf den neuen Tatort konzentrieren. Und wie aufs Stichwort nahm Decker an einem Steilhang die Notizen auf ihrem Pad zur Hilfe.
Cotton leuchtete mit seiner Taschenlampe den Fuß der Schlucht aus. Einige vergessene Markierungsfähnchen zeigten, dass sie den richtigen Ort gefunden hatten.
»Hier wurde vor vier Tagen die zerschmetterte Leiche von Marcus Preston entdeckt«, berichtete Decker. »Wie es aussah, war er bereits seit Wochen tot. Aufgrund der kühlen Witterung war die Leiche recht gut erhalten.«
»Wurde er eindeutig identifiziert?«, fragte Cotton.
Decker wischte weiter. »Anhand von Führerschein und zahnärztlichen Befund. Man fand auf der Klippe seinen Laptop mit einem Abschiedsbrief, datiert auf den 27. Dezember. Die Blutprobe war sauber. Niemand wusste, wieso Preston sich in Harper’s Hill aufgehalten hat. Er war ein Geheimniskrämer, der dann und wann mit einer Story bei einer Zeitschrift auftauchte. Man entdeckte auf dem Laptop auch einen angefangenen Artikel zu Serienmörder-Pärchen.«
»Wie romantisch«, murmelte Cotton.
Aber Decker war noch nicht fertig. »Doch Preston hatte sich auf Enthüllungsstorys über Politiker spezialisiert.«
»Na bitte, da liegt die Verbindung. Prestons Auftauchen hat die Verantwortlichen von Harper’s Hill ordentlich aufgeschreckt. Die haben Angst, dass ihnen ihr schönes Experiment so richtig um die Ohren fliegt, wenn die Öffentlichkeit Wind davon bekommt. Wenn da nicht mal einer der Verantwortlichen selbst Hand angelegt hat, um den unbequemen Schnüffler loszuwerden.«
Decker nahm den Köder nicht an. Sie hob nur spöttisch die Mundwinkel. »Cotton, wenn Sie die Vorbesprechung mit Mr High nicht geschwänzt hätten, wüssten Sie …«
»Sie wissen genau, dass ich mit Grippe im Bett gelegen habe«, verteidigte sich Cotton.
»Mit Grippe oder einer Ihrer Freundinnen?«, fragte Decker herausfordernd, bevor sie mit ihrer Erklärung fortfuhr.
»Jedenfalls wüssten Sie dann, dass auch Mr High in die Durchführung dieses ganzen Projekts involviert war. Aber Sie haben recht: Tatsächlich könnten einige Stühle in Washington wackeln, wenn solche Interna an die Öffentlichkeit dringen. Vor allem aber muss ich Ihnen ja nicht erst erklären, was in der Stadt los ist, sobald die Wahrheit herauskommt.«
»Dieses ganze Experiment lässt auf einen riesigen Mangel an Realitätssinn schließen, wenn Sie mich fragen.«
»Sie glauben also nicht daran, dass sich Menschen ändern können? An eine zweite Chance?« Deckers Stimme klang ernst. Das war mehr als rhetorisches Geplänkel.
»Ich glaube an den Opportunismus von Kronzeugen«, sagte er und konnte den Zynismus nicht völlig aus seinem Tonfall heraushalten. Als Cop hatte er einige Male zu oft erlebt, wie nassforsche Verbrecher dem Gesetz entkommen waren, weil sie ihre eigenen Leute verrieten und Straferlass erhielten. Und eine neue Identität.
An einem Ort wie diesem.
Harper’s Hill, diesem Überbleibsel aus der liberaleren Clinton-Ära, wo Straftäter resozialisiert werden sollten. Und mehr noch.
»Das Gefängnis oder der direkte Kontakt mit den Opfern ihrer Taten vor Gericht verändert Menschen mitunter«, wandte Decker ein. »Der Strafvollzug kostet uns Milliarden. Jeder Täter, der in ein produktives Leben zurückgebracht werden kann, ist ein Gewinn für die Gesellschaft.«
»Solange die unter sich bleiben!«, gab Cotton nach.
»Das Tal ist ziemlich abgelegen. Außerdem gibt es strenge Auflagen, etwa ein Verbot von Feuerwaffen. Deren Besitz ist auf den Sheriff und seine Deputys beschränkt«, versicherte Decker.
Nicht zu vergessen die soziale Kontrolle einer Kleinstadt. »Meinetwegen. Aber all das betrifft nicht nur Ex-Knackis, Geläuterte oder Kronzeugen. Hier leben auch Teilnehmer am Zeugenschutzprogramm. Verbrechensopfer, die aus gutem Grund ein neues Leben beginnen wollten. Und unbeteiligte Jugendliche und Kinder.«
»Laut Mr High werden die Menschen hier sorgfältig psychologisch begutachtet. Handverlesene Personen mit vielversprechender Prognose. Keiner, der in irgendeiner Weise den Lebensweg eines anderen gekreuzt hätte. Niemand weiß, dass er nicht der Einzige mit einer problematischen Vorgeschichte ist. Und es handelt sich nicht um Kapitalverbrecher.«
»Bis jetzt!«, murmelte Cotton.
»Bis jetzt war das Programm ein voller Erfolg.«
»Und trotzdem sind wir hier – in Ihrem sozialen Paradies.«
In Phils Gesicht blitzte etwas auf, das Cotton nicht genau benennen konnte. Zwei Strähnen hatten sich bei der hitzigen Diskussion aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und umspielten ihr Ohr. »Die Selbstmorde sind vielleicht reiner Zufall.«
»Drei Selbstmorde oder tödliche Unfälle in einem Monat? Und der heute noch nicht mitgerechnet.« Er schnaubte. »Suchen wir nach einem Serienselbstmörder?«
Decker ließ die Frage unbeantwortet. »Lassen Sie uns zurück zum Wagen gehen, Cotton, hier werden wir nichts mehr finden.«
»Jeremiah«, erinnerte er sie.
Auf die Idee, seine beiden Special Agents als Neubürger-Ehepaar einzuschleusen, war Mr High gekommen. Die wahre Ironie lag darin, dass viele Agenten tatsächlich mehr Zeit mit ihrem Teamkollegen verbrachten als mit ihrem Ehepartner. Und Cotton würde seine Partnerin in diesem schmutzigen Nest mit dem wohlklingenden Namen nicht eine Sekunde aus den Augen lassen.
Auf dem Weg zum Wagen dachte er erneut über die Aufgabe nach, die vor ihnen lag.
In Harper’s Hill lebten inzwischen viele nichtsahnende Angehörige. Es war schlimm genug, zu erfahren, dass der Lebenspartner in kriminelle Geschäfte verwickelt war oder ein neues Leben angefangen hatte. Wenn man jedoch spitzkriegte, dass der freundliche Nachbar vor Jahren im Affekt einen Saufkumpan erschlagen hatte … Falls hinter den Selbstmorden tatsächlich mehr steckte und plötzlich jeder jeden verdächtigte … Die Stadt würde zu einem Tollhaus.
Cotton rieb sich den steifen Nacken. Er würde keinem hier zu lange den Rücken zuwenden.
*
Harper’s Hill, Pond View 7, 20:00 Uhr
Der Möbeltransporter stand nicht vor dem Haus, als die beiden Agenten in ihrem Zuhause auf Zeit eintrafen. Kaum waren sie aus dem Wagen gestiegen, als eine Nachbarin herbeieilte und sich als Alice Darell vorstellte.
»Da sind Sie ja endlich!« Sie war Anfang dreißig und trug ein adrettes Kostüm, wie eine Hausfrau aus einer Vorabendserie.
»Wir hatten eine Reifenpanne!«, behauptete Decker und stellte sich vor: »Philippa Chaplin. Und das ist mein Mann.«
Sag es, dachte Cotton und hakte sich bei ihr unter.
»Jeremiah«, schob Decker nach.
»Der Ärmste ist ja völlig durchnässt«, gurrte Alice. Sie ließ den Blick von seinen ruinierten Turnschuhen über die schlammbespritzte Jeans bis zu den dunklen Haaren wandern.
Decker rückte so nah an ihn heran, dass er ihre Körperwärme spürte.
»Ja, da war eine riesige Pfütze!«, log Cotton. Irgendwie hatte Decker es geschafft, ihre Schuhe zu säubern und den verdreckten Hosensaum so aufzukrempeln, sodass man keine Spur mehr von dem Querfeldeinmarsch sah.
»Sind unsere Möbel noch nicht da?«, fragte Decker.
»Die Möbelpacker sind seit einer halben Stunde weg. Ich hab sie mit dem Ersatzschlüssel reingelassen und ihnen danach auch Trinkgeld gegeben.«
Alice überreichte Decker die Schlüssel. »Na dann willkommen am Pond View!«
Decker zauberte ein Lächeln auf ihre Züge. »Wie nett.«
»Gern geschehen. Wir legen Wert auf gute Nachbarschaft.«
Cotton lachte trocken. »Da bin ich sicher.«
Eine andere Nachbarin trat vor die Tür, in der Hand eine mit einem Küchentuch abgedeckte Schüssel.
Sie grüßten und stellten sich erneut vor.
»Ich habe Ihnen einen Auflauf für den Ofen gemacht, weil Sie doch nichts im Haus haben … Da sind Anchovis drin, ich hoffe, Sie mögen Anchovis.«
Drei Frauen und ein Auflauf, das bedeutete unerschöpfliche Gesprächsvariationen. Cotton nutzte die Gelegenheit, um sich abzusetzen. Er öffnete den Kofferraum und holte die Kiste mit Sachen heraus, die er und Decker keinem Transportdienst anvertrauen wollten. Seinen Talisker-Whisky beispielsweise.
»Und Sie müssen unbedingt zum Barbecue vorbeikommen, wenn das Wetter wärmer wird. Selma macht die besten Hushpuppies«, hörte er noch, während er die Kartons ins Haus brachte.
*
Stunden später hatten sie einen Teil der Kartons ausgeräumt und die Hälfte des Auflaufs gegessen. Das Haus war mit Regalen, Elektrogeräten und Schränken rudimentär ausgestattet, sodass hauptsächlich persönliche Gegenstände hinzukamen, um die Geschichte glaubwürdig zu gestalten.
Das Gebäude gehörte, wie die übrigen Häuser und das Land, einer Gesellschaft in staatlicher Hand. Nachdem das Tal in den Besitz der Regierung übergegangen war, hatte man die früheren Heime der Bergleute für die neuen Bewohner renoviert.
Während Decker ihr Bett bezog, gönnte sich Cotton eine Dusche.
Endlich saßen sie am Kamin. Cotton gähnte. Das heiße Wasser hatte ihm die restliche Energie aus dem Leib gespült. Das Beisammensein vor den knisternden Flammen machte ihn schläfrig. Decker dagegen dachte immer noch an die Arbeit. »Eines stört mich …«
Cotton stocherte im Feuer, um sich wach zu halten.
»Die Tote von heute ist das erste weibliche Opfer«, führte Decker aus.
Das Bild der Erhängten erschien ungerufen vor Cottons innerem Auge. »Die Frau ist möglicherweise erst seit Kurzem zugezogen oder sie stammt gar nicht aus Harper’s Hill.« Er teilte Decker mit, was ihm die Leichenbeschauerin erzählt hatte.
Sie merkte auf. »Genau wie Marcus Preston. Das kann ich schnell abklären.«
Auf Deckers Pad befand sich eine verschlüsselte Datenbank zu allen Bewohnern des Ortes. Damit wusste sie mehr über Harper’s Hill als der Sheriff. Aus Sicherheitsgründen waren die Daten auch für Michael Small unter Verschluss. Noch einer der Gründe, wieso man schließlich das G-Team angefordert hatte.
Während sie die Suchparameter eintippte, richtete Decker ihre Aufmerksamkeit nur teilweise auf das Pad. »Weiblich, Alter zwischen 25 und 35?« Sie sah Cotton fragend an.
Er nickte. »Hautfarbe schwarz, Augen braun – das sollte es weiter eingrenzen.«
Schon hatte Decker die entsprechenden Fotos aufgerufen und scrollte darin herum. Kurz darauf schüttelte sie den Kopf. »Die Frau ist nicht verzeichnet. Ob das Ganze eine zufällige Überschneidung von Ort und Todesart ist?«
»Ich glaube immer noch nicht an Zufall. Immerhin kam das Opfer Lou Greenstein bekannt vor.«
Decker dehnte die Schultermuskeln. »Das Ganze gefällt mir überhaupt nicht.«
Wem sagte sie das!
Cotton versuchte, den Schleier der Müdigkeit abzustreifen, aber er musste wieder gähnen. »Der Great-Smoky-Mountains-Nationalpark liegt nicht so weit entfernt. Vielleicht war sie eine Touristin auf Abwegen?«
Die urwüchsige Landschaft der Appalachen zog viele Naturfreunde an. Historisch Interessierte konnten auf den Spuren der aus ihrer Heimat vertriebenen Cherokee-Indianer über den Trail-of-Tears-Gedenkpfad pilgern.
»Ja«, gab Decker ihm recht. »Aber wer benutzt noch einen Fotoapparat? Eine hochwertige Digitalkamera, jedoch mit klassischem Objektiv. Ein Großteil der Bilder wird heute mit Geräten wie Handys oder Pads geschossen. Gerade von Touristen, weil die Fotos sofort verfügbar sind.«
Das brachte Cotton auf eine ganz andere Idee.
»Und wenn es nun so ein Internet-Portal war: Finde die schönsten Orte, mach ein Selfie und bring dich da dann um!« Cotton hatte schon von Selbstmordpakten gehört, die in der virtuellen Welt geschmiedet wurden. Von Gruppen, in denen seelisch angeschlagene Menschen über den Tod diskutierten. Manchmal steigerten sie sich in die Todessehnsucht hinein oder wurden gezielt von Psychopathen manipuliert …
Decker zuckte die Achseln. »Der Sheriff hat nach einem Führerschein oder Kreditkarten gesucht. Ohne Erfolg. Das Opfer hatte kein Handy oder Smartphone dabei. Sobald sie identifiziert ist, sollten wir eine mögliche Spur ins Netz überprüfen lassen.«
»Was wissen wir eigentlich über die anderen beiden Toten? Irgendeine Verbindung?«
»Toter Nr. eins, Hank Willis. Zweiundfünfzig Jahre. Er hat sich am 21. Dezember in seiner Garage Pond View 3 mit Autoabgasen vergiftet.«
»In dieser Straße?«, fragte Cotton. »Kein Zufall, oder?«
Decker blickte auf. »Man hat uns wegen der räumlichen Nähe hier einquartiert. Das erleichtert die nachbarschaftlichen Beziehungen.«
»Praktisch«, sagte Cotton ironisch.
»Ja, das war meine Idee.« Decker wartete auf einen weiteren Kommentar, und als der ausblieb, wandte sie sich erneut dem Fall zu. »Die fensterlose Garage war von innen abgeschlossen, und es gab nur Hank Willis’ Schlüssel. Er hing am selben Bund wie der des Autos, in dem man den Leichnam gefunden hat.«
»Wer lebt außerdem da?«
»Seine Frau Anita und zwei halbwüchsige Töchter. Claudine und Evangeline. Aber Hank war der Einzige, der das Auto fuhr. Die Garage war sonst nie verschlossen.«
»Die übrige Familie hat den Wagen nicht gebraucht?«
»Es war ein Sportwagen mit Schaltgetriebe … – Moment.«
Wieder scrollte Decker. »Passend zu Willis’ Vorgeschichte. Er war ehemaliger Stock-Car-Racer. Aber er ging außerhalb der Saison einer einträglicheren Nebenbeschäftigung nach. Willis arbeitete als Fahrer. Ihm wurde die Beteiligung an drei Überfällen nachgewiesen, die schließlich zu einer langjährigen Freiheitsstrafe führte.«
»Und seine Fahrkarte nach Harper’s Hill?«
»Durch Willis’ Aussage konnte ein Großteil der gestohlenen Gelder wiederbeschafft werden. Mit Ausnahme des letzten Überfalls auf ein indianisches Kasino, der gründlich schiefging. Die Beute belief sich auf 550.000 Dollar.«
»Hübsches Sümmchen«, bemerkte Cotton. »Wo das wohl abgeblieben ist?«
»Zwölf Tage nach Willis starb Cole Goss, dreißig Jahre alt, alleinstehend, wohnhaft Pear Tree Road 12, bei einem Unfall auf der Hantelbank in seinem eigenen Fitnessstudio. Er war zum Zeitpunkt des Todes allein, das Studio hatte geschlossen. Seltsam ist nur, dass die Hintertür des Studios nicht abgeschlossen war, was sonst laut Mitarbeitern nie vorkam. Goss hatte früher Probleme mit dem Vertrieb unerlaubter Substanzen – Anabolika hauptsächlich. Seither war er wohl sauber. Kein Abschiedsbrief.«
»Ein Suizid und ein möglicher Unfall. Kommt in den besten Familien vor. Und im Falle des Journalisten könnte es alles Mögliche sein«, fasste Cotton zusammen. Langsam kroch ihm die Schwere in alle Glieder. »Ja. Aber als man die Leiche des Journalisten entdeckt hat, Marcus Preston, war das allen Beteiligten ein Todesfall zu viel. Und deswegen sind wir hier.«
»Mh!« Cotton starrte in die Flammen. Die behagliche Wärme des Kamins hüllte ihn in einen wohligen Kokon. Wenn sich das Ganze als Schuss ins Blaue entpuppte, konnte er hier immerhin ein paar Urlaubstage genießen.
»Cotton?« Eine Hand rüttelte ihn an der Schulter.
»Ja?« Er schreckte hoch und rieb sich die Augen.
Decker schaute ihn streng an. »Gehen Sie schlafen, um Himmels willen.«
Keine schlechte Idee. »Und das wäre wo?« Er hatte die Sporttasche vorhin einfach im Flur geparkt.
Decker begleitete ihn die Treppe hinauf.
»Das Gästezimmer«, erklärte sie und öffnete die Tür. Der Raum enthielt genau einen Schrank, einen Tisch, einen Stuhl und zwei große Kartons.
Decker biss sich auf die Unterlippe. »Das Gästebett sollte von den Möbelpackern aufgestellt werden. Ich habe extra später noch angerufen, dass wir zu zweit sein würden.«
»Die Couch genügt auch«, murmelte Cotton schlaftrunken.
Decker schüttelte den Kopf. Cotton wurde in dieser Sekunde klar, dass sie das Wohnzimmer erst in Angriff nehmen mussten. Die Möbelleute hatten sich dafür ebenfalls nicht zuständig gefühlt. Er würde jetzt gerne ein paar Takte mit der Umzugsfirma reden.
»Ein paar Decken tun’s auch.« Cotton war so müde, dass er sich glatt vor dem Kamin zusammenrollen könnte.
»Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte Decker. »Im Schlafzimmer steht ein Bett.«
Bot sie ihm jetzt ihren Schlafplatz an?
»Auf keinen Fall!«, protestierte er ritterlich.
Decker sah ein wenig gekränkt aus. »Seien Sie nicht so zimperlich. Es ist Queen Size! Breit genug für zwei.«
Freitag, 15. Januar,Harper’s Hill, Pond View 7
Zu Cottons Enttäuschung war Decker lange vor ihm auf. Zu gern hätte er gewusst, ob sie im Nachthemd eine ebenso gute Figur machte wie in einem ihrer Hosenanzüge. Während er sich den Schlaf aus den Augen rieb, hörte er sie im Nebenzimmer telefonieren.
Mit zwei Flacons vor dem Spiegelschränkchen, einem knittrigen Nachthemd über der Stuhllehne und einem feinen Duft wirkte das Zimmer, das gestern noch wie ein Modell aus einem Möbelprospekt ausgesehen hatte, ausgesprochen bewohnt.
»Wer hat Marcus Preston eigentlich gefunden?«, vernahm Cotton von nebenan. Deckers Schritte näherten sich der Tür. »Und das ist sicher?« Er reimte sich aus der Hälfte des Gesprächs zusammen, dass seine Partnerin mit Sheriff Small redete.
Der ungewohnte Ehering an seinem Finger drückte. Cotton drehte ihn gedankenverloren und sprang auf, um sich anzuziehen, solange Decker beschäftigt war.
Er hatte sich gerade Jeans und T-Shirt übergeworfen, da endete das Gespräch, und Decker betrat das Schlafzimmer.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte er.
»Nein. Die unbekannte Frauenleiche wird wohl heute obduziert. Der Sheriff schlägt vor, dass wir uns bis dahin mit der Örtlichkeit vertraut machen und vielleicht das Umfeld der übrigen Opfer näher beleuchten. Er hat uns auch gewarnt …«
Cottons Kopf ruckte hoch.
Decker lachte. »… wir sollten morgen so ab achtzehn Uhr auf Besuch eingestellt sein.«
»Noch mehr Auflauf?«, fragte Cotton.
»Etwas in der Art. Kommen Sie, frühstücken können wir im Diner, und dann warten einige Kisten, das Bett und das Wohnzimmer. Übrigens schlafen Sie ziemlich unruhig!«
Decker hob die Hand und strich ihm in einer fast innigen Geste über die Wange. »Ehe wir uns in der Öffentlichkeit zeigen, sollten Sie über eine Rasur nachdenken.«
*
Im Ortskern lag alles so nah beieinander, dass Decker vorschlug, zu laufen, um ein Gefühl für die Stadt zu bekommen. Sie fanden einen Drugstore, die Kneipe Harper’s Gold, einen Friseurladen mit Nagelstudio, ein Diner, eine kombinierte Arzt- und Zahnarztpraxis, zwei Kirchen, ein Bowling-Center, Cole’s Fitness-Palast, Lebensmittelhändler, eine Autowerkstatt sowie genau ein Geschäft für den Rest. Irgendwo musste sich die Grundschule verstecken.
Cotton stutzte, als er bemerkte, wie ordentlich dieser Ort war. Gepflegte Straßen ohne Schlaglöcher. Nirgendwo Graffiti, überquellende Mülltonnen oder Obdachlose. Harper’s Hill erinnerte ihn an die Kulisse einer Kleinstadt aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Er kam selbst aus einem kleinen Winkel in Iowa. Aber so postkartenperfekt war es da nie gewesen.
Da sie im Diner nicht ungestört waren, nahmen Decker und er auf dem Rückweg ihr Gespräch wieder auf. »Ich habe Erkundigungen zu Marcus Preston eingeholt«, sagte Decker. »Von den Kollegen wusste keiner Näheres. Er arbeitete öfter an mehreren Storys gleichzeitig und meldete sich nur sporadisch per Telefon, um weitere Spesen herauszukitzeln.«
»Na, das ist doch schon mal was«, sagte Cotton sarkastisch. »Es wäre wohl zu viel verlangt, wenn die Kollegen über ein mögliches Motiv Bescheid wüssten?«
»Zeery hat den Mann durchleuchtet. Preston hatte eine teure Scheidung hinter sich, sonst liegt nichts vor. Die letzten Handyverbindungen stammen tatsächlich aus dieser Gegend. Und da Harper’s Hill weder Pensionszimmer noch ein Hotel hat, muss er anderweitig untergekommen sein.«
»Zum Campen ist es allerdings ein bisschen kalt!«, bemerkte Cotton. Ein Wunder, dass in diesem lauschigen Städtchen nicht auch noch dauernd die Sonne schien.
»Auf Preston ist ein Wohnmobil zugelassen«, erwiderte Decker. »Und die haben Heizungen.«
»Dann ist das seine Basis gewesen.«
»Das vermute ich ebenfalls. Wir müssen …«
Am Straßenrand parkte ein silbergrauer Porsche Spyder. Ein Zu-verkaufen-Schild klebte am Seitenfenster.
Unwillkürlich lenkte Cotton die Schritte näher heran. Jede Verzögerung des leidigen Möbelaufbaus kam ihm gelegen. Er legte die Hand auf den gerundeten Kotflügel, als liebkoste er ein Rennpferd.
Decker trat neben ihn. »Ich sehe, wir müssen keine Münze werfen.«
Cotton sah sie fragend an.
»Hier wohnt Familie Willis«, erklärte Decker. »Stellen Sie sich ruhig vor, und klopfen Sie die Ehefrau dabei ab.«
Cottons Fingerspitzen wurden schlagartig kalt. Es war der Wagen, in dem Willis sich mit Abgasen vergiftet hatte. Kein Wunder, dass die Familie das Auto loswerden wollte. Er seufzte. »In Ordnung.«
»Ich befrage dann die Frauen, die den toten Journalisten im Wald gefunden haben. Elsie und Luise Hacker!«
»Und das Wohnmobil?«, fragte Cotton.
»Es steht weder in der Nähe von Prestons Wohnung noch auf dem gemieteten Platz in Phoenix. Auch die Campingplätze des Nationalparks sind raus. Schlüssel hatte Preston keine dabei. Das Fahrzeug könnte also überall sein.«
Verschwundene Autos – Autos als Werkzeug zum Suizid. Lag darin eine Gemeinsamkeit? Es gab sonst keinerlei Verbindung zwischen den Toten, außer dass jeder Fall für sich genommen unerklärlich erschien.
*
Mrs Willis wirkte schon am Vormittag erschöpfter als nur nach einer schlaflosen Nacht. »Ja, bitte?«, fragte sie.
»Hallo. Ich bin Jeremiah Chaplin. Meine Frau und ich sind gestern drüben eingezogen.«
»Ach?« Die Frau sah ihn an wie durch einen Grauschleier. Der Tod ihres Mannes schien ihr das Mark aus den Knochen gesogen zu haben.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie so überfalle.« Cotton wies mit dem Daumen über die Schulter. »Ich hab mich spontan in den Wagen verliebt. Meinen Sie, ich könnte vielleicht eine Probefahrt machen?«
Man sah regelrecht den Ruck, der durch Mrs Willis ging. Abwehr und Resignation spiegelten sich in schneller Folge auf ihren Zügen. »Das, ja, wäre möglich. Ich muss nur die Schlüssel …«
Sie machte kehrt, ohne ihn hereinzubitten.
Cotton schlüpfte in die Wohnung. Er hörte die Frau hinten umherlaufen und suchen. Die Aufteilung des Hauses schien der seines eigenen Domizils zu entsprechen. Im Wohnzimmer stand eine Couch vor der TV-Ecke, mit Spielkonsole und einem indianisch gemusterten Webteppich. Auf einem Tisch lag ein Inhalator.
Grobkörnige, großformatige Fotos schmückten die Wände. Sandbedeckte Fahrzeuge mit halb verwehten Startnummern schälten sich darauf aus Staubwolken hervor. Startfahnen wirbelten durch die Luft. Menschen, nur schemenhaft hinter der Bande aus Strohballen zu sehen, rissen die Arme hoch …
Der Fotograf hatte Talent. Man hörte förmlich das Röhren der Motoren und den Jubel der Menge.
Mrs Willis kehrte zurück. »Hier sind die Schlüssel.« Ein hölzerner Anhänger, in den ein stilisierter Kiefernzweig eingekerbt war, baumelte am Schlüsselbund.
»Möchten Sie mitfahren?«, fragte Cotton.
»Nein, ich …« Sie schüttelte den Kopf.
Er deutete auf die Fotos. »Sind die Bilder von Ihnen?« Sein Interesse war nicht geheuchelt.
»Ja«, sagte sie und entspannte sich ein wenig. »Hören Sie, Harper’s Hill ist eine Kleinstadt, und Sie werden das sowieso bald erfahren.« Sie presste die Lippen zusammen.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Mein Mann hat sich vor drei Wochen in dem Auto umgebracht. Ich möchte das verdammte Ding aus den Augen haben. Fahren Sie damit. Es gibt ein paar gute Strecken östlich vom Ortseingang, die hat Hank auch gerne …«
Ihre Stimme brach.
»Mein Beileid. Ich wollte Sie bestimmt nicht belästigen.« Cotton bekam Skrupel, weil genau das seine Aufgabe war. Laut Vernehmungsprotokoll hatte Mrs Willis dem Sheriff gegenüber nichts über ein Motiv für den Suizid verlauten lassen. Sie gab an, ihr Mann hätte zwei Tage vorher angespannt und niedergeschlagen gewirkt, aber darüber geschwiegen.
»Was war er denn für ein Mensch?«, fragte Cotton. Erst da ging ihm auf, dass dies keine offizielle Vernehmung war.
Mrs Willis schien ihm die Frage nicht zu verübeln. »Ein Mann von Ehre. Als das Renngeschäft immer korrupter wurde, hat Hank alles aufgegeben, um mit mir und den Mädchen zusammen zu sein. Er hat lieber hier Autorreifen verkauft, als gekaufte Rennen zu fahren.«
Das hat er dir zumindest so erzählt!
Cotton überlegte, ob die Frau wirklich nichts von Willis’ krimineller Vergangenheit wusste. Konnte man die Ehefrau über so etwas im Unklaren lassen? Selbst wenn niemand öffentlich darüber sprach, es war illusorisch, zu glauben, dass alle Geheimnisse innerhalb der Familien gewahrt blieben.
Andererseits … wollte man neu anfangen, würde man das dreckige Geschirr kaum gerade dann aufdecken, wenn man dabei war, reinen Tisch zu machen.
»Dazu gehört eine Menge Mut«, sagte Cotton.
»Ich begreife einfach nicht …« Sie wischte energisch die Tränen ab und drückte Cotton den Autoschlüssel in die Hand. »Behalten Sie den Wagen ruhig ein paar Tage, und dann reden wir über den Preis.«
»Sind Sie sicher?«
»Hank hat den Porsche geliebt«, erklärte sie. »Aber meine jüngste Tochter Evy verträgt das Klima hier schlecht. Die Lunge. Sie bekam nach dem Tod ihres Vaters einen Rückfall. Wir brauchen das Geld dringender denn je.«
Jetzt fühlte sich Cotton richtig schuldig, weil er ihr falsche Hoffnungen machte. »Ich passe gut auf den Wagen auf«, versicherte er und hätte ihr gerne noch mehr versprochen. Doch wenn er den Grund für Willis’ Selbstmord herausfand, würde das seiner Ehefrau vielleicht erst recht das Herz brechen.
Cotton verabschiedete sich und startete den Motor. Die Maschine schnurrte wie ein Kätzchen. Er ließ den Porsche bis zu Pond View 7 rollen. Neben dem Mietwagen war noch Platz vor dem Haus. Hier warteten nur Möbelkisten auf ihn. Auf eine Stunde mehr kam es jetzt nicht an. Statt anzuhalten, gab Cotton einfach Gas. Fauchend lief der Sechszylinder zur Höchstform auf. Vor der befriedigenden Geräuschkulisse kurvte Cotton am Rand des Tempolimits die gewundene Straße aus dem Ort hinaus.
Er rechnete sich gute Chancen aus, dass das Wohnmobil des Reporters nicht allzu weit von einer Straße entfernt parkte. Und es war schließlich Winter, Bäume und Sträucher hatten ihr Laub verloren. Im Gegensatz zu den Kiefern.
Cotton realisierte, wie überraschend viele gut ausgebaute Straßen es hier gab. Das Sägewerk und die Mine westlich der Stadt hatten früher ein Netz von Versorgungsstraßen und unasphaltierten Waldwegen erfordert. Doch wo ein Wohnmobil durchpasste, kam der Porsche erst recht voran.
Während Cotton nach den Reifenabdrücken eines schweren Fahrzeugs spähte, analysierte er den Besuch bei Anita Willis. Allem Anschein nach schien sie ihren Mann aufrichtig geliebt zu haben. Aber sie liebte ihre Tochter Evy sicher ebenso.
Ein Gedanke streifte sein Bewusstsein. Willis war derjenige, der die Familie in Harper’s Hill hielt. Seine kranke Tochter brauchte eine Luftveränderung. Hatte Hank seinen Angehörigen durch eine Verzweiflungstat den Weggang ermöglicht?
Das Smartphone klingelte. Doch statt des gewohnten Tons dudelte daraus Frank Sinatras Love and Marriage.
»Zeerookah!«, fluchte Cotton und bremste. Der Motor erstarb unter lautem Protest. Der IT-Spezialist des G-Teams musste vor ihrer Abfahrt bei Cottons Smartphone noch heimlich den Klingelton ersetzt haben. »Ja, doch!«, meldete er sich.
»Cotton, wo sind Sie?«, fragte Decker.
»Auf Probefahrt mit dem Porsche.«
Eine Sekunde Schweigen. »Jetzt sagen Sie nicht, Sie haben den Wagen gekauft?«
Cotton stellte sich genüsslich Deckers Gesichtsausdruck vor. Sie fuhr selbst einen Porsche GT3.
»Natürlich nicht!«, meinte er dann. »Ich suche das Wohnmobil und verschaffe mir einen Überblick über die hiesigen Verkehrswege. Ganz wie Sheriff Small gewünscht hat. Was hat Ihr Besuch bei den Zeugen ergeben? Elsie und äh …«
»Luise. Sie ist um mich herumgesprungen und hat begeistert mit dem Schwanz gewedelt. Elsie Hacker hat Preston auf einem Spaziergang gefunden, als sie ihre Labradorhündin Luise im Wald ausführte. Mrs Hacker hat sich danach direkt beim Sheriff gemeldet. Sie dachte an einen Unfall.«
»Klingt wenig ergiebig!«
»Deshalb habe ich im Labor nachgehorcht. Tod durch Sturz, ohne sichtbares Fremdverschulden, meint der Pathologe. Etliche Wunden und Knochenbrüche, aber die Todesursache war eine Arterienverletzung im Bereich der gestauchten Halswirbel. Wie genau der Körper die knapp dreißig Meter hinuntergefallen ist, kann man nicht mehr festmachen.«
»Oder ob er da noch gelebt hat«, ergänzte Cotton.
»Und da ist noch etwas: An Prestons Mantel hat man merkwürdige Gummispuren gefunden.«
»Merkwürdige Gummispuren? Was heißt das?«
»Keine Ahnung. Das wird im Moment noch untersucht.« Damit beendete sie kurzerhand das Gespräch.
*
Devil’s Hole, Harper’s Hill, 18:00 Uhr
»Wo haben Sie denn Ihre Frau gelassen, Mr Chaplin?«, fragte die Bedienung hinter der Theke, die die Chaplins nach nur einem Besuch wohl bereits zu den Stammgästen zählte.
Cotton nickte ihr einen Gruß zu. »Die räumt noch ihren Kleiderschrank ein und kommt dann vorbei, Sally.«
Sally grinste wissend.
Er nahm an einem der schmalen Tische Platz und studierte die Karte. Goldstück – doppelt gegrillter Burger, das klang vielversprechend. Cotton lockerte die Schultern. Nach dem Aufbau der Möbel erfüllte eine angenehme Schwere seine Muskeln. Er war hungrig, und es tat gut, wieder einmal mit den Händen gearbeitet zu haben. Bis Decker fertig war, konnte er sich eine Vorspeise gönnen.
Eine Gruppe Jugendlicher fläzte sich auf die Bänke gegenüber. Zwei Mädchen hockten wie siamesische Zwillinge nebeneinander. Sie schauten unentwegt auf ihre Smartphones und sendeten sich gegenseitig Nachrichten. Die Übrigen sprachen über eine Rallye. Dabei wirkte der Älteste von ihnen eher wie ein Gewichtheber oder Wrestler. Einer der Jungen war offenkundig Rapmusik-Fan, und der dritte machte bis auf die roten Haare einen erstaunlich farblosen Eindruck. Ein Mädchen mit Kurzhaarschnitt und einem Zombie-Insekten-Shirt steuerte fachkundige Bemerkungen zu Motoren bei.
Von der anderen Seite kam ein weiterer Jugendlicher ganz in Schwarz. Indianischer Silberschmuck glänzte an seinen Ohren, aber er hatte ein bisschen zu viel Gewicht auf den Rippen, um cool zu wirken.
Weil auf dem Gang gerade ein Mitarbeiter wischte, musste der Junge zwischen Cotton und den Teenagern hindurch.
»Mottenkugelalarm«, sagte die Kleine mit dem ZomBee-Shirt. Das Gespräch brach ab. Ein Mädchen kicherte.
Der Goth wich routiniert dem ausgestreckten Bein des Rapper-Jungen aus. Das benutzte Geschirr auf seinem Tablett wackelte nicht einmal.
Dann schob die Blonde ihren Mini-Rucksack mit dem Fuß direkt in den Weg des Goth. Diesmal landete sein Schuh davor, und er geriet einen Moment lang aus dem Gleichgewicht.
»Du hast gegen die Tasche meiner Freundin getreten, Mottenkugel«, sagte der Gewichtheber empört.
»Entschuldige, Tasche!«, meinte der Goth sarkastisch und würdigte weder den Sprecher noch das Mädchen eines Blickes.
»Du musst dich bei Jennifer entschuldigen.«
Der Goth ging einfach weiter.
»Wohin so eilig, Grant?« Jennifer wischte übertrieben am Rucksack herum.
»Dem Satan eine Ziege opfern«, sagte ihre Freundin boshaft. »Dabei kann das Baby nicht mal Blut sehen.«
Der Goth blieb jetzt stehen. »Stellst du dich zur Verfügung, Fay?«, fragte er laut. Cotton sah ein Buch in der Tasche seines weiten Mantels stecken. Der Stoff strömte einen strengen Geruch aus.
Zwei der Jungs und die Zombiene sprangen auf. Der rothaarige Kerl wich ans hinterste Ende der gepolsterten Bank zurück. Die ungleichen Zwillingsmädchen versicherten einander, wie unmöglich der Spruch gewesen war.
»Du tickst ja wohl nicht mehr richtig, Grant!«, sagte der Gewichtheber.
Der Angesprochene beugte sich vor und senkte die Stimme. Cotton verstand die Worte trotzdem. »Um dem Sheriff einen Tipp zu geben, brauche ich kein Tieropfer, Tyler.«
»Was sollte das ändern?«, meinte Tyler ungerührt, aber Cotton bemerkte, wie seine Körpersprache defensiv wurde.
Der Rotschopf schlich sich an Grant heran. Die Mädchen, die ihn beobachteten, bekamen fast Schluckauf vor Lachen.
»Du wirst schon sehen …«, sagte Grant, ganz auf Tyler fixiert.
Im selben Moment stach ihm der Rothaarige von hinten beide Zeigefinger in die Seiten.
Der Junge in Schwarz fuhr herum. Seine Mantelschöße fegten einen der Colabecher herunter. Das Getränk landete zwischen den Mädchen. Der Deckel sprang ab, und schwarze Zuckerbrühe ergoss sich über die beiden. Die zwei hüpften nahezu synchron von der Bank. Jennifer verfing sich in den Schlaufen ihres Rucksacks. Sie prallte gegen Tyler, der sie ungeschickt auffing, sodass beide direkt auf Grant zustolperten.
Der machte ungerührt einen Schritt zur Seite. »Siehst du«, sagte er, als sei all das geplant gewesen.
Die Pfütze rann über den Boden bis unter Cottons Tisch. Die übrigen Gäste schienen die Auseinandersetzung nicht zu bemerken. Einer starrte angestrengt auf seinen Tisch, ein bulliger Mann im weißen Kittel blickte bloß kurz auf, die zwei anderen schaufelten ihre Mahlzeit in sich hinein.
Die Putzkraft eilte herbei. Cotton stand auf und suchte einen trockenen Platz. Gegenüber kochten gerade die Emotionen hoch.
»Die Pepsi bezahlst du, Mistkerl!«, schimpfte Jennifer. »Und die Reinigung für meine Lederjacke!«
Tyler wollte den Worten seiner Freundin Nachdruck verleihen und riss mit beiden Händen an Grants Mantelaufschlag. Der Goth erstarrte.
Cotton wechselte einen Blick mit der Kellnerin, die mit seinem Burger auf dem Gang stand. »Das reicht jetzt«, sagte er laut und baute sich zwischen den Streitenden auf. Wenn keiner sonst hier den Mumm besaß, ein paar Streithähnen die Flügel zu stutzen, dann blieb es wohl an ihm hängen.
Tyler ließ Grant los.
Doch Cotton hatte nicht mit ZomBee gerechnet. Wie ein wütendes Insekt stürmte das schmächtige Mädchen an ihm vorbei auf den Goth zu. Cotton fing die Biene ein und schubste sie ein Stück zurück.
»Nun gebt schon Ruhe!«
Als er aus dem Augenwinkel einen Schatten sah, reagierte Cotton instinktiv. Er blockte den Angriff mit der Linken ab und setzte in der Drehung einen rechten Haken nach. Tylers Ausdruck wurde komplett leer. Cotton konnte den Schlag gerade noch abschwächen und lenkte die Faust gegen Tylers Brust statt sein Kinn.
Der Junge taumelte zurück und landete mit sehr viel Schwung auf einer Sitzbank. Das schien die übrigen Kids zu ernüchtern. Der Rotschopf hatte längst das Weite gesucht.
»Komm, wir hauen ab«, drängte Fay.
Jennifer zog ihren Freund von der Bank, nicht ohne Cotton dabei angstvoll zu beobachten. Er bekam den Eindruck, dass Tyler in Auseinandersetzungen selten den Kürzeren zog. Der Schlag hatte wehgetan, bei der aufgepumpten Muskulatur des Burschen aber sicher keinen Schaden angerichtet.
Im selben Moment heulte einmal kurz die Polizeisirene.
»Los«, rief die Zombiene, und die Jugendlichen verschwanden durch eine Nebentür.
Auch Grant machte sich aus dem Staub.
Cotton sah ein Buch unter dem Tisch liegen. Das musste Grant aus der Tasche gefallen sein. Er steckte es ein, ehe es noch der Colapfütze zum Opfer fiel. Dann reichte er Sally ein paar Dollar und nahm den Burger entgegen.
Als Sekunden später der Sheriff eintrat und Cotton herausbat, folgten ihm einige Blicke. Mitleid stand darin und ein wenig Schadenfreude.
*
Pond View 7, 19:00 Uhr
»Man kann Sie nicht mal eine halbe Stunde allein lassen, ohne dass Sie Ärger machen, Cotton.« Decker hob in gespielter Verzweiflung die Arme.
»Ärger wollte ich verhindern. Sehen Sie doch das Positive daran«, verteidigte sich Cotton. »Wenn ich jetzt während der Ermittlung öfter mit dem Sheriff gesehen werde, denkt sich niemand etwas dabei. Und es traf sich ganz gut, denn Small hatte ohnehin Neues zu berichten.«
»Stillhalten! Sie haben da etwas am Kinn.« Decker wischte mit einem Tuch über seine Haut.
»Autsch!«
»Sieht nach Kratzern aus. Sie haben sich im Diner doch nicht mit diesen Kindern geprügelt, oder?«, fragte sie vorwurfsvoll.
Cotton seufzte. »Das muss die kleine Zombiene gewesen sein! Die war wirklich auf Ärger aus.«
»Dann desinfizieren wir das besser, bevor Sie sich noch in einen Untoten verwandeln.« Decker holte eine Flasche.
»Sie haben Jod dabei?«
»Seit ich Sie kenne, Cotton, bin ich auf alles vorbereitet. Und nun erzählen Sie mal.«
»Die erhängte Frau heißt Janet Fletcher. Sie war Fotografin, wie wir schon vermutet haben.«
»Fletcher«, wiederholte Decker. »Der Name steht auf meiner Anrufliste! Prestons Journalistenkollegen haben sie erwähnt.« Sie zog ihre Notizen zurate. »Eine alte Bekannte von Marcus Preston. Die beiden haben vor Jahren bei der gleichen Zeitung angefangen und hielten lose Kontakt.«
Endlich eine Verbindung. »Möglicherweise haben sie hier gemeinsam recherchiert?« Die Bilder auf der Kamera zeigten größtenteils Landschaften, wie Cotton vom Sheriff erfahren hatte.
Decker schüttelte den Kopf. »Preston war ein Eigenbrötler. Dass er Reiseberichte verfasst hätte, wäre neu.«
»Vielleicht hat die beiden mehr als eine platonische Freundschaft verbunden«, mutmaßte Cotton.
»Und das Paar wollte vor dem Suizid noch die Schönheiten des Piedmont-Plateaus festhalten? Dann wären sie wohl zusammen in den Tod gegangen«, zweifelte Decker. »Es gibt von Janet nicht mal einen Abschiedsbrief.«
Cotton spürte, dass etwas an Decker nagte. »Spucken Sie es schon aus!«, drängte er. »Ihnen geht doch was im Kopf herum.«
»Ich frage mich immer noch, was genau wir am Wasserfall nun beobachtet haben: Einen Sprung in den Tod – oder Mord? Ich bin mir fast sicher, dass ich da jemanden gesehen habe. Aber es war nur ein Schatten vor dem dunklen Wald.«
Auch Cotton war nicht überzeugt von dem Suizid. Etwas störte ihn daran. »Vollständige Kleidung und Kamera, aber kein Handy«, zählte er Janets Besitz auf. »Brieftasche und Schlüssel fehlen, also weder Kreditkarten noch Führerschein, vom Auto nicht zu reden. Warum in aller Welt sollte Janet Fletcher sich spektakulär umbringen und dann ihre Identifizierung verschleiern wollen?«
»Die Sachen sind eventuell vom Wasser weggerissen worden. Gibt es weitere Hinweise?«, fragte Decker. Es klang, als wollte sie auf etwas Spezielles hinaus.
»Man konnte an dem Strick DNS-Fragmente sicherstellen, die nicht zu Janet gehören. Aber der Abgleich wird dauern. An den übrigen Spuren wird noch gearbeitet.« Das bedeutete nicht, dass sie hier die Hände in den Schoß legen mussten.
»Gucken Sie für mich doch mal nach dem Vornamen Grant«, bat Cotton. »Ich brauche die Adresse des Jungen aus dem Diner.« Er zog das Buch hervor, das er unter dem Tisch gefunden hatte, und blätterte darin. Der Autor trug den malerischen Namen Manly Wade Wellman. Es waren Geschichten über einen als John the Balladeer oder einfach Silver John bekannten Musiker. Er zog durch die Appalachen und kämpfte mit einer Gitarre mit versilberten Saiten und Silberpennys gegen einheimische Hexer, Geister und unaussprechliche Kreaturen. Interessante Lektüre für einen Teenager.
Decker wurde fündig. »Im Arcadia Drive 16 wohnen Estella Suarez und ihr Sohn Grant.«
»Was hat er denn ausgefressen?«
Decker suchte gezielt danach in ihrem Datenarchiv. Nach kurzer Recherche wurde sie fündig.