Cracklewood - Sabrina Döbel - E-Book

Cracklewood E-Book

Sabrina Döbel

5,0

Beschreibung

Das Städtchen Cracklewood ist immer einen Besuch wert - doch besonders schön ist es zu Halloween. Immerhin hält es den Landesrekord an Geistern pro Quadratmeter, was die Touristen anzieht und fast alle Einwohner sehr stolz macht. Nur Simon, der ist da die Ausnahme. Simon glaubt nicht an Magie. Und er glaubt nicht an Geister - auch dann nicht, als er selbst einer zu sein scheint und herausfinden muss, was mit ihm geschehen ist. Während alle anderen Kürbisse aushöhlen, Kaffee schlürfen und sich um eine Geschwindigkeitsbegrenzung in der Hauptstraße bemühen, ist er plötzlich unsichtbar. Doch eine ignoriert ihn nicht und nimmt ihn schließlich mit auf nächtliche Ausflüge durch seine Heimat. Er hört zu (denn seien wir mal ehrlich: was bleibt ihm auch anderes übrig?) und muss sich schließlich der bitteren Wahrheit stellen. All die Jahre lag er falsch. Cracklewood ist voller Magie. Denn es gibt dort nicht nur enorm viele Geister - sondern eben auch eine sehr gesprächsbedürftige Hexe. Cozy Fantasy für Erwachsene - voller Katzen, Bücher, Friedhöfe und Tee!

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Für meinen Papa.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Eins

Simon lebte in der gruseligsten Stadt der Region, vielleicht sogar des Landes. Das war kein Geheimnis. Er wusste das, seine Familie wusste das, jeder Bewohner von Cracklewood wusste das. Und das Schlimmste? Man könnte meinen, jeder Einzelne von ihnen war stolz darauf. Sie mochten ihren Nebel, ihre knorrigen Bäume und ihre Kürbisse, die viel zu früh die Sträßchen säumten und dort viel zu lange standen. Irgendwann wurden sie matschig und unansehnlich, das eingeschnitzte Grinsen wurde zur Fratze und sie verschmolzen mit dem Kopfsteinpflaster. Erst im November kehrte man sie dann zusammen, kratzte die Reste vom Gehsteig.

Natürlich tat man das mit einem feierlich-trauernden Gesichtsausdruck. Diesen hatte man noch einige Tage zur Schau zu tragen, so war die Regel, an die sich nur Simon nicht zu halten schien. Simon war froh, wenn der erste Schnee kam und die Luft zu kalt und zu träge für Stürme wurde. Er war froh, wenn auch das letzte verdorrte Blatt fiel. Er war froh, wenn blinkende Rentiere und dickbäuchige Weihnachtsmänner endlich die Hexen vertrieben, die ihn schon seit dem Hochsommer verfolgten. Kurzum: er war der schlechteste Cracklewood in der Geschichte der Cracklewoods.

Dabei verstand er, dass dieser Fanatismus nicht von irgendwo her kam. Im Gegenteil: er war tief verwurzelt und untrennbar verbunden mit der Geschichte des Ortes. „Eine grausame Geschichte“ hatten es die Lehrer von Simon genannt, doch egal wie sehr er Grusel verabscheute, hier hatte er ihnen nie zustimmen können. Sicher: Hexenverfolgungen waren grausam. Doch seine Heimat hatte keine grausame Geschichte, sie hatte einfach nur Geschichte. Denn so wie Simon das sah, war die immer und ohne Ausnahme furchtbar. So wie die Menschen, die sie formten.

Und solche Menschen hatten es sich damals zur Aufgabe gemacht, Menschen - Frauen - ausfindig zu machen, zu verhaften, zu foltern, zu töten. (War das etwa etwas, auf das man stolz war?) Cracklewood hatte demnach einen Hexenturm, einen Hexentanzplatz und ein Hexenmuseum, das sich mit den Gräueltaten auseinandersetzte (und wäre es nicht zum Großen Brand im 18. Jahrhundert gekommen, gäbe es noch mehr makaber-sehenswürdige Gebäude). Zu viel dunkle Magie für diesen kleinen Flecken Erde, könne man meinen. Schließlich hatte das Städtchen nur wenige tausend Einwohner und lag gut versteckt im Wald, etwa vierzig Meilen von Boston entfernt und gut zehn vom nächstgelegensten Nachbarort Harper’s Hollow. Es gab nicht viele Ecken - und dennoch fand man an jeder von ihnen etwas Übersinnliches. Wie gut also, dass Simon nicht an Magie glaubte. Das hatte er übrigens noch nie.

In der Grundschule hatte er sich geweigert, Zauberstäbe zu schnitzen und damit durch die Luft zu wedeln - an die enttäuschten Gesichter seiner Mitschüler, als natürlich nichts geschah, erinnerte er sich noch heute. Was sie wohl erwartet hatten? Funken, Glitzer? Fledermäuse? Schwebende Gegenstände? Die Weigerung, bei diesem Witz mitzumachen, hatte ihm die einzige schlechte Note in seiner ganzen Schullaufbahn eingebracht. Er war immer gut gewesen, anfangs ununterbrochen Klassenbester, später oft. Er hatte es kaum abwarten können, die kleine Grundschule und die lokale High School endlich zu verlassen - das College und die spätere Graduate School hatten zu ihm gepasst, von Anfang an.

Auch heute noch ging er gerne hin. Was gut war: denn er tat das täglich.

Er genoss jede Vorlesung, die er gab, und las jedes Laborbuch und jede Arbeit gern (selbst die schlechten (und von denen gab es einige)). Simon war Hochschullehrer für Physik und sobald er aus seinem Auto stieg, ging es nur noch um Zahlen und Formeln, um das Entdecken und Niederschreiben von etwas, das bereits existierte und real war. Es ging um Logik. Um die Wahrheit.

Nicht um Fiktion, die so dunkel war wie eine Oktobernacht und die nach Pumpkin Spice roch. Simon hasste Pumpkin Spice, aus Prinzip.

Dennoch verlangte seine Frau an diesem frühen Septembermorgen genau danach (dass bereits September war erkannte man am Licht, das zu kämpfen hatte und bald ganz verlieren würde).

Der Baum im Vorgarten schlug mit seinen Zweigen rhythmisch gegen das Fenster. Ein Schaukeln, ein Schlag. Und wieder: ein Schaukeln, ein Schlag. Die Anzeige seines Radioweckers blinkte und Simon drehte sich noch einmal zur Seite. Das Bett knarrte. Der Zeigefinger seiner Frau bohrte sich in seine Seite. Er zog sich die Decke über den Kopf.

„Bist du wach?“, fragte sie neben ihm.

„Jetzt schon.“ Er brummte. „Warum bist du’s denn?“

„Du tust gerade so, als würde ich den ganzen Tag nur im Bett liegen!“

„Vielleicht nicht den ganzen Tag. Aber doch zumindest bis die Nummer drei in den Kindergarten muss.“

Julie streckte sich wie der Ahorn vor dem Fenster.

Sie sagte: „Mir ist aufgefallen, dass jetzt September ist.“ Und Simon seufzte grabestief. „Bei Arthur riecht es bestimmt schon nach Zimt.“

„Bei Arthur riecht es immer nach Zimt.“

„Dann eben noch etwas mehr als sonst.“ Sie winkte ab. Er spürte einen winzigen Lufthauch auf seiner Wange. „Bringst du mir einen Donut, ja?“

Noch einmal kniff Simon die Augen zusammen. Sie brannten vor Müdigkeit. Er traute sich nicht, auf das Display seines Weckers zu schauen - und das war auch nicht nötig. Sein Körper sagte ihm auch so, was er wissen musste: es war zu früh. „Hat das bis heute Mittag Zeit?“, fragte er. Hoffnungsvoll. Idiotisch naiv.

Seine Frau schnalzte mit der Zunge. „Aber dann muss ich teilen!“, protestierte sie. „Ich muss ständig teilen.“

„Ah, das ist also ein Geheimauftrag.“

„Sicher. Wenn dir die Vorstellung dabei hilft, aus dem Bett zu kommen.“ Doch so weit war er bei weitem noch nicht. Sein Körper lief erst an. Und so begann er bei seinen Zehen, seinen schön warmen Zehen, die bald die nachtkalten Holzdielen berühren würden. Er wackelte mit ihnen, bewegte jeden einzelnen. „Muttersein ist nicht leicht.“

„Ehemann sein auch nicht.“ Die Daunen in seinem Kissen knisterten neben seinem rechten Ohr. „Willst du einen gefüllten oder einen trockenen?“

„Am Besten beides.“

„Dann musst du aber schnell essen.“

„Ich mag Herausforderungen.“

Er rieb sich den Nacken, zählte innerlich bis sieben. Erst dann setzte er sich auf und hob die Beine aus dem Bett, in einer einzigen, raschen Bewegung, denn so hatte er es möglichst schnell hinter sich. Sie hatten noch nicht angefangen zu heizen und kurz verfluchte Simon sein geiziges Vergangenheitsselbst (waren die Heizkosten tatsächlich so hoch, dass sie Selbstgeißelung rechtfertigten?). Das Bad schien Meilen entfernt, Berge und Serpentinen dazwischen. Er kämpfte sich vorwärts, Stück für Stück, doch selbst, als er ankam, konnte er sich nicht freuen. Er hatte es geschafft, ja. Doch Simon wusste, dass die schwierigste Aufgabe des Morgens noch vor ihm lag. Denn ein warmes, kuschliges Bett war nichts gegen eine warme, dampfende Dusche. Blind tastete er nach dem Lichtschalter. Er gönnte sich ein herzhaftes Gähnen und so viel heißes Wasser, wie er aushalten konnte. Das half.

Der Tag war grau. Statisch. Der Wind ein rauschendes Störsignal. Simon entschied sich für das weichste Flanellhemd, das er finden konnte und kramte dann seine Jacke hervor. Sie war etwas zerknittert - er schüttelte und klopfte sie aus, was jedoch nur bedingt half. Egal.

Vorsichtig trat er vor die Tür, strich sich die Haare über die Ohren. Arthurs Café war nicht weit entfernt, nur etwa zehn Gehminuten, das war zu schaffen. Cracklewood hatte nicht viele Geschäfte, doch die wenigen, die man brauchte (oder auch nicht), fand man praktischerweise alle hübsch aufgereiht in der Hauptstraße. Das Paper & Cup war das dritte Häuschen von links und es lag zwischen einem Woll- und Stoffladen (davon hatte die Stadt zwei) und Cracklewoods einziger Buchhandlung. Simon konnte den Blätterteig schon riechen, noch bevor er die tannengrüne Fassade erblickte. Ein bekannter Duft. Er stellte sich daher auf einen typischen Herbstmorgen ein, mit nur ein, zwei verschlafene Kunden an den Tischen und ein, zwei Personen vor ihm in der Verkaufsschlange. Hier und da ein „Guten Morgen“ und hier und da ein „Wie geht es dir?“.

Doch weit gefehlt.

Er stockte. Was war das für eine Versammlung direkt vor der Eingangstür? Hatte man das angekündigt? Ausgeschrieben? Vielleicht sollte er regelmäßiger die städtische Tageszeitung lesen? Simon reckte den Hals. Im Halbkreis standen sie da und sie alle starrten die leere Straße an. Je näher Simon ihnen kam, umso besser konnte er ihre säuerlichen Mienen ausmachen. Jeder hatte tiefe Furchen auf der Stirn und zu einem wütenden Dreieck zusammengezogene Augenbrauen. Niemand reagierte, als er sich zu ihnen gesellte, und niemand sprach. Ab und an wurde jedoch verächtlich geschnaubt und schließlich gab es sogar ein theatralisches Stöhnen, das Simon zum Anlass nahm, um seinen Rücken gerade zu machen und sich etwas zu strecken. „Was wird das hier?“, fragte er, die Hauptstraße immer noch im Blick. „Störe ich eine inoffizielle Tagung der Geschäftsinhaber? Falls ja: keine Sorge, ich bleibe nicht lange. Ein Donut und ihr seid mich wieder los.“

„Du magst doch gar keine Donuts“, grummelte Arthur, der ganz außen stand, ohne ihn anzusehen.

„Du bist eher der Typ für Schinken-Käse-Croissants.“

Die Anwesenden stimmten ihm zu und zwar alle: Mrs. Willowby vom Wollladen, der Winzer, die Buchhändlerin Ruth, sogar Ronald vom Delikatessenladen (der nur vom Namen her ein Delikatessenladen war, es sei denn, man zählte gefärbte Cornflakes und etwas welken Salat zur Gourmandise) mit all seinen Kassiererinnen. Simon fühlte sich ertappt, malte mit seinen Schuhspitzen Kreise auf das unebene Kopfsteinpflaster, denn ganz Unrecht hatten sie natürlich nicht. „Hast du denn welche da?“, fragte er Arthur daraufhin. Doch der schüttelte den

Kopf.

„Die machen ganz schön viel Arbeit“, sagte er und die Wörter kämpften sich an seinen Barthaaren vorbei. „Nur, um dann übrig zu bleiben.“ „Wenn du sie öfter machen würdest, würde ich öfter vorbeischauen.“

Jemand quietschte. „Oh, das klingt nach einem fairen Deal!“ Die Buchhändlerin lachte und Simon warf ihr einen kurzen Seitenblick zu: sie zog gerade an einem ihrer bunt geringelten, selbst gestrickten Socken. Er war ihr wohl heruntergerutscht.

Arthur hob eine Augenbraue. Simon kannte ihn schon lange (sie waren zusammen zur Schule gegangen - Arthur war besonders erpicht darauf gewesen, seinen eigenen Zauberstab zu basteln. „Meine Vorfahrin war eine Hexe!“ pflegte er zu sagen), daher wusste er, dass dank der störrischen Art seines Gegenübers jede seltene Geste zu deuten war, sei sie auch noch so klein. Und diese sagte ganz klar: ich bin genervt. „Das glaubst du ihm doch nicht etwa,

Ruth?“, fragte Arthur. Die Braue, die verdammte

Braue, blieb dabei, wo sie war.

„Sollte ich nicht?“ Ruth ließ den Socken los.

„Nein. Weil er uns nicht mag. Hat er noch nie. Es wundert mich ohnehin, dass er geblieben ist. Man könne meinen, man finde schnell eine neue Unterkunft, so als Professor.“

„Vielleicht beschwert er sich einfach gern?“

Das war der Punkt, an dem Simon protestierte. „Ich beschwere mich überhaupt nicht gern!“, rief er.

„Sondern?“ Erst jetzt drehte Arthur sich ihm zu.

„Nein, wirklich. Es interessiert mich. Wieso bist du geblieben?“

„Überall anders ist es auch nicht besser.“

„Ich nehme das als Kompliment.“

„Außerdem habe ich Familie hier.“

Dass das keine Ausrede war, wussten sie alle. Simon war ein Marchbanks und die Marchbanks waren seit dessen Gründung Teil von Cracklewood. Zimmerer waren sie gewesen und damit maßgeblich beteiligt an der Errichtung und Instandhaltung vieler regionaltypischer Gebäude und Sehenswürdigkeiten. Den Pavillon hatten sie errichtet, genau wie die älteste Kirche der Umgebung (komplett hölzern war die). Beide rochen nach Moor, nach Erde, nach sicherlich weisem, aber morschen, knarrenden Holz, nach Spänen und Vergänglichkeit. Simons Großvater hatte so gerochen, sein Vater tat es immer noch. Und auch, wenn er das Handwerk nicht erlernt und damit eine Tradition nicht gewürdigt hatte, die zurück bis zu den Pilgrims reichte: seine Familie hatte das Landschaftsbild geprägt. Möglich, dass es ihm nicht gefiel - aber stolz war er dennoch.

Arthur nickte ernst. „Wie geht es deinem Vater?“, fragte er und Simon stoppte seine kreisenden Fußbewegungen. Er erkannte ein Friedensangebot, wenn ihm eines unterbreitet wurde. „Irgendwelche Neuigkeiten?“

„Kaum. Aber er schlägt sich tapfer. Steht täglich an der Werkbank in der Garage.“

„Trotz seines Rückens?“

„Kennst ihn doch.“

„Gibt es langsam eine Diagnose? Sprechen sie immer noch von Krebs?“

„Ja, das steht immer noch im Raum.“ Er begann, auf seiner Lippe herum zu kauen. Es gab da diese eine Stelle, links unten, die eignete sich perfekt dafür. Dort gab es einen kleinen Hubbel und immer wieder sich lösende Hautfetzen. „Ich versuche, täglich nach der Arbeit hinzufahren, wer weiß, wie lange ich das noch kann.“

„Und Julie findet das in Ordnung? Ich erinnere mich an die Zeit nach der Geburt von…“

Er unterbrach ihn. „Ja, das darf ich mir immer noch anhören.“

„Ich finde ja, es haben beide Seiten recht.“

Ein Kichern erreichte seine Ohren, noch bevor er auf diese Aussage reagieren konnte. Es war kein boshaftes Glucksen, aber auch kein nettes. Es war definitiv nicht fröhlich und auch nicht traurig. Am ehesten war es unangebracht ehrlich. Ruth, die Buchhändlerin, versteckte ihr Lächeln hinter hervor gehaltener Hand. Ihre Nägel waren bunt lackiert - einige violett, einige orange, einige dunkelblau.

Nicht sehr erwachsen. „So ist es doch immer“, sagte sie. „Wahre Ungerechtigkeit ist rar.“ Simon starrte sie an, sie und ihre bunten Socken und ihre bunten Fingernägel. Kurz fragte er sich, wie alt sie war (er wusste es nicht) und wie er antworten sollte (das wusste er noch viel weniger). Er sah ihr dabei zu, wie sie ihre Brille mit dem Zeigefinger nach oben schob. Dann entschied er sich für ein Schnauben. Er schmeckte Blut, das von seiner Unterlippe an seinen Zähnen vorbeilief. Er leckte es auf.

Ruth passte eben perfekt hierher. Zuerst kaufte man ihr die Mystik ab, doch die einhergehende Faszination hielt nicht lange an. Genau aus diesem Grund blieben die meisten Touristen nicht lang. Sicher, sie kamen - und das in Massen, vor allem an Halloween - doch selten mehr als einmal. Viel gab es nicht zu sehen und auch wenn es zuerst anders wirkte: zu entdecken auch nicht. Auf dem Hexentanzplatz tanzten keine Hexen, es sei denn, der Gemeindevorstand organisierte eine Schauspielgruppe. Im Wald schwebten keine Lichter, höchstens Glühwürmchen. Das Museum kostete Eintritt, der Turm kostete Eintritt, das alte Pastorenhaus kostete Eintritt. Die Füchse stahlen den Müll, die Igel lagen oft plattgefahren an den Wegesrändern und die Raben waren feindselig. Nicht wenige zogen enttäuscht wieder ab.

Und Ruth litt unter dem gleichen Doch-nicht-Syndrom. Da halfen weder ihre rätselhaften Sprüche noch ihre knisternden Kleider oder ihr nicht festzulegendes Alter. Am Ende war sie dennoch Ladenbesitzerin, schrieb Rechnungen, machte Inventur, schnürte Pakete. Simon bekam jedes Jahr welche - zu Weihnachten und an seinem Geburtstag. Und Simon hatte, im Gegensatz zu manch anderen, keine Angst vor ihr.

„Lass gut sein“, sagte er schließlich. „Ich will nicht darüber reden - und eigentlich bin ich auch schon zu spät. Ich muss zum Campus. Heute Morgen ist Sprechstunde.“

„Geh einfach rein und hol dir, was du brauchst“, sagte Arthur. „Die Zange liegt auf dem Tuch links neben der Kasse.“

„Ich lege dir das Geld auf die Theke, ja? Was übrig bleibt, ist Trinkgeld. Soll ich noch jemandem etwas mitbringen? Es sieht aus, als würdet ihr noch eine Weile hier stehen wollen. Ihnen vielleicht, Mrs. Willowby?“

Mrs. Willowby war bisher stumm geblieben, doch Simon hatte das nicht weiter gestört. Im Gegenteil. Sie war noch nie eine Frau der vielen Worte gewesen. Vor vielen Jahren hatte sie Grundschulkindern ehrenamtlich das Stricken beigebracht. Er erinnerte sich noch genau: bewaffnet mit zwei Nadeln, eine in der rechten, eine in der linken Hand, war er in der ersten Reihe gesessen. Der Stuhl war ihm etwas zu hoch gewesen, seine Füße hatten den Boden nicht berührt. Das Wollknäuel vor ihm war rot gewesen. Er hatte sich angestrengt (und schon damals hatte sich der Hubbel an seiner Unterlippe als nützlich herausgestellt), doch hinterhergekommen war er nicht. Mrs. Willowby hatte vor sich hingearbeitet, die Bewegungen wiederholt und wiederholt. Sie hatte Masche für Masche angeschlagen, war dabei schneller statt langsamer geworden. Ein Klicken und noch eines und ihr Schal war fertig gewesen. Erklärungen hatte es keine gegeben und Simon, der bis heute nichts mit Handarbeit anzufangen wusste, war sich sicher: das einzige tatsächliche Cracklewooder Geheimwissen wurde im Wollladen in der Hauptstraße weitergegeben. Und er? Hatte sich der Strickhexerei als nicht würdig erwiesen.

Womöglich hatte sie ihn deshalb bis jetzt ignoriert. Was dazu führte, dass sie zusammenzuckte, was ihm sofort leid tat. „Oh!“, machte Mrs. Willowby, die Stimme ganz krächzend. „Ja, gern, mein Junge. Einen Kaffee, wenn es keine Umstände macht.“ „Nimm die vordere Kanne, Simon! Der hintere Kaffee ist entkoffeiniert“, riet Arthur ihm noch, was dazu führte, dass er sich ebenfalls schütteln musste. Wer trank denn so etwas?

Er hatte vor, sich zu beeilen, auch wenn ihn das Paper & Cup mit einer Wärme begrüßte, die seine Wangen streichelte. Und so dunkel die Fassade war, so hell und einladend war sein Innerstes. Die Kissen waren frisch aufgeschüttelt, die Tagessuppe blubberte rechts von ihm in einem glänzenden Topf vor sich hin. Die Decken waren noch zusammengelegt und bildeten saubere Rechtecke. Alles war noch unangetastet und unverschmiert. Ein Morgenvorteil. Simon umrundete mit großen Schritten die gläserne Theke. Er erspähte Zimtschnecken und große Cookies, Kuchenstücke mit Pecannüssen und belegte Paninis. Und ganz links, neben den Muffins, lagen die Donuts, bestäubt und glasiert. Um alles richtig zu machen und damit nichts aneinander klebte, packte er sie in zwei unterschiedliche Tüten. Dann suchte er sich eine Tasse für Mrs. Willowby aus. Er hatte die Wahl zwischen allen Farben des Regenbogens und entschied sich schließlich für die Größte, die er finden konnte. Sie erinnerte ihn an einen Swimmingpool.

Die verpackten Gebäckstücke und den Kaffee balancierend (er hatte es etwas zu gut gemeint und das Fassungsvermögen überschätzt) trat er zurück auf die Straße. Wieder klärte ihn keiner auf und langsam wurde er ungeduldig.

„Mir reicht’s!“, fluchte er und kaum hielt er kein Heißgetränk mehr in den Händen, trat er gegen eine gusseiserne Laterne. „Den Nächsten, der sich weigert, mir zu erklären, was wir hier auf der Straße tun, möge der Blitz treffen!“

Ein Raunen ging wellenartig durch die Menge. Die Welle kam schnell, war weniger eine aus Wasser, sondern mehr eine aus Druck. „Simon, also wirklich!“, empörte sich Roland vom Delikatessenladen. Und auch Ruth hob ihren Zeigefinger. „Mit Flüchen ist nicht zu Spaßen!“

„Wovor habt ihr denn Angst?“

„Vor dem Blitz, denn du uns auf den Hals gejagt hast.“

Seine Zehen schmerzten und vielleicht war das ja seine Strafe. Er blickte hoch zum Himmel - was er ausmachen konnte, sah aus, als hätte jemand Wolken etwas zu lange in einen Standmixer gegeben. Das Ergebnis? Ein unappetitlicher Dunstsmoothie.

„Daraus wird kein Gewitter. Nicht genug aufgetürmte Luftmasse“, entgegnete er. „Unmöglich.“ Ruth lächelte ein halbes Lächeln. „Das Risiko gehe ich dennoch nicht ein. Also.“ Langgezogene Vokale. Ein tiefes Einatmen und die Spannung kitzelte Simons Nacken. „Es geht um…“

„Ja?“

„Um die Bushaltestelle.“

Jeder Andere hätte wohl geglaubt, sich verhört zu haben. Ganz ungewollt rutschte ihm zwar ein

„Was?“ heraus, doch noch während er die Laute bildete, wusste er, dass es ihr Ernst war. Zu oft hatte er Unsinnigkeiten zu hören bekommen. So war es zu Streitereien um Zäune, Vogelscheuchen, Katzen oder Feuerwerke gekommen. Aber die alte Bushaltestelle? Das war neu. „Wo liegt das Problem? Die steht schon Ewigkeiten an der Hauptstraße! Ich glaube, irgendwo ist noch mein Name eingeritzt!“

„Stimmt! In der oberen Ecke, links neben dem verlassenen Vogelnest. “ Auch Ruth schien sich zu erinnern. „Wie bist du denn da hochgekommen?“

„Hab mir ne Trittleiter von meinem Vater geborgt.“ Und, um eine erneute angehobene Braue zu vermeiden, fügte er hinzu: „Er hat sie wiedergekriegt.“

„Das ist gut. Ich habe mal gelesen, dass die meisten Unfälle im Haushalt passieren. Was bedeutet: wenn du keine Leiter hast, kannst du auch nicht herunterfallen. Ein Risiko weniger.“

„Du liest zu viel, Ruth.“

„Mag sein. Das ändert trotzdem nichts an der Tatsache, dass Handwerkeln gefährlich ist.“

Das konnte Simon schlecht abstreiten. Er dachte an den Nagel, den sich sein Vater durch den Daumen gerammt hatte. Er dachte an die vielen verknacksten Knöchel, die angebrochenen Rippen. Er dachte an die abgesägte Fingerkuppe seines Großvaters.

Blut, so viel Blut. Noch immer wurde ihm schlecht, sobald er auch nur daran dachte.

„Jedenfalls…“ Er musste schlucken. Allein die Farbe! Contenance, sprach er sich zu. Contenance! „Bin ich dagegen, die Bushaltestelle abzubauen.“

„Wieso?“ Roland schnaubte. „Als Mahnmal? Bist du so stolz auf deinen Vandalismus?“

„Vandalismus?“, wiederholte Simon. Zuerst war er sich nicht sicher, ob er empört oder belustigt sein sollte. Lebenserfahrung und Unruhe sorgten schließlich dafür, dass seine Reaktion ein Glucksen war und zwar eines, das tief aus seinem Magen kam. „Ich war elf Jahre alt. Elf! Du kannst gern ausrechnen, wie viele Jahrzehnte das her ist!“

„Cracklewood vergisst nicht.“

„Sollte es aber.“ Ruth kam ihm zu Hilfe. „Loslassen ist gut für die Gesundheit. Groll macht Falten. Er ruckelt am Grundstock. An der Basis.“ Sie legte ihm die Hand auf den Unterarm und er fragte sich, ob das der Grund für ihr Nicht-Alter war. War sie einfach gut im Verzeihen? Im Beiseite-und-unter-denTeppich-kehren? Sie fühlte sich kühl an. Ihre Haut war blass, wie Milch, die man etwas zu lange hatte außerhalb des Kühlschrankes stehen lassen. Womöglich kostete Milde viel Energie und es blieb keine mehr für übrig, um Hämoglobin zu bilden. Ging ewige Jugend mit Eisenmangel einher? Ruth neigte den Kopf zur Seite, ihr langer Ohrschmuck klimperte. Schwarze Steine. Welche das wohl waren? Turmalin womöglich. Oder Onyx. Konnte eine Selbstständige sich Onyx leisten?

„Wir wollen gar nichts abbauen“, sagte sie. „Wir haben nichts gegen die Bushaltestelle. Nur etwas gegen den neuen Busfahrer.“

Und so kam es, dass Simon noch vor dem Frühstück vom neusten Klatsch und Tratsch erfuhr. Er war nicht überrascht. Einen Augenblick der Unaufmerksamkeit, mehr brauchte es nicht, um hineingezogen zu werden, hinein in das Drama und in das Gezanke.

Der neue Fahrer war für die Fahrt durch den Ort hin zu den umlegenden Nachbargemeinden zuständig. Es ging nach Harper’s Hollow, bevor er in Ravenridge kehrt machte und zurück fuhr. Keine große Sache, er stoppte, bevor er auch nur in die Nähe von Boston kam. Ab und an ein Reh zum Ausweichen, ansonsten kaum Möglichkeiten für Un-, Blöd-oder Irrsinn. Viele gerade Strecken - etwas, das zum Rasen motivierte.

„Der hat es auf uns abgesehen! Er und sein Bleifuß!“, rief Arthur. „Es kommen viel weniger Kunden. Keiner traut sich mehr über die Straße. Man läuft auch nicht über die deutsche Autobahn!“ „Ich bin mir sicher, jetzt übertreibst du.“

„Tue ich das?“

„Du warst noch nie in Deutschland.“

„Muss ich auch nicht. Alles Raser. Millionen davon.

Und irgendwann wird auch hier jemand vom Bus überfahren, wenn wir nichts unternehmen!“

„Dann gibt es eben einen Geist mehr.“ Simon zuckte mit den Schultern. „Wäre gut für’s Geschäft. Ihr beschwert euch immer, dass wir nicht den Geisterpro-Quadratkilometer-Weltrekord halten. Wie viele fehlen uns noch?“

„Acht oder neun“, antwortete Ruth. „Je nachdem, ob an der Sichtung am Fluss etwas dran ist oder nicht. Könnte auch einfach der Geist vom bärtigen Bauern sein, die Beschreibungen sind recht ähnlich. Das puscht unsere Zahl dann aber nicht nach oben.“ „Warum sollte der bärtige Bauer denn am Fluss auftauchen?“, fragte Frau Willowby.

„Warum nicht? Ein Tapetenwechsel tut jedem von uns gut.“

„Das macht das Zählen schwierig. Ich wusste nicht, dass Geister umziehen.“

„Tun sie im Normalfall auch nicht. Die meisten von ihnen schätzen die Sicherheit von Ritualen und Gewohnheiten. Ich bin stolz auf den Bauern, dass er sich dennoch getraut hat.“

Sie sprachen über den Geist wie über einen alten Freund aus Kindheitstagen. Man redete sich ein, die Gespenster zu kennen. Man war mit ihnen aufgewachsen, mit allen Geschichten über sie und allen Vorsichtsmaßnahmen - denn nicht alle von ihnen waren nett. Etwas, das sie mit den Lebenden verband. Der Bauer, einst im tiefsten Winter verhungert, war harmlos. Er fuhr mit seinem rumpelnden Karren die Felder entlang und lud Ernte über Ernte auf. Es war leicht, ihn zufrieden zustellen. Man ließ Rüben für ihn am Wegesrand liegen. Die überfahrenen Igel schaffte man dann meistens weg.

Doch es gab eben nicht nur ihn. Das Praktische: den wirklich bösartigen Geistern konnte man aus den Weg gehen. Man musste nur wissen wie. Manche tauchten nur an einem bestimmten Tag, während eines bestimmten Wetters oder nach bestimmten Aktionen auf. Die Witwe von der Hillside Lane hatte, so sagte man, eine Vorliebe für Männer mit glänzendem, glattem, blondem Haar. So jemand sollte im Hochsommer erst am Ende der besagten Straße die Hand seiner weiblichen Begleitung ergreifen, da sonst ihre Eifersucht geweckt werden könnte. (Simon hatte sich nie daran gehalten, was auch an seinen dunklen Locken lag. Er hielt Julies Hand, wann immer er die Chance dazu hatte. Kam seltener vor, als ihm das recht war. Er arbeitete viel).

Das Gespenst vom Rathaus mochte keine falsch ausgefüllten Erhebungsbögen - hier war es angebracht, über alle Formulare noch einmal drüber zu gehen, bevor man sie einreichte.

Und der Pfarrer vom Kirchplatz hasste auch nach hunderten von Jahren jegliches unsittliche Verhalten. Er war bekannt dafür, Stürme und Krankheiten zu schicken. Auf- und fernhalten ließ er sich nur durch das, was er am meisten verabscheute: Heidentum. Entsprechend entzündete man Bonfires, klopfte auf alte Töpfe oder verkleidete sich. Eine Art Versicherung der Einheimischen.

„Deshalb…“ Noch immer hatte Ruth ihren milchigen Griff nicht gelockert. Wie lang brauchte so etwas, um zu verderben? „Brauchen wir acht oder neun weitere Sichtungen, bevor wir Prag eingeholt haben.“ Die Art, wie sie den Städtenamen aussprach, war genauso sauer wie ihre Berührung. Was war das? Pure Missgunst?

„Ihr und eure Rivalität.“ Simon schüttelte seine Gliedmaßen aus und sie gleichzeitig von sich ab. Elegant, dachte er und beglückwünschte sich selbst zu diesem strategisch klugen Zug. Es sollte niemand behaupten können, er sei kein Gentleman! So hatte er niemanden beleidigt und war dennoch integer geblieben. „Ich habe gehört, dass es dort ganz schön sein soll.“

Ruth nickte gedankenverloren. „Hübsch ist’s da, ja. Würde nie etwas anderes behaupten. Nur…“ Sie brach ab, unterließ jegliche Erklärungen. Was blieb, war eine leise Ahnung einer Ahnung.

„Warst du schon mal da, Ruth?“, fragte Simon entsprechend verblüfft.

Sie sah ihn an und tat es doch nicht. Große Pupillen, wie zwei Vollmonde im Negativ. „Hmm?“, brummte sie. „Wo?“

„In Prag!“, wiederholte Simon etwas lauter, in der Hoffnung, sie aus ihrer Trance zu befreien. Er widerstand der Versuchung, mit den Fingern zu schnipsen. Europa. Wann war sie denn in Europa gewesen? Durch wie viele alte, verwinkelte, viel zu enge Gässchen war sie geschlendert? Wie viele unterschiedliche Sprachen hatte sie gehört? Man flog doch nicht auf einen anderen Kontinent nur für einen Nachmittag! Wäre ihre Abwesenheit nicht aufgefallen?

„Ach so, da. Ja, da war ich schon mal.“ Simon war erst zweimal außerhalb des Landes gewesen, für Konferenzen, für die er hatte kein Meer überqueren müssen. Alle anderen Treffen und Besprechungen hatte online stattgefunden. Ruckelnde Verbindungen, kleine Kollegenausschnitte. Er fragte sich oft, ob er nicht etwas verpasst hatte. Er träumte davon, die Welt nicht nur an den Rändern zu halten, sondern direkt hineinzugreifen. Er träumte von Abenteuern. Doch offenbar stand er damit alleine da.

Niemand schien sich über Ruths Europa-Eskapaden zu wundern, geschweige denn zu interessieren. Sie nahmen es stillschweigend als gegeben hin, hakten nicht weiter nach. Frau Willowby schlürfte nur ihren Kaffee.

Er hätte gern weiter nachgehakt, doch Arthur wechselte das Thema. „Jedenfalls…“ Er streckte sich. Neben ihnen flackerte die Laterne; sie würde bald ausgehen. „…haben wir beschlossen, Unterschriften zu sammeln. Wir brauchen einen anderen Busfahrer. Bevor es zu spät ist.“

Das war erstmal nichts Besonderes. In Cracklewood gab es oft Unterschriftenaktionen. In Cracklewood war das Engagement groß. Für Veränderungen reichte es dennoch nie.

„Tut was ihr nicht lassen könnt. Hauptsache, die Bushaltestelle bleibt wo sie ist.“ Er konnte nicht glauben, dass er dafür Zeit verplempert und seinen Morgen verschenkt hatte! Kurz schüttelte er die Tüte mit den Donuts, die er gar nicht gewollt hatte. Ihm wäre eine dampfende Schüssel Haferbrei lieber gewesen, mit etwas Honig und einigen Bananenscheiben. Und fünf Minuten länger unter der Decke und auf seinem Schafsfell. Ein viel zu seltener Luxus.

In der Nähe hörte er die Kirchenglocke zur halben Stunde schlagen und im Kopf überschlug er, wie schnell er fahren musste, um dennoch pünktlich am Campus zu sein. Die Parkplatzsuche blieb ihm dank semesterübergreifender Reservierung erspart, das half. Dennoch waren da die langen Korridore und das Kartenlesegerät, das seinem Namen nicht gerecht wurde - oft öffnete es die Tür nur durch händisches Eingeben des Codes und unnachgiebigem Ruckeln. Das musste mit eingerechnet werden. Kurzum: es war an der Zeit, aufzubrechen und der Versammlung zum Abschied zuzuwinken.

Er setzte sich in Bewegung, nicht auffällig schnell, denn Simon war durchschnittlich groß und hatte nur durchschnittlich lange Beine. Er lief deshalb verhältnismäßig unauffällige Schritte und das rettete ihm an diesem Tag das Leben. Wäre er nur etwas weiter auf der Straße gestanden, hätte Ruth keine Zeit mehr gehabt, zu reagieren. Sie hätte nur noch schreien können.

Er spürte ihre Hand erneut, dieses Mal auf seiner Schulter. Er wunderte sich noch über ihre Härte, fragte sich, woher sie die Kraft nahm. Es schmerzte. Ihre blauen, orangenen, violetten Nägel bohrten sich durch den Stoff, hinterließen womöglich Striemen. Wie sollte er die denn erklären?

Er wollte herum- und sie anfahren, sie an den von grundsätzlicher Höflichkeit diktierten Mindestabstand erinnern, doch auch dazu kam es nicht mehr. Sie zog ihn nach hinten weg, so als wöge er nichts, als wäre er herbstkäferleicht, und er landete grob auf seinem Steiß und dem Rinnstein. Kraft ging von ihr aus. Etwas Elementares. Pure Energie. In diesem Moment raste der Bus an ihnen vorbei. Er hatte nicht einmal abgebremst.

„Das war knapp!“, schnaufte Ruth hinter ihm. Sie klang tadelnd und Simon hatte Mühe, ihr zu folgen. Er saß da, die Beine ausgestreckt, mit blutender Schulter und den Mund zu einem O geformt. Saß da und lebte. Noch. Eine kupferfarbene Münze rollte den Bordstein entlang. „Du musst aufpassen, wo du hinläufst!“

„Ich…“ Wie viele Meilen pro Stunde waren das gewesen? Wie viel wäre von ihm übrig geblieben, wenn das Ding ihn erwischt hätte? Ob es ihn davongeschleudert hätte, in einer perfekten Parabel? „Ich…“ Simon betastete das Loch in seiner Jacke und blickte sich um. Da war Nebel, da waren knorrige Bäume, da waren Kürbisse. Es war der neunundzwanzigste September in der gruseligsten Stadt der Region, zweiunddreißig Tage vor Halloween. Und fast wäre er von einem Bus überrollt worden.

Er rappelte sich hoch. Die Backwaren hatte er verloren. Es fröstelte ihn. Übelkeit kam ihn ihm auf und er schluckte Galle herunter. Er spürte es. Das Glück entglitt ihm, in genau diesem Moment.

Denn es waren noch zweiunddreißig Tage bis Halloween und Simon war knapp dem Tod entgangen. Denn es war der neunundzwanzigste September

und eine Sache war nun klar: die gruseligste Stadt der Region, vielleicht sogar des Landes, brauchte einen Geist mehr. Und das, offenbar, möglichst bald.

Kapitel Zwei

Der Gurt surrte zurück. Normalerweise konnte er es kaum abwarten, ihn loszuwerden. Meist tastete er bereits nach dem Gurtschloss, während der Motor noch lief. Doch heute war alles anders.

Sein Wagen war schon am Abkühlen, das Radio hatte sich automatisch abgeschaltet, um die Batterie zu schonen. Ein Eichhörnchen war auf dem Dach gelandet, hüpfte nun herum und Simon saß immer noch hinter dem Lenkrad und hielt es umklammert. Seine Knöchel traten hervor. Sein Rücken schmerzte.

Studenten umrundeten sein Auto, einige spähten verstohlen hinein. Übergroße Hoodies und noch größere Egos. Schwingende Rucksäcke, quietschende Turnschuhe. Er starrte sie an, fuhr über sein Gesicht und spürte dicke Tränensäcke. Plötzlich kam er sich alt vor.

Er hatte immer geglaubt, so ein Gefühl würde sich langsam anschleichen. Deshalb hatte er sich vorbereitet, war mit Strategie an die Sache herangegangen. Er ging joggen im Wald, hatte eine liebste Strecke (dreißig Minuten und man war wieder am Ausgangspunkt, genau getimt). Er hatte eine Klimmzugstange und nutzte sie auch. Er aß wenig Tierprodukte, noch weniger Fleisch. Trank zwei bis drei Liter Wasser täglich. Das Ergebnis: keine Geheimratsecken, keine Krähenfüße. Volle Terminlisten zu seinen Sprechstunden und viele weibliche Namen, die aufgerufen werden wollten.

Nein, Simon war nicht alt - oder etwa doch?

Was er definitiv war: geschieden. Wieder verheiratet. Hausbesitzer. Und Vater. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: diese Dinge verschwanden nicht. Sie waren Fakt und verrieten ihn. Datierten ihn.

Die Uhr an seinem Handgelenk tickte weiter unerbittlich. Die Zeit verging. Wie lange hatte er noch? Was, wenn es weniger war als er angenommen hatte? Es hätte heute Morgen schon vorbei sein können.

Entsetzen ergriff ihn. Nicht, weil er noch so viele Pläne hatte, im Gegenteil. Er hatte nie weiter gedacht als bis hierhin. Er befand sich in einem Vakuum und jeder Tag war gleich, so gleich, dass es ihm nicht aufgefallen war.

Es gab nichts mehr, auf dass er hinarbeiten konnte, mit Fleiß und Anstrengung. Er konnte nur noch abwarten und hoffen, das Schicksal möge ihm einige Krümel hinwerfen. Früher hatte er selbst gebacken.

Simon atmete tief aus.

Er schuldete Ruth eine Flasche Rotwein.

Und ein langes Gespräch über Bücher. Simon konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal eines gelesen hatte. Meist betrat er ihren Laden mit dem festen Vorhaben, sich nur mit ihrer Katze zu beschäftigen. Es schien sie nicht zu stören, immerhin war das Ergebnis ein gebürsteter und zufriedener Kater. Wer kaufte schon mit Fell garnierte Romane? Eigentlich ein guter Deal. Simon mochte Katzen, vermisste sehr seine eigene. Nach seinem Abschluss war sie gestorben und auch wenn er behauptete, darüber hinweg zu sein und keine Zeit für ein weiteres liebebedürftiges Wesen in seinem Heim zu haben: jeder, der ihn kannte, wusste, dass das eine Lüge war. Simon war nicht gut im Lügen - seine Mutter meinte regelmäßig, man sehe es ihm an den Ohrläppchen an, was auch immer das bedeuten möge.

Er hatte sich seine Katze wie einen Schal um den Hals legen können. Hatte jahrelang keine Wärmflasche gebraucht, das hatte sie übernommen. Manchmal, wenn ihm langweilig gewesen war, hatte er Kissen aufgetürmt, mit ihr als Fundament, und sie hatte ihn gelassen (ein Turmbau zu Katzylon). Was für ein Glück er mit ihr gehabt hatte! So eine Gefährtin gab es nicht noch einmal. Wieso es also probieren? Nur um enttäuscht zu werden?

Ruths Kater war da das Zweitbeste. Er kam ohne Verantwortung, ohne schlechtes Gewissen seiner verstorbenen Freundin gegenüber. Aus mehr bestand seine Beziehung zu Ruth nicht. Ein Nicken, ein Lächeln. Katze bürsten. Haare davon niesen. Weihnachtspakete annehmen. Und dennoch. Sie hatte ihm das Leben gerettet. In ihrer Lebensrealität ging so etwas sicherlich mit einem Pakt einher, einer interstellaren Verbindung. War da etwas dran? Stand er in ihrer Schuld, bis ans Ende aller Tage?

Simon zog die Luft scharf durch die Zähne. Oh je. Das war ihm nicht recht. Es war wie bei jedem Kredit: er schnürte ein. Sofort bekam er Bauchschmerzen.

Mit der rechten Hand massierte er sich die Magengegend, während er mit der linken nach dem Türgriff tastete. Frische Luft! Er brauchte dringend frische Luft! Ob er heimfahren sollte? Oder sollte er sich abholen lassen?

Ihm wurde schwindelig. Speichel flutete seine Mundhöhle, er würgte ihn herunter. Würgte und würgte. Dass er sich nach vorn gebeugt hatte und sich nun in Schonhaltung befand, bemerkte er daran, dass der Asphalt des Parkplatzes näher zu kommen schien.

„Simon?“

Er sollte reagieren, doch er konnte sich nicht dazu aufraffen. Alles, was heute geschehen war, war auf das dritte Newtonsche Axiom zurückzuführen, auf Actio und Reactio. Er hatte nur agiert, weil man etwas von ihm verlangt hatte. Wenn keine Impulse von außen gekommen wären, wenn man ihn einfach in Ruhe gelassen hätte, nun…eventuell wäre er im Bett geblieben. In Sicherheit. Er hatte das alles nicht gewollt. Wieso verlangte man nur immer so viel von ihm?

„Simon!“ Ein Schatten. „Soll ich vor zu den Medizinern rennen? Muss ich einen Krankenwagen rufen?“

Allein der Gedanke an nervtötende Sirenen ließ ihn hochfahren. „Bloß nicht!“, beeilte er sich zu sagen, mit einer Stimme wie Sandpapier.

„Hast du einen Herzinfarkt? Oder einen Schlaganfall?“

„Glaub nicht.“ War er etwa in einem Alter, in welchem man mit so etwas rechnen musste?

„Was hast du dann?“

„Panik. Ich wäre vorhin fast von einem Linienbus erfasst worden.“

„Bitte was?“

„Und das Schlimme?“ Simon sah auf. „Ich weiß nicht einmal, um welche Nummer es sich gehandelt hat. Kann sein, dass es der Drei-Fünfer war. Oder eben der Sieben-Zweier. Fahren beide in die gleiche Richtung, die eine nur die halbe Strecke. Kann mich nicht mehr an den Plan erinnern. Ich bin seit meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr kein Bus mehr gefahren.“

„Lass mich raten: das Masterfeier-Fiasko.“

„Richtig. Seitdem stolz kotzfrei.“

„Gratuliere.“

„Danke.“ An dem Tag hatte er seiner Exfrau einen Antrag gemacht. Den Ersten von vielen. Manchmal fragte er sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn sie standhaft geblieben wäre.