Cristiano, Ela und ich - Paula De Roberti - E-Book

Cristiano, Ela und ich E-Book

Paula De Roberti

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Beschreibung

Wenn dich beim Hören der Songs der 80er Jahre die Sehnsucht packt, wenn dir dein Schwarm aus der Schule oder deine erste große Liebe nicht aus dem Kopf geht. Wenn du kaputt daran gehst, weil du weißt, dass die 80er länger als lange vorbei sind und weil es leider keine Fahrkarte zurück in diese Zeit gibt. Aber auch, wenn deine Klassenfotos dich sentimental stimmen - dann bist du hier richtig! In der Kulisse eines Siebzigerjahre-Ghettos, mitten im Ruhrpott. Aber auch im Villenviertel, gleich um die Ecke. Wenn dich das Setting vom Italien der Achtziger in Urlaubserinnerungen an Liebe, Rotwein und Meeresrauschen schwelgen lässt - dann bist du hier richtig! Ich wage es zu behaupten, du wünschst dir den Buzzer, der dich, wenn auch nur für einen Tag, zurückgehen lässt. Und wenn du tatsächlich solch einen Wunsch verspürst, solltest du mein Buch dazu nutzen, um noch einmal das zu erleben, was für dich einmal dein Leben war. Ela hat diese Chance 2019 bekommen! Ela hat die Gelegenheit genutzt, um Cristiano, ihre erste, große Liebe, noch einmal zu treffen. Ela hat die Möglichkeit, eine Entscheidung, die Cristiano 1985 sein Leben gekostet hat, neu zu überdenken, um sich dieses Mal vielleicht anders zu entscheiden. Und Ela braucht nicht lange, um Ihre Entscheidung zu treffen, doch dabei hat sie etwas Wichtiges übersehen ...

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Für Mama die mich nie aufgegeben hat und mich nie verlassen hat.

Für meinen Sohn.

Wenn Dich beim Hören der Songs der 80er-Jahre die Sehnsucht packt, wenn Dir Dein Schwarm aus der Schule oder Deine erste große Liebe nicht aus dem Kopf geht.

Wenn Du kaputt daran gehst, weil Du weißt, dass die 80er länger als lange vorbei sind, und weil es leider keine Fahrkarte zurück in diese Zeit gibt.

Aber auch, wenn Deine Klassenfotos Dich sentimental stimmen – dann bist Du hier richtig!

In der Kulisse eines Siebzigerjahre-Ghettos, mitten im Ruhrpott.

Aber auch im Villenviertel, gleich um die Ecke. Wenn Dich das Setting vom Italien der Achtziger in Urlaubserinnerungen an Liebe, Rotwein und Meeresrauschen schwelgen lässt – dann bist Du hier richtig!

Ich wage es zu behaupten, Du wünschst Dir den Buzzer, der Dich, wenn auch nur für einen Tag, zurückgehen lässt.

Und wenn Du tatsächlich solch einen Wunsch verspürst, solltest Du mein Buch dazu nutzen, um noch einmal das zu erleben, was für Dich einmal Dein Leben war.

Ela hat diese Chance 2019 bekommen!

Ela hat die Gelegenheit genutzt, um Cristiano, ihre erste große Liebe, noch einmal zu treffen.

Ela hat die Möglichkeit, eine Entscheidung, die Cristiano 1985 sein Leben gekostet hat, neu zu überdenken, um sich dieses Mal vielleicht anders zu entscheiden.

Und Ela braucht nicht lange, um ihre Entscheidung zu treffen, doch dabei hat sie etwas Wichtiges übersehen …

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

1984

KAPITEL EINS

2019 – IRGENDWO IM RUHRPOTT …

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

SILKE

KARL

REET

1984

PAPA

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

MAMA

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

’84

KAPITEL NEUN

ITALIEN

KAPITEL ZEHN

DAHEIM?!

KAPITEL ELF

SASKIA

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

ITALIEN 2019

CHRISTIANO 20.03.1968 – 01.01.1985

KAPITEL ACHTZEHN

1984

SIEBZEHN JAHRE, ELA

DIE SUPERDUPER-FETE

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

DEPECHE MODE

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

MARIO

DIE FETE, DIE KEINER IN SEINEM LEBEN MEHR VERGISST!

EPILOG

PROLOG

1984

»Los, ihr Schlampen und Versager!«, ruft Silke lachend von der breit aufstehenden Wohnungstür.

»Sonst fangen die da draußen noch ohne uns an!«

Die Clique zieht, ebenfalls lachend und in einer Polonaise, an ihr vorbei.

Anschließend biegt die Polonaise nach links ab, zu den Stufen der Dachterrasse. Und tatsächlich, man kann schon das Kreischen der ersten Raketen hören.

Und ich, ich gehe zuletzt!

Silke knallt hinter uns die Wohnungstür ins Schloss.

Aber auf dem Treppenabsatz holt sie mich ein und hakt sich bei mir unter.

»Wenn ich nur daran denke …« , sage ich und lege mir die Hand auf den Magen.

Silke bleibt stehen, aber ich winde mich aus ihrem Arm und gehe, wie ein Dummy, Stufe um Stufe weiter. Ihre Stimme hallt hinter mir durch den Flur. »Warum musst du es ihm auch unbedingt heute sagen! Ela, es ist Silvester!«

Cristiano kommt uns an der Tür zur Dachterrasse entgegen. In der Hand hält er ein halbleeres Sektglas und seine Augen sind schon mehr als glasig!

Zu dritt schlendern wir zum anderen Ende der Terrasse, zu dem freien Stehtisch an der Wand, auf dem auf einem Tablett zwei Gläser mit Sekt stehen.

Cristiano stellt sein Glas ab. Dann nimmt er die Gläser und reicht zuerst mir und danach Silke eine der teuer aussehenden Sektflöten aus der Vitrine der Penthouse-Besitzer. Jene, die Silke nur ihren Schlüssel gegeben hatten, damit diese die Blumen gießen konnte, während die Herrschaften im Winterurlaub waren. »Ich geh dann mal rüber zu den anderen!«, sagt Silke und hebt kurz ihr Glas. Ihr Ich geh dann mal rüber zu den anderen mag sich für den Normalsterblichen völlig unspektakulär angehört haben. Doch ich hörte die Anklage zwischen den Zeilen.

Cristiano steht jetzt hinter mir. Er hat seine Arme um mich geschlungen und sein Gesicht ist in dem Loch in meinem Schlüsselbein vergraben. Und während er mich zur Musik aus meterhohen Boxen sanft hin und her wiegt, spüre ich seinen Herzschlag in meinem Rücken, sogar durch unsere Winterjacken hindurch. »Ich liebe dich, Tesoro!«, flüstert Cristiano mir ins Ohr. Dabei streift sein Atem, warm und nach Sekt duftend, über meine kalte Wange.

Ab und zu nippt er über meine Schulter hinweg an seinem Glas.

Aber plötzlich lässt er mich los. Er nimmt mich an die Hand und zieht mich mit, zur Brüstung auf der anderen Seite der Terrasse.

Und hier stehen wir, den eisigen Wind in unseren Gesichtern. Ich beobachte Cristiano aus den Augenwinkeln. Ich betrachte sein Lächeln, während er vom Dach der siebten Etage über die Stadt schaut. Und anschließend hinauf zu den verfrühten Raketen, die gerade eine Million Sterne über den schwarzen Himmel streuen.

Und gerade noch rechtzeitig blinzele ich die heiß aufsteigenden Tränen weg, bevor Cristiano sich zu mir dreht. »Nur noch ein paar Minuten und dann geht’s ab ins nächste Jahr!« Er beugt sich vor und küsst meine eiskalte Nasenspitze. »Und das Neue wird so was von geil …«

Cristiano nimmt mir das leere Glas aus der Hand. »Und lauf mir nicht weg! Ich hol nur frischen Schampus!«

Ich sehe ihm nach, wie er zur Bar schlendert und dort den Sekt nachfüllt.

Und ich beobachte seinen Gang, als er mit den Gläsern in der Hand zurückkommt. Außerdem bewundere ich sein perfektes Grinsen. Und als er mir zuzwinkert und mir daraufhin die Beine weich werden, frage ich mich allen Ernstes, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe, ihn gleich abservieren zu wollen.

Als Cristiano mir den Sekt reicht, scheint er überhaupt nicht zu bemerken, dass ich seinen Rausch nicht teile. Dass ich mich in einem Vakuum befinde.

Und als er erneut von hinten seine Arme um mich legt, anschließend sein Kinn auf meinen Scheitel stützt, kommt passenderweise ein Song aus der Box, der meine eh schon völlig aus den Fugen geratene Gefühlswelt noch mehr durcheinanderbringt. Und ich meine, ich kann spüren, es kann aber auch nur Einbildung sein, wie sich mein Herz in der Brust verkrampft. Weil ich weiß, dass ich Cristianos Herz gleich brechen werde.

Dann ist es endlich so weit. Die anderen aus der Clique, die in einiger Entfernung von Cristiano und mir stehen, halten jetzt ihre Gläser, aber auch ganze Sektflaschen hoch. Alle Blicke haften auf der überdimensionalen Kirchenuhr an dem Hochhaus gegenüber, derer Sekundenzeiger sich im Stakkato auf die Zwölf zubewegt.

Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.

Wie auf Knopfdruck schießen Böller und Raketen in die Stratosphäre. Und es riecht nach Explosion!

Es riecht nach Neujahr!

Es riecht nach 1985!

Cristiano nimmt mein Gesicht in seine Hände. Er senkt den Kopf und küsst mich wie immer, so, wie ich es bei keinem anderen zuvor erlebt habe. Cristiano küsst unglaublich gut. Und in diesem Moment, kann ich sein Küssen auch gar nicht besser beschreiben, weil ich ihn jetzt nur noch genießen will. Weil es heute zum letzten Mal sein wird. Cristianos Zunge ist warm und sie schmeckt nach süßem Sekt, sie schmeckt nach Zigaretten und nach ihm. Und ich bekomme, wie meistens, wenn wir uns küssen, eine dicke, fette Gänsehaut.

»Frohes Neues!«, sagt Cristiano, nachdem unsere Lippen sich getrennt haben und unsere Pupillen ineinander versinken.

Meine Stimmbänder versagen nicht viel, aber dennoch zu viel, weil meine Stimme mir fremd vorkommt, als ich sage: »Frohes Neues, Cristiano.«

Wieder senkt Cristiano den Kopf, um mich erneut zu küssen. Aber er hält inne, als er die Tränen sieht, die in meinen Augen stehen, wie Pfützen in Asphaltlöchern. »Hey, nicht weinen; Engel, weine nicht, schon gar nicht in so einer Nacht.«

Ich schiebe ihn von mir weg und gehe einen Schritt zurück, dabei wische ich mir über die Augen.

»Cristiano, ich muss dir was sagen!«

Ich kann sehen, wie es in seinem Hirn zu arbeiten beginnt. »Mario! Stimmt’s?«

Ich sage nichts. Ich stehe nur da, mit gesenktem Kopf. Ich betrachte, als gäbe es gerade nichts Wichtigeres, die Matschränder auf meinen Cowboystiefeln. Und ich höre einen leisen Hauch von Hoffnung in Cristianos Stimme. Aber zeitgleich auch die Einsicht, als er sagt: »Du hast dich für meinen Bruder entschieden!«

Plötzlich packt er mich an den Schultern, sodass ich ihn jetzt ansehen muss. Ich sehe zu, wie der Glanz in seinen Augen erlischt! Wie aus seinen türkisfarbenen Augen gewöhnliche blaue Augen werden. Als ich aber noch immer nichts sage, lässt er mich los. »Er hat’s, geschafft! Mario hat es echt geschafft. Aber warum lässt er dich die Drecksarbeit machen? Oder hat er Schiss, dass ich ihm dieses Mal eine reinschlage? Verdient hätte er es!«

Die anderen sind jetzt still, sie gucken nur zu uns rüber. Ich weiche Silkes Blick aus, und bis auf den typischen Silvesterlärm scheint die Zeit wie angehalten!

Aber da löst Silke sich aus dem Pulk und kommt auf uns zu.

Sie legt mir den Arm um meine Schultern, bevor sie mich zum Treppenabgang lenkt.

Als ich nach nur wenigen Metern stehen bleibe und mich umsehe, steht Cristiano mit gesenktem Kopf und mit hängenden Armen an derselben Stelle, an der Brüstung.

»Komm!«, sagt Silke und schiebt mich weiter, zum Treppenabgang.

Plötzlich schreit jemand los! Und als Nächstes brüllen alle durcheinander. Ein Mädchen, Tina?, kreischt immer wieder Cristianos Namen! Eine Armee aus Schritten rennt über die Holzbohlen.

Und ich schaue zu Silke. Silke schaut zur Brüstung, und ohne zu sehen, was passiert war, weiß ich, was geschah. Ich sehe es an ihrem aufgerissenen Mund, und ich sehe es in ihren Augen!

EINS

2019 – IRGENDWO IM RUHRPOTT …

»Schatz, wo bleibst du denn?«, ruft Mario. Er untermalt sein Rufen mit einem doppelten Gehupe.

»Ich bin sofort da!«, rufe ich und schlüpfe dabei in meine Sneaker.

Danach werfe ich meinen Haustürschlüssel, zusammen mit dem Smartphone, in meine Handtasche.

Mario öffnet mir, über den Beifahrersitz hinweg, die Wagentür und ich lasse mich neben ihn gleiten. Dann schlage ich die Tür zu. Seine Augen kleben an meinen, nicht übertrieben trainierten und darüber hinaus gebräunten, Beinen. Und ich stelle, wie so oft, fest, dass sich die Plackerei im Fitnesscenter tatsächlich zu lohnen scheint.

Mario dreht den Zündschlüssel herum und lässt ein paarmal den Motor aufheulen. Und ich fahre, kichernd, mit den Fingern durch seine kurzgeschnittenen und schon über die Schläfen hinaus ergrauten Locken. »… wirst du eigentlich nie erwachsen?«

Er lächelt, statt eine Antwort zu geben, und schaut in den Außenspiegel. Und als es der Verkehr erlaubt, lenkt er den Wagen auf die Straße.

Dann tritt er überzogen aufs Gaspedal, sodass wir in die Sitzlehnen fliegen.

Als wir den Mittelaltermarkt erreichen, versinkt die Sonne schon hinter den Bäumen.

Der Geruch nach Rauch, nach gebratenem Fleisch und nach Kräutern überlagert den gesamten Marktplatz. Und irgendwo spielt jemand auf einem Dudelsack. Ein skurril geschminkter Jüngling, wie es aussieht, noch in seinem viel zu großen, karierten Pyjama, stolziert auf Stelzen zwischen den Marktständen umher. Etwas weiter braten Ferkel über dem Feuer, man hat ihnen den Spieß durch den Leib getrieben, ihre kleinen Augen sind zwar geschlossen, dennoch habe ich das Gefühl, dass sie mich, um Hilfe bittend, anstarren.

Ich wende mich schnell dem Feuerschlucker zu. Denn ich kann den Anblick dieser armen Seelen nicht länger ertragen.

»Mylady, dort fließt echt bombiges Bier!«, sagt Mario und bietet mir seinen Arm. »Aber auch Rotwein! Und der ist auch nicht von schlechten Eltern.«

Ich hake mich kichernd ein. »Okay, Mylord. Dann zeigen Sie mir mal, was Sie so zu bieten haben.«

Mario hat nicht zu viel versprochen, denn der Wein ist grandios. Wir bleiben in dieser Kaschemme und wir flirten und genießen diesen Abend, so lange, bis der Wirt die Stühle hochstellt.

Draußen ist es jetzt menschenleer, auch der Feuerschlucker packt seine Ausrüstung zusammen. Und ein Stück weiter breitet ein in die Jahre gekommener Herr mit rotem Spitzbart und mit Zigarrenstummel im Mundwinkel schwarzen Samt über seine Schmuckauslage. Mario sieht meinen Blick, er kennt meinen Geschmack, was das Kleinod betrifft.

Er winkt dem Herrn zu, noch ehe ich ihn davon abhalten kann. »Guter Mann?« Der »gute Mann« hält inne. »Geben Sie uns noch eine Minute Ihrer kostbaren Zeit?! Ich würde meiner Frau gerne noch eine Freude machen.«

Der Alte kratzt an seinem Bart und scheint abzuwägen, was er in letzter Minute noch rausschlagen könnte. Dann spuckt er den Zigarrenstummel auf den sandigen Boden. »Aber machen Sie nicht mehr so lange, meine Frau hat sicher schon das Essen auf dem Tisch.«

Ich betrachte die kunstvoll gefertigten Amulette, die Medaillons, kann mich aber für keines so richtig entscheiden.

»Wie gefällt Ihnen dieses Stück?«, fragt der Alte und streckt mir seine Hand entgegen. Auf seiner Handfläche liegt auf dem Rücken ein silberfarbener Drache. Er ist in etwa so groß wie mein Daumen und seine kleinen Flügel hat er zu den Seiten ausgestreckt. Sein Bauch sieht aus wie eine mit Rissen durchzogene Erdkugel.

Mario ignoriert das Angebot des Alten und zeigt stattdessen auf ein Amulett in der ersten Reihe.

»Schau mal, Schatz, die Sonnenscheibe dort oben, die ist doch schön.«

»Ich nehme den Drachen!«, sage ich zu dem Alten, der mich jetzt aus seinen stahlblauen Augen anstarrt.

Und das tut er auch noch, während er die Figur auf meine Handfläche gleiten lässt.

»Er ist wie für Sie gemacht … Mylady!«

ZWEI

Am nächsten Morgen rettet mich mein Smartphone aus einem grauenhaften Traum; ich hatte Saskia im Kinderwagen vor dem Bäcker abgestellt. Doch ich hatte sie vergessen und war mit frischen Brötchen, aber ohne mein Kind nach Hause gegangen.

Ich setze mich auf und nehme das Smartphone vom Nachttisch. Dann lese ich Saskias Nachricht.

»Hallo Mommy, habt ihr heute schon was vor?

James und ich wollten vielleicht am Nachmittag zum Grillen vorbeikommen. Kuss, Sassi.«

Daddy und Mommy! So nannte unsere fünfundzwanzigjährige Tochter uns, ihre Eltern.

Fasziniert von diesem Kontinent war sie eines Tages aus dem Amerika-Urlaub zurückgekommen. Und noch am selben Abend stellte sie uns James vor, ihren Verlobten. Sie hatten sich, ganz Klischee, auf einer Beach-Party in Florida kennengelernt. Für die beiden war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ja, wir mochten den humorvollen James, der seine Heimat aufgegeben hatte, um auf einem anderen Erdteil, wenn auch nur für begrenzte Zeit, mit in das ausgebaute Dachgeschoss unserer Tochter zu ziehen. Ab da verbrachten wir die Abende zu viert. Mit Rotwein und mit viel Gelächter. Und mit guten Gesprächen. James lernte in der Volkshochschule Deutsch. Und er begriff zügig. James war Ingenieur! Und es dauerte nicht lange, bis er eine gute Anstellung fand. Und es dauerte ebenfalls nicht lange, bis er für Saskia und für sich ein Haus in unserer Nähe kaufte. Im Grünen, im Villenviertel. Alles war perfekt.

Nachdem ich meiner Tochter zugesagt habe, lege ich mein Telefon zurück auf die Konsole. Anschließend ziehe ich deren Schublade auf.

Es klimpert nur ganz leise, als ich den Drachen an seiner langen Kette hervorhole und ihn dann auf meine Handfläche lege. Mit dem Daumen streiche ich über die tiefen Risse auf seinem kugelförmigen Bauch. Doch plötzlich meine ich, ein Gesicht zu sehen. So, wie man Gesichter im Muster der Badezimmerkacheln sieht. Oder in Quellwolken. Ein Gesicht, an das ich ewig lange nicht mehr gedacht habe.

»Er ist wunderschön!«, flüstert Mario mir ins Ohr und ich fahre zusammen.

»Musst du mich so erschrecken!«

Meine Fingerspitzen kribbeln, als hätte ich in einen Haufen Brennnesseln gepackt.

Und ich fühle mich fast so wie erwischt, als ich das Schmuckstück in die Schublade zurücklege. Mario lässt sich hinter mir ins Kissen zurückfallen. Er fängt an, mit seinem Finger meine nackte Wirbelsäule entlangzufahren. »… schlechtes Gewissen?«

»Was redest du da?«, sage ich einen Tick zu laut.

Als wir miteinander schlafen, habe ich Cristiano vergessen.

Ich stelle die Schüssel mit dem Nudelsalat auf den Gartentisch.

Dann mache ich mich auf den Weg zurück ins Haus, um noch Gläser für den Wein zu holen.

Mario steht im Türrahmen und versperrt mir grinsend den Weg. »Hoppla, meine Schöne, wohin denn so eilig?«

»Wir brauchen doch noch Weingläser!«, sage ich und will an ihm vorbei. Doch Mario zieht mich an sich. »Du warst so unglaublich … heute Morgen.«

Sein Blick fährt an meiner Figur abwärts, an meinem weißen Sommeroverall. Er nimmt meine in »Frenchlook« getunten Finger und führt diese an seine Lippen. »Du bist nach all den Jahren immer noch so was von umwerfend!«

Mario fasst jetzt mein Kinn, hebt mein Gesicht und seine Lippen kommen näher und näher. Sie haben fast meinen Mund erreicht, als es viel zu früh an der Haustür klingelt.

»Saskia, James, da seid ihr ja. Mutti ist im Garten.«

Ich streiche mir über den Overall, auch wenn wir nichts anderes getan haben, als uns fast zu küssen.

Mit den Weingläsern flitze ich zurück in den Garten und stelle sie neben den Wein auf den Tisch. Hiernach drehe ich mich um. »Herzlich willkommen, ihr zwei!«

Meine Tochter kommt auf mich zu, legt ihre schlanken Arme um meinen Hals und drückt mich an sich. Als sie mich loslässt, bemerkt sie den Drachen in meinem Dekolleté. Sie nimmt die Figur in die Hand. »Mommy … was ist das denn für ein schickes Teil? Warum hab ich das noch nie bei dir gesehen? Hast du das schon länger? Ist das ein Geschenk von Daddy? Der sieht ja mega aus …«

Mario hatte mit James zusammen die Rosenstöcke im hinteren Teil des Gartens bewundert. Jetzt schlendern sie zu mir und meiner Tochter …

James begrüßt mich mit Küsschen rechts und links auf die Wangen. James nimmt Saskia die Figur aus der Hand und nickt anerkennend.

Doch noch bevor er den Drachen genauer betrachten kann, nehme ich ihm die Figur aus der Hand und lege sie, wie ein rohes Ei, zurück auf meine gebräunte Haut.

»Dann lasst uns mal anfangen!«, sage ich und lege meine Arme um meine Tochter und deren Verlobten.

Gemeinsam gehen wir rüber zum gedeckten Holztisch, und auf dem Weg dorthin erzähle ich von unserem Besuch auf dem Mittelaltermarkt. Und wie ich zu dem Drachen gekommen war.

Mario steuert mit der Grillzange in der Hand und einem Tablett, beladen mit einem Berg aus Schnitzeln und Würstchen, den Feuerrost am Rande des Gartens, unter der alten Kastanie, an. Während James den Wein entkorkt und ihn dann in zwei Römer schenkt, bindet Saskia ihre schwarze Mähne zu einem Pferdeschwanz.

Anschließend verteilt sie Salate, Oliven und Baguette auf unsere Teller. Während ihre Hände vor meinem Gesicht herumhantieren, versuche ich mit aller Gewalt, das Gesicht von heute Morgen zu verdrängen. Das sich, egal ob ich meine Augen schließe oder auch nicht, vor meine Pupillen drängt.

»James, mein Sohn!«, ruft Mario vom Grill her und holt mich damit aus meinen Gedanken. »Komm her zu mir, zu einem Männerplausch, aber bring kaltes Bier mit!«

James reicht mir und Saskia den Wein.

Dann nimmt er, aus einem mit Eiswürfeln gefüllten Bottich in seinem Rücken, zwei Flaschen Bier. Er geht über den getrimmten Rasen zu Mario. Dieser hat sich mit dem Rücken zu uns auf einen Campinghocker zum Auseinanderziehen vor den Grill gehockt.

Wir nippen eine Weile am Rotwein, als Saskia unerwartet ihre Hand auf meine legt. »… warst du eigentlich schon mal bei Silke?«

»Nein!«, sage ich und blinzele, um meinen aufsteigenden Tränen mehr Raum zu geben.

»Wie lange ist es jetzt genau her?« Sassi spielt mit meinen Fingern, wie sie das als Kind getan hat.

»… ziemlich genau vier Monate!«

Ich werfe den Tab in die Spülmaschine, danach drücke ich die Klappe zu und wähle das Programm. Mario kommt, mit noch vom Duschen feuchtem Haar und barfuß und nur in Shorts, in die Küche.

Er grinst und schwenkt eine vor Kälte beschlagene Weißweinflasche und zwei Gläser. »Ich weiß, ich weiß; es ist schon fast Mitternacht, aber ich muss morgen erst um zehn in der Praxis sein. Ein Absacker ist also noch drin.«

Wir sitzen uns gegenüber am Küchentisch und genießen den eiskalten Wein. Dabei lassen wir den Grillnachmittag, der sich bis in den späten Abend gezogen hat, Revue passieren.

Und in der Überzeugung, unser aller Leben verliefe für die nächsten Jahre in gewohnten Bahnen, gehen wir später ins Bett.

Aber um drei Uhr früh kann ich den Durst nicht mehr ignorieren und befreie mich aus Marios Armen.

Und nur vom Mondlicht begleitet, schleiche ich im Morgenmantel die Treppe runter, zur Küche.

Ich lehne mich, ohne das Licht angeknipst zu haben, an die Spüle. Und ich trinke gerade das zweite Glas Kranwasser, als ich die Gestalt mit dem roten Spitzbart, vom Mondlicht beschienen, auf dem Küchenstuhl erkenne.

Der Rest geht dann ganz schnell; das blau getönte Glas fällt mir aus der Hand und knallt auf den Boden. Die Scherben schlittern über die schwarzweißen Kacheln und ich reiße den Mund auf, um zu schreien. Doch es reicht nur zu einem Krächzen. Der Alte rudert jetzt mit den Händen, als könne er meinen Schrei, falls doch noch einer käme, ihn einfangen. »… bitte …«, fleht er leise. »… ich tue dir nichts!«

Hektisch, aber noch nicht panisch, suche ich meine Umgebung nach einem Messer oder einem Korkenzieher ab. Nach etwas, das ich ihm, wenn es drauf ankäme, in den faltigen Hals rammen würde. Mein Verstand sagt: Los, brüll um Hilfe. Ruf doch Mario! »Verschwinden Sie! Auf der Stelle! Oder ich schreie das ganze Viertel zusammen!«

»Michaela!«, sagt der Alte mit rauer Stimme. Dabei legt er seine Arme auf seine Oberschenkel in der verwaschenen Jeans. Eine Weile verbleiben wir so. Seine rötlich behaarten Arme, die aus einem verwaschenen Trikot ragen, liegen jetzt ruhig auf seinen Beinen.

Aber plötzlich und ohne mich aus den Augen zu lassen, erhebt er sich von seinem Stuhl. Doch als er meine immer größer werdenden Augen sieht, setzt er sich.

»Woher wissen Sie meinen Namen? Und woher wissen Sie, wo wir wohnen? Was wollen Sie von uns?« Meine Stimme zittert. Sie ist so dünn wie die Stimme eines Kindes.

»Ich habe dir doch den Drachen geschenkt, Michaela!«

Ich atme auf, dann stoße ich mich vom Spülbecken ab. Und meine Stimme hört sich wieder fest an, als ich sage: »Sie möchten das Anhängsel wiederhaben. Sie können es mitnehmen! Warten Sie, ich lauf schnell hoch und hole es für Sie.«

Doch der Alte schüttelt nur den Kopf. Er lächelt, als wäre ich der Inbegriff an Doofheit.

Aber dieses Lächeln verschwindet nach und nach aus seinem Gesicht, während er mir erklärt:

»Nein! Ich will ihn nicht wiederhaben! Er gehört dir, Michaela!«

»Ja … aber …« Ich lehne mich zurück an das Geschirrspülbecken.

Seine Gesichtszüge werden weich. Und seine Augen sind die Augen eines Vaters, der seinem begriffsstutzigen Gör wiederholt erklärt, was dieses einfach nicht kapieren will. »Du sollst eine zweite Chance bekommen, Michaela! Die einzige Chance. Und gleichzeitig auch die letzte Chance, einen Fehler ungeschehen zu machen!«

Hätte meine Angst eine Gestalt, könnte man sie nun dabei beobachten, wie sie zur Gartentür hinaushüpft – der Alte hat sich doch mit seinen Kirmes-Kumpanen eine durchgezogen! Und ich denke hier nicht an Tabak. Weswegen ich furchtlos auf die angelehnte Gartentür zeige, durch die er ins Haus gekommen sein muss. »Hören Sie: Bitte gehen Sie jetzt einfach, und dann vergessen wir das Ganze, oder ich rufe jetzt die Polizei!«

Aber anstatt aufzustehen und dann zu verschwinden, lehnt er sich vor: »Te-so-ro.«

Nur drei Silben. Er hat sie extra lang gezogen, um sie eindrucksvoller zu machen. Doch das hätte er gar nicht machen müssen. Sie waren auch so eindrucksvoll genug. Diese drei Silben haben freigelegt, was zehn Stangen Dynamit nicht hätten freilegen können.

Und ich schlage mir die Hand vor den offenen Mund, noch als ich zusammensacke.

Und Tränen steigen in mir auf. Sie tropfen auf den Boden, als ich mich auf dem Küchenboden, inmitten der Scherben und mit nur einer Hand, abstütze. Der Greis lächelt einfühlsam.

Er beugt sich vor, um einen zweiten Stuhl heranzuziehen. Er legt seine Hand auf die Sitzfläche. »Komm!«

Und tatsächlich schaffe ich es, mich zu erheben.

Und dann die zwei Schritte auf ihn zuzugehen, um mich ihm gegenüber auf den Stuhl zu setzen. Mit dem Handrücken wische ich unter meiner Nase herum. Der Alte greift in seine Hosentasche und zieht ein kariertes Taschentuch heraus.

Es riecht nach Tabak und nach Weichspüler mit Rosenduft.

Der Alte hat sich an die Lehne gelehnt, hat ein Bein über das andere geschlagen. Seine Augen sind an mir wie festgetackert. Während ich mit seinem Taschentuch vor der Nase dasitze und zittere, als hätte ich mindestens vierzig Grad Fieber. »Erinnerst du dich, Michaela?«

Ich nicke und ziehe laut die Nase hoch. Die Fetzen, die ich verdrängt hatte, jeder Schnipsel, jedes Fragment des Kaleidoskops, das sich nie wieder anders zusammensetzen sollte, als so wie an jenem Tag, hopsen hinter meiner nassen Stirn. Es hat in mir geschlummert, das Monster. Es hat mich gequält. Doch ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte die Wahrheit nicht sehen.

Jetzt, genau jetzt, befreit es sich und reißt meinen Brustkorb klaffend und schmatzend auseinander. Um sich dann brüllend und an meine Rippen klammernd, an die Oberfläche zu ziehen:

Silvester 1984;

dröhnende Musik, Gejohle und Raketen

Cristianos Enthusiasmus

Silkes Gesicht

die mitleidigen Blicke der anderen

das hysterische Heulen der anderen Mädchen.

All das hatte ich nur noch wie durch Schlitze gesehen, weil meine Augen da schon vom Heulen so zugeschwollen waren wie nach einer Handvoll Insektenstichen. Als ich endlich kapiert hatte, dass dieser Mensch, den ich vor Kurzem noch wie bescheuert geliebt hatte, verletzt und gedemütigt über die Begrenzung der Dachterrasse gesprungen war! Ich sehe mich neben Silke in die Tiefe starren, unsere Haare fliegen hoch vom Wind, der vom Asphalt zu uns aufsteigt. Demselben Asphalt, auf dem zerschlagen Cristiano liegt. Er ist mit dem Gesicht aufgeschlagen. Männer mit bunten Hütchen nehmen Frauen, ebenfalls mit lustigen Kopfbedeckungen, die ihre Hände vor ihre Gesichter geschlagen haben, zur Seite, um sie vor Cristianos Anblick auf dem Straßenpflaster zu verschonen. Sie gehen rückwärts, bleiben dann aber doch stehen und schauen auf das Blut, das sich um seinen Körper ausbreitet wie die Flut. Um anschließend lauwarm in die schmutzigen Fugen zwischen den Steinen zu sickern. Um sich von hier den weiteren Weg zu bahnen. Die Szenerie ist still, als hätte man mir einen durchsichtigen Ballon über den Kopf gestülpt.

DREI

Scheckige Haut und rote, aufgedunsene Lider – mein Spiegelbild ist der absolute Supergau.

Ich habe mich, nach dem Blick in den Spiegel, im Morgenmantel auf den Klodeckel gesetzt. Aber wie lange ich jetzt auf dem Klodeckel sitze, kann ich nicht genau sagen. Ich halte mein Gesicht in meinen Händen und durchlebe zum hundertsten Mal den Alptraum der letzten Nacht!

»Schatz?«, ruft Mario. Er klopft von außen an die Badezimmertür. » … alles okay bei dir?« Ich gebe mir Mühe, nicht jammernd zu klingen. » … ich komme gleich runter!«

Ich habe mich ordentlich eingepudert. Es ist mir sogar gelungen, meine über Nacht aufgeploppten Tränensäcke sowie die fiesen Rötungen zu überdecken. Jedoch spannt meine Haut, weil ich die Tagescreme vergessen habe. Darüber hinaus habe ich mich vergriffen und habe ein viel zu dunkles Puder genommen. Mario schenkt jetzt dampfenden Kaffee in die Tassen.

Nacheinander hebt er die roten, von der Nachbarin selbst gestrickten Eiermützchen von den braunen Hühnereiern. Eiermützchen zu stricken war ihr neuestes Hobby. Sie stopft sie in allen erdenklichen Farben in sämtliche Briefkästen in der Nachbarschaft.

Mario mustert mich am laufenden Meter. Und er hält inne, noch bevor sein Löffel im flüssigen Eigelb versinken kann. »… wenn es sein muss; ich kann mir den Tag heute auch freischaufeln.«

Ich winke ab und nehme einen großen Schluck aus der Tasse zwischen meinen Händen. »Das ist lieb von dir, aber ich habe nur Kopfschmerzen und habe auch schon zwei Aspirin genommen. Gleich krieche ich wieder unter die Bettdecke. Mach dir um mich keine Sorgen.«

Später begleite ich Mario zur Tür und helfe ihm, wie jeden Morgen, in seinen Blazer.

Er nimmt seine Schlüssel vom Haken, gleich unter den gerahmten Porträts unserer Tochter. »Aber ruf mich an, falls es doch nicht besser wird.«

Ich warte, bis Mario im Rückwärtsgang aus dem Carport ist.

Dann mache ich mich daran, das Frühstücksgeschirr abzuräumen. Aber je mehr ich versuche, den irrsinnig realen Traum loszuwerden, umso stärker klebt er hinter meiner viel zu dunklen Stirn. Da hilft auch der Krach nicht, den ich absichtlich mit dem Geschirr veranstalte, nur um die Bilder vom Alten auf dem Stuhl und dem, was danach passiert ist, sowie auch die Erinnerungen an die folgenschwere Nacht, aus meinem Kopf zu löschen.

Dennoch schleiche ich nur wenige Minuten später um den Stuhl, auf dem der vermeintliche Alte heute Nacht gesessen hat.

Ich gehe in die Knie, dann fahre ich mit dem Finger über die Textur der Sitzfläche; in diesem Moment durchquert ein dünner Streifen Morgensonne den Raum. Er erstreckt sich über den schwarzweißen Kachelboden. Er reflektiert eine einzelne, blau getönte Glasscherbe in der hintersten Küchenecke … der Schlag, als das Glas auf dem Boden zerschellt, und dessen Scherben, die über die Fliesen schlittern. Der Alte am Küchentisch, der mir bis zum Morgengrauen Instruktionen gibt. Und der mir mit wichtiger Miene erklärt:

»Der Drache ist dein Tor in die Vergangenheit!«

Ich springe auf die Beine und renne zur Spüle; dort erbreche ich mich aufs Geschirr.

Nach dieser Erleuchtung liege ich auf dem Sofa. Ein nur noch mäßig kalter Waschlappen kühlt meine heiße Stirn. Ich zermartere mir den Kopf, ob es in meiner Familie vielleicht Geisteskrankheiten gegeben hat. Oder Fälle von Psychosen, die man nur hinter vorgehaltener Hand weitergetratscht hat. Aber auch wenn es so wäre, so ließe sich die Scherbe, die ich, wenn es kein Traum war, nachdem der Alte durch den Garten in der Dunkelheit verschwunden ist, bei meiner Aufräumaktion übersehen habe, nicht leugnen. Von Zimmer zu Zimmer bin ich geflüchtet, nur um die Worte des Alten abzuschütteln. Den Küchenstuhl habe ich mit verkniffenem Mund mit Lauge geschrubbt, um ja bloß mögliche DNA loszuwerden. Doch die Worte des Alten verfolgten mich gnadenlos in jede Ecke. Sogar unter der Kellertreppe, unter der ich als Letztes Zuflucht gesucht habe, hörte ich ihn argumentieren: »Du hast die Option, die Chance, dein Leben ab einem bestimmten Zeitpunkt noch mal, aber auf eine andere Weise, zu leben! Du hast die Chance, deine Jugend und alles, was damit zusammenhängt, wiederzuerlangen. Längst verstorbene Menschen, deine Freunde – alle wären wieder da! Überlege gut und entscheide richtig! Eine nochmalige Chance gibt es für dich niemals wieder!« Ich bin die Kellertreppe nach oben gestolpert. Ich bin durch das Wohnzimmer zur Bar gerannt. Ich habe die Klapptür aufgerissen und mir die Vodkaflasche gepackt. Der Fusel schmeckte erbärmlich. Dazu verbrannte er meine Magenschleimhaut. Und das alles ganz umsonst. Das, was ich wegspülen wollte, war noch da. Nur in einen gnädigen Nebel gehüllt. Solch einen Nebel, für den so mancher am nächsten Morgen überhaupt seine Augen aufschlägt. Aber das alles ist jetzt Stunden her, der Nebel hat sich zum größten Teil verzogen.

Ich werfe den Waschlappen in die nächste Ecke. Dann krame ich das Telefon aus der Sofaritze.

Danach wähle ich Saskias Nummer, um nachzufragen, ob sie mich zum Friedhof, zu Silke, begleiten würde. Ich erreiche aber nur die Mailbox.

VIER

Ich würde sterben für Baccara-Rosen!, höre ich Silke durch das Knistern der Folie, in die das Fräulein in der grünen Schürze fünfzehn rote Baccara-Rosen wickelt. Silke ist zwar nicht für Rosen gestorben. Doch gestorben ist sie trotzdem.

Die Glocke über der Tür bimmelt wie in einem Tante-Emma-Laden, als ich aus dem Geschäft auf den Vorplatz, in die Sonne, trete. An der Hauswand hängt ein Zigarettenautomat, und obgleich ich seit Jahren nicht mehr rauche, ziehe ich etwas Kleingeld aus meiner Hosentasche.

Und danach eine Packung meiner alten Marke.

Als ich dieselbe Strecke entlanggehe, die ich noch vor gar nicht langer Zeit, gestützt von meiner Tochter und meinem Mann, dahinschlich, würde ich, trotz Vorfreude auf die Zigarette, am liebsten umdrehen. Vor vier Monaten war das Feld recht übersichtlich. Doch wie ich von hier aus erkennen kann, ist es bis auf nur wenige freie Stellen belegt. Ich trotte auf immer weicheren Beinen zwischen den Grabsteinen zu Silkes Grab, auf dessen Podest ein gigantischer Marmorengel seine Arme schützend über die Gräber ausbreitet. Wie es den Anschein hat, bin ich die Einzige, die auf die Idee gekommen ist, einen Verstorbenen zu besuchen, denn es herrscht wirkliche Totenstille.

Weshalb mir das Knistern der Folie, als ich neben der Bank vor Silkes Grab die Rosen auswickle, als ohrenbetäubend erscheint.

Aus der Folie mache ich ein Knäuel und stopfe dieses in die Abfalltonne neben der Bank.

Und meine Schuhe knirschen viel zu laut auf dem Kies um Silkes Grabstelle, ehe ich auf die Knie sinke, um den Strauß auf die Platte direkt unter ihrem Namen zu legen …

SILKE

… kein Geburtsdatum, kein Sterbedatum, keine Schnörkel – Silkes Eltern haben es so gewollt.

Nur die eine Hälfte einer Jakobsmuschel haben sie in die Platte meißeln lassen. In einer der Furchen der Muschel liegt wie ein Embryo eine eingetrocknete Wespe.

Silke wollte, warum auch immer, einmal im Leben den Jakobsweg gehen. Sie hatte sogar schon gebucht. Doch der Weg, der für sie vorherbestimmt war, war ein anderer.

Silke und ich lernten uns bei unserer Einschulung kennen. In Zweierreihen hatten wir uns hinter der Lehrerin vor dem Treppenaufgang der ersten Klassen aufgestellt. Jedes der Kinder hatte sich vorher seinen Partner gesucht. Ich wählte Silke. Silke wählte mich.

In den folgenden Jahren fuhr ich mit ihr und ihrer Familie sogar in den Urlaub. Ihre Familie war ein klein wenig zu meiner Familie geworden. Außerdem hatten wir auf Blutsbrüder gemacht. In all der Zeit hatte es keinen ernsten Streit zwischen uns gegeben. Wir hatten uns viele Schwüre geschworen, falls es doch ernst werden sollte. Einer davon war, nie länger als drei Tage am Stück auf die andere böse zu sein. Und dieses Versprechen behielten wir bei. Bis vor vier Monaten! Bis Silke in meinen Armen lag. Bis ihr flacher, eh schon kaum noch hörbarer Atem noch dünner wurde. Bis ihre knallblauen Augen, verwässert wie die einer uralten Frau und aus dunklen Höhlen, nur noch frontal blickten. Auf ein Ziel, das nur Silke sah. Bis ihr Körper an seine Grenzen stieß. Bis der Krebs ihre Lunge zerfressen hatte. Bis ihr Kopf zur Seite fiel und bis der Ton des EKG-Gerätes endlich Silkes Erlösung bestätigt hatte.

Silke hatte Pech mit Jungs, Silke hatte Pech mit Männern. Und Silke war kinderlos geblieben, was ihr aber, wie sie ständig beteuerte, gepflegt am Arsch vorbeiging. Silke war meine Trauzeugin gewesen, und wir machten sie zu Saskias Patentante, worüber sie sehr glücklich schien.

Und Silke war auch die einzige meiner Freunde, die nach Cristianos Selbstmord hinter mir und Mario gestanden hatte. Die uns nicht verurteilte. Und falls doch, dann sagte sie es nicht.

Ich zeichne Silkes Namen mit dem Zeigefinger nach … was, wenn es wahr wäre?! Was, wenn diese Figur allen Ernstes, eine Spieluhr, eine kleine Zeitmaschine, wäre? Was, wenn ihre Melodie … mich wahrhaftig, zurückbringen könnte …

Wenn dieser Alte nicht komplett einen an der Waffel hatte … aber er wusste zu viel, um einen an der Waffel zu haben: Sie alle wären wieder da!

Ich dürfte, nur für einen klitzekleinen Augenblick, die nicht verschrumpelte Haut meiner Mutter berühren. Ich dürfte, nur für einen Moment, ihre Hand an meiner Wange spüren.

Ich dürfte Cristiano riechen. Ich könnte die Wärme seiner Haut an meiner Haut spüren. Ich könnte, noch ein Mal – ein letztes Mal – in seine überwältigenden Augen sehen.

Du darfst mit niemanden darüber reden! Du darfst erst in die Vergangenheit eingreifen, wenn du dir wirklich sicher bist. Sonst ist die Sache sofort vorbei! Es gibt nur eine Person, die dir zur Seite stehen wird. Eine Person, die dir deine Fragen beantworten wird. Du wirst es wissen, wenn du ihr begegnest. Es wird schwer für dich werden, Michaela. Sehr schwer. Aber niemand hat gesagt, dass es einfach wird. Du kannst so oft reisen wie nötig. Es liegt allein an dir, wie lange du brauchen wirst, um dich zu entscheiden. Aber bis zum 1. Januar 1985 musst du dich entschieden haben! Nur Minuten später ist der Drache wertlos! Solltest du dich vor diesem Zeitpunkt entschieden haben, vernichtest du die Zeitmaschine. Oder du gibst sie der entsprechenden Person, die du, wie gesagt, noch kennenlernen wirst …

Was aus Cristiano geworden wäre? Er wäre jetzt über fünfzig. Er und Mario waren zwar Brüder, aber sie waren so verschieden, dass man ihnen das gemeinsame Blut nicht auf den ersten Blick ansah. Cristiano kam nach der Mutter und Mario nach seinem Vater. Sie hatten nach dem Drama um Cristiano Deutschland verlassen. Sie hatten ihren verstorbenen Sohn mit nach Italien genommen. Mario ließen sie, mit italienischen Flüchen beladen, zurück. Mama hatte vorgeschlagen, dass er zu uns ziehen soll – egal, was war; seinem eigenen Kind durfte man nicht die Koffer vor die Tür stellen. Egal, wie alt das Kind auch sein mag! Unsere Beziehung war aufgrund der Umstände mehr als nur problembehaftet. Auch, weil Mario sich furchtbare Vorwürfe machte. Er sprang manchmal, sogar nachts, auf sein Motorrad; dann raste er ziellos über Autobahnen, so dass ich echte Angst hatte, er würde sich, mit Absicht oder ohne Absicht, vor einen Baum setzen. Ich lag tagelang im Bett, hatte Fieber und heulte, von morgens bis abends. Bis meine Mutter schließlich den Arzt anrief, der mir ’ne Beruhigungsspritze in den Hintern jagte. Hatte ich das Richtige getan? Ich liebte doch Mario …

Und es dauerte. Es dauerte wirklich lange. Aber wir schafften es. Und wir beschlossen, nie wieder darüber zu reden. »Es« aus unserem Leben auszulöschen!

Eines Tages hatte Mario den Titel, seinen Traumberuf, für den er gelebt und gepaukt und auf so vieles verzichtet hatte. Mario war Zahnarzt! Ich hatte ebenfalls meinen Traumberuf als Friseurin. Wir zogen in unsere erste gemeinsame Wohnung, in der Nachbarstadt. Ich nannte unsere Altbauwohnung liebevoll: »mein kleines Berlin!« Wegen der hohen Zimmerdecken und des Stucks sowie dem knarzenden Parkettboden. Und wegen des Apfelbaumes im Hinterhof.

Silke machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie wohnte nur zehn Autominuten von uns entfernt. Mario vermisst seine Eltern bis heute. Anfangs noch, bevor wir Cristiano aus unserem Leben WEGWISCHTEN, hatte Mario versucht, den Kontakt zu seiner Familie wiederherzustellen. Er fuhr, nicht nur ein Mal, nach Italien, um sie um Gnade zu bitten. Er flehte und er übernachtete im Auto vor ihrem Haus. Doch sie gaben ihm keine Chance. Und irgendwie konnte ich es verstehen.

Ich raffe mich vom Boden auf, wische mir über meine Knie.

Danach setze ich mich auf die grüne Bank neben dem Acker und hole die Zigaretten aus der Jeans hervor. Meine Hände sind so feucht und kalt von den Eindrücken der letzten Minuten, dass ich Probleme habe, die verflixte Folie zu entfernen, aber ich schaffe es und zupfe einen Glimmstängel an seinem Filter aus der Packung. Bloß, mir ein Feuerzeug zu besorgen, daran habe ich nicht gedacht. Plötzlich höre ich Schritte hinter mir und sehe mich um.

Ein Herr mit Hut, gestützt auf seinen Gehstock, arbeitet sich durch die Grabreihen hindurch in meine Richtung. Vor einem noch recht frischen Grab bleibt er stehen. Gleich darauf zieht er ein Taschentuch aus seiner Hose, welches er mehrmals unter seine Nase reibt. Er faltet es, dann wischt er damit über seine Augen. Er stopft das Tuch zurück in seine Hose und kramt aus dem Jutebeutel über seinem Unterarm eine Packung Zigaretten.

Ich stehe auf.

KARL

Nach dem ersten Zug, der wie eine Abrissbirne zwischen meine Lungenflügel gekracht ist, kommt der Hustenanfall meines Lebens. Der Alte schaut nur kopfschüttelnd zu, bevor er sich endlich rührt. Dann donnert seine Handfläche auf meinen Rücken ein, bis der Husten nachlässt.

Schniefend wedele ich mit meinen Händen vor meinem Gesicht herum, um mir dadurch die tränenden Augen zu trocknen. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe seit Jahren keine Zigarette mehr angefasst.«

Der Mann lächelt, aber sein Lächeln wirkt mühsam, als er das Feuerzeug unter seine Zigarette hält. Er pafft mehrere Züge. »Der Besuch hier, auf dem Friedhof, ist er der Grund für Ihren Rückfall?« Ich schaue hoch, in die rauschende Kastanie über uns, fest dazu entschlossen, nicht loszuflennen.

Als ich mir dessen sicher bin, sehe ich in seine sanften braunen Augen. »Über vier Monate habe ich gebraucht, um das Grab meiner Freundin zu besuchen. Blöderweise dachte ich, die Zigaretten würden mir diesen Schritt erleichtern.« Ich lächele schief, danach ziehe ich den Rauch in meine Lunge. Diese wehrt sich und ich keuche kurz, doch danach geht es.

»Das tut mir leid für ihre Freundin. Und auch für Sie!«, sagt er mit der Stimme eines jahrzehntelangen Rauchers. » Sie war in ihrem Alter? Lassen sie mich raten: Es war der Krebs!«

»Woher wissen Sie das?«

»Es ist immer der Krebs. Er ist ein Teufel. Genau dieser Teufel hat mir meine Hilde geraubt.« Ich strecke meine Hand aus, um ihn zu berühren, um ihn zu trösten.

Doch dann lasse ich sie sinken. Stattdessen schaue ich auf das Sterbedatum auf dem Kreuz. Hilde starb vor nicht langer Zeit, im stattlichen Alter. Und ich muss an meine Mutter denken, die in einer schicken Seniorenresidenz am Ende der Stadt lebt. Die fast völlig dement ist.

Und dieses Mal bringe ich den Mut auf, meine Hand auf seinen Arm zu legen. »… das tut mir unglaublich leid! Auch für Sie.«

»Das muss es nicht!« Er lächelt. Hinter den Furchen und Falten lugt jetzt ein bisschen das Gesicht eines jungen Mannes hervor. Des Mannes, in den Hilde sich einst verliebt hat. »Wissen Sie, ich bin über neunzig und ich rauche wie ein Schlot. Es braucht nicht lange, bis ich ihr folge.«

Er lässt die zur Hälfte gerauchte Zigarette fallen, dann tritt er sie aus. Gleich darauf steckt er sich eine neue an. Er schaut über mich hinweg, in die Ferne. »Falls Sie sich jetzt fragen, ob Hilde an Lungenkrebs starb? Nein, das tat sie nicht. Hilde war Nichtraucherin! Hilde achtete auf ihre Ernährung und tat so ziemlich alles für ihre Gesundheit. Doch mir hat sie das Rauchen nie verboten. Warum auch immer. Es könnte daran gelegen haben, dass sie der Meinung war, dass man niemanden verändern soll. Auch wenn man ihn liebt. Gerade dann nicht. Trotzdem hat die Bestie ihr erst die linke Brust und dann die rechte Brust genommen. Und die Metastasen den Rest. Doch mit der Gegenwehr meiner Frau hatte dieses Arschloch nicht gerechnet. Denn Hilde war stark! Sie hat gekämpft! Immer wieder. Es gab sogar Zeiten, da hat sie mich getröstet.

Aber wie heißt es doch so schön: Erst am Ende der Schlacht werden die Toten gezählt. Und am Ende hat ER nun mal gewonnen.«

Der Alte zieht den Beutel von seinem Unterarm und fängt an, darin herumzukramen …

Er holt ein gerahmtes Bild heraus und reicht es mir. Ich betrachte das Paar auf dem angelaufenen Foto mit gezackten Rändern. Und auch wenn es in einem Rahmen steckt, es ist ihm anzusehen, dass es jahrzehntelang mit sich herumgetragen worden war. Sicherlich im Geldbeutel des alten Herrn neben mir. Es zeigt ein Hochzeitspaar. Eine schwarzhaarige Schönheit in edler Spitze. Ihr Gatte trägt einen dunklen Smoking und hat Pomade im Haar. Verliebt lächeln sie sich zu.

Ich reiche ihm die Fotografie und ich weiß, dass meine Augen jetzt in Tränen schwimmen. Aber ich schäme mich ihrer nicht. Der Mann nimmt den Rahmen und steckt diesen, ohne noch mal draufzuschauen, zurück in seinen Jutesack. »Wenn ich bei Hilde bin, wird unser Sohn dafür sorgen, dass dieses Bild an unseren bestellten Gedenkstein montiert wird.«

Er lässt auch diese Kippe in den Kies fallen und tritt sie knirschend aus.

Hiernach sinkt er auf sein rechtes Knie und zupft eine vertrocknete Blüte von einer roten Geranie. Eine schwere Träne fällt auf seinen Oberschenkel. Sie versickert im Stoff seiner Cordhose.

»Sie müssen wissen: »Hildchen, war meine erste große Liebe. Es gab für mich niemals eine andere Frau. Mein Opa hat mir einmal gesagt, und er hatte verdammt recht damit: ›Karl, du kannst alles im Leben vergessen aber deine erste große Liebe, die vergisst du nie!‹«