Damit sich der Nebel lichtet - Saraj Stutz - E-Book

Damit sich der Nebel lichtet E-Book

Saraj Stutz

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Beschreibung

In Hannahs Familie sieht nach außen hin alles glänzend aus - doch hinter geschlossenen Türen weht ein anderer Wind. Ständig wird sie wegen Allem und Nichts in Fragegestellt. Dubiose Anschuldigungen im Wechsel mit Beschwörungen, wie sehr man sie lieben würde, halten Hannah in den vernebelten Winkeln des toxischen Labyrinths gefangen ... Kennen Sie das Gefühl: Irgendetwas stimmt nicht in dieser Beziehung ... aber wenn Sie versuchen, es zu beschreiben, ist es ein Griff ins Leere? Toxische Beziehungen sind geprägt von einer nur schwer durchschaubaren Atmosphäre. Im Nebel der Manipulation bleiben oft nur Verwirrung oder gar Verzweiflung zurück. Saraj Stutz erklärt auf verständliche und nahbare Weise die Abläufe, Taktiken und Rollenverteilungen in destruktiven Beziehungen und gibt Ihnen damit eine "Nebelsichtbrille" an die Hand. Einfühlsam zeigt sie den Weg aus den Mustern des narzisstischen Missbrauchs auf - hinaus aus diesem "Ägypten" in ein neues Land, in dem Ihr Leben wieder blühen darf. Ein echtes Praxishandbuch - mit vielen Illustrationen und Übungen für Betroffene und Berater.

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Saraj Stutz

DamitsichderNebellichtet

Toxische Beziehungsmuster hinter frommen Fassaden erkennen und heil werden

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7650-7 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6241-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2024 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Folgende Bibelübersetzungen wurden verwendet:

NeÜ bibel.heute © 2010 Karl-Heinz Vanheiden, www.derbibelvertrauen.de und Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg, www.cv-dillenburg.de (NEÜ).

Bibeltext der Schlachter Bibelübersetzung, Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft.

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten (SLT).

Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®.

Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel (HFA).

Das Buch. Neues Testament - übersetzt von Roland Werner, © 2009 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen (Das Buch).

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Erik Pabst, www.erikpabst.de

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Meine Kinder, unsere Liebedarf nicht nur in schönen Worten bestehen;unser Tun muss ein echter Beweis dafür sein.

1. Johannes 3,18 (NEÜ)

Über die Autorin

Saraj Stutz

(Jg. 1983) ist eine christlich-psychologische Beraterin, erfahren in der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Einen besonderen Schwerpunkt legt sie auf eine körperzentrierte, gestalterische Therapieform. Sie lebt und praktiziert im Raum Thun.

www.sarajstutz.ch

Im Licht betrachtet siehst du klar

In Hannahs Familie sieht nach außen hin alles glänzend aus – doch hinter geschlossenen Türen weht ein anderer Wind. Ständig wird sie wegen Allem und Nichts infrage gestellt. Dubiose Anschuldigungen im Wechsel mit Beschwörungen, wie sehr man sie lieben würde, halten Hannah in den vernebelten Winkeln des toxischen Labyrinths gefangen …

Kennst du das Gefühl: Irgendetwas stimmt nicht in dieser Beziehung … aber wenn du versuchst, es zu beschreiben, ist es ein Griff ins Leere? Toxische Beziehungen sind geprägt durch Verhaltensweisen, die bewusst oder unbewusst das Ziel haben, das Gegenüber herabzusetzen, um den eigenen Selbstwert zu erhöhen. Im Nebel der Manipulation bleiben oft nur Verwirrung oder gar Verzweiflung zurück.

Saraj Stutz erklärt auf verständliche und nahbare Weise die Abläufe, Taktiken und Rollenverteilungen in destruktiven Beziehungen und gibt Betroffenen damit eine »Nebelsichtbrille« an die Hand. Einfühlsam zeigt sie den Weg auf, um aus den Mustern des narzisstischen Missbrauchs in ein neues Beziehungsland zu finden, in dem das Leben wieder aufblühen kann.

Ein Praxishandbuch mit vielen Illustrationen und Übungen für Betroffene und Berater

»Ein ehrliches, in die Tiefe gehendes, für Betroffene heilsames und für professionelle Helfer hilfreiches Buch.«

WOLFRAM SOLDANArzt, Psychotherapeut und Supervisor (ACC)

»Saraj Stutz beschreibt toxische Beziehungen im religiösen und familiären Kontext mittels vier Fallgeschichten von Hannah, Philip, Liora und Ruth in vielen verschiedenen Facetten. Lesende bekommen so einen differenzierten Einblick in das reiche Arsenal manipulativer Verhaltensweisen und Taktiken sowie in toxische Systeme. Dieses Buch ist für Betroffene von toxischen Beziehungen geeignet, weil es zur Selbstwirksamkeit anleitet, und auch für seelsorglich Beratende, weil es fachbezogene Informationen gibt.«

MARTINA KESSLERTheologin und psychologische Beraterin

»Ist das Narzissmus? Ist da noch Hoffnung? Woran erkenne ich, ob ein Verhalten toxisch ist, und wie kann man das verändern? Auf diese Fragen geht Saraj mit fundiertem Wissen aus Psychologie, Theologie und Praxis ein und hilft mit konkreten Impulsen, toxische Muster zu verstehen und aus ihnen auszusteigen.«

CHRISTINE POPPEBeraterin für Traumaintegration und Autorin

Inhalt

Einführung

Teil I Das Alte Ägypten

Kapitel 1 Die fünf Stimmungen

Kapitel 2 Die Wärter des Systems

Kapitel 3 Das verdeckte Spiel

Kapitel 4 Das Arsenal manipulativer Verhaltensweisen und Taktiken

Kapitel 5 Die vier Phasen toxischer Beziehungszyklen

Kapitel 6 Die Rollen in narzisstischen (Familien-)Systemen

Kapitel 7 Wie wird man zum Manipulator?

Kapitel 8 Die verschiedenen Gesichter von Manipulatoren

Kapitel 9 Die Kunde von einem ganz anderen Land

Teil II Exodus

Kapitel 10 Die fünf Lebensbereiche in gesunden Beziehungen

Kapitel 11 Auftragsklärung und Verhandlung

Kapitel 12 Die Rückeroberung der Realität

Kapitel 13 Der innere Entschluss

Kapitel 14 Entschiedene Schritte

Epilog

Dank

Literaturverzeichnis

Anmerkungen und Quellen

Alles in Ordnung

»Wir hatten es gut.Alles in Ordnung.Doch, doch, bei uns war alles ganz normal.Meine Mutter ist nett.Mein Vater auch.Meistens.Meine Mutter hat sich in der Gemeindesehr engagiert. Hat vielen geholfen.Mein Vater hatte eine ganz wichtige Stellung.Hat viel bewirkt.«

»Wie sind deine Eltern mit dir umgegangen,wenn niemand anders dabei war?«

»Was?«

»Wie sind deine Eltern mit dirund deinen Geschwistern umgegangen, wenn niemand anders dabei war?«

»… wie sie mit uns umgegangen sind,wenn niemand anderes dabei war …

Was ist denn das für eine Frage?«

Wie sehen deine Beziehungen aus, wenn niemand anderes dabei ist? Das ist die Anfangsfrage dieses Buchs.

Einführung

»Wer einen geringen Selbstwert hat, schreckt vor keiner Gemeinheit zurück, um ihn auch nur für eine Sekunde anzuheben«1, schreibt Thomas Meyer, Schweizer Schriftsteller und Drehbuchautor, in seinen Einhundertvierundvierzig Einsichten. Das ist die kürzeste und prägnanteste Definition für toxische Beziehungen, die mir bisher begegnet ist. Für die psychische Gewalt, die in solchen Beziehungen ausgeübt wird, hat sich der Begriff narzisstischer Missbrauch etabliert.

In der Mythologie ist Narziss ein junger Mann, der sich in sein eigenes Spiegelbild verguckt und dabei zugrunde geht. Im Volksmund ist der Begriff Narzisst zum Synonym für einen arroganten und zur Empathie unfähigen Menschen geworden. Das mag auf manche Narzissten zutreffen, aber nicht auf alle, vor allem nicht in jedem Umfeld, denn stark manipulative Menschen passen sich wie ein Chamäleon dem jeweiligen Umfeld an.

In diesem Buch geht es daher in erster Linie um die Dynamik in toxischen Beziehungen und die Auswirkungen auf ihr Umfeld. Narzisstischer Missbrauch steht für Verhaltensweisen, die (bewusst oder unbewusst) zum Ziel haben, das Gegenüber herabzusetzen und zu beherrschen, um den eigenen Selbstwert zu erhöhen. Dabei ist die Atmosphäre nicht ständig toxisch oder vergiftet, denn die Verhaltensweisen von Manipulatoren bestehen aus extremen Gegensätzen: Verführung und Abwertung, Schmeicheleien und Beleidigungen, Signalisieren von Hilfsbedürftigkeit und die Anschuldigung, der andere habe einen im Stich gelassen. Liebesentzug oder Abschottung werden genauso eingesetzt wie Einschmeichlungsversuche oder Wiedergutmachungsdramen. Damit die Beziehung nicht aufgelöst wird, wird zu falschen Schuldzuweisungen oder gar Drohungen gegriffen, nicht selten gefolgt von Zeiten, in denen alles gut und wunderbar normal scheint.

Schwächere Ausprägungen von manipulativem Verhalten kommen in vielen unserer Beziehungen vor. Sobald man emotionalen Druck ausübt, um das Gegenüber zu Dingen zu bewegen, die es aus freien Stücken nicht tun würde, ist das Manipulation. Das kann sehr subtil und kaum wahrnehmbar sein, und trotzdem lohnt es sich, die eigenen Beziehungen dahin gehend unter die Lupe zu nehmen.

Manipulative Taktiken kommen in allen Arten von Beziehungskonstellationen vor: in Familien, Ehen, Freundschaften, Arbeitsverhältnissen, Glaubensgemeinschaften und anderen Interessensgemeinschaften. Gerade in christlichen Kreisen wird toxische, also vergiftende Manipulation jedoch kaum je durchschaut. Wir Christen scheinen von bedingungsloser Barmherzigkeit so geblendet zu sein, so gefangen vom ständigen Vergebenmüssen, dass nur ganz selten gegen toxisches Verhalten und seelisch destruktive Personen Stellung bezogen wird. Deshalb konzentriere ich mich in diesem Buch auf die starken Ausprägungen von narzisstischem Missbrauch.

Die unverblümte Darlegung ist für Betroffene toxischer Beziehungen notwendig, um aus der Verharmlosung herauszufinden. Aber auch Menschen, die nur »Alltags-Manipulation« kennen und die extremen Formen von emotionaler Erpressung nie erlebt haben, neigen dazu, die schädigenden Verhaltensweisen zu verharmlosen. Die Beispiele in diesem Buch verdeutlichen die Formen und Auswirkungen von Manipulation und helfen dabei, zu prüfen, inwieweit manipulative Dynamiken – im Großen oder Kleinen – in den eigenen Beziehungen vorkommen. Das Buch ermöglicht einen ungeschminkten Blick auf die Auswirkungen manipulativer Verhaltensweisen, wenn sie sich in Beziehungen verfestigen, und zeigt auch, wie man aus diesen Systemen herausfindet.

Hannah, Philip, Liora und Ruth

In diesem Buch lassen uns vier Menschen an ihrem Ausstieg aus den seelischen Verstrickungen ihrer toxischen Beziehungen teilhaben. Ihre Geschichten helfen dabei, das Thema und den Weg heraus zu veranschaulichen. Vielleicht findest du dich sogar in dem einen oder der anderen wieder. Denn Lebensgeschichten wie die von Hannah, Philip, Liora und Ruth gibt es unzählige.2

Hannah

Als Hannah zum Erstgespräch zu mir kam, begrüßte ich sie mit den Worten: »Hallo. Schön, dass du gekommen bist.« Ein prüfender, fast sarkastischer Blick streifte mich, als ob sie denken würde: »Klar, ich zahle ja auch.« Das braune Haar reichte ihr bis unter die Schulterblätter, den Pony trug sie kurz. Sie war um die dreißig und wirkte aufgeschlossen und zielgerichtet. Sie war hellwach und ihrem Blick schien nichts zu entgehen.

Philip

Anders verlief der Erstkontakt mit Philip. Trotz seiner hageren Gestalt schien er schwer an seinem Körper zu tragen. Er wirkte jünger als seine fünfundzwanzig Jahre, irgendwie verloren. Ich begrüßte ihn: »Hallo. Schön, dass du den Weg hierher gemacht hast.« Philip hörte mich kaum. Er versuchte, im Hier zu sein, doch es fiel ihm sichtlich schwer. Sein Blick war unstet und verlor sich immer wieder im Nirgendwo. Alles, was er sagte, ließ erahnen, dass er nichts falsch machen wollte.

Liora

Die Annäherung mit Liora verlief langsam und vorsichtig, wie bei einem scheuen Waldtier, meist sah sie mich nicht an und blickte höchstens aus den Augenwinkeln in meine Richtung. Es dauerte zwei Jahre, bis sie mir erzählte: »Ich konnte dir dein ›Schön, dass du da bist‹ bei unserer ersten Begegnung gar nicht abnehmen. Es hat mich verunsichert und ich habe mich gefragt, was du damit bezwecken willst.« Es brauchte Zeit und nährende Erfahrungen, bis sie mich und mein Gesprächszimmer als vertrauenswürdigen Ort erleben konnte.

Hannah, Philip und Liora haben etwas gemeinsam. Sie kommen aus Familien, die man toxisch nennt. In toxischen Familiensystemen fügen Eltern mit ihrer Art der Kommunikation und ihren Verhaltensweisen den Kindern großen seelischen Schaden zu. Die Persönlichkeit der Kinder wird nicht aufgebaut, sondern immer wieder attackiert. Die Würde des Menschseins wird ihnen genommen. Das hat Auswirkungen bis ins Erwachsenenleben.

Ruths Geschichte unterscheidet sich von den anderen. Ihren Eltern lag das Wohl ihrer Kinder am Herzen und sie bemühten sich um einen fairen und aufrichtigen Umgang miteinander.

Ruth

Als Ruth zum Erstgespräch kam, trug sie ihr schwarzgraues Haar kinnlang. Die 39-jährige Mutter von zwei Kindern wirkte müde, abgekämpft und älter, als sie war. Sie suchte Hilfe, um ihrem Mann besser begegnen zu können. Da ich keine Paartherapeutin bin, erklärte ich ihr, dass sie bei mir nur an sich arbeiten könne und damit nur indirekt an ihrer Ehe. Was sie sich denn für sich selbst wünsche? Im Gespräch erwähnte sie, dass sie sich in ihrer Ehe immer wieder sehr verwirrt und hilflos fühle. Sie wünschte sich, wieder klar denken zu können. Ruth erzählte: »Mein Mann hat diese verschiedenen Gesichter. Das herzliche Gesicht ist für unsere Freunde, für die Gemeinde, für die Arbeit … Die Kinder und ich bekommen die anderen Gesichter ab.«

Ich helfe meinen Ratsuchenden, das, was im Innen ist, ins Außen zu bringen. Im Innen drehen die Gedanken nicht selten die immer selben Runden, aber im Außen können sie aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. Ruth wusste nichts über toxische Beziehungen, doch als ich sie danach fragte, was sie für sich wolle, malte sie einen dicken Boden und einen weiten Horizont auf eine A5-Karte. »Stabiler Boden unter den Füßen würde mir helfen«, bemerkte sie. »Und dass der Horizont sich weitet.« Dass der Boden stabiler wird und der Horizont sich weitet, darin wollte ich sie gerne unterstützen.

Die Heilungswege dieser vier Menschen werden uns durch das Buch begleiten. Wichtig ist mir, dass du nicht denkst, bei dir müsse alles genauso laufen. Ihre Wege habe ich für dieses Buch zusammengefasst, um die verstrickten Beziehungsdynamiken zu verdeutlichen. Aber auch bei ihnen gab es verschiedene Schwierigkeiten, Hindernisse und gefühlte Umwege, welche ich aus Platzgründen nicht ins Buch aufgenommen habe.

Außerdem habe ich das Buch in der Du-Ansprache geschrieben. Ich hoffe, ich trete dir damit nicht zu nahe. Das Sie lag mir bei dieser persönlichen und intimen Thematik zu quer im Mund. Die Begriffe Manipulator oder Manipulierer verwende ich geschlechtsunabhängig für stark kontrollierende und manipulative Personen.

Wenn du zum jetzigen Zeitpunkt mit einer stark manipulativen Person liiert bist, bitte ich dich, erst das ganze Buch zu lesen, bevor du mit dem Manipulator über das sprichst, was du erkannt hast. Es ist sogar ratsam, dass du ihn oder sie nicht sehen lässt, was du liest. Stark narzisstisch-verbogene Manipulierer sind gut im Verdrehen von Tatsachen und werden keine Probleme haben, den Inhalt des Buches so zu entfremden, dass sie ihn gegen dich verwenden können.

In Beziehungen, in denen Dinge angegangen werden dürfen, ist es hingegen ratsam, dass beide das Buch lesen.

Das Ziel dieses Buchs

Manipulation, emotionale Erpressung und psychische Gewalt scheinen meist dubios, kaum fassbar und vernebeln die Sicht auf das, was wirklich abgeht. Mein Ziel ist, dass du nach der Lektüre dieses Buchs die Dinge benennen kannst und weißt, was dir passiert (ist), wenn du betroffen bist. Mein Wunsch ist es, dass du dich und deine Situation besser verstehst und gleichzeitig zu einem liebevolleren Blick auf dich selbst findest. Es ist mir ein Herzensanliegen, dass du deine Geschmacksknospen für das Echte, Wahre, Liebevolle, aber auch für die Gerechtigkeit (wieder)entdeckst.

Die wunderbaren Beispielbilder von Erik Pabst zeigen das Geschehen in toxischen Beziehungen treffend auf und helfen, besser zu verstehen.

Damit du nicht nur besser verstehst, sondern auch handlungsfähig wirst, gebe ich konkrete Übungen an die Hand, die auf dem Weg in die Freiheit stärken und unterstützen. Auch Begleitpersonen von Betroffenen werden auf diesen Seiten Anregungen finden, wie sie seelische Prozesse besser unterstützen können.

Als Christin bin ich bestrebt, den Unterschied zwischen echtem Glauben und instrumentalisierendem religiösen Machtmissbrauch für Betroffene verständlich zu machen. Du musst aber kein Christ sein, um dieses Buch mit Gewinn zu lesen. Machtmissbrauch kommt in religiösen, aber auch in anderen Kontexten vor.

Zur Veranschaulichung habe ich eine Geschichte aus dem Alten Testament gewählt, die vielen Menschen ein Begriff ist. Ich möchte dich damit auf eine Reise einladen. Die Reise startet im Alten Ägypten, dem Land, in dem das Volk Israel 400 Jahre lang versklavt wurde.

Was das mit toxischen Beziehungen zu tun hat? Das wirst du in den kommenden Kapiteln entdecken.

Teil IDas Alte Ägypten

Ich will dir eine Geschichte aus der großen Menschheitsgeschichte erzählen. Ich will dir erzählen von der Geschichte des Volkes, das von Gott geliebt wird. Diese Geschichte ereignete sich vor etwa dreieinhalbtausend Jahren im Norden Afrikas.

Die Sippe, welche vierhundert Jahre zuvor nicht mehr als eine Großfamilie gewesen war, war zu einem Volk herangewachsen. Sie lebten noch nicht in dem Land, das Gott ihnen verheißen hatte, sondern hatten in kargen Tagen bei einem anderen Volk Unterschlupf erhalten und waren geblieben. Das Land, in dem sie nun lebten, war reich. Ein breiter Fluss tränkte das Gebiet, sodass die Erde guten Ertrag brachte und die Menschen satt wurden. Doch der Herrscher des Landes hatte ein Problem: Er glaubte, »Gott« zu sein.

Zu jener Zeit, wie auch in unserer Zeit, geschah es leicht, dass die Könige und Herrscher dem Glauben verfielen, sie seien das Maß aller Dinge und müssten niemandem Rechenschaft ablegen.

Obwohl dieser Herrscher Ägyptens überaus reich war und sein Land viele Gelehrte und einen hohen Stand an Wissen besaß und seine Streitmacht bis an die Ränder der Erde bekannt war, hatte er Angst. Nicht, dass der Pharao das zugegeben hätte, doch er hatte Angst, dass ihm jemand sein Reich streitig machen würde.

Als er sah, wie das fremde Volk an Größe zunahm, sagte er sich: »Ich will sie plagen. Ich will ihnen schwere Arbeit auferlegen. Sie sollen für mich schuften, sodass sie keine Kraft mehr haben, sich um ihre Herden oder Familien zu kümmern. So werden ich sie schwächen und sie werden mir nicht gefährlich werden.« Er implementierte ein unerbittliches Regime; setzte Sklaventreiber ein, die kontrollierten, antrieben und auspeitschten.

Ein Pharao ging, der nächste kam. Der Glaube, »Gott spielen zu dürfen«, blieb und mit ihm die Versklavung der Israeliten, von Generation zu Generation.3

Um das Klima unter dieser Herrschaft zu verdeutlichen, habe ich den 17-jährigen Samuel erfunden, der bereits seit einigen Jahren als Sklave auf den Baustellen des Pharaos arbeitet. Samuel beschreibt sein Leben so:

»Ägypten ist da, wo ich geboren bin. Es ist da, wo ich aufgewachsen bin. Es ist da, wo mein Vater und meine Mutter, deren Vater und deren Mutter und dessen Vater und dessen Mutter aufgewachsen sind. Es ist da, wo wir den Regeln des Landes Ägypten Folge leisten, weil es nicht anders geht. Weil die Strafen schlimm sind, wenn wir nicht gehorchen und tun, was von uns verlangt wird. Die Strafen sind Schläge, Auspeitschungen, und wenn man Pech hat, kann es sein, dass man zu Tode geprügelt wird.

Auch wenn ich mal keine Strafe bekomme, weil gerade kein Sklaventreiber sauer auf mich ist, werde ich dennoch beschimpft und gedemütigt. Jeden Tag.

Ägypten bedeutet: Wir wissen, was wir zu tun haben. Auch dass es keinen Dank für unser Schuften gibt, sondern normal ist, dass man so mit uns umgeht. Ägypten bedeutet, dass keiner von uns sich überlegt, was er werden möchte. Es bedeutet auch, dass wir keine Zeit haben, um uns zu liebkosen oder einander liebevoll Zeit zu schenken. Ägypten bedeutet, dass das Überleben abhängig von meinem Sklaventreiber ist. Ich tue, was von mir verlangt wird, versuche, möglichst unsichtbar zu bleiben und nicht aufzufallen. Am Ende des Tages falle ich todmüde und erschöpft auf meine Matte, denn morgen ist wieder ein Tag. Auch morgen darf ich mir keinen Fehler und keine Unachtsamkeit erlauben; denn die Strafe könnte mich vernichten.

Ägypten ist da, wo ich lebe. Es ist mir vertraut. Ich war nie woanders.«

Kapitel 1Die fünf Stimmungen

Hannah stürmte in mein Gesprächszimmer. »Ich muss noch kurz zur Toilette!«, rief sie und wirkte ziemlich gestresst, obwohl sie pünktlich war. »Lass dir Zeit«, rief ich, aber sie hörte mich wahrscheinlich schon nicht mehr. Danach saß sie aufgebracht auf einem der beiden Armsessel. Ich begleitete sie seit etwa drei Monaten, es war ihr leichtgefallen, sich auf die Beratung einzulassen. »Du bist heute zackig drauf«, eröffnete ich das Gespräch. Hannah verdrehte die Augen: »Ich kann es nie richtig machen! Egal, was ich sage, egal, was ich mache. Egal! Alles, aber auch wirklich alles, fliegt mir früher oder später als Vorwurf oder als Versagen um die Ohren!« Hannah berichtete von einem Telefongespräch, das sie mittags mit ihrer älteren Schwester geführt hatte, und schloss resigniert: »Ich zerbreche mir zum millionsten Mal den Kopf über meine Familie. Egal, ob ich mit meinem Vater, meiner Mutter oder meiner Schwester rede … so oft kommt es völlig quer heraus. Wir haben es immer wieder sehr lustig zusammen und lassen uns über andere aus, ohne jegliche Skrupel. Dann beteuert jeder den anderen, wie großartig wir sind und wie verkorkst die anderen … Wir sind so … hemmungslos, so krass … so brutal.« Dass sie brutal sind, würde wohl keines der anderen Familienmitglieder zugeben, das benannte Hannah an diesem Tag zum ersten Mal so. »Aber für uns ist das normal! Für uns sind alle anderen humorlos und verklemmt!«

Trotz dieses scheinbar starken Zusammenhalts in der Familie hatte Hannahs Schwester sie am Mittag niedergemacht. Sie war der Meinung, Hannah sei ein egoistischer Unmensch, und behauptete, es sei verwunderlich, dass sich überhaupt noch jemand mit ihr abgeben würde. Das hatte Hannah tief getroffen. »Aber, gäu, du weisch, dass i di liäbe. – Du weißt schon, dass ich dich liebe.« – Das war der Schlusssatz der Schwester, als sie sich am Telefon verabschiedete. »Ich bin sooo …!« Hannah rang um Worte.

Wie sehr man sie liebe, das wurde ihr immer wieder versichert – seit Jahren, seit sie sich erinnern kann. Sie wurde vom Vater geschlagen mit der Begründung: »Weil ich dich so liebe und nicht will, dass dein böses Herz dich vom Weg abbringt.« Die Kinder wurden von der Mutter beschimpft und verantwortlich gemacht, wenn der Vater einen seiner Jähzornanfälle hatte. Aber sie wurde nicht müde, stets zu betonen: »Aber, gäu, du weisch, dass i di liäbä.«

»Das soll Liebe sein?«, fragte ich mich wieder einmal. Doch wichtiger als meine Meinung ist, dass Hannah erforschen kann, was dieses Klima mit ihr macht. Darum fragte ich sie: »Wenn du an deine Familie denkst, was für ein Gebäude oder welche Art von Konstrukt kommt dir in den Sinn? Was für ein Bild passt zu deiner Familiendynamik?«4

Hannah antwortete: »Ein Labyrinth! Ein Labyrinth, in dem verschiedene Stimmungen herrschen. In einem Teil scheint die Sonne, in einem anderen ist es kalt und dunkel. Und in den Gängen und Windungen ist es verdammt neblig. Man weiß nie, was hinter der nächsten Biegung lauert. Das stresst mich. Alles ist so unberechenbar. Ich bin so verwirrt.«

Vielleicht kennst du dieses Gefühl, dass du durch gewisse Personen stark verwirrt wirst. Möglicherweise fragst du dich, ob du dein Gegenüber richtig verstanden hast oder dich in deiner Wahrnehmung täuschst. Wenn man den Finger nicht auf solche Aussagen legen darf, die einem schräg erscheinen, oder auf ein konkretes Verhalten, wird man den Nebel der Verwirrung nicht los. Er scheint einem nachzulaufen. Egal wie sehr man sich um eine Lösung oder Erklärung bemüht, es ist ein Griff ins Leere.

In der Gegenwart von Manipulierern ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich Verwirrung breitmacht. Unverständnis und Grübeleien umhüllen nebelschwadenartig das Denken. Der Nebel verdichtet sich, verschleiert sinnvolle Überlegungen und lähmt die Fähigkeit, aus den Situationen zu lernen.

Manipulierer müssen (oft unbewusst) möglichst alles kontrollieren, sogar die Atmosphäre. Denn wer die Atmosphäre beherrscht, besitzt ein mächtiges Werkzeug, um Menschen zu steuern. Das folgende Beispiel aus dem täglichen Leben zeigt, wie groß der Einfluss der Atmosphäre auf unser Verhalten ist. Stell dir vor, du gehst mit Freunden zu einem Fußballspiel, obwohl du nicht viel von Fußball hältst. Plötzlich erzielt die Mannschaft deiner Freunde den Führungstreffer. Die Masse jubelt, die Atmosphäre bebt! Fußball interessiert dich zwar nicht, aber die Atmosphäre reißt dich mit. Die Energie im Stadion und die Freude der anderen erfasst dich. Dein Puls geht schneller, dein Herz schlägt laut, du erlebst die Ekstase der Atmosphäre in deinem Körper und spürst, wie Freude und Kraft durch dich hindurchströmen, bis du laut johlend mitjubelst – obwohl dir eigentlich egal ist, wer gewinnt.

Die Atmosphäre beeinflusst unsere Körper und dadurch unsere Gefühle, Gedanken, Reaktionen und auch unsere Entscheidungen. Doch die wenigsten Menschen merken, wenn jemand die Atmosphäre steuert, um Gefühle, Gedanken, Reaktionen und die Entscheidungen von anderen zu manipulieren. Wie will man das erkennen oder gar beweisen?

In manipulativen Systemen gibt es fünf Stimmungen mit einer jeweils ganz unterschiedlichen Atmosphäre. Damit diese anschaulich werden, stelle ich dir die Erfahrungen von Hannah, Philip, Liora und Ruth vor. Sie werden dir helfen, die fünf Stimmungen auch in deinem Leben oder im Leben der Menschen, die du begleitest, besser zu verstehen. Eine Übersicht über die fünf Stimmungen findest du in der vorderen Buchklappe. (In Kapitel 3 wird es um die verdeckten Ziele und die Folgen der fünf Stimmungen gehen.)

Für Hannah war es an der Zeit, die fünf Stimmungen in ihrem Familienlabyrinth mit mir gemeinsam zu erforschen. Die erste Stimmung ist das Scheinwerferlicht.

Stimmung 1: Scheinwerferlicht

Ich fragte Hannah: »Wenn sich deine Herkunftsfamilie im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zeigt, wie ist dann die Stimmung?« Hannah lachte kurz auf und meinte: »Das ist einfach.« Sie zeichnete einen hohen Sockel, eine kleine Person darauf und eine riesige Person daneben. »Die große Figur ist mein Vater. Das da auf dem Podest bin ich. Oder auch meine Schwester.« Sie nahm einen Goldstift und malte Strahlen um die große Person. »Egal, wo wir aufkreuzen, wir müssen im Mittelpunkt stehen, als Familie oder jeder Einzelne. Mein Vater ist der Pfarrer unserer Kirchgemeinde. Wenn er mit anderen spricht, ist er einfühlsam, herzlich und humorvoll. Meine Mutter gibt sich stets gut gelaunt und interessiert. Sie hilft überall mit und hat für alle ein offenes Ohr. Die perfekte Pfarrfrau.« Dass die Kinder als gute Vorbilder für andere vorangehen, war Credo Nummer eins. »Alle glänzten, was das Zeug hält«, erklärte Hannah.

Je exzentrischer die manipulative Person ist, desto höher ist der Sockel während der Stimmung Scheinwerferlicht. Ob auf dem Sockel eines oder mehrere Familienmitglieder ausgestellt werden oder ob ausschließlich Platz für den Manipulator ist, hängt von der Art des Manipulierers ab. Die Aufgabe der Wesen auf dem Sockel besteht jedenfalls darin, den Manipulator gut aussehen zu lassen. Sie müssen den Beweis erbringen, dass der Manipulator so ist, wie er oder sie gesehen werden möchte.

Der Vater von Hannah hat auch zu Hause immer mal jemanden aufs Podest gestellt: »Einmalig, wunderbar und einzigartig bist du. An dem Tag, als du geboren wurdest, hast du mich zum stolzesten Vater gemacht!«, ahmte Hannah ihren Vater nach und fügte sarkastisch an: »Als wäre er König Salomo höchstpersönlich.«

»Wie geht es denn der Kleinen auf diesem Podest?«, fragte ich. Hannah erzählte: »Ich habe geglaubt, dass Papa mich sehr liebt und dass ich jemand ganz Besonderes sein muss. Doch geheuer war mir dieser Platz nicht, so ohne festen Boden unter den Füßen. Darum habe ich die zittrigen Beine gemalt.« Noch lange empfand Hannah großen Stress in Versammlungen mit vielen Menschen, denn sie glaubte, dass sie herausragend und makellos sein müsse, um sich in der Öffentlichkeit zeigen zu dürfen.

Bei Philip entstand auf die Frage nach der Stimmung Scheinwerferlicht ein anderes Bild. Er hielt das Blatt quer und zeichnete im rechten oberen Viertel Strichmännchen, die um eine große Figur versammelt waren und zu dieser hochblickten. Der Rest des Blattes blieb leer. Die große Figur sei seine Mutter, erklärte Philip. »Sie weiß sich in Szene zu setzen, bis jeder restlos von ihrer ›Außergewöhnlichkeit‹ überzeugt ist.« Die Handgeste für »Anführungszeichen« benutzte er noch einige Male im Gespräch. Seine Mutter könne unermüdlich von ihrem »wichtigen Job als Journalistin« und ihrem aufopfernden Engagement berichten. Sie sehe sich als Kämpferin gegen die Ungerechtigkeit, die an Randgruppen verübt wird. Philip habe erst vor etwa fünf Jahren gemerkt, dass das alles »heiße Luft« ist. Die Zeitschrift, für die sie als Journalistin arbeitet, ist eine Eigenproduktion und die wenigen Abonnenten stammen aus ihrem Bekanntenkreis.

Ich wollte wissen, wo Philip auf dem Bild zu finden ist. Ob er eines der Strichmännchen sei, das zur Mutter aufschaue. Philip wurde verlegen. Er habe nicht gewusst, dass er sich auch malen müsse. »Wo bist du denn dann?«, fragte ich. Er meinte, er wäre wohl links unten, außerhalb des Bildes. Er sei maximal ein ferner Beobachter.

Wie bei Hannah gibt es auch bei Philip während Stimmung 1 eine übergroße Figur und einen Kreis der Aufmerksamkeit drum herum. Obwohl Hannah und Philip wohl beide exzentrisch-narzisstische Elternteile hatten, sind ihre Rollen im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit sehr verschieden. Während Hannah den Vater mit ihrem Auftritt gut aussehen lassen muss, schafft es Philip nicht einmal auf die Bildfläche. Philip meinte dazu, es gebe nur zwei Rollen: Entweder man bewundere seine Mutter oder man existiere nicht.

Möglicherweise findest du dich in Hannahs oder Philips Situation wieder, vielleicht aber war oder ist der Manipulator in deinem Leben nicht sonderlich exzentrisch und es geht eher darum, dass du nichts falsch machst. So war es bei Liora. Im Gespräch über ihr Bild merkte sie, dass Auftritte in der Öffentlichkeit hauptsächlich von unausgesprochenen Regeln beherrscht wurden. Es ging darum, möglichst nicht negativ aufzufallen. Bloß nichts falsch machen! Das Image sollte einer makellosen, »guten, christlichen« Familie entsprechen. Das bedeutete, die Mutter hatte still zu sein, damit sie besser dienen konnte. Die gut dressierten Kinder sollten stets die Autorität des Vaters und dessen einwandfreien Lebenswandel spiegeln.

Lioras Bild sprach Bände. Sie zeichnete sich als kleinen Punkt aufs Blatt, daneben eine riesige Lupe, die auf sie gerichtet war. Liora verstand, warum sie nicht gerne in die Öffentlichkeit ging: »Ich fühle mich so ausgestellt. Ich habe stets das Gefühl, von allen beobachtet und überprüft zu werden. Darum verhalte ich mich so unauffällig wie möglich. Am liebsten wäre ich gar nicht da.«

Die Lupe steht für den prüfenden Blick des Vaters, der überwacht, ob sich alle tadellos benehmen. Liora erlebte die verdeckte Art des Scheinwerferlichts. Es wird niemand in den Mittelpunkt gerückt, aber trotzdem werden alle dazu gebracht, einem übersteigerten Anspruch zu genügen, der nichts mit Menschsein oder der eigenen Person zu tun hat.

Ruth kennt die Stimmung Scheinwerferlicht wiederum auf eine andere Art. Zu Anfang der Beziehung zu ihrem Mann richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf sie. Er bekundete unentwegt seine tiefe Liebe zu ihr und betonte, dass sie füreinander bestimmt seien. Die gemeinsamen Unternehmungen machte er zu kleinen Abenteuern und seine Geschenke zeugten von Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen. Ruth fühlte durch die intensive Zuwendung eine starke Verbindung zu ihm. Sie war sein Ein und Alles. Seine anderen Gesichter kamen noch nicht zum Vorschein. »Es fühlt sich mit ihm so echt an! Ist ein solches Verhalten nicht ein Beweis für Liebe und Zuneigung?«, fragte Ruth zutiefst verunsichert.

Natürlich. Grundsätzlich sind Begeisterung, Komplimente, Geschenke oder Aufmerksamkeit schöne Momente. Auch ist es völlig natürlich, dass man sich vor anderen gut benehmen will. Doch in toxischen Beziehungen, wo narzisstischer Missbrauch geschieht, ob in Familien oder anderen Umfeldern, verhalten sich Manipulatoren völlig anders als sonst, wenn Menschen anwesend sind, die sie beeindrucken wollen.

Wenn manipulative Personen die Bühne der Öffentlichkeit verlassen oder sie niemanden mehr beeindrucken wollen, kippt die Stimmung.

Stimmung 2: Es kippt! Der Sabotage-Akt

Manipulierer halten freudige Erregung nicht allzu lange aus. Sie zerstören das, was glücklich und zufrieden macht, meist recht schnell. Nachdem ich mit Betroffenen Stimmung 1 ausgeleuchtet habe, frage ich deshalb: »Wie geht es weiter? Bleibt die Stimmung so? Verändert sich etwas? Mit welcher Farbe geht es weiter?«

Hannah fiel auf, dass Stimmung 1 jeweils in dem Moment zu Ende war, wenn die Autotüren für die Heimfahrt zugezogen wurden. Dieser Augenblick, in dem plötzlich alles anders wurde, war ihr vorher nicht bewusst gewesen. Kaum war das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit ausgeknipst, kippte die Stimmung. In Hannahs Familie stand die Atmosphäre oft unter gefährlicher Spannung. Sie spürte, jetzt durfte keiner etwas Falsches sagen, sonst rastet der Vater aus.

Bei Philip zeigt sich ein ähnliches Bild: Solange Besuch bei ihnen weilte, war die Mutter eine perfekte freundliche Gastgeberin, kaum aber hatte sich die Tür hinter den Gästen geschlossen, kippte die Stimmung und die Atmosphäre war kalt und leer. Nicht selten sprach die Mutter sehr schlecht über die Personen, denen gegenüber sie sich eben noch herzlich und verständnisvoll gegeben hatte.

Lioras Vater, der zuvor eine väterliche Autorität ausgestrahlt hatte, verfiel in bleiernes Schweigen. Eine lähmende Apathie legte sich über die Familie.

Stimmung 2 ist nicht zwingend mit einem plötzlichen drastischen Abfall des Klimas verbunden. Ruths Mann ging raffinierter vor, um die Atmosphäre auf Minustemperaturen sinken zu lassen. Manchmal setzte er eine beleidigte Miene auf und verweigerte jeglichen Blickkontakt oder er startete eine Diskussion, die alsbald in Anschuldigungen mündete. Das war es, was Ruth so verwirrte. Sie dachte: »Wir hatten es doch so gut? Was ist jetzt los?«

»Wie findest du das, dass die Stimmung von einem Moment auf den anderen kippt?«, frage ich Betroffene. Oft sind sie erst mal ratlos, aber lustig findet das niemand.

Hannah realisierte das Phänomen der drastischen Wechsel erst durch die Arbeit mit den Stimmungen. Sie merkte, dass es diese Unberechenbarkeit, die Willkür waren, die dafür sorgten, dass sie ständig angespannt war. Philip hingegen hatte seine Mutter schon viel früher durchschaut. Er wusste, dass die Stimmung Scheinwerferlicht nur Show war, fürchtete sich aber dennoch vor ihren plötzlichen Anfällen. Liora glaubte zu Beginn der Beratung sogar, dass sich alle Menschen nach außen herzlich und freundlich zeigen würden, es aber in Wirklichkeit kaum waren. Sie realisierte, wie sehr sie diese Wechsel auch im Zusammensein mit anderen Menschen fürchtete und sich darum nicht auf Beziehungen einlassen konnte.

Ob die bleierne Stimmung 2 anhält oder in Stimmung 3 mündet, ist unterschiedlich. In dieser Stimmung zeigt sich, wie Manipulierer innere Anspannung loswerden.

Stimmung 3: Entladung – psychische Vernichtung

Wie ein Gewitter in den Bergen, das sich urplötzlich über Wanderern entlädt, wie wenn es ohne Vorwarnung gefährlich blitzt und donnert, wie wenn Regen von einer Sekunde auf die nächste auf die armen Schutzlosen herunterprasselt, so überraschend und heftig kann sich die Rage des Manipulators über Betroffene ergießen. So erging es Philip. Je nach Laune der Mutter traf es ihn oder seinen Vater. Ihre Art, zu kritisieren, war grenzenlos in ihrer Destruktivität, die Betitelungen waren vulgär und beschämend. Die Vorwürfe, was die Beschuldigten getan oder nicht getan hatten, was sie falsch gesagt oder fälschlicherweise nicht gesagt hatten, nahmen kein Ende. Sein Vater schwieg. Warum er das tat, verstand Philip erst, als er alt genug war, um sich selbst zur Wehr zu setzen. Nun wechselten sich abstruse Beschuldigungen mit diffusen Behauptungen ab: »Du weiß genau, was du mir antust!« Wann immer er auf eine der Äußerungen seiner Mutter einging, um sich zu verteidigen, wechselte sie die Anschuldigung. Das einzige Unumstößliche schien die »Tatsache«, dass er »böse, undankbar, faul, unaufrichtig, egoistisch und gemein« war. Irgendwann verstummte auch er.

Lioras Vater wurde nicht laut. Er beherrschte die Kunst des Pseudo-Fragenstellens und erniedrigte in sachlichem Tonfall: »Ich frage mich, ob die anderen gemerkt haben, wie undurchdacht deine Ansicht war.« Die beiden Brüder von Liora wurden oft ohne erkennbares Verschulden auf diese perfide Art gedemütigt. Liora selbst wurde vom Vater weitgehend ignoriert. Sie schien keinerlei Bedeutung für ihn zu haben. Die rigiden Regeln verinnerlichte sie trotzdem. Schließlich wollte sie nicht Gefahr laufen, selbst ins Schussfeld zu geraten. Manchmal wurde fürs nächste Mal die Devise durchgegeben: »Ich erwarte von euch, dass ihr euch respektvoll benehmt. Ich will mich nicht mehr für euch schämen müssen.« Spätestens nach einem dieser K.-o.-Sätze fühlte sich Liora schuldig und schämte sich zutiefst. Wofür? Das wusste sie nicht.

Ruths Ehemann wiederum entlud sich auf andere Weise. Die vorwurfsvolle Miene informierte, dass jemand etwas »Furchtbares« zu ihm gesagt hatte. Ob das Ruth, eines der Kinder oder eine außen stehende Person war, variierte. Aber dass ihm unrecht getan wurde, das stand für ihn außer Frage. Wenn Ruth nicht in der Weise reagierte, wie ihr Mann es für angebracht erachtete, dann brach er in Tränen aus, schloss sich in ein Zimmer ein oder verließ ohne Erklärung das Haus und tauchte erst Stunden später wieder auf.

Nicht weniger drastisch ist Hannahs Erinnerung an eine Heimfahrt von einem Gottesdienst, als sie höchstens sechs Jahre alt war: »Meine Schwester, mein Bruder und ich hatten Spaß auf der Rückbank. Auf einmal fuhr der Vater ohne Vorwarnung an den Straßenrand und gebot uns, auszusteigen. Völlig verwirrt stiegen wir aus; mir war keine Schuld bewusst. Meine Eltern brausten mit dem Auto davon. Wir standen da, an einem Ort, den wir nicht kannten. Ich weiß nur noch, dass viel Verkehr war. Ich hatte keine Ahnung, was wir tun könnten. Meine Schwester beschloss, loszulaufen, wohin, wusste ich nicht, sie bestimmt auch nicht, aber wir liefen mit ihr mit. Irgendwann brauste das Auto meiner Eltern heran und blieb neben uns stehen. Meine Mutter blickte aus dem Fenster und befahl uns, einzusteigen. Ich wollte nicht, ich hatte solche Angst. Sie fixierte mich mit stechenden Augen und sagte mit leiser Stimme, dass dies meine letzte Chance sei, danach würden sie uns nicht mehr suchen kommen. Wir stiegen ein und es wurde nie mehr ein Wort über den Vorfall gewechselt.«

Der Haken an Stimmung 3 ist, dass Betroffenen beigebracht wird, dass nicht das schreckliche Verhalten des Manipulators das eigentliche Problem ist, sondern das Kind (der Partner, die Angestellten etc.). Man glaubt, an den schlechten Verhältnissen schuld zu sein und diese Behandlung verdient zu haben. Das wirkt sich auch auf spätere Beziehungen aus. Wenn es auf der Arbeit ein Problem gab, fühlte sich Hannah verantwortlich, auch wenn sie nichts mit dem Problem zu tun hatte. Wenn Philip unfair behandelt wurde, verbrachte er Tage damit, zu überlegen, was er möglicherweise falsch gemacht hatte. Liora glaubte, dass man nur freundlich zu ihr sei, solange man noch nicht gemerkt hätte, wie »mühsam« sie sei. Sie war überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis das Gegenüber sie ablehnen würde. Und Ruth? Sie glaubte, dass sie ihrem Mann keine gute Ehefrau war, weil sie immer wieder »so lieblos zu ihm sei« – wie er sagte.

Ich weiß nicht, ob du so extreme Stimmungswechsel kennst. Möglicherweise nicht so drastisch, aber möglicherweise doch. Für manche sind solche Wechsel normal geworden. Doch das ist nicht gesund. Es ist nicht normal, dass auf Freude ein unerklärlicher Klimaabfall folgt. Es ist definitiv nicht normal oder gesund, wenn jemand andere Menschen erniedrigen muss, um sein Unwohlsein loszuwerden.

Natürlich und gesund ist, dass die Aufregung nach einem Event langsam abklingt. Auf der Heimfahrt erzählt man sich, was einen noch beschäftigt. Eltern fragen nach, was ihre Kinder erlebt oder mit wem sie gespielt haben. Partner knüpfen möglicherweise an ein Thema an, welches während des Besuchs bzw. Events besprochen wurde. Das Erlebte klingt nach und irgendwann ab, bis andere Themen oder Aktivitäten angegangen werden. Das ist normal. Es ist natürlich und gesund, dass sich nach vielen Eindrücken in der Öffentlichkeit Müdigkeit ausbreitet und die Stimmung abflacht. Säuglinge oder Kleinkinder etwa werden vielleicht weinen, um die Überreizung zu verarbeiten, und brauchen Ruhe und/oder Nähe. Vielleicht sind auch die Erwachsenen schweigsam, aber es ist keine unangenehme Stille. Doch dass sich Erwachsene auf Kosten von anderen abreagieren und wie Kleinkinder einen Wutanfall manifestieren oder mit Gemeinheiten um sich werfen, das ist äußerst ungesund. Für alle Beteiligten.

Aber wenn es immer wieder Zeiten gibt, in denen alle nett oder gar herzlich sind, dann muss man doch nur herauszufinden, was es braucht und wie man sein muss, damit es wieder gut wird, nicht wahr? Vielleicht liegt es ja an mir, die Sache zu beheben? Das ist der fatale Trugschluss der Stimmung 4.

Stimmung 4: Es liegt an dir

Der Übergang von Stimmung Entladung – psychische Vernichtung zu Stimmung 4 ist fließend. Jemand muss es wiedergutmachen. Irgendjemand muss das Chaos ordnen, den Manipulierer beschwichtigen und die Beziehung kitten. Jemand muss etwas tun, das hält ja keiner aus! Der Manipulierer, geschickt in der Kunst der Verantwortungsverweigerung, wird jemanden (oder mehrere) im (Familien-)System die Rolle übernehmen lassen, alles wieder zu richten.

Auch Hannah erlebte Zeiten, in denen ihre Eltern zufrieden mit ihr waren (wenn sie ihnen half), und Zeiten, in denen sie für ihre Eltern eine furchtbare Enttäuschung war (wenn sie nicht tun konnte, was von ihr erwartet wurde). Doch weil es diese guten Zeiten gab, schien die Lösung für die schlechten Zeiten offensichtlich: Wenn ich stets fröhlich, aufmunternd und hilfsbereit bin, dann wird es gut.

Philip erlebte Momente, in denen seine Mutter nicht ohne ihn sein konnte und er sie lieb haben und trösten musste, und andere, in denen sie ihn regelrecht zu hassen schien. Dann gab es Tage, an denen die Mutter die Kinder allein ließ und Philip und sein Bruder ohne sie zurechtkommen mussten. Ob es Mittagessen gab oder nicht, war Glückssache. Doch weil es die nicht so schlimmen Tage gab, verinnerlichte er: Wenn ich stets aufpasse, dass ich nichts Falsches mache oder sage, und stets zur Verfügung stehe, wenn man mich braucht, dann kann ich Schlimmeres verhindern.

Und Liora hoffte: Wenn ich mich perfekt folgsam benehme; nicht laut, unanständig oder aufsässig bin – dann werde ich geduldet.

Auch Erwachsene in Partnerschaften oder Arbeitsbeziehungen, die von diesen Stimmungswechseln geprägt sind, glauben: Ich muss nur herausfinden, was ich falsch gemacht habe, und es das nächste Mal besser machen.

Die Botschaft in Stimmung 4 ist klar: Es liegt an dir.

Ruth entschuldigte sich während der Trotzanfälle ihres Mannes für alles Mögliche, damit er sich nach langem Hin und Her gnädig stimmen ließ. Sie hatte unbewusst die Aufgabe übernommen, die endlose Leiter der Wiedergutmachung zu erklimmen. Wenn ich nur …, dann kann er mich wieder lieben. Stimmung 4 ist wie die Karotte, die am Stab vor dem Kopf des Esels baumelt.

Durch die Auseinandersetzung mit den Stimmungen wurde Ruth bewusst, dass sie ständig versuchte, Stimmung 1 (Scheinwerferlicht) wiederherzustellen und Stimmung 2 (Es kippt! Der Sabotage-Akt) und Stimmung 3 (Entladung – psychische Vernichtung) zu verhindern. Als sie merkte, wie ausgelaugt sie davon war, kamen ihr die Tränen.

Zur Auflockerung

Wenn du von dem Beschriebenen betroffen bist, ist es klug, beim Lesen des Buchs immer wieder Pausen einzulegen. Die folgende Übung kann dir helfen, die Anspannung aufzulockern.

Lege deine Hand auf deinen Brustraum und streiche zart oder kraftvoll (was dir lieber ist) über deine Herzgegend. Atme tief ein und lass den Atem wieder ausströmen. Massiere mit deinen Fingern die Stellen um deine Schlüsselbeine. Gerne zwei Minuten lang. Zum Abschluss klopfe mit lockeren Fäusten deinen Brustraum ab (mindestens eine Minute) und atme dazu tief und hörbar durch.5

Stimmung 5: Alles wunderbar und der Tanz auf rohen Eiern

Obwohl Ruth in der vorangegangenen Sitzung gespürt hatte, was die Stimmungswechsel mit ihr machten, kam sie nach zwei Wochen skeptisch zum nächsten Gespräch. Sie meinte, sie habe vielleicht übertrieben und die Situationen zu drastisch dargestellt. Die letzten zwei Wochen seien ruhig verlaufen: »Mein Mann kann ein wundervoller Vater sein. Und auch zu mir war er herzlich und aufgeschlossen.« Als ich Ruth in einer früheren Sitzungen gebeten hatte, ein Haus oder Gebäude zu malen, das zu ihrer Familie passt, wusste sie erst nicht, was sie malen sollte. Sie entschied sich dann für ein ganz normales Häuschen mit einer Tür, zwei Fenstern und einem Dreiecksdach, wie wir das von Kinderzeichnungen kennen. Ihren Mann, die beiden Kinder und sich selbst zeichnete sie neben das Haus. Ich ließ sie nun das Bild vor sich auf den Boden legen. Dann gab ich ihr die Karten mit den vier Stimmungen, die sie das letzte Mal kreiert hatte, und fragte sie, wo die Karten hinkämen. Ruth probierte verschiedene Anordnungen aus. Schließlich legte sie die Stimmungskarten 2 bis 4 unter das A4-Blatt mit dem Häuschen drauf. Oberflächlich betrachtet sieht man nichts mehr von den Karten. Die Stimmung Scheinwerferlicht kam neben das Blatt.

Ruth überlegte: »Es stimmt schon, von außen betrachtet gibt es keinen Unterschied zu anderen Familien. Alles scheint normal, manchmal geradezu perfekt.« (Ihr Mann war Fotograf, Ruth Gärtnerin. In ihrer Wohnung hingen wunderbare Bilder, der Garten blühte und die Gemüsebeete waren sorgsam gepflegt.) Ruths Worte beschreiben den einen Teil von Stimmung 5: Alles wunderbar. Aber darunter sieht es anders aus, es ist ein Tanz auf rohen Eiern.

Ich fragte Ruth: »Hast du dir das so vorgestellt, als ihr geheiratet habt, dass die Angst, etwas falsch zu machen, das Klima eurer Beziehung bestimmen würde?« Sie schaute stumm aus dem Fenster, dann schüttelte sie beinahe unmerklich den Kopf. Sie wusste, dass ein Zuhause sich anders anfühlen sollte. Sie hatte es in ihrer Kindheit anders erfahren.

Eine Betroffene aus einem narzisstisch-missbräuchlichen Elternhaus hat den folgenden Text und weitere geschrieben, die ich mit ihrem Einverständnis in diesem Buch wiedergebe.

Tiefsee-U-Boot

Es ist, als wären wir in einem U-Boot eingeschlossen. Das U-Boot sinkt in tiefste Tiefen, weitab von irgendeinem Radar, der uns orten könnte. Ab vom Schirm. Wir haben keine Chance, gefunden zu werden.UND wir wissen, der Feind hat die Crew infiltriert.Es ist höchste Gefahrenstufe. Man müsste dringend auftauchen und schnellstmöglich evakuieren.Doch das darf man nicht.Denn da ist diese Fassade, dieses »Alles ist normal«.Alle müssten so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone!Aber wir laufen völlig fahrig und getrieben umher.Jeder versucht, seine Abläufe aufrechtzuerhalten, als wäre nichts.Als ob der Feind nicht unter uns wäre. Als ob er nicht jederzeit zuschlagen könnte − und wird.

Ich verharre, als würden in meinem Innen keine ohrenbetäubenden Sirenen heulen.Ich bleibe, obwohl alle Exit-Lämpchen grell blinken.Wir machen weiter. Als wäre Fehlalarm.Es ist wohl ein Irrtum. Wir blenden alles aus.Ich beame die Sirene weg. Ich muss, ich würde den Verstand verlieren ob dem Lärm. Ich stelle mich taub. Ich zwinge mich zu glauben, dass ich mich irre. Da ist gar nichts.Ich werde den Blick kaum mehr bewegen. Starr vor mich hinschauen, Scheuklappen an, die Peripheriesicht ausschalten. Sonst würde ich irre von dem Geblinke, das mich zur Flucht treibt.Allmählich wird das Blinken am Rande der Wahrnehmung normal.Langsam wird das Geheul der Sirenen zum Nebengeräusch.