Danke, ich brauche keinen Sitzplatz! - Virginia Ironside - E-Book

Danke, ich brauche keinen Sitzplatz! E-Book

Virginia Ironside

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Forever young? Bloss nicht!

Mit einem neuen Jahr beginnt Marie Sharp auch ein neues Tagebuch! Kurz vor ihrem 67. Geburtstag ist sie fest entschlossen, endlich mehr für ihre Gesundheit zu tun. Doch dann ertastet sie etwas Merkwürdiges an ihrem Bauch, bestimmt ein Symptom für ... ja, für was nur? Gut, dass Marie genug Dinge hat, die sie vom Grübeln abhalten. Da wäre zum Beispiel der gut aussehende Untermieter, der offensichtlich etwas zu verbergen hat. Oder dieses „soziale Netzwerk“, in das ihre Freunde ständig seltsame Dinge schreiben. Und nicht zuletzt eine neue, völlig verrückte Nachbarin. In all dem Trubel wird eines schnell klar: Marie ist nicht mehr die Jüngste – und das ist auch gut so!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 501

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Marie Sharp ist zurück! Kurz vor ihrem 67. Geburtstag beginnt sie ein neues Tagebuch. Schließlich gibt es jede Menge zu berichten: von ihrem gut aussehenden Untermieter, den irgendein Geheimnis zu umgeben scheint. Von dem neuen Nebenjob als Kunstlehrerin, der sie ordentlich auf Trab hält. Von diesem merkwürdigen »sozialen Netzwerk«, in das ihre Freunde seltsame Dinge schreiben. Von der verrückten Nachbarin, die ihr den Vorsitz der Nachbarschaft streitig machen will. Und natürlich von dem merkwürdigen Knoten, den Marie an ihrem Bauch ertastet hat. Als dann auch noch ihr Exmann David immer öfter vor der Tür steht, ist sie völlig verwirrt. Er wird doch nicht etwa alte Gefühle aufwärmen wollen? Zum Glück ist Marie alt genug, es besser zu wissen!

Autorin

Virginia Ironside begann ihre berufliche Laufbahn als Journalistin und veröffentlichte im Alter von zwanzig Jahren ihr erstes Buch. In den Sechzigern schrieb sie eine Rockmusik-Kolumne für die »Daily Mail« und wechselte später zur Zeitschrift »Woman«. Sie arbeitete für den »Sunday Mirror« und »Today« und hat eine wöchentliche Kolumne mit Ratschlägen für alle Lebensfragen im »Independent«. Virginia Ironside hat bereits mehrere Ratgeber sowie Kinderbücher verfasst. Ihre Bücher um Marie Sharp waren Bestsellererfolge. Die Autorin lebt und arbeitet in London.

Virginia Ironside

Danke, ich brauchekeinen Sitzplatz!

Das neue Tagebuchder Marie Sharp

Deutsch von Sibylle Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Yes! I Can Manage, Thank You!« bei Quercus Editions Ltd, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Virginia Ironside

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagmotiv: © Franziska Biermann, Agentur Susanne Koppe,

www.auserlesen-ausgezeichnet.de

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-15564-3

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für David Collard

JANUAR

2. Januar

Ach du liebe Zeit. Zwei Jahre sind vorbeigerauscht, ohne dass ich Tagebuch geschrieben hätte. Jugendliche Flatterhaftigkeit! Da ich aber in Kürze siebenundsechzig werde, sollte ich mir derlei Allüren vielleicht allmählich abgewöhnen.

Jetzt lege ich jedenfalls wieder los mit dem Schreiben. Eigentlich sollte ich mit richtig viel Schwung ins neue Jahr starten, doch selbiges begann mit zwei ziemlich grässlichen Erlebnissen. Das erste ereignete sich gestern, als ich im Eckladen Milch kaufen war. An Feiertagen geht mir grundsätzlich die Milch aus, und da ich noch nicht angezogen war, raffte ich mein Nachthemd unter den Mantel und flitzte in Hausschuhen zum Laden – soweit man bei jemandem über sechzig noch von »flitzen« sprechen kann. Zu meiner großen Erleichterung war weit und breit niemand zu sehen.

Aber als ich dann mit der Milch in der Hand nach Hause hastete – und ich hatte spontan auch noch eine Flasche Courvoisier gekauft, weil mir eingefallen war, dass der letzte Rest meines Vorrats in der Brandybutter für den Plumpudding gelandet war –, sah ich ein paar Leute auf dem Gehweg herumlungern und palavern. Es war zwar eiskalt, aber schön sonnig, und am Straßenrand stand ein großer Mann mit nacktem Oberkörper. Der Bursche hielt in einer Hand eine Bierdose und klatschte mit der anderen ein paar Typen ab, die wahrscheinlich noch von letzter Nacht besoffen waren. Einer trug ein Baströckchen über seiner Wampe, der andere eine große Narrenkappe auf dem Kopf. Im Rinnstein hockte ein ziemlich fertig aussehender Kerl, der Bier aus der Flasche trank und als Krokodil verkleidet war. Ich wollte gerade einen großen Bogen um die Horde machen, als ich auf der anderen Straßenseite Pfarrer Emmanuel von der evangelischen Kirche an der Ecke sichtete. Der Pfarrer steuerte schnurstracks auf mich zu und sah dabei noch missbilligender aus als gewöhnlich.

Nur wenige Meter vor der Radautruppe trafen wir aufeinander, und zu meinem maßlosen Entsetzen fing der Pfarrer mit lauter Stimme zu salbadern an, damit er auch ganz bestimmt von allen gehört wurde.

»Betrunken! Und das in aller Herrgottsfrühe!«

Ich wollte eine unverbindliche Bemerkung machen und weitermarschieren, hatte es aber so eilig zu entkommen, dass ich meinen Mantel nicht fest genug zusammenhielt und der Saum meines Nachthemds herausrutschte. Die Typen johlten, und einer pfiff doch wahrhaftig anerkennend. Verlegen und durchaus ein wenig geschmeichelt geriet ich ins Stolpern, woraufhin mir die Cognacflasche aus der Tasche glitt, auf der Straße zerschellte und sich durchdringender Alkoholgeruch verbreitete.

Als ich an den Zechbrüdern vorbeihastete, rief einer: »Frohes neues Jahr, Oma!«

Mir brach vor Stress der Schweiß aus, und ich sah zu, dass ich so schnell wie möglich nach Hause kam.

Pfarrer Emmanuel hielt mich jetzt bestimmt für eine notorische Trinkerin (womit er gar nicht so falschliegt). Und was den Oma-Ausruf anging – also ganz ehrlich! Ich habe vor zwei Jahren ein Vermögen für ein Facelifting ausgegeben und finde, dass ich ziemlich gut aussehe (auch wenn das eingebildet klingt). Dass irgendwelche verkommenen Schluckspechte nun meinen, sie könnten mich Oma nennen, ist doch wirklich ein starkes Stück.

Um mich zu trösten, sagte ich mir, dass ich zumindest wirklich eine Oma war – und zwar von Gene, meinem süßen kleinen Enkel, der jetzt wahrhaftig schon sieben Jahre alt ist.

Doch auf dieses Erlebnis folgte ein wesentlich schaurigeres.

Nachdem ich ins Haus geflüchtet war, überflog ich die Titelseite der Zeitung: »Katastrophen-Neujahr! Regierung prophezeit schlimmste Wirtschaftskrise aller Zeiten! Tausende obdachlos!« (Ja, ich muss wohl gestehen, dass ich den »Hetzkurier« wieder abonniert habe.) Dann plauderte ich eine Weile mit Jack, der anrief, um seiner alten Mama alles Gute fürs neue Jahr zu wünschen, während er mit Gene im Park Drachen steigen ließ. Anschließend ließ ich mir ein heißes Bad ein und überprüfte im Spiegel, ob mein Facelifting nicht über Nacht den Geist aufgegeben hatte und ich womöglich aussah wie die Hauptfigur von Rider Haggards Roman Sie im letzten Kapitel. Danach stieg ich in die Wanne und aalte mich wohlig im duftenden Schaum.

Von den kleinen Ärgernissen des Vormittags abgesehen kann ich wohl behaupten, dass es mir richtig gut geht. Zwar weilen mein geliebter Hughie – einer meiner besten Freunde – und mein geliebter Archie nicht mehr unter den Lebenden, aber ich bin jedenfalls ziemlich gut in Schuss. Früher war ich Kunstlehrerin an einer Mädchenschule, aber seit einigen Jahren bin ich im Ruhestand, und ich habe diese Zeit bisher sehr genossen. Und ich beglückwünsche mich immer noch zum Sieg über den Stadtrat, der einem Hotel die Bebauung der kleinen Grünfläche am Ende der Straße erteilen wollte. Gene wird von Jahr zu Jahr hinreißender – keine Ahnung, wie er das hinkriegt – und scheint immer noch Spaß zu haben an Übernachtungen bei seiner »lieben alten Oma«, wie er mich zu nennen pflegt. Mein Verhältnis zu meinem Exmann David ist gut, was angesichts der Tatsache, dass die meisten meiner Freunde teilweise noch nach vierzig Jahren mit ihren Expartnern auf Kriegsfuß stehen, an ein Wunder grenzt. Meine großartige Freundin Penny, die mich bei der Protestaktion gegen das Hotel unterstützt hat, wohnt nur einen Katzensprung entfernt; mein ebenso großartiger Freund James, der hinterbliebene Partner von Hughie, lebt auch ganz in der Nähe, und meine alte Schulfreundin Marion und ihr Mann Tim wohnen ein paar Häuser weiter. Meine Freunde sind eine zauberhafte kleine Wahlfamilie, und ich liebe sie alle sehr.

Während ich heißes Wasser nachlaufen ließ, sann ich über die Vorsätze fürs neue Jahr nach, die ich gestern aufgelistet hatte.

Einen neuen Untermieter suchen

Michelle, meine alte Untermieterin – oder eher: junge Untermieterin aus Frankreich –, ist mit Ned zusammengezogen, dem Baumexperten, der uns beim Kampf gegen das Hotel geholfen hat. Anfänglich hielten ihn alle für schwul, aber er hatte nur eine Experimentierphase und fing schließlich was mit Michelle an – sehr zur Enttäuschung von James, der sich ziemlich in Ned verguckt hatte. Oje. Nun genieße ich zwar das Alleinsein, muss aber sagen, dass ich abends dann doch immer gerne jemanden im Haus hätte. Und zwar einen Mann. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich will nicht irgendeinen x-beliebigen Mann und ganz bestimmt keinen Partner oder Liebhaber. Bloß nicht! Nein, ich möchte einen Mann zum Schutz für mich. Und für das Haus.

Fitnessprogramm

Das fand ich früher immer blöd. Eine Zeit lang ging ich ins Fitnessstudio, aber da roch es so abscheulich! Und diese grässliche Musik! Außerdem war es mir ausgesprochen peinlich, in albernen Klamotten vor schweißglänzenden Männern herumzuhampeln, deren Stirnbänder allen signalisieren sollten, dass sie furchtbar coole Typen sind, die sich den lieben langen Tag auf dem Laufband abrackern und Gewichte stemmen. Das Ganze war ebenso entmutigend wie demütigend. »Wenn wir langsamer werden«, hatte Penny mir einmal gesagt, »sind wir es unseren Körpern schuldig, etwas für unsere Muskeln und unser Herz zu tun.« Sie erklärte, die Krankenversicherungen hätten herausgefunden, dass man durch Sport und Bewegung fit bleiben könne bis zum Ultimo und dann einfach irgendwann tot umfallen würde, etwa so, als stürze man von einer Klippe; im Gegensatz zu dem langsamen Abstieg über die Stationen Gehbehinderung, Rollstuhl, Herzschwäche, Vergesslichkeit und Gaga-Werden. Klingt einleuchtend und überzeugend. Werde also ein straffes Fitnessprogramm starten.

Regelmäßiger malen

Vor zwei Jahren habe ich wieder mit dem Malen begonnen. Ich hatte eine ganze Bilderserie von den beiden Bäumen am Ende der Straße angefertigt, die für diesen Hotelbau gefällt werden sollten (auf einen der beiden – das darf man schon mal erwähnen – bin ich im Zuge unserer Rettungskampagne sogar wagemutig raufgeklettert). Die Gemälde waren so gut gelungen, dass meine amerikanischen Nachbarn von nebenan, Brad und Sharmie, sie tatsächlich für eine Menge Geld kauften, das ich mir bislang schön aufgespart habe.

Einen Plan machen

Einem – zur Abwechslung wirklich interessanten – Artikel im »Hetzkurier« zufolge braucht man zum Glücklichsein drei Ziele: eines für die nächste Woche, eines für das nächste Jahr und eines für die Zukunft im Allgemeinen. Mein Ziel für nächste Woche besteht darin, mit der Umsetzung meiner Vorsätze anzufangen; ich muss mir also nur noch ein Ziel fürs nächste Jahr und eines für die Zukunft ausdenken. Allerdings habe ich den Eindruck, dass diese Idee von einem jungen Menschen ersonnen wurde, denn wenn man erst mal kurz vor seinem siebenundsechzigsten Geburtstag ist, bleibt eigentlich nicht viel Zukunft übrig. Mein langfristiges Ziel sollte vermutlich sein, in ein altersgerechteres Haus zu ziehen. Oder in eine Wohnung. Oder – da möge der Himmel vor sein – in einen Bungalow. Wenn ich nämlich hier ganz nach oben steige – was ich schon seit einigen Monaten vermieden habe, weil es mir zu mühsam ist –, brauche ich regelmäßig ein Stück Käsesahnetorte, um mich von der Anstrengung zu erholen.

Das Haus von oben bis unten ausmisten

Das hatte ich mir, glaube ich, vor einigen Jahren schon vorgenommen, habe es aber bislang nicht geschafft. Ich muss das ganze Zeug sortieren und in beschrifteten Kartons verstauen, damit sich der arme Jack, wenn die Zeit gekommen ist, nicht mit Bergen von Liebesbriefen, grauenvollen alten Strickjacken, Sandwich-Eisen, kaputten Katzenkörben, mottenzerfressenen Kissen, ausrangierten Wäschespinnen und dergleichen herumschlagen muss – all den Dingen also, die ich aufbewahrt habe, weil »man sie irgendwann noch mal brauchen könnte«, die ich aber de facto bis zum heutigen Tag niemals mehr gebraucht habe.

Ein paar neue illegale Drogen ausprobieren

Wäre doch schade, wenn man das versäumen würde, solange man noch die Gelegenheit dazu hat, nicht wahr? Angeblich soll man ja auf Ecstasy wahnsinnig freundlich zu allen Menschen sein – weshalb also nicht? Nur ein einziges Mal? Ich weiß noch, dass ich in den Sechzigern ein paar Drogenexperimente gemacht habe, dann aber ziemlich übel durch den Wind war, nachdem ich einmal Heroin geraucht und danach geträumt hatte, ich hätte Jack – der damals noch ein Baby war – liebevoll abgeküsst und am nächsten Morgen (im Traum) feststellte, dass der Kleine mit fürchterlichen Blutergüssen übersät war. Das Zeug werde ich mir bestimmt nicht noch mal antun!

Na, jedenfalls durchforstete ich gerade mein Gehirn nach weiteren guten Vorsätzen (obwohl sechs ja eigentlich ausreichen sollten; ich habe immerhin schon das Rauchen aufgegeben und werde frühestens mit siebzig aufhören, Alkohol zu trinken – aber vielleicht fange ich dann auch erst recht an zu saufen, was das Zeug hält), als ich einatmete und mein Bauch aus dem Wasser auftauchte und mir etwas Merkwürdiges auffiel: Eine Seite war irgendwie höher als die andere.

Ich tastete meinen Bauch ab. Die linke Seite fühlte sich prächtig an, nachgiebig und weich, wie ein Bauch sein soll. Aber rechts sah das anders aus – geschwollen und hart. Nachdem ich den Schaum weggewischt hatte, entdeckte ich eine rosa Geschwulst, die mit kleinen Punkten gesprenkelt war, und geriet auf der Stelle in Riesenpanik. Meine Brüste hatte ich regelmäßig auf Knoten abgetastet, aber ich war nie auf die Idee gekommen, das auch mit meinem Bauch zu machen. Jetzt drückte und fummelte und tastete ich an dem merkwürdigen Ding herum und überlegte, ob ich vielleicht versehentlich einen Stein verschluckt hatte, der jetzt an dieser Stelle festsaß. Oder hatte ich womöglich eine späte Bauchhöhlenschwangerschaft? Die Geschwulst tat seltsamerweise kein bisschen weh, machte mir jedoch fürchterliche Angst.

Mir schlug das Herz bis zum Hals, und ich blieb noch eine Weile in der Wanne liegen. Als ich schließlich rauskletterte, verschwamm mir alles vor den Augen, und ich musste mich auf den Wannenrand setzen, um nicht umzukippen. Mir war so übel vor Angst, dass ich erst mal den Kopf nach unten hängen ließ. Was zum Teufel war das für ein Teil?

Da blieb nur eines: Doktor Google. Ich trocknete mich rasch ab, schlüpfte in meinen Bademantel, tappte zum Computer und machte mich ans Werk.

Mindestens eine Stunde hockte ich am Rechner. Konnte es Elefantiasis sein? Oder eine gefährliche Schwellung eines Eileiters? Ein Gallenstein, der eine Entzündung verursacht hatte? Divertikulitis? (Was besonders übel wäre; wenn das nicht gleich behandelt wird, kommt es nämlich zu einer Darmperforation, und dann ist Sense.)

Als ich bei Google-Bilder »Bauch« eingegeben hatte, konnte ich Konterfeis von abscheulich fetten Menschen nach einer Bauchstraffung betrachten, gefolgt von Fotos, auf denen es Brüche und vergrößerte Prostatas zu bewundern gab. Ich war schon der festen Überzeugung, dass ich Prostatakrebs hatte, als mir dämmerte, dass auf den Fotos nur Typen zu sehen waren und Prostatas bei Frauen nicht vorkamen.

Mir war rätselhaft, weshalb ich mein Problem nicht im Alleingang diagnostizieren konnte. Ich bin nämlich in einem Alter, in dem ich locker als Ärztin arbeiten könnte. Mit weißem Kittel und Stethoskop ausgestattet, würde ich die meisten Gebrechen auf Anhieb identifizieren. Sollte ich die Symptome noch nicht selbst erlebt haben, dann auf jeden Fall meine Freunde. Da wir heutzutage ununterbrochen über unsere zahllosen Zipperlein reden und Freunde in Krankenhäusern besuchen, sind wir eigentlich alle Experten für unsere diversen Innereien, ganz zu schweigen von Diabetes, Herzinfarkten, Alzheimer, Makuladegeneration, Arthritis, Netzhautablösung und Polymyalgie – um nur ein paar Leiden aufzuzählen. Und da ich mich jetzt auch mit Prostatas auskenne, kann ich mich wohl endgültig als qualifiziert betrachten.

Nachdem ich eine Medizin-Website nach der nächsten durchforstet hatte, kam ich zu dem unerfreulichen Schluss, dass es sich um Magenkrebs handeln musste. Was ich natürlich von Anfang an geahnt hatte.

Am liebsten wäre ich schnurstracks zum Doktor gerannt, aber heute war Feiertag. Dann beschloss ich, noch ein paar Tage abzuwarten. War doch sinnlos, gleich in Panik zu geraten. Vielleicht verschwand das Ding ja über Nacht. Manchmal kam so was vor.

Einmal war ich mit einer riesigen schmerzhaften Wunde auf dem linken Fuß zum Arzt gehumpelt. Die Stelle hatte zuvor so schlimm gesuppt und geeitert, dass ich sie jeden Abend neu verbinden musste, und sie schmerzte so sehr, dass ich nur noch weiche Pantoffeln tragen konnte – und sogar die taten weh. Irgendwann sah das Teil so grausam aus, dass ich gar nicht mehr hinschaute, wenn ich es mit Mull umwickelte. Schließlich humpelte ich doch zum Arzt und beschrieb dem ziemlich aufgelöst meine Symptome.

»Na, dann schauen wir uns das mal an«, sagte der Arzt. Vorsichtig zog ich den Fuß aus dem Pantoffel – und da war das verdammte Ding doch wirklich und wahrhaftig spurlos verschwunden. Es schien komplett abgeheilt zu sein.

»Aber noch vor ein paar Tagen …«, stotterte ich. »Die Wunde war riesig … und hat ganz furchtbar geschmerzt!«

Der Arzt warf mir ein beruhigendes Lächeln zu, das er vermutlich grundsätzlich bei meschuggen alten Damen anwendet, die behaupten, sie würden von der CIA abgehört, und machte eine Notiz auf seinem Block (wahrscheinlich: »Marie Sharp – beginnende Demenz?«). Und ich schlich von dannen und kam mir vollkommen verblödet vor.

Deshalb traf ich jetzt folgende Entscheidung: Ich würde absolut niemandem von dem Geschwulst erzählen, weil sich alle nur Sorgen machen würden, was vollkommen sinnlos wäre, wenn es gar keinen Grund dafür gab.

3. Januar

Heute Morgen kam Penny zum Kaffee vorbei. Sie hatte eine Krise, weil sie fürchtete, dass ihre Tochter Jill sich von ihrem reizenden Mann Alan scheiden lassen will. Und dabei hatten die beiden erst letztes Jahr geheiratet.

Penny sah entzückend aus in ihrem blauen Kaschmirpullover, den sie zu Weihnachten bekommen hatte. (Wieso kriegen alle anderen immer Geschenke, an denen sie Freude haben, während ich altes undankbares Ding grundsätzlich Zeug geschenkt bekomme, das umgehend auf dem Haufen für den Spendenladen oder bestenfalls in der Schublade für Sachen zum Weiterverschenken landet?)

»Jill sagt, Alan sei sehr lieb und sorgt gut für sie, und sie haben auch prima Sex – aber sie liebt ihn nicht mehr«, klagte Penny.

»Sie liebt ihn nicht mehr?«, sagte ich fassungslos. »Ganz ehrlich, wenn man sich mal überlegt, wie wir uns darüber früher den Mund fusslig geredet haben! Sie soll doch froh sein, dass Alan halbwegs normal ist!«

»Ich weiß«, erwiderte Penny kopfschüttelnd. »Aber in ihrem Alter war ich genauso. Bill war echt ein Goldschatz, und ich stand total auf ihn, aber ich hab ihn trotzdem verlassen. Und heute weiß ich nicht mal mehr, warum eigentlich.«

»Geht mir mit David genauso«, berichtete ich von meinem Exmann. »Er war sexy, humorvoll, großzügig und treu, und wir haben uns bestens verstanden. Aber nein, ich ›liebte‹ ihn ja nicht, also habe ich ihn verlassen. Manchmal denke ich, ich war damals einfach dämlich. Aber dann fällt mir wieder ein, dass er im Bett immer an seinen Füßen herumpulte. Ich wusste einfach nicht, wie ich das ertragen sollte, auch wenn er ansonsten ein toller Typ war.«

David ist vor fünfzehn Jahren ausgezogen – oder vielmehr hatte ich ihn rausgeworfen, weil ich ihn nicht »liebte«. Aber seltsamerweise haben wir uns dann – nach einer verständlichen Phase der Bitterkeit – wieder angenähert und sind inzwischen gute Freunde. Was sicher damit zu tun hat, dass ich es jammerschade fand, die schönen Gefühle und die Zuneigung aus all diesen Jahren einfach so auf den Müll zu werfen. Außerdem haben wir schließlich einen gemeinsamen Sohn. David aus meinem Leben zu entfernen wäre mir so sinnlos vorgekommen wie einen alten Rock zu entsorgen, den man noch jahrelang gerne tragen würde, wenn man ihn ein bisschen umschneidert. Oder wie David sagte: Man kann aus Hühnerknochen auch noch Brühe kochen, anstatt den ganzen Kadaver wegzuschmeißen. Wobei David natürlich weder einem Huhn noch einem Kadaver ähnelt.

»Man muss aus einer Beziehung Gewinn schlagen!«, hatte ich bei unserem letzten Treffen scherzhaft zu David gesagt. »Ich habe jedenfalls die Absicht, mich hemmungslos schadlos an dir zu halten, und ich hoffe, das hast du auch vor.«

»Klaro«, sagte er, und mir fiel wieder ein, wie mich diese alberne Pseudojugendlichkeit früher an ihm genervt hatte. Nervte mich das immer noch? Hm. Ein bisschen. Und dann seine schauderhaft rechtskonservativen Ansichten über den Bergarbeiterstreik. Und er war jeden Samstag besoffen nach Hause gekommen. Und hatte gelogen. Und die ganzen nicht eingehaltenen Versprechen … Herrje, es war schon ziemlich scheußlich, wenn ich so zurückblicke. Aber wenn man nicht zusammenwohnt, sind solche Sachen nicht mehr so wichtig. Damit muss sich jetzt Sandra herumschlagen, das junge Model, mit dem David seit unserer Scheidung zusammenlebt. Und ich komme in den Genuss, eine wunderbare Freundschaft mit ihm zu pflegen.

Allerdings finde ich es ziemlich schade, dass David nicht eine adäquatere Partnerin gefunden hat als Sandra – ich kann mit diesem Mädchen überhaupt nichts anfangen und bin der Meinung, David hätte jemanden gebraucht, der mehr auf seiner Wellenlänge liegt.

Na ja – zurück zu Penny. Ich erzählte ihr, dass ich wieder jemanden zur Untermiete suchte, weil Michelle mit Ned zusammengezogen war. Und dass ich vorzugsweise einen Mann haben wollte. »Frauen gehen mir nämlich ein bisschen auf den Keks«, erklärte ich. »Ich hab schließlich jahrelang in einer Mädchenschule gearbeitet, und irgendwann hat man genug davon, immer nur das eigene Geschlecht um sich zu haben. Frauen, die andauernd zusammen sind – in Klöstern zum Beispiel –, fangen angeblich sogar irgendwann an, gleichzeitig zu menstruieren. Deshalb habe ich im Lehrerzimmer früher oft die Luft angehalten. Hatte nicht die geringste Lust, mir irgendwelche Mondhormone oder was immer einzufangen und in irgendeine schauerliche körperliche Verbindung mit der Geo- oder Biolehrerin zu geraten. Oder, noch schlimmer, der autoritären Direx!«

»Und Männer sind auch so nützlich im Haus«, sagte Penny eifrig. »Sie können Ratten töten, verklemmte Fenster öffnen und Glühbirnen ganz weit oben einschrauben. Und mit ihren schweren Schritten und dröhnenden Stimmen können sie Einbrecher verscheuchen!«

»Oder die Einbrecher sogar vorher abschrecken, wenn nämlich regelmäßig ein Mann hier gesichtet wird«, ergänzte ich.

»Apropos Ratten«, bemerkte Penny, »hat man mit den armen Viechern nicht dieses Experiment gemacht, bei dem man ein Weibchen in eine Kiste voller männlicher Ratten gesteckt hat? Und dann haben sich die ganzen Männerratten auf Anhieb besser benommen, Deo benutzt, ihre Schnurrhaare gezwirbelt und ›nach Ihnen‹ gesagt, wenn man gemeinsam in den Gully klettert? Würde man das umgekehrt machen, dann würden die Frauenratten bestimmt aufhören, ständig zu schwatzen und zu shoppen und sich stattdessen wie normale Menschen benehmen. Falls sich Ratten wie normale Menschen benehmen können.«

Da war was dran, fand ich. Zwar bin ich kein Haufen Rattenweibchen, aber ich glaube auch, dass die Anwesenheit eines Mannes das Betragen einer Frau erheblich verbessern kann (und umgekehrt natürlich genauso). Deshalb würde ich gerne ausprobieren, ob ein männlicher Untermieter mich dazu veranlassen könnte, mich nach dem Aufstehen gleich anständig anzuziehen, anstatt bis mittags in einem schlampigen Morgenmantel umherzuschlurfen. Vielleicht würde ich sogar dazu übergehen, gleich morgens Make-up aufzulegen. Vor allem Ersteres wäre sicherlich angeraten, wenn ich an den Vorfall auf der Straße gestern denke.

Ich war fest entschlossen, kein einziges Wort über die Geschwulst am Bauch zu verlieren, und das gelang mir auch bis zu dem Moment, als Penny sich erhob, um aufzubrechen.

»Hast du nicht bald Geburtstag?«, fragte sie. »Ich muss schon sagen, für jemanden, der hundertzweiundfünfzig wird, siehst du echt gut aus.«

Und plötzlich hörte ich von irgendwo aus dem Raum ein sonderbares Schluchzen und eine Stimme, die sagte: »Mir geht’s aber gar nicht gut, ich hab da so eine scheußliche Geschwulst am Bauch und hab furchtbar Angst und weiß gar nicht, was ich machen soll …« Und bevor ich mich’s versah, saß Penny neben mir auf dem Sofa, nahm mich in die Arme und fragte: »Also, was ist denn nun los? Was für eine Geschwulst? Wo?« Und mir wurde klar, dass die körperlose Stimme meine eigene war und ich trotz meiner festen Vorsätze die ganze Misere ausgeplaudert hatte.

Ganz ehrlich: Manchmal führe ich mich auf wie ein fürchterlich nerviges Kind, dem es immer mal wieder gelingt, seiner gestrengen Gouvernante zu entkommen.

»Ich wollte es dir gar nicht erzählen«, greinte ich. »Keine Ahnung, warum ich es jetzt doch gemacht habe. Tut mir furchtbar leid. Ich will dich nicht beunruhigen, und es ist auch vollkommen albern. Das Ding sitzt an meinem Bauch, ich weiß nicht mal, was es ist, vermutlich völlig harmlos …«

»Du musst zum Arzt gehen«, erwiderte Penny und ergriff meine Hände. (Pouncer, mein Kater, der am Boden herumlungerte, beobachtete das Geschehen argwöhnisch, und seine Schnurrhaare zuckten.) »Natürlich ist das eine völlig harmlose Geschwulst. Du hast dich bestimmt nur irgendwo gestoßen. Wenn man alt wird, hat man ständig irgendwelche komische Geschwülste, weißt du. Wir sind wie alte Federbetten, die immer an irgendwelchen Stellen klumpig sind und an anderen fadenscheinig, das ist vollkommen normal.«

»Liebe Güte«, sagte ich und lächelte unter Tränen. »Ich glaube, da hätte ich noch lieber Krebs, als wie ein ekliges altes Federbett durch die Gegend zu laufen. Grässliche Vorstellung!«

Nachdem Penny mir auf dem Grab ihrer Mutter geschworen hatte, niemandem von der Geschwulst zu erzählen, nicht einmal James, musste ich ihr auf dem Grab meiner Mutter schwören, mir sofort morgen einen Termin beim Arzt geben zu lassen. O Gott, o Gott, o Gott.

7. Januar

Am nächsten Tag tappte ich im Morgenmantel nach unten, nahm mein Frühstück zu mir, das wie immer aus Tee und Toast mit Marmite bestand, servierte Pouncer sein widerliches Futter und ließ mir mein Bad ein. Dann las ich ein bisschen im »Hetzkurier« – »Frau killt ihre fünf Kinder und wird dann von Ehemann erstochen« – und dachte, dass ich jetzt wohl doch einen Termin beim Arzt machen sollte, wie ich es Penny versprochen hatte. Als ich endlich durchkam – es war dauernd besetzt, weil nach den langen Weihnachtsferien wahrscheinlich niemand mehr arbeiten wollte und sich alle krankschreiben ließen –, hörte ich plötzlich ein wohlbekanntes Plätschern und merkte, dass die Badewanne übergelaufen war. Nicht schon wieder. Das passiert inzwischen so regelmäßig, dass ich wohl dauerhaft Eimer in der Küche aufstellen sollte. »Ich ruf Sie zurück!«, schrie ich in den Hörer und raste nach oben (wobei ich erfreut feststellte, dass ich tatsächlich noch in altbewährter Manier rasen kann, wenn es darauf ankommt), wo ich das Wasser abdrehte und den Stöpsel zog. Dann flitzte ich wieder in die Küche, stieg auf einen Stuhl und stellte einen Kochtopf auf den Schrank, um den Wasserschwall aufzufangen, der jetzt durch den Riss in der Decke lief. Danach raste ich wieder nach oben, holte Handtücher aus dem Badezimmer und legte sie auf den Boden, um die Pfütze aufzuwischen. Alles paletti. Weiter nichts passiert.

Habe mir dann allerdings vorgenommen, einen kleinen Wecker zu kaufen, den ich mir künftig stellen will, wenn ich das Bad einlasse. Wenn der dann klingelt, kann ich einfach kurz hochsausen und das Wasser abdrehen.

Als ich wieder zur Praxis vorgedrungen war, teilte man mir mit, dass meine Ärztin erst in zwei Wochen wieder da sein würde. Weil ich mich aber nicht von jemand Wildfremdem untersuchen lassen wollte, ließ ich mir den ersten freien Termin geben – ich werde ja wohl nicht binnen zwei Wochen dahinscheiden – und legte ungehalten auf.

Was denken sich diese Ärzte – einfach so abzuhauen! Das ist doch völlig verantwortungslos. Ich sehe nicht mal ein, dass die sich das Wochenende freinehmen. Eigentlich sollten sie sogar abends und nachts für Notfälle zur Verfügung stehen. Das mag zwar körperlich nicht machbar sein, aber das hätten sie sich mal überlegen sollen, bevor sie Mediziner wurden. Na ja, jedenfalls fühlte ich mich jetzt besser, weil ich den Termin vereinbart hatte.

Heute Abend bin ich bei Jack und Chrissie, meiner Schwiegertochter, zu einem Vor-Geburtstagsessen eingeladen. Eigentlich habe ich erst nächste Woche Geburtstag, aber da hätte Gene nicht mitfeiern können, weil er zu einem Kinderfest eingeladen ist. (Er scheint inzwischen nur noch auf irgendwelchen Festen zu sein.) James kommt auch mit, und nun hoffe ich nur, dass es abends nicht so furchtbar regnet wie jetzt und ich womöglich quer durch London fahren muss; meine Scheibenwischer quietschen nämlich fürchterlich.

Später

Ich hätte die Scheibenwischer lieber erst gar nicht erwähnen sollen. Die quietschten und schmierten und zuckten während der gesamten Fahrt, und James ereiferte sich ohne Unterlass darüber, wie grauenhaft mein Auto doch sei. Der hat gut reden. Nach Hughies Tod hat James einen großen Batzen Geld geerbt und kann sich deshalb ein Fahrzeug leisten, das sich »Hybrid« nennt. Weiß der Himmel, was das sein soll, aber ich vermute mal, es ist ein Auto, das so elegant wie ein Tänzer auf der Luft dahingleitet, das einen rechtzeitig warnt, bevor man irgendwas rammt, das von selbst stehen bleibt, bevor man blondgelockte Kinder überfährt, die auf die Straße rennen, und das so verblödet verlogen umweltfreundlich ist, wie es nur geht. Das Teil ist so ultramodern, dass man bei Problemen nicht genau weiß, ob man einen Elektriker, einen Osteopathen oder einen Magier einschalten oder einfach mal kräftig gegen die Stoßstange treten soll. Jedenfalls hat die Karre ein Armaturenbrett, das aussieht wie bei einem Düsenjet, und ist das coolste und eleganteste Auto, das ich kenne.

Meines dagegen ist eine totale Schrottschüssel, wie mir James auf dem Weg nach Brixton wiederholt mitteilte. Er kam schon in Fahrt, als ich die Tür von Hand aufschloss.

»Man kann doch heutzutage nicht mehr mit einem Auto herumfahren, das keine Zentralverriegelung hat, Schätzchen!«, sagte er mahnend. »Das ist doch total vorsintflutlich! Hast du vielleicht auch noch irgendwo eine Anlasskurbel, um das Vehikel in Schwung zu bringen, wenn es stehen bleibt?«

Wir stiegen ein, James rangelte mit seinem Sitzgurt, und als wir losfuhren, sagte ich lachend: »Nee, ich hab keine Anlasskurbel. Aber ich kenne mich mit meinem Auto zumindest noch aus, im Gegensatz zu dir mit deiner Hightech-Karosse. Ich kann die Zündkerzen selbst reinigen und den Keilriemen wechseln und …«

»Wie bitte?«, schrie James. »Ich kann dich nicht hören – es ist so laut hier drin!«

Ich wiederholte meine Aussage.

»Marie, bitte!«, erwiderte James. »Moderne Autos haben keine Zündkerzen oder Keilriemen mehr. Kauf dir doch bloß einen neuen Wagen. Nicht um meinetwillen, sondern wegen deiner eigenen Sicherheit! Diese Schüssel ist eine katastrophale alte Rostlaube.«

Um ehrlich zu sein, dachte ich darüber selbst schon seit geraumer Zeit nach. Die große Liebe meines Lebens, mein heiß geliebter Archie, hat mir einiges hinterlassen, und bislang habe ich noch nichts davon ausgegeben. Außerdem habe ich das Geld gespart, das ich von Brad und Sharmie für das Baumgemälde bekommen habe. Und da mein Auto wirklich zusehends gebrechlicher wird, liegt eine Neuanschaffung tatsächlich nahe.

»Aber mein Automechaniker hat mir gerade gesagt, dass Autos wie dieses gar nicht mehr hergestellt werden!«, wandte ich ein.

»Und das hast du als Kompliment verstanden?«, schrie James sarkastisch über das Dröhnen hinweg und zählte dann alle Schwächen meines Autos auf. Keine Servolenkung. Ein Kassettenrecorder anstatt eines CD-Players. (»Ich vermute mal, du spulst deine kaputten Kassetten noch mit einem alten Kuli zurück, oder?« Richtig vermutet.) Ein Handschuhfach, bei dem die Klappe abgebrochen war. Ein Ersatzreifen (offenbar gibt es in modernen Autos gar keine Ersatzreifen mehr, sondern man hat irgendein Sprühzeug dabei, mit dem man den kaputten Reifen flicken kann). Fenster, die man von Hand kurbeln muss. Keine Klimaanlage. Oder vielmehr das, was James »AC« nennt.

»Ich räume ein, dass es als Blinker keine orangefarbenen Blechklappen hat, die wie Hasenohren rauf- und runtergehen«, spottete James weiter, »aber es ist doch erstaunlich, dass keine Trittbretter mehr vorhanden sind und dass du fahren kannst, ohne dass ein Mann mit einer roten Flagge vor dir hergeht.«

Als wir dann schließlich vor dem Haus von Jack und Chrissie parkten, stieg James aus und inspizierte den Wagen von außen. »Reifen völlig runtergefahren«, konstatierte er, unter seinem Regenschirm hervorspähend. »Lack in verheerendem Zustand. Außerdem ist Schwarz keine sichere Farbe. Die hintere Stoßstange ist verrostet. Wundert mich ja, dass du damit überhaupt noch durch den TÜV gekommen bist.«

Mir fiel wieder ein, dass der Mechaniker nach seiner Bemerkung, dass solche Autos gar nicht mehr gebaut werden, hinzugefügt hatte: »Aber das werden Sie bald selbst merken.« Also hatte James vielleicht wirklich recht.

Die Haustür ging fast sofort auf, nachdem wir geklingelt hatten, weil Gene schon auf uns gewartet hatte.

»Herzlichen Glückwünsch zum Geburtstag, Oma!«, rief Gene und sagte erklärend zu James, der seinen Schirm ausschüttelte: »Wir tun heute so, als sei Omas Geburtstag. Sie hat heute gar nicht Geburtstag, aber wir tun so.«

»Hi, Mom!«, sagte Jack, der jetzt in die Diele kam, und küsste mich auf die Wangen. James küsste er nicht, sondern umarmte ihn etwas ruppig, wie das bei Männern so üblich ist. Ich finde die heutigen Begrüßungsrituale von Männern ziemlich eigenartig. Als ich noch jung war, gaben sich Männer zur Begrüßung kaum die Hand. Irgendwann gingen sie dann zu einem herzlichen Schulterklopfen über, später führten sie eine Art sonderbaren freundschaftlichen Boxkampf auf und schrien dabei so was wie: »Hey, Mann, klasse, dich zu sehen! Wie geht’s dir so, Kumpel?« In letzter Zeit allerdings habe ich des Öfteren beobachtet, dass sich heterosexuelle Männer ungeniert auf die Wange küssen und manchmal – o Graus – sogar auf den Mund. Aber das kann Jack mit James wohl nicht machen, weil James tatsächlich schwul ist. Herrje, ist das alles kompliziert.

»Schau mal, Oma, wir haben einen Kuchen gebacken, und ich hab die Glasur gemacht«, verkündete Gene und zog uns in die Küche. »Guck, Oma, guck.« Ich wurde zum Tisch gezerrt, und Chrissie, die gerade aufräumte, begrüßte mich. Sie sah sehr müde aus – ungewöhnlich bei ihr, weil sie normalerweise so mit Kosmetika zugepinselt ist, dass man ihren wahren Zustand gar nicht erkennen kann.

»Jetzt noch nicht, Gene, den Kuchen gibt’s erst später.« Chrissie wischte sich die Hände an ihrer hübschen Schürze mit Rosenmuster ab. »Herzlichen Glückwünsch, Marie!«

»Jetzt musst du dir deine ganzen Geschenke angucken!«, rief Gene und deutete auf einen mit bunten Päckchen beladenen Stuhl. »Bist du schon sehr alt?«

»Ein bisschen«, antwortete ich und wuschelte ihm durch die Haare. »Nächste Woche werde ich siebenundsechzig Jahre alt.«

Gene schaute mich erschrocken an. »Oh Mann, ist das alt. Stirbst du dann bald?«

Kurz vor dem Abendessen beging ich den folgenschweren Fehler, Jacks Gesundheit anzusprechen. Jack hatte nach Weihnachten Probleme mit seinem Blinddarm gehabt, und nun machte ich mir natürlich Sorgen. Der Arzt hatte Jack geraten, sich das Ding herausnehmen zu lassen, und als ich arglos fragte: »Wann ist denn nun deine Blinddarm-OP?«, bekam ich eine erstaunlich grantige Antwort.

»Ich lasse ihn mir gar nicht rausnehmen, Mom«, sagte Jack gereizt. »Es ist alles vollkommen in Ordnung. Eine Freundin von mir ist Krankenschwester, und die meint, man könnte seinen Blinddarm ein Leben lang behalten. Man muss sich nicht operieren lassen, wenn es gar nicht nötig ist.«

»Aber falls es nun schlimmer wird, wenn du irgendwo im Urlaub bist und es weit und breit kein Krankenhaus gibt?«, gab ich zu bedenken.

»Solange keine Notwendigkeit besteht, werde ich mich nicht operieren lassen«, antwortete Jack entschieden, und mir fiel wieder ein, wie viel Angst er immer vor Krankenhäusern gehabt hatte. Als Kind hatte er einmal wegen einer kleineren Operation eine Nacht im Krankenhaus verbringen müssen, und das Alleinsein und das schlechte Essen hatten ihm scheinbar so zugesetzt, dass er seither nahezu traumatisiert war.

Ich fühlte mich ziemlich zurechtgewiesen, sah dann aber erleichtert, dass Chrissie hinter Jacks Rücken die Augenbrauen hochzog und den Kopf schüttelte – sie war also offenbar meiner Meinung.

Wir ließen uns alle nieder, und ich packte meine Geschenke aus. Von Chrissie hatte ich – wie zu erwarten war – einen Haufen teure Kosmetika aus ihrem Unternehmen bekommen (die ich wieder der Seniorenhilfe spenden werde, weil ich selbst nur Wasser und Seife benutze). Was ich dagegen wirklich gerne gehabt hätte, wäre so eine Schürze mit Rosenmuster gewesen, wie Chrissie sie trug. Von Jack bekam ich einen riesigen Bastelbogen vom Taj Mahal (ich war seit jeher fasziniert von Papiermodellen) und eine echte ausgestopfte Ente, die einen Strohhut trug. Der Bursche weiß wirklich, was seine alte Mama mag! Ich liebe solche skurrilen Sachen!

Dann sagte Chrissie: »Vergiss das von deinem Dad nicht« – und Jack zog ein weiteres Päckchen hinter dem Sessel hervor.

»Was, von David?«, fragte ich verblüfft. »Der hat meinen Geburtstag doch sogar vergessen, als wir noch verheiratet waren! Das finde ich ja erstaunlich, dass er jetzt daran denkt. Wie lieb von ihm!«

Ich machte das Geschenk auf: Es war eine Schachtel exquisiter türkischer Honig. Und nicht nur genau die Marke, die ich besonders mag – sie stammte auch noch aus einem fantastischen Laden in einer geheimnisvollen Gasse in Istanbul. Dieses Geschäft ist das reinste Paradies für Fans von dem Zeug. In riesigen Holzkästen und bunten Blechdosen wird dort türkischer Honig mit Nüssen, Rosinen, Rosen- oder Zitronenaroma angeboten – in allen Geschmacksrichtungen, die das Herz begehrt.

»Wie um alles in der Welt ist er denn da drangekommen?«, fragte ich überrascht.

»Ach, eine Freundin von ihm – weißt du, diese Nachbarin, die ein Auge auf Dad geworfen hat, die Witwe Bossom – hat Urlaub in der Türkei gemacht«, antwortete Jack. »Sie hat Dad gefragt, ob sie ihm was mitbringen soll, und da fiel ihm wieder ein, dass du doch so versessen auf diese Sorte türkischen Honig bist.«

»Wirklich lieb von ihm«, sagte ich.

Von Gene bekam ich eine kleine Packung Smarties und eine Karte mit einem selbst gemalten Bild von einem Baum. »Ich wollte den Baum so malen wie du, Oma«, erklärte er. »Findest du das schön, wie ich die Äste gemalt hab, so wie du’s mir gezeigt hast? Und guck mal, da unten am Boden ist der Schatten vom Baum, so wie du gesagt hast. Und magst du die Smarties? Kann ich welche davon haben?«

»Nicht vor dem Abendessen«, sagte Jack fest. Beim Essen selbst war Gene zunächst ziemlich still, während wir erörterten, auf welche weiterführende Schule er am besten gehen solle. Aber irgendwann unterbrach er uns.

»Nicht jetzt, Gene«, sagte Jack. »Wir unterhalten uns.«

»Aber es ist was mit Schule!«, rief Gene. Und zu mir sagte er: »Meine Lehrerin hat gesagt, du sollst in meine Schule kommen und uns vom Krieg erzählen, Oma. Machst du das? Musstest du aufs Land flüchten? Hast du viele Leute gekannt, die im Krieg gestorben sind?«

»Nein, Schatz, das nicht, weil ich erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren bin. Aber wenn ich bei meiner Großmutter auf dem Land war, habe ich noch gehört, wie immer zweimal am Tag zur selben Zeit die Sirenen geheult haben. Und meine Mama – deine Urgroßmutter – hat dann immer richtig gezittert vor Angst.« Ich fand es jammerschade, den Kindern in Genes Schule nicht berichten zu können, dass ich die V1-Bombe miterlebt und in U-Bahn-Schächten geschlafen hatte wie die Leute auf den Zeichnungen von Henry Moore.

»Das macht nichts. Danach ist auch okay, hat meine Lehrerin gesagt. Du kannst uns doch bestimmt was über … Pferde und Kutschen erzählen?«, fragte Gene hoffnungsvoll. »Hat dein Papa einen Zylinder getragen? Hast du einen Butler gehabt? Und war dein Klo nur eine Grube im Boden? Hast du in einer Fabrik schuften müssen und nie Ferien bekommen?«

Chrissie förderte einen Flyer von der Schule zutage und reichte ihn mir. »Liebe Oma oder lieber Opa! Wir aus der zweiten Klasse machen ein Projekt über den zweiten Weltkrieg, wollen so viel wie möglich darüber erfahren und dir Fragen stellen! Kannst du zu uns kommen und uns erzählen was du aus der Kriegszeit in Erinnerung hast? Du bekommst auch Kaffee und Kekse. Alles Liebe von …« Hier hatte Gene mit seinem Namen unterschrieben.

»Wer hat diesen Text verfasst?«, fragte ich.

»Die Klassenlehrerin«, antwortete Chrissie. »Ich weiß, ich weiß. Zweiter Weltkrieg wird großgeschrieben.«

»Und«, fügte ich indigniert hinzu, »man sollte wohl auch merken, dass nach erzählen ein Komma stehen muss. Also, das kann ich jedenfalls von damals berichten: dass wir die Zeichensetzung beherrscht haben.«

»Man merkt, dass sie früher Lehrerin war, oder?«, sagte Jack grinsend zu James. »Ach, hast du übrigens deine Hausaufgaben schon gemacht, Gene?«

»Bööh«, grummelte Gene mürrisch und tappte ins Zimmer nebenan.

Als wir aufbrachen, war ich glücklich, aber wie immer auch traurig, dass ich mich von den dreien verabschieden musste. Gene brachte seinen Teddy zum Tschüss-Sagen mit nach draußen. Es war mein alter Teddy aus meiner Kindheit, der auch schon Jack gehört hatte, und danach war er in Genes Besitz übergegangen. Ich war gerührt, als ich sah, wie das abgewetzte Bärchen mir mit der Pfote nachwinkte, als wir losfuhren. Als Kind hätte ich mir ganz bestimmt nicht vorstellen können, dass mein Enkel eines Tages diesen Bär im Arm halten würde.

Der Regen hatte zum Glück inzwischen aufgehört, und die Straßen glitzerten silbrig und nass.

»So, nun mal zu deinem wirklichen Geburtstag«, bemerkte James.

»Marion und Tim kochen für mich, wie üblich«, sagte ich. »Ich hoffe, du bist mit von der Partie.«

»Ich führ dich bald mal aus, damit wir irgendwo was Schönes essen können, das uns für Marions Kochkünste entschädigt«, erwiderte James. »Aber jetzt musst du mir erst mal sagen, was du dir wünschst.«

Die nächsten zehn Minuten debattierten wir über meine Geburtstagswünsche. Schauerlich kompliziert. Mit zwölf hat man haufenweise Wünsche, aber mit siebenundsechzig fällt einem nicht mal mehr ein einziger ein. James und ich zerbrachen uns den Kopf darüber, was ich vielleicht gerne haben würde.

Schließlich sagte ich: »Hör mal, es ist doch der reinste Irrsinn, dass wir uns hier das Gehirn zermartern. Ich habe eben keinen Wunsch, tut mir leid.«

»Aber ich kann dir doch nicht nichts schenken!«, erwiderte James entsetzt. Ich sah zwar nicht recht ein, weshalb er das nicht konnte, aber was soll’s.

»Na, du willst mich doch schon zum Essen einladen«, sagte ich. »Das ist ein wunderbares Geschenk und völlig ausreichend. Und wenn du magst, kannst du mir Blumen schenken. Ich liebe Blumen. Aber keine orangefarbenen«, fügte ich hinzu.

James wirkte erleichtert. »Wirklich reizend von David, dass er dir den türkischen Honig geschenkt hat«, sinnierte er. »Ich frag mich, ob Sandra das weiß.«

David bezeichnet Sandra hartnäckig als seine »Geliebte«. Sie ist etwa halb so alt wie er und zwar schon recht nett, aber leider nicht die Hellste. Zu Anfang hatten die beiden noch Pferdesport als gemeinsames Interesse, weil David immer schon von Pferderennen fasziniert war, aber das scheinen sie inzwischen aufgegeben zu haben.

Seit einiger Zeit fällt mir auch auf, dass Sandra immer alleine in Urlaub fährt. Ich vermute mal, dass die beiden ein super Sexleben haben – ich wüsste nämlich nicht, was sie sonst teilen könnten –, und obwohl David sich wirklich sehr gebessert hat und viel weniger Alkohol trinkt, ist mir schleierhaft, was Sandra an ihm findet. David ist quasi im Ruhestand und hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er keine weiteren Kinder mehr haben will. Weshalb Sandra nun einfach herumgammelt, zum Fitness und ins Schönheitsstudio geht und ansonsten wohl kaum was tut.

»Eher reizend von der Witwe Bossom«, wandte ich ein. »Sie hat den türkischen Honig doch mitgebracht. Bestimmt verfolgt sie damit eine bestimmte Absicht.«

»Bei der Exfrau einschmeicheln?«, fragte James.

»So was in der Art. David würde von sich aus nie auf so eine Idee kommen. Na ja, ich kann ihr nur Glück wünschen. Offen gestanden, ich finde, dass sie viel besser zu David passen würde als Sandra – immerhin ist die Witwe recht munter und eher in seinem Alter.«

»Und, was hast du dir fürs neue Jahr vorgenommen?«, erkundigte sich James nach einer Weile. »Mal abgesehen vom Kauf eines neuen Autos. Soll ich mal für dich recherchieren, was infrage käme? Ich kann so was gut.«

Das fand ich recht vielversprechend. »Wie wär’s mit einem Mini?«, schlug ich vor. »Ich hatte früher mal einen Mini und mochte die schon immer.«

»Die sind allerdings heute auch nicht mehr so wie früher«, gab James zu bedenken. »Aber ich werd mich mal damit befassen.«

»Ansonsten hab ich mir fürs neue Jahr nur vorgenommen, am Ball zu bleiben«, beantwortete ich James’ ursprüngliche Frage. Ich musste plötzlich an die Geschwulst am Bauch denken und fragte mich, wie lange ich es überhaupt noch schaffen konnte, am Ball zu bleiben. Ich spürte das blöde Geschwulstteil sogar unterm Sitzgurt und überlegte kurz, ob ich James davon erzählen sollte, entschied mich aber dagegen. Es war sicher besser, so lange wie möglich Stillschweigen zu bewahren. »Und was für Pläne hast du?«

Nach Hughies Tod hat James alles Mögliche ausprobiert – er ist erst Mitte fünfzig – und sich vor einiger Zeit sehr zu meinem Entsetzen entschlossen, als selbst ernannter »Künstler« tätig zu sein. Sein erstes »Werk« war eine Installation von meiner Wenigkeit – ein gigantisches, grausiges Gebilde aus Stacheldraht, einem Schafschädel, einem Gehgestell und Luftpolsterfolie. Ich hatte das Ungetüm in den hinteren Teil des Gartens verbannt, und nachdem ich über die Zeit beharrlich an einzelnen Drähten gezupft hatte, kollabierte das Ding vor einigen Monaten endlich, und ich musste es entsorgen – sehr zu meinem Bedauern (sagte ich James) und sehr zu meiner Erleichterung (sagte ich allen anderen).

Ich muss schon sagen: James’ künstlerische Ambitionen bringen mich absolut auf die Palme. Da ich selbst schon mein Leben lang daran arbeite, mich im Malen und Zeichnen beständig zu verbessern, und außerdem früher damit beschäftigt war, selbiges anderen beizubringen (und hier ist die Rede von Bäumen, Gesichtern, Händen, Körpern, Landschaften, Stilleben – oder heißt es »Stillleben«?) und durchaus von mir behaupten kann, dass ich selbst fantastisch zeichne, regt es mich wahnsinnig auf, wenn ein Knabe, der kaum weiß, welches Ende vom Bleistift er benutzen soll, sich als »Künstler« bezeichnet. Dazu gehören nämlich Fähigkeiten, über die James nicht verfügt.

Als wir unlängst zum Essen eingeladen waren und jemand James fragte, was er beruflich mache, hat er sogar wirklich und wahrhaftig geantwortet, er sei »Künstler«! Das ist doch die Höhe! Zum Künstler wird man ja wohl von anderen Leuten erklärt, oder etwa nicht? Sich selbst als Künstler zu bezeichnen, ist doch, als beschreibe man sich selbst als umwerfend attraktiv, ungeheuer kreativ und überragend intelligent.

Aber ich ließ mir meine Haltung nicht anmerken, und tatsächlich antwortete James nun, er habe einige Ideen zu Linien, Raum und Farbe, denen er »Relevanz verleihen« wolle. Ich hätte am liebsten bemerkt, woraus bildende Kunst denn wohl sonst bestünde, wenn nicht aus Linien, Raum und Farbe, verkniff es mir aber, und wir redeten den Rest der Fahrt über Autos.

»Dann sehen wir uns an deinem echten Geburtstag, Süße«, sagte James, als ich ausstieg. »Alles Liebe, Schätzchen.«

Und wie üblich fühlte ich mich wie eine miese Kreatur wegen meiner giftigen Gedanken zu James’ Künstlerdasein. Wieso um alles in der Welt sollte sich der Mann nicht als Künstler bezeichnen, wenn es ihn glücklich machte? Ich kam mir wie ein absolutes Ekel vor und fühlte mich widerwärtig. Aber nach einem besonders großen Glas Wein wurde die Stimmung besser.

15. Januar

Mein Geburtstag! Ich bin siebenundsechzig Jahre alt! Liebe Güte, das hört sich doch wesentlich älter als sechsundsechzig an, muss ich sagen. Ich habe jede Menge Glückwunschkarten bekommen. Auf der von Penny war eine schreiende Frau abgebildet, und darunter stand »Ach du Scheiße! Du bist 67!«. Penny hatte die ursprüngliche Ziffer »40« mit Filzstift überschrieben, weil es solche Karten wohl nicht für jedes Alter gibt. Von Brad und Sharmie kam eine besonders hübsche Karte mit dem Text: »Werden dich irre vermissen!« (Sie ziehen nach Indien, weil Brad beruflich dorthin versetzt wurde.) Auf James’ Geburtstagskarte stand außen »Je älter, desto besser« und innen »es sei denn, du bist eine Banane«.

Bevor ich mein Bad nehmen konnte – das wird zurzeit von Tag zu Tag später, weil ich mich davor fürchte, die gräuliche Geschwulst sehen zu müssen –, klingelte James an der Tür und brachte mir eine große Flasche Sekt.

»Ich wollte dir die lieber jetzt geben«, erklärte er, »nicht heute Abend. Wenn Penny sie erst mal in die Finger kriegt … na ja, du weißt schon. Für heute Abend hab ich noch eine andere. Die hier sollst du dir ganz alleine gönnen, in den einsamen Nächten, in denen du über dein Leben in deinem fantastischen Alter nachdenkst. Obwohl alleine trinken ja angeblich auf Alkoholismus hinweist.«

»Alleine trinken ist die einzig richtige Gelegenheit zum Trinken, mein Lieber«, entgegnete ich. »In Gesellschaft wird man ja durch das Geplänkel der anderen bei Laune gehalten. Aber wenn man alleine ist, muss man sich selbst aufmuntern.« Ich war ziemlich gerührt. James starrte jetzt auf die vielen Karten auf dem Kaminsims. »Du hast so viele Freunde. Wie schaffst du das?«

»Du hast genauso viele Freunde«, versicherte ich ihm. »Aber ich hab mir welche ausgesucht, die gerne Geburtstagskarten schreiben.«

Die Geschwulst kam mir heute ein bisschen größer vor, und ich frage mich besorgt, was die Ärzte sagen werden.

Später

Gerade von Marion zurückgekommen. Sie hatte mich bei der Einladung gefragt: »Du möchtest doch bestimmt, dass wir unter uns sind – nur wir und Penny und James?« Und ich hatte sehr entschieden geantwortet: »Ja, unbedingt!«, weil Marion furchtbar sozial eingestellt ist und ansonsten auch noch irgendwelche Bedürftigen und einsamen Seelen einlädt und man dann womöglich gar nicht von ihr wahrgenommen wird, weil die ganze Bude voller Leute ist.

Aber diesmal waren wir wirklich »unter uns«, und Marion hatte – wie nicht anders zu erwarten – eine Riesenportion Linseneintopf gekocht. Marions Kochstil ist in der Zeit stecken geblieben, als wir noch mittellose Studenten waren. Ich bezweifle, dass sie weiß, was Mozzarella ist, und es würde mich wundern, wenn sie jemals von Knoblauch oder Avocados gehört hat. Fenchel oder Chicoree scheinen ihr auch unbekannt zu sein. Die Linsen hatte sie in Wasser mit einem Brühwürfel gekocht und mit Konserventomaten und sonderbaren Pilzen aus der Dose vervollkommnet. Als Beilage gab es Schinkenstreifen aus der Packung, ein paar halbierte Tomaten und schlaffen Kopfsalat mit separatem Dressing in einer salatblattförmigen Schüssel – vermutlich ein Relikt aus den Fünfzigerjahren –, was bedeutete, dass man die Soße selbst auf den Salat löffeln musste und sie nicht vernünftig untermischen konnte. Das Dressing war merkwürdigerweise dieses Zeug, das von Hollywood-Schauspieler Paul Newman vertrieben wird. Chefkoch Nigel Slater könnte man jedenfalls umgekehrt nicht als Butch Cassidy besetzen. Außerdem standen noch ein großer aufgeschnittener Laib Brot auf dem Tisch und irgendein »Aufstrich«, der wie Butter aussah, aber in Wirklichkeit eine schaurige gelbe Pampe war, die vermutlich aus Waltran bestand. Salz und Pfeffer waren weit und breit nicht zu sehen.

Tim, Marions lieber, aber langweiliger Ehegatte, langte ordentlich zu und erklärte, das Essen sei köstlich. »Ich weiß gar nicht, wie meine Frau das hinkriegt!«, verkündete er. »Sie ist so eine begabte Köchin!«

Marion lächelte. »Ich halte nichts von Kochbüchern«, sagte sie stolz. »Ich werfe einfach irgendwas zusammen und bete, und irgendwie gelingt es immer.«

Penny und ich – die wir dauernd über den neuesten Kochwerken brüten und eifrig marinieren, experimentieren, würzen und abwiegen – warfen uns einen Blick zu und mussten uns mühsam das Lachen verkneifen, vor allem, da Penny mir gerade eines von diesen superedlen neuen Kochbüchern zum Geburtstag geschenkt hatte. Aber nach ein paar Schlucken von James’ Sekt war das alles nicht mehr so wichtig, und sogar ich verleibte mir eine zweite Portion von dem herzlich auf unsere Teller geschöpften Eintopf ein.

Wir plauderten über dieses und jenes. Marion fragte mich, wie ich wohl mit dem Weggehen von Brad und Sharmie zurechtkäme, und ich sagte, mir graue davor. Woraufhin Marion berichtete, das Haus sei an eine Frau namens Melanie Fitch-Hughes verkauft worden, und Tim sagte: »doch nicht die Frau von Roger?«, und Marion antwortete: »wohl eher Exfrau«. Daraufhin meinte Tim, dann könne man Roger nur beglückwünschen, denn die Frau sei der reinste Albtraum, und Marion sagte, sie sei nicht sicher, ob es wirklich diese Frau sei, und James warf ein, zwei Leute mit dem Namen Melanie Fitch-Hughes könne es gar nicht geben.

Dann kam Marion auf Syrien zu sprechen. Oje. Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Leute sich über den grauenhaften Zustand der Welt ereifern, obwohl niemand auch nur das Geringste daran ändern kann. Nachdem Marion sich endlos darüber ausgelassen hatte, wie die Regierung die Rebellen unterdrücke und dass durch Chemiewaffen Kinder stürben und deren Augen ihren Müttern in den Schoß fielen und ganze Familien in Lagern verhungerten, hielt ich die Hand hoch, um Einspruch zu erheben.

»Marion, ich hab dich wirklich lieb, und ich weiß, dass in Syrien schlimme Zustände herrschen. Aber könnten wir dieses Thema an meinem Geburtstag vielleicht vermeiden? Ich würde eigentlich gerne einen schönen Tag verbringen.«

Tim wandte ziemlich verstimmt ein: »Aber man muss über Syrien reden. Wir können doch nicht den Kopf in den Sand stecken. Das ist das wahre Leben, Marie, Geburtstag hin oder her!«

Mir kam eine Idee, die ich ausgezeichnet fand. »Tim«, sagte ich ernsthaft. »Ich denke Tag und Nacht an Syrien und die hungernden Flüchtlinge. Vor Sorge um die kann ich kaum noch schlafen. Ich spende Geld und bin jeden Moment meines Lebens dankbar dafür, dass ich in einem Land ohne Kriege und Rebellen leben kann. Aber vielleicht könnte mir an meinem Geburtstag ein kleiner Moment ohne Elend und Schuldgefühle und Mitleid vergönnt sein? Nur ein klitzekleines Weilchen?«

James, der spürte, dass die Lage brenzlig wurde, klatschte in die Hände und rief aus: »Dieser Meinung bin ich auch! Und jetzt zu den Geschenken!« Er förderte einen Umschlag zutage, und ich dachte, es sei nur eine weitere Karte, da James ja schon so viel Sekt spendiert hatte. Aber in der Karte lag ein Zettel mit folgendem Text: »Die Besitzerin dieser Karte hat jederzeit Anspruch auf eine Einführung in die Freuden von Facebook.« Hm. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich bei Facebook sein möchte, aber alle sagen mir, wenn man erst mal dabei ist, kann man nicht mehr darauf verzichten – also ist es vielleicht einen Versuch wert.

Dann überreichte Marion mir ihr Geschenk.

Geschenke von Marion zu öffnen ist immer eine Herausforderung. Ich habe Marion wahnsinnig gern, aber sie hat wirklich kein Händchen für Geschenke. Vor zwei Jahren hatte sie mir doch wahrhaftig eine Karte geschenkt, auf der stand, dass sie einem afrikanischen Dorf in meinem Namen eine Ziege gespendet hatte. Ich hatte es mir damals nicht anmerken lassen, aber das hatte mich vor Wut fast zur Weißglut getrieben – und nun fürchtete ich einen entsprechenden Schocker.

Es war nicht ganz so übel wie die Ziege, hatte es aber auch in sich. Diesmal handelte es sich um ein gelboranges Halstuch. Mit Fransen an beiden Enden. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie etwas derartig Scheußliches zu Gesicht bekommen und wusste genau, dass meine Haut sofort grün wirken würde, wenn ich es umlegte, und dass die Leute mich dann fragen würden, ob mir vielleicht übel sei.

Aber mir blieb nichts anderes übrig, als Contenance zu wahren. Ich heuchelte Begeisterung. »Das ist ja zauberhaft!«, rief ich entzückt aus und wickelte mir das Tuch um den Hals. »Wunderschön, Marion, vielen Dank!«

Marion sah höchst zufrieden aus. »Geschenke für dich zu finden ist so schwierig. Ich bin froh, dass es dir gefällt. Und ich merke, dass du es wirklich magst … manchmal tust du ja auch bloß so … aber ich fand eben die Farbe so fröhlich!«

»Das stimmt! Ich werde es ganz oft tragen! Wie süß von dir!« Ich stand auf und küsste Marion auf die Wangen.

Und kam mir dabei vor wie Judas.

Später

Stundenlang das Halstuch betrachtet. Wenn ich an meine geheuchelte Begeisterung von heute Abend denke, frage ich mich, ob ich womöglich Psychopathin bin. Ich kann manchmal so manipulativ und charmant zugleich sein. Dann wiederum sagte ich mir, dass ich vielleicht nicht so hart über mich selbst urteilen sollte. Ich hatte zwar Marion wirklich etwas vorgemacht, aber ich hatte sie nicht kränken wollen, weil sie sich so sehr bemüht hatte, alles richtig zu machen. Mir war wirklich daran gelegen, dass sie sich wegen ihres Geschenks nicht schlecht fühlte. Doch gleichzeitig raunte eine innere Stimme: Hat die Gute dich eigentlich jemals in Orange gesehen? Antwort: Nein. (Marion trägt orangefarbene Sachen, aber ich kann die Farbe nicht leiden.) Nächste Frage: Hat Marion jemals ein Halstuch an dir gesichtet? Antwort: Ebenfalls nein.

Und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen denke ich immer, dass Halstücher bei älteren Frauen den Eindruck erwecken, als wollten sie ihren faltigen Hals kaschieren. Da mein Hals aber seit dem Lifting nicht mehr faltig ist, muss ich ihn ganz sicher nicht mit einem Tuch verhüllen. Im Gegenteil: Ich will meinen jugendlichen Hals herzeigen, anstatt ihn zu verbergen.

Zum anderen habe ich einen großen Busen, der hervorragt wie ein Regalbrett. Wenn ich ein Halstuch trage und die Enden herunterhängen lasse, betone ich nicht meine weiblichen Rundungen, sondern sehe schlicht und einfach aus wie ein Kühlschrank. In diesem Fall dann ein orangefarbener Kühlschrank.

Marion hätte mir genauso gut eine Hose schenken können. Ich trage niemals Hosen. Mit dem Alter sehen wir nämlich alle zunehmend geschlechtslos aus, Männer wie Frauen gleichermaßen. Die Stimme von Frauen wird tiefer, die von Männern höher. Wir Frauen bekommen einen Bartflaum, und am Kinn sprießt hie und da ein einzelnes ewig langes Haar. Die Bärte von Männern dagegen werden im Alter schütter. Und aus diesem Grund kriegen mich keine zehn Pferde in eine Hose. Ich will nämlich nicht wie ein Kerl aussehen.

Jedenfalls wollte ich das Tuch gerade in die Schublade legen, in der ich nette Kleinigkeiten für Freundinnen und gelegentlich auch missglückte Geschenke zum Weiterreichen aufbewahre. Aber dann fiel mir auf, dass ich dieses Halstuch einfach zu scheußlich fand, um es weiterzuverschenken.

Deshalb stopfte ich es dann in das Schränkchen unter dem Waschbecken im Badezimmer. In diesem Schränkchen landen all die Sachen, die ich der Seniorenhilfe spende. Ganz ehrlich: Ich finde es zwar lieb von Marion, dass sie etwas für mich gekauft hat. Aber ein derartig verfehltes Geschenk ist doch eher ein Affront. Es weist nämlich darauf hin, dass die schenkende Person sich keinerlei Gedanken gemacht hat und ihr Gegenüber eigentlich kaum kennt.

Ich jedenfalls bin ein schrecklicher, undankbarer, gemeiner Mensch, der eigentlich gar keine Geschenke verdient hat. Und erst recht KEINELIEBENFREUNDINNEN.

16. Januar

Hab Marion eine E-Mail geschrieben. Nachdem ich sie schon abgeschickt hatte, fiel mir auf, dass ich statt »Vielen Dank für das nette Essen« »Vielen Dank für das fette Essen« geschrieben hatte. Oje, wie peinlich.

21. Januar

War bei der Ärztin. Sonniger, aber eiskalter Tag. Obwohl ich pünktlich war, schienen Horden von Menschen vor mir dran zu sein, darunter eine Frau mit einem Mädchen, das eine kleine Schürfwunde am Knie hatte. Nachdem die beiden aufgerufen wurden, verschwanden sie für eine gefühlte halbe Ewigkeit im Sprechzimmer. Als sie endlich wieder auftauchten, hatte das kleine Mädchen zu meinem Erstaunen ein Pflaster auf der Wunde.

»Ich hab mir solche Sorgen gemacht!«, sagte die Mutter zu Edna, der Arzthelferin am Empfang. »Meine Kleine war noch nie hingefallen! Ich wusste gar nicht, was ich tun sollte. Die Ärztin war wunderbar!«

Nachdem die beiden gegangen waren, zog Edna die Augenbrauen hoch und blickte in die Runde. »Kommt hier angelaufen, weil ihr Kind eine kleine Schramme hat! Mütter gibt’s!«

»Als ich ein Kind war, hab ich dauernd blutige Knie gehabt«, ließ ein alter Knabe mit üblem Husten verlauten. »Da gab’s nie ein Pflaster drauf! Hab mir beide Beine gebrochen und hatte obendrein eine Gehirnerschütterung, aber wir haben immer weitergemacht damals, nicht wahr? Gipsverbände oder Krankenhäuser, so was gab’s doch gar nicht. Meine Mama hat mir aus alten Besenstielen eine Schiene gemacht, hat sie mit Hanffäden festgebunden, und am nächsten Tag bin ich um vier Uhr morgens los zum Zeitungaustragen, als wär nix passiert.«

»Denen wird doch heutzutage alles viel zu leicht gemacht. Die wissen doch gar nicht, wie gut’s ihnen geht«, äußerte eine monströs fette, sabbernde, alte Frau mit geschientem Arm. »Wir haben einfach durchgehalten, nicht wahr? Ich hab zehn Geschwister gehabt, die hat alle die Grippe hingerafft. Nur ich bin übrig geblieben, und ich musste beide Eltern pflegen, die haben TB gehabt, und ich war erst acht Jahre alt.«

Einen Moment lang dachte ich, wie unglaublich blöde und vermessen das doch von mir war, die Ärztin wegen einer albernen Geschwulst am Bauch zu beanspruchen. Ich hätte vermutlich einfach auf einen mit Whisky getränkten Lumpen beißen, das Teil mit einem Hackebeil absäbeln, mit Petersilie zum Abendessen auftischen und dann weitermachen sollen, als wäre nichts passiert. Aber jetzt war ich nun schon mal hier, und dann wurde ich endlich auch aufgerufen.

Bei Ärzten scheint es heutzutage aus der Mode gekommen zu sein, Patienten zu begrüßen, und auch meine Ärztin starrte wortlos auf ihren Computerbildschirm, auf dem sie hoffentlich meine Laborergebnisse studierte. Vielleicht schickte sie auch nur witzige Fotos von tanzenden Elefanten mit Eulen auf dem Kopf an ihre Facebook-Freunde. Aber ich beschloss, die Ärztin nicht von vornherein zu verurteilen.

»Ja?«, sagte sie irgendwann und schaute auf. Sie ist eigentlich eine ganz nette alte Haut, geizt aber zu sehr mit den Arzneien, die ich gerne haben würde. Und sie überbewertet die Blutdruck-, Zucker- und Cholesterinwerte, finde ich. Aber heute schien alles in Ordnung zu sein. Bis jetzt jedenfalls.

Ich erklärte meine Befürchtungen, und sie sagte, sie wolle sich die Geschwulst mal ansehen. Nachdem wir uns durch einen Wust aus Pullis, Westen, Strumpfhosen und Slips gewühlt hatten, stießen wir schließlich wie ein Archäologenteam auf die Fundstelle oder vielmehr die Geschwulst. Die natürlich kleiner war als heute früh, weil sie wusste, dass sie zum Arzt musste, und deshalb beschlossen hatte, mich zu demütigen.

»Hm«, machte die Ärztin, betastete die Geschwulst und drückte daran herum. Ich musste mich auf eine Behandlungsliege legen, damit die Ärztin das Ding genauer inspizieren konnte. Sie bearbeitete es mit beiden Handflächen und legte schließlich ein Maßband an. Dabei wurde ihre Miene zusehends verwirrter.