Nein! Ich geh nicht zum Seniorenyoga! - Virginia Ironside - E-Book

Nein! Ich geh nicht zum Seniorenyoga! E-Book

Virginia Ironside

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Beschreibung

Marie Sharp führt ein ruhiges und sortiertes Leben. Seit einiger Zeit blüht die Beziehung zu ihrem geschiedenen Mann David wieder auf, und ihr neunjähriger Enkel Gene bringt sie stets auf den neuesten Stand der Technik. Doch im Laufe dieses Jahres erwarten Marie einige Turbulenzen. Erst wird sie Opfer eines Einbruchs (aber Marie wäre nicht Marie, wenn sie dem nicht höchstpersönlich auf die Spur gehen würde), dann wird sie von alten Bekannten eingeladen, diese im abenteuerlichen Indien zu besuchen. Und schließlich bekommt Marie auch noch einen Heiratsantrag! Aber für eine zweite Ehe ist sie ja viel zu alt. Oder?

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Seitenzahl: 457

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Buch

Marie Sharp wohnt mit ihrem Kater Pouncer in einem Londoner Vorort. Seit einiger Zeit blüht die Beziehung zu ihrem geschiedenen Mann David wieder auf, die beiden treffen sich in regelmäßigen Abständen. Sohn Jack lebt zwar einige Kilometer entfernt, aber ihr neunjähriger Enkel Gene ist häufig zu Besuch und bringt sie stets auf den neuesten Stand der technischen Entwicklungen. Alles in allem führt Marie am Neujahrsmorgen, an dem sie ihr neues Tagebuch beginnt, ein ruhiges, sortiertes Leben. Doch im Laufe des Jahres erwarten Marie einige Turbulenzen … In den ersten Wochen ersetzt sie auf Drängen des Enkels ihr altes Handy durch ein modernes iPhone, der attraktive, aber eigenartige Esoteriker und Buchhändler Robin wird ihr Untermieter, und sie wird Opfer eines Einbruchs, dem sie auf die Spur geht. Und dann wird Marie von alten Bekannten eingeladen, diese in Indien zu besuchen – und nach wochenlangen ausführlichen Planungen macht sie sich tatsächlich auf den Weg ins große Abenteuer.

Weitere Informationen zu Virginia Ironside

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Virginia Ironside

Nein! Ich geh nicht zum Seniorenyoga!

Das Tagebuch der Marie Sharp

Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »No Thanks! I’m Quite Happy Standing« bei Quercus Editions Ltd, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung November 2017

Copyright © der Originalausgabe by Virginia Ironside

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Franziska Biermann, Agentur Susanne Koppe, www.auserlesen-ausgezeichnet.de

Redaktion: Ulla Mothes

AG · Herstellung: han

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-21080-9V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Kate, Sukie und Christian

JANUAR

1. Januar

Als ich heute Morgen um acht Uhr aufstand, war ich erstaunt, dass Gene, mein heißgeliebter Enkel, mich nicht schon längst geweckt hatte. Wenn er sonst bei mir übernachtete, kam er immer ganz früh angetappt und wollte kuscheln und eine Geschichte hören. Aber irgendwie hat er sich in letzter Zeit verändert. Er ist jetzt neun und hat offenbar einen dieser sonderbaren Wachstumsschübe durchlaufen, denn binnen weniger Wochen hat er sich von einem bereits recht vernünftigen Kind zu einem Beinahe-Teenager entwickelt.

Ich erinnere mich noch lebhaft, wie das damals bei meinem Sohn Jack, Genes Papa, vonstattenging. Im einen Moment wollte er noch geknuddelt werden, und im nächsten schob er mich von sich weg, als sei ich eine liebeshungrige Freundin, die er schleunigst loswerden wollte. Wenn ich ihm einen Kuss gab, wischte er ihn wahrhaftig mit der Hand ab und versuchte ihn am nächstbesten Stück Stoff loszuwerden, als handle es sich um Schleim.

Nachdem ich in meinen Morgenmantel geschlüpft war, spähte ich ins Arbeitszimmer, wo Gene immer auf dem Klappbett schläft. Und tatsächlich schlummerte er noch selig – vermutlich weil er gestern wegen Silvester so lange aufgeblieben war. Als ich das schlafende Kerlchen betrachtete, konnte ich plötzlich erkennen, wie er als Mann aussehen würde. Im Nu wird er im Stimmbruch sein und vollkommen unpassende Mädchen mit Ritznarben am Handgelenk, gruselig kahlen Stellen auf der Kopfhaut und Ringen in der Nase nach Hause bringen. Und statt friedlich am Küchentisch Delfine auszumalen, wird er seine Zeit zweifellos damit zubringen, einschlägige Zigaretten aus illegalen Substanzen zu drehen und währenddessen auf sein iPhone zu starren.

David, mein Exmann, mit dem ich halb wieder zusammen bin, halb aber auch nicht – ach Gott, wie soll ich das erklären? Wir waren echt gute Freunde, aber vor zwei Jahren machte David mir vor Weihnachten wieder Avancen, und wir taumelten ins Bett, und ich muss sagen, ich fand das alles sehr erfreulich. Seither kommt er ab und an vom Land nach London, und ich besuche ihn auch. Wir haben es nett zusammen, kuscheln und gönnen uns ein bisschen Sex, wenn uns der Sinn danach steht, und eigentlich ist das alles ideal so. Dieses schöne Gefühl, jemanden an der Seite zu haben, aber ohne Gezanke à la »Es war am Mittwoch« – »Nee, das war doch Donnerstag!« – »Wer erzählt die Geschichte denn nun eigentlich?«, womit man sich herumschlagen muss, wenn man verheiratet ist. Ich erinnere mich allzu deutlich an derlei Unterhaltungen aus der Zeit, als wir noch ehelich vereint unter einem Dach kampierten.

Also jedenfalls – David. Er kam Silvester zu meiner Drinks-Party und brachte Gene mit. Seine Eltern, Jack und Chrissie, waren zu einem großen Fest eingeladen und fanden es einfacher, Gene bei mir unterzubringen, als einen Sitter zu organisieren. David überreichte mir als Neujahrsgeschenk ein Buch über den indischen Aufstand von 1857 – an sich eine reizende Geste, aber ich fühlte mich etwas eingeschüchtert, weil Geschichte nicht so mein Ding ist. David meinte jedoch, es läse sich äußerst spannend, ich werde also zumindest einen Versuch machen.

Ansonsten hatte ich nur ein paar Leute aus dem Viertel eingeladen, mit der Ansage, sie sollten um halb neun kommen und vorher gegessen haben. Außerdem erklärte ich, da wir ja nun alle schon so alt seien und lieber früh zu Bett gingen, könnten wir Mitternacht auch gern vorverlegen.

Doch sogar ich, die ich grundsätzlich sehr zeitig zu Bett gehe, war dann doch einigermaßen verdattert, als Marion und Tim, meine alten Freunde, die ein paar Häuser weiter wohnen und gerade erst gekommen waren, eine Minute vor zehn verkündeten, heute sei um zweiundzwanzig Uhr Mitternacht, denn sie hätten morgen wegen eines Familienbesuchs eine extrem anstrengende Fahrt nach Cornwall vor sich.

Als alle anderen Gäste lautstark protestierten, übertönte Penny, meine beste Freundin, den Tumult, indem sie kreischte: »Nee, hört mal, wir können doch mehrmals das neue Jahr feiern!« Dabei entkorkte sie eine Sektflasche von den dreien, die sie großzügigerweise mitgebracht hatte. »Wir köpfen eine um zehn, eine um elf und die letzte um Mitternacht. Lasst uns jeweils zur runden Stunde anstoßen!«

»Und vielleicht machen wir so weiter bis in die frühen Morgenstunden«, schrie Melanie von nebenan. Sie hatte sich schon ihrer Schuhe entledigt und saß im Schneidersitz auf dem Boden – was ich, die ich bald neunundsechzig werde, nicht mehr hinkriege und, offen gestanden, auch früher schon nicht so toll fand. Umgeben von diversen abgelegten Tüchern und mit einem glitzernden Turban auf dem Haupt glich Melanie heute einem Sultan. »Ich liebe euch alle, in diesem Jahr und im nächsten und in allen kommenden Jahren. Fühlt euch geküsst! Ihr seid meine Familie. Meine Lieben. Auf uns!«

Ich fand das reichlich übertrieben und sah mit hochgezogenen Brauen meinen alten Freund James an, der aber nicht reagierte, sondern auch schrie »Auf uns!« und sein Glas hob. Womit ich mir vorkam wie die böse Fee bei der Kindstaufe – eine Rolle, die ich eigentlich unbedingt vermeiden wollte. Schließlich sollte man doch im Alter gütiger und nicht bissiger und verbitterter werden, oder? Womöglich bin ich gerade im Begriff, mich in eins dieser biestigen alten Weiber zu verwandeln, die an der Bushaltestelle die Leute vor sich mit ihrem Stock verscheuchen und dabei kreischen: »Ich bin achtzig, lasst mich durch!«

David jedoch bemerkte meinen Blick und verdrehte seinerseits die Augen, und ich war dankbar, dass er bereitwillig den garstigen Troll zu meiner bösen Fee spielte.

Aber alles in allem war es ein wirklich schöner Abend. Als David abends um sechs mit Gene eintraf, erstellten wir erst einmal eine Schlafordnung; ich dachte mir, es sei vielleicht etwas merkwürdig für Gene, seine Großeltern am Neujahrsmorgen zusammen in einem Bett vorzufinden, da er das noch nie erlebt hatte. Deshalb wurde David oben im Gästezimmer untergebracht und stellte für Gene in meinem Arbeitszimmer das Klappbett auf.

»Ich hab Mum und Dad gesagt, ich seh sie erst im nächsten Jahr wieder«, verkündete Gene zur Begrüßung mit triumphaler Miene. Wie ich als Kind – und vermutlich wir alle – glaubte er wohl, diese Bemerkung sei nagelneu und unheimlich witzig. Was sie ja beim ersten Mal auch irgendwie ist.

Als Gene ins Wohnzimmer gefegt kam, mit Schuhen an den Füßen, die verblüffend groß aussahen, fiel mir auf, wie kräftig er plötzlich wirkte. Er hatte sogar schon regelrecht männliche Schultern, was ich ziemlich bestürzend fand. Und zu dem erwachsenen Aussehen trug überdies sein neues Handy bei, das er mir unbedingt vorführen wollte. Als ich mein altes graues Nokia zum Vorschein brachte, schüttelte Gene entschieden den Kopf. Ich muss auch tatsächlich zugeben, dass es eher an Gegenstände erinnert, die man in einem Achtzigerjahre-Museum in Glaskästen bestaunen kann.

»Oma!«, sagte Gene indigniert. »So ein Handy hat heute doch kein Mensch mehr. Damit kannst du ja nicht mal Fotos machen. Und du hast keine Apps.«

»Vielleicht kauf ich mir bald ein neues«, erwiderte ich – was ich schon seit fünf Jahren verkünde, obwohl ich nicht die geringste Absicht habe, so eine Anschaffung jemals zu tätigen. Was Technik angeht, ziehe ich nämlich jetzt endgültig den Schlussstrich. E-Mail – ja. Skype – zur Not. Aber ein iPhone – das geht nun wirklich zu weit.

»Ja, kauf dir ein neues!«, sagte Gene begeistert. »Das iPhone7. Dann können wir snappen und chatten, und du kannst streamen und WhatsApp haben und über die Cloud synchronisieren. Ich kann dir zeigen, wie das geht.«

»Er hat recht, Liebling – äh, Marie«, sagte David, der gerade herunterkam. Ein bedrohliches Klappern und Rumsen war von oben zu vernehmen gewesen, während er das Klappbett aufgestellt hatte, akustisch unterlegt von Jahresendgesängen aus Pfarrer Emmanuels evangelischer Kirche ein Haus weiter. (Man schmetterte gerade Oh Happy Day, aber ich wusste, dass nach Pfarrer Emmanuels anschließender Predigt über Hölle und Verdammnis an diesem Tag niemand mehr froh und glücklich sein würde.) »Ganz ehrlich, du würdest dich garantiert sofort anfreunden mit einem iPhone. Sogar ich hab eins. Und Penny und Marion, Mel und sogar Tim, stell dir das mal vor. Tim, der dussligste Mann der Welt!«

»Ist Tim wirklich so furchtbar dusslig?«, fragte Gene verblüfft.

»Nein, dein Großvater macht nur Witze«, antwortete ich hastig. »Aber Tim ist Buchhalter, da ist man eben ein bisschen – ruhiger.«

»Der ist ein noch älterer Sack als ich«, fügte David hinzu.

»Ah«, sagte Gene. »Hab’s kapiert. Ein megadussliger alter Sack.«

David und ich johlten vor Lachen über seinen trockenen Tonfall und amüsierten uns, weil Gene auf unseren Humor eingestiegen war. Natürlich wusste ich bereits, dass mein Enkel ungeheuer humorvoll war, seit er mit sechs Monaten immer wieder eine Decke über sich gelegt und sich dann kringelig gelacht hatte, wenn er sie wegzog. Aber es ist stets beruhigend zu wissen, dass man mit seiner Einschätzung richtigliegt.

Alle drei waren wir bestens gelaunt, als wir das improvisierte Abendessen verspeisten, das ich vorbereitet hatte. Dann stellten wir Wein und Gläser bereit, bestrichen als Häppchen dunkle Brotscheiben mit Butter, belegten sie mit Räucherlachs und schnitten sie in Quadrate. Die gräulichen Stücke vom Lachs warfen wir meinem Kater Pouncer zu, der das Geschehen mit lebhaftem Interesse verfolgte. Danach machten Gene und ich es uns im Wohnzimmer gemütlich und plauderten bis zum Eintreffen der Gäste über gute Vorsätze fürs neue Jahr.

»Diesmal verzichte ich darauf«, erklärte ich, als ich mich auf meinem wundervollen grünen Sofa am Feuer ausstreckte und mir ein Glas schön kalten Sekt zu Gemüte führte. »Weil ich die guten Vorsätze nämlich nie in die Tat umsetze.«

»Aber ich habe einen«, verkündete David, der gerade hereinkam, nachdem er – wie süß von ihm! – nach dem Abendessen abgewaschen hatte. Er schaute mich ziemlich bedeutsam an, und einen Moment lang dachte ich erschrocken, er wolle vielleicht bei mir einziehen. Doch dann spazierte er zum Glück wieder hinaus, um Aschenbecher zu holen, da in meinem Haus Rauchen durchaus erlaubt ist, und ich dachte nur: hoffentlich nicht! Mir gefällt nämlich die Situation, wie sie jetzt ist, viel zu gut. David ist die meiste Zeit in seinem Haus auf dem Land, baut Dämme gegen Hochwasser, beschneidet Bäume, kultiviert seinen Obstgarten und räumt den Dachboden auf; nur dann und wann ist er übers Wochenende bei mir, und das finde ich prächtig so. Sobald wir uns dem Punkt nähern, an dem wir uns anranzen würden, verzieht sich einer von uns beiden wieder nach Hause, und so bleiben wir beste Freunde.

»Was hast du denn für Vorsätze, mein Schatz?«, fragte ich Gene, der jetzt Dillzweiglein auf dem Räucherlachs verteilte. Die Häppchen waren arrangiert auf einer sehr hübschen Platte, die auf dem Tisch in der Mitte des Wohnzimmers stand – eine Platte, möchte ich hinzufügen, die ich selbst vor geraumer Zeit getöpfert und bemalt habe, als ich noch an der Schule Kunst unterrichtete.

Gene überlegte und sagte dann: »Ich will unbedingt ein Tattoo. Das darf ich erst mit sechzehn, aber der Bruder von einem Freund von mir hat sich eins mit Zirkel und Tinte selbst gemacht, und jetzt können seine Eltern nix mehr dagegen tun. Das ist echt super!«

»Aber Schätzchen, ein Tattoo! Bloß nicht!«, rief ich entsetzt aus. »Das wäre grässlich.«

»Was für ein Tattoo hat denn der Bruder deines Freundes?«, erkundigte sich David, der wieder zurückgekehrt war, interessiert.

»Einen Augapfel«, antwortete Gene. »Augäpfel findet der irgendwie krass.«

David und ich blickten uns einigermaßen verstört an.

»Aber ich will einen Totenschädel als Tattoo«, erklärte Gene. »Und so ein echt krankes Messer. Alle Jungs an der Oberschule haben Messer. Und dann will ich im neuen Jahr mal Rauchen probieren. Dad sagt, ich dürfe nie mit dem Rauchen anfangen, aber ich hab ihn neulich draußen im Garten rauchen sehen, als er dachte, keiner merkt’s. Und wenn er heimlich raucht, kann ich das doch auch mal ausprobieren. Danach hör ich dann wieder auf.«

David lachte, aber ich war erleichtert, als es klingelte und die ganze Bande hereingestapft kam, sich über die Kälte beklagte und auf den Kamin zusteuerte.

Marion und Tim waren wie eh und je: Marion trug nicht die geringste Spur von Make-up, Tims Krawatte saß schief, und beide grummelten, sie müssten unbedingt noch die Autoreifen prüfen. Penny förderte ihre Sektflaschen zutage und stellte sie in den Kühlschrank, Melanie schwenkte ihr Mitbringsel, ein absonderliches Gebilde aus Draht und Federn. Sie behauptete, es sei ein Traumfänger, der Albträume verhindere. Aber ich war mir durchaus nicht sicher, ob es sich nicht um ein Voodoo-Totem handelte, mit dem Mel mich dazu bringen wollte, ihr bei Sitzungen des Anwohnervereins bedingungslos zuzustimmen. (Sie hat es nämlich immer noch nicht verkraftet, dass ich mich vor zwei Jahren geweigert habe, meine Haustür in der Farbe zu streichen, die Mel allen vorschreiben wollte.)

James – der mittlerweile in Somerset mit einem Mann zusammenlebt, den er über eine Internet-Partnervermittlung für schwule Bauern kennengelernt hat – brachte mir eine zauberhafte eingetopfte Amaryllis, deren Knospe kurz davor war, sich zu einer prachtvollen Blüte zu entfalten. »So wie wir alle im neuen Jahr«, sagte James dazu. Dann entdeckte er Gene und rief aus: »Ist das etwa Gene? Du bist ja ein richtiger junger Mann geworden! Bald wirst du die ersten Herzen brechen. Ich hab dich vor ein paar Jahren zum letzten Mal gesehen – und nun schau dich nur an!«

Gene wurde puterrot, grinste und schüttelte James die Hand.

Nach etwa einer Stunde bestand David darauf, alte Kassetten mit Rockmusik herauszukramen, die ich in den Sechzigern aufgenommen hatte – ja, wahrhaftig: Kassetten! Und ich besitze sogar noch ein Gerät, mit dem man sie abspielen kann. Nachdem wir den Küchentisch beiseitegerückt hatten, wurden David und ich überredet, ein paar unserer alten Tänze aufs Parkett zu legen. Gene sah zu und rief: »Das sieht echt cool aus, Opa! Bei dir auch, Oma.« Dann fing Tim zu twisten an und schwenkte seinen dicken Hintern wie die Elefanten in Dumbo, während Marion umherhüpfte, als tanze sie um den Maibaum, und Mel James belagerte, offenbar noch immer in dem Bestreben, ihn zur Heterosexualität zu bekehren – was etwa so viel Erfolgsaussicht hat, als wolle man einer Kaulquappe Rumbatanzen beibringen.

Danach führte uns Gene – angespornt durch ein halbes Glas Sekt, das wir ihm genehmigt hatten – Breakdance vor, und wir standen alle um ihn herum und klatschten im Rhythmus. Was mich an die Szene erinnerte, als John Travolta in Saturday Night Fever seine Tanznummer abzieht. Wir johlten und pfiffen, als Gene dann zum Ende kam, erhitzt und ein bisschen verlegen, aber sichtlich sehr zufrieden mit sich selbst.

Irgendwie gelang es mir, bis elf durchzuhalten, doch dann hatte ich schlagartig das Gefühl, als habe mir jemand mit einem Hammer auf den Kopf gehauen. Nachdem ich noch eine Flasche Sekt aufgemacht, mich versichert hatte, dass David bereit war, bis Mitternacht aufzubleiben, und ihm noch eingeschärft hatte, dass Gene nicht unten einschlafen dürfe, weil er inzwischen zu schwer ist, um die Treppe raufgetragen zu werden, taumelte ich ins Bett.

Später

Hatte ich eigentlich erwähnt, dass David noch alles aufgeräumt hatte, nachdem alle Gäste gegangen waren? Wie lieb von ihm. Gene und er wachten dann morgens gerade auf, als ich diesen letzten Absatz schrieb, und nach dem Frühstück gingen wir in den Park, wo Gene mehrere Rotkehlchen fütterte und dabei wiederholt sagte: »Schau, Oma, wenn du jetzt ein iPhone7 hättest, könntest du mich mit den Rotkehlchen fotografieren.«

Was mich ordentlich nervte – ich spürte nämlich, wie mein felsenfester Entschluss, mich niemals ins Reich der iPhones zu begeben, ins Wanken geriet. Denn natürlich hätte ich allzu gern ein Foto von Gene mit den Rotkehlchen gehabt. Na ja, danach nahmen wir jedenfalls einen kleinen Lunch in einem Café an der Holland Park Avenue zu uns, das zum Glück geöffnet hatte, und später brachte David Gene nach Hause und fuhr nach Somerset zurück.

»Ich komm dann am nächsten Wochenende wieder, ja?«, sagte David zum Abschied.

Doch ich fürchte, ich habe da was vermasselt, weil ich nämlich antwortete: »Ach, das brauchst du nicht, ich komme ja zu meinem Geburtstag am 15. zu dir.« Dann fühlte ich mich ziemlich mies, weil David so enttäuscht aussah.

»Also, alles Gute fürs neue Jahr, Liebling«, erwiderte er, aber ich spürte, dass ich ihn gekränkt hatte. Deshalb umarmte und küsste ich ihn noch mal und flüsterte ihm »Ich liebe dich« ins Ohr, wiewohl ich, ehrlich gesagt, immer nicht sicher bin, ob ich das wirklich meine, wenn ich es zu jemandem sage. Das ist so eine schwierige Aussage, auch wenn man es tatsächlich empfindet. Ich liebe David wirklich, aber sobald ich das ausspreche, klingt es irgendwie falsch. Echt seltsam.

Wie üblich vermisste ich Gene dann sehr, aber es gelang mir dennoch, mir allein einen netten Abend zu machen, indem ich mir im Fernsehen eine Doku über ein paar Teenager ansah, die wegen des Ritualmordes an drei Jungen neunzehn Jahre im Gefängnis verbracht hatten und dann entlassen worden waren, als sich herausstellte, dass vermutlich der grauenhafte Stiefvater die Tat begangen hatte. Mir standen Tränen in den Augen, als ich da gemütlich auf dem Sofa saß, mit Pouncer auf dem Schoß, der sich behaglich eingerollt hatte. Im wahren Leben ist das natürlich eine schauerliche Geschichte, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich die Sendung so ungemein kathartisch fand.

Später

Mitten in der Nacht aufgewacht, weil ich geträumt hatte, ein alter Schulfreund von mir habe sich in eine sehr kleine männlich wirkende Frau verwandelt und um meine Hand angehalten. Sie gehörte einer Sekte namens Church of Scoby an und überredete mich, ein Kind mit ihr zu haben. Dazu mussten wir in einem Vorort von Cardiff einen Jungvogel fangen. Just in dem Moment, in dem ich merkte, dass ich den Zug nach Wales versäumt hatte, wachte ich zum Glück auf, und um diesen ganzen wirren Sektenkram aus meinem Kopf zu vertreiben, sitze ich jetzt im Nachthemd hier und tippe.

So viel zu dem Traumfänger.

5. Januar

»Ecstasy mit über 50! Die Alten spinnen«, erklärt Drogenpapst (»Hetzkurier«)

Offenbar haben fünfundzwanzig Prozent älterer Menschen Ecstasy probiert, diese Pillen, nach deren Einnahme man sich angeblich fantastisch fühlt und die gesamte Menschheit liebt. Besonders beliebt bei Raves. (Wo natürlich hauptsächlich junge Leute auftauchen, nicht die Über-Fünfzigjährigen; die führen sich das Zeug im Schutze ihrer vier Wände zu Gemüte und schauen sich dabei Downton Abbey an.) Ich will mir das schon seit Jahren mal erlauben – Ecstasy, nicht Downton Abbey –, habe aber keine Ahnung, wie ich da rankommen soll. Vermutlich könnte mir das traurigerweise am ehesten Gene erklären, obwohl er erst neun ist. Wirklich eine Katastrophe, wenn man sich vorstellt, dass Großmütter heutzutage ihre Enkel als Dealer benutzen.

Doch als ich im Eckladen gerade Teppichreiniger für die Partyfolgen erstand, wen traf ich da praktischerweise? Sheila, unsere ortsansässige Drogenhändlerin, allen bekannt als Sheila die Dealerin. Da ich sie nicht direkt darauf ansprechen wollte, weil wir alle offiziell von ihrem Gewerbe nichts wissen dürfen, wies ich auf die Schlagzeile des »Hetzkuriers« hin, der zwischen den anderen Zeitungen im Ständer ausgestellt war.

»Wenn ich das doch auch mal probieren könnte«, sagte ich in scherzhaftem Tonfall. »Klingt absolut großartig. Aber Leute wie ich haben natürlich keine Ahnung, wie man da rankommt. Bist du auch eine von diesen Über-Fünfzigjährigen, die Ecstasy nehmen, Sheila? Man weiß ja heutzutage nie, was die Leute so alles treiben.«

»Ich fahr nur auf Tabak ab«, antwortete Sheila reichlich schmallippig, wie ich fand. »Steh nicht auf dieses neumodische Zeugs. Man weiß ja nie, was da alles drin ist. Aber wenn du das wirklich probieren willst, kann ich mich mal umhören. In der Siedlung drüben kriegt man alles. Aber du willst was richtig Gutes, nicht irgend’n Schrott, oder?«

Da ich quasi beweisen kann, dass diese Frau zu Hause haufenweise Säcke voller Heroin und Kokain herumstehen hat – von anderen unsäglichen Substanzen wie LSD und Ketamin ganz zu schweigen – und es in ihrer Küche wahrscheinlich wimmelt von diesen Kröten, die junge Leute angeblich ablecken, um high zu werden (die Frau tut schon was für ihren Namen), hatte ich eigentlich fast damit gerechnet, dass sie auf der Stelle aus ihrem fleckigen geblümten Hauskittel ein paar Pillen zutage fördern würde. Aber vermutlich möchte man als Drogendealerin doch eher im Verborgenen arbeiten, und Sheilas Gerede von wegen sie führe nur auf Tabak ab sollte neugierige Schnüffelnasen wie mich wohl von der Spur ablenken. (Apropos Tabak: Mir wurde förmlich schwindlig von Sheilas eigener Ausdünstung – einer berauschenden Duftmischung aus altem Kohl, Zigarettenqualm, Schmieröl und Tabak, die so durchdringend war, dass ich schon vom Einatmen beinahe high wurde.)

Ich stellte noch klar, dass es mir wirklich ernst war mit meinem Wunsch. Dann eilte ich nach Hause, wo ich zu meinem Erstaunen Melanie vor der Haustür vorfand, mit einem Brief in der Hand.

»Tut mir ungeheuer leid«, sagte sie, als ich aufschloss und sie ins Haus ließ. »Dieser Brief ist bei mir gelandet, und ich habe ihn aus Versehen aufgemacht, weil ich nicht auf die Adresse geguckt hatte. Der Postbote hat ihn falsch eingeworfen. Und dann«, fügte sie bedeutungsschwanger hinzu, »konnte ich nicht umhin, ihn zu lesen. Er ist von Brad und Sharmie, die dich nach Indien einladen! Wenn du fährst – kann ich dann mitkommen?«

»Augenblick«, sagte ich und schloss die Tür hinter ihr. »Ich hab den Brief doch noch nicht mal gelesen.«

Es machte mir nichts aus, dass Melanie ihn geöffnet hatte, denn das war mir selbst auch schon oft passiert. Aber ihn dann auch noch zu lesen! Das ging wohl doch etwas zu weit. (Es zu gestehen jedenfalls.)

Melanie folgte mir in die Küche. »Weißt du, mein Sohn lebt doch dort«, sagte sie, »und du und ich, wir könnten ein paar Tage mit Brad und Sharmie in Delhi verbringen, und dann holt mein Sohn mich ab, und ich fahre mit ihm nach Kerala, um meine Enkelkinder zu sehen, und dann würden wir beide uns wiedertreffen und zusammen zurückfliegen. Das wäre wunderbar!«

Melanie ist nach den Amerikanern Brad und Sharmie in das Haus nebenan gezogen. Seit sie hier ist, kommt es mir immer vor, als habe Mel einen unsichtbaren Schlauch am Körper, den sie jederzeit an mich anschließen kann, um mir jegliche Energie oder Willenskraft abzusaugen. Ich setzte mich und las den Brief.

Liebe Marie,

bestimmt hast du dich längst gefragt, was aus uns geworden ist. Ich hoffe sehr, dass du dich noch an die beiden Verrückten aus den USA erinnerst, die so dreist waren, sich ein Jahr lang neben dir einzuquartieren. Aber hey, es gibt uns noch, und wir sind jetzt in dieses entzückende kleine Haus in Delhi gezogen– was sich GAR NICHT mit Shepherd’s Bush vergleichen lässt, aber dennoch sehr gemütlich ist. Brad liebt seine neue Arbeit, und ich verbringe die eine Hälfte meiner Zeit mit Alice– von der ich dich natürlich ganz lieb grüßen soll– und die andere mit einer Tätigkeit in einem Waisenhaus an der Stadtgrenze. Hättest du nicht vielleicht Lust, uns zu besuchen und eine Woche oder so bei uns zu wohnen? Und besonders toll wäre, wenn du Pinsel und Skizzenbuch mitbringen und wieder solche wunderschönen Bilder von Bäumen malen könntest. Wir lieben die Bilder von den Londoner Bäumen, die wir von dir haben, Marie! Alle schwärmen davon, und hier gibt es einige grandiose Baumexemplare, die förmlich danach schreien, von dir gemalt zu werden. Wir hoffen sehr, dass du ja sagst! Indien ist ein faszinierendes Land, und wir können dir tolle Sachen zeigen. Wir hoffen, es geht dir gut.

Alles Liebe, Sharmie, Brad und Alice

Alice hatte in Schnörkelschrift unterschrieben und ein Smiley über das i gemalt – was mich bei Erwachsenen eigentlich kolossal nervt, bei Alice fand ich es jedoch reizend.

»Und, was meinst du?«, fragte Melanie ungeduldig. »Bist du bereit? Lass uns in die Terminkalender gucken.«

»Ich muss mir das erst überlegen«, sagte ich ziemlich herablassend. »Das kann ich jetzt nicht entscheiden, ich hab zu viel an der Backe.«

»Was denn? Sag es mir, vielleicht kann ich dabei helfen«, rief Melanie aus, wühlte im Rest meiner Post, den ich mit reingebracht hatte, und fing doch wahrhaftig an, eine Postkarte zu lesen.

»Melanie! Ich habe alle Hände voll zu tun«, erklärte ich und überlegte, wie ich sie davon überzeugen konnte, dass ich ungeheuer vielbeschäftigt war. »Ich erwäge gerade, einen neuen Untermieter ins Haus zu nehmen, und habe überdies jede Menge Probleme, die geklärt werden müssen«, log ich. Doch sobald ich den Mund zuklappte, merkte ich, dass ich lieber noch ausweichender hätte sein sollen.

»Ich habe genau den Richtigen für dich!«, rief Melanie aus. »Einen absoluten Schatz. Ich habe ihn vor Weihnachten in einem Seelenheilungsretreat kennengelernt. Er sucht nach einer Unterkunft, und ich hatte sowieso schon vor, dich zu fragen.«

»Später, später«, erwiderte ich und kam mir dabei wie ein gestresster Hollywood-Regisseur vor, der hoffnungsvolle Drehbuchautoren aus seinem Büro scheucht. »Ich werd’s mir überlegen. Ich überleg mir alles. Aber nicht jetzt …«

Und so gelang es mir schließlich, sie loszuwerden.

Allerdings – Indien? Ziemlich aufregende Vorstellung. Ich hatte nicht erwartet, je wieder von Brad und Sharmie zu hören, weil ich annahm, sie seien wie alle Amerikaner – um einen herum wie ein Schwarm Mücken, solange sie in der Nähe sind, und spurlos verschwunden, sobald sie weiterziehen. Man hat mir mal gesagt, das habe was mit deren Pioniergeist zu tun. Weil die Amerikaner immer weiterwanderten und sich neue Gebiete des großen Landes aneigneten, mussten sie zu allen anderen Pionieren unterwegs freundlich sein. Deshalb reden sie heute noch in Bussen und Zügen mit Fremden und schließen schnell Freundschaft – die sich dann aber als flüchtig erweist. Ich hatte angenommen, dass auch ich nur eine weitere Pionierin auf Brads und Sharmies Reise gewesen sei, aber offenbar verhielt sich das bei den beiden anders. Ihre Freundschaft wirkte sehr aufrichtig, was ich äußerst erfreulich fand.

Ebenso wie die Aussicht auf einen Aufenthalt in Indien, wo ich noch nie gewesen war. Vor meinem inneren Auge sah ich Gottheiten mit vielerlei Gliedmaßen, Elefanten, Frauen, die Schalen auf dem Kopf balancieren und leuchtend bunte Saris tragen, das alles vor dem Hintergrund des Taj Mahal. Oder aber arme Kinder mit Hungerbäuchen, bedeckt von Fliegen, wie in den Spendenbettelbriefen, die ich jede Woche kriege. Und dann gibt es natürlich noch das Bollywood-Indien – Hochzeiten für Millionen Pfund, Juwelen und schwarzhaarige Männer mit flammenden Augen, die Liebeslieder vom Balkon eines Palasts herunterschmettern. Bestimmt sind alle drei Vorstellungen total idiotischer Schwachsinn.

Ich war so aufgeregt, dass ich Penny anrief und sie auf einen Drink zu mir bat.

»Lass uns doch zusammen hinfahren«, schlug sie vor, als sie es sich auf dem Sofa bequem machte. »Ich wollte immer schon nach Indien. Und lange Flüge allein sind scheußlich. Außerdem bin ich in letzter Zeit oft deprimiert, dann hätte ich was, worauf ich mich freuen könnte.«

»Wieso bist du deprimiert?«, fragte ich erstaunt. Penny ist normalerweise ziemlich ausgeglichen.

»Ach, ich weiß nicht genau«, antwortete sie. »Zum Teil sicher wegen der Jahreszeit, aber zum Teil auch … Tja, ich glaube, dass du wieder mit David zusammen bist, macht mich jetzt nicht direkt eifersüchtig, aber ich fühl mich wohl ein bisschen außen vor. Ich freue mich wirklich riesig für dich, aber mir wird dadurch umso klarer, dass ich eben allein bin. Ich weiß, du sagst immer, es sei klasse, Single zu sein, aber wenn man älter wird, ist es nicht mehr so toll, oder? Neulich bin ich nachts mit so heftigem Herzklopfen aufgewacht, dass ich dachte, ich kriege einen Infarkt. Und dann fiel mir auf, dass ich nicht mal wüsste, wen ich auf dem Anmeldebogen bei ›zu benachrichtigen‹ eintragen sollte.«

»Aber du hast doch deine Tochter«, wandte ich ein. »Und außerdem wärst du nicht allein, weil du mich angerufen hättest und ich dich begleitet hätte.«

Penny kippte sich den Inhalt ihres Glases in den Rachen und goss sich nach. »Das weiß ich ja. Aber es ist trotzdem was anderes, nicht?«

Ja, ich wusste, was sie meinte. Es ist etwas anderes, und ich muss auch gestehen, dass es ein großer Trost für mich ist, David an meiner Seite zu wissen. Ich fühlte mich unwohl, weil es Penny deshalb schlecht ging, wusste aber, dass ich nichts dagegen tun konnte.

»Okay, dann lass uns zusammen nach Indien reisen«, sagte ich. Das würde Penny aufmuntern, und ich selbst legte außerdem keinen gesteigerten Wert darauf, allein durch die Slums von Delhi zu tapern. »Aber ich muss dich warnen. Melanie hat sich schon darauf kapriziert, auch mitzukommen, und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich sie abwimmeln kann.«

»Ach herrje!«, rief Penny aus. »Obwohl – warum eigentlich nicht? Wir könnten doch die ganze Bande fragen. Melanie, Marion, Tim … und James auch.«

Ich fragte mich, ob David auch gern mitreisen würde, wollte aber nichts dazu sagen, um nicht auch noch Salz in Pennys Wunde zu streuen.

Später

Als ich David anrief und ihn fragte, ob er mitkommen wolle, muss ich gestehen, dass ich etwas erleichtert war, als er sagte, er könne nicht.

»Ich glaube eher nicht, dass es mich dort noch mal hinzieht«, sagte er. »Und ich bin mir durchaus nicht sicher, ob du dich in Indien wohlfühlen wirst, Liebling. Es ist etwas, nun ja, wie soll ich sagen – drastisch. Und du bist doch so ein empfindsamer Mensch. Aber wenn du bei reichen Amerikanern lebst, wirst du wahrscheinlich vom Schlimmsten verschont bleiben.«

»Die beiden wünschen sich, dass ich dort Bäume male«, berichtete ich.

»Das würdest du bestimmt großartig machen. Und es gibt wirklich ziemlich eigentümliche Bäume«, fügte er hinzu. »Am eindrucksvollsten sind die Banyanbäume mit ihren verrückten Wurzeln. Aber dann gibt es auch noch die Teufelsbäume, die Affenbrotbäume, die Jacarandas und natürlich wundervolle riesige Eukalyptusbäume … Und du solltest dir unbedingt eine Pappelfeige ansehen. Buddha saß darunter, als er die Erleuchtung hatte, der Stamm ist bizarr …«

»Woher weißt du das alles?«, fragte ich, wieder einmal verwundert über die Fähigkeit von Männern, Fakten abzuspeichern.

»Ich kenne mich dort gut aus, Liebling«, antwortete er. »Weißt du nicht mehr? Ich habe doch vor einiger Zeit in Indien diese Baumreise gemacht, mit Sandra. In Goa hat sie dann Ali kennengelernt. Ach so, da wir gerade von ihr reden – werdet ihr auch nach Goa fahren? Das ließe sich gut an Delhi anschließen. Goa ist zauberhaft, ideal zum Chillen. Dann könntest du auch mal schauen, ob mit Sandra alles okay ist. Ich habe wochenlang nichts von ihr gehört.«

»Chillen? Was soll das denn sein?«, fragte ich.

»Abhängen und entspannen«, sagte David. »Komm schon, das müsstest du doch wissen.«

»Für mich bestimmt nicht das Richtige«, erwiderte ich und spürte, wie das Erbe meiner schottischen Großmutter durchbrach. »Rumhängen und entspannen bekommt mir nicht. Du weißt doch, dass ich zwanghaft in Bewegung bleiben muss. Als Nächstes versuchst du womöglich noch, mir irgendwelche Wellnessprogramme aufzuschwatzen.«

»Entschuldige«, sagte David. »Ich bin nur grade der Witwe Bossom auf der Straße begegnet« – das ist die Person, die sofort versucht hatte, sich David zu krallen, nachdem Sandra das Feld geräumt hatte – »und du weißt ja, dass sie immer von solchen Sachen labert. Hat mich wohl etwas angesteckt. Aber Sandra ist jetzt bestimmt am Dauerchillen, weil Ali offenbar am Strand lebt, wo er versucht, mit Fischen und Perlenketten Geld zu verdienen, wenn er nicht gerade Reifen flickt. Kannst du dir was Deprimierenderes vorstellen? Aber was soll’s, das war das Leben, das Sandra sich gewünscht hat. Und aus mir wäre nie so ein Strandfreak geworden.«

Sandra war die junge Frau, mit der David nach unserer Trennung zusammen gewesen war. Vor zwei Jahren wurde er von Sandra verlassen, weil sie sich in diesen goanischen Strandjüngling verguckt hatte, der ihr das Blaue vom Himmel herunter versprach und ein Kind mit ihr haben wollte. Nachdem Sandra seit einiger Zeit weder auf E-Mails noch auf Anrufe reagierte, fing David an, sich Sorgen um sie zu machen. An sich interessiert es mich nicht im Mindesten, was mit ihr los ist, weil ich sie immer schon ziemlich dämlich fand. Aber nach ihr zu suchen wäre ein guter Vorwand für eine Rundreise. Deshalb sagte ich, das sei eine hervorragende Idee, die ich der ganzen Bande vorschlagen wolle.

Andererseits: Wieso bin ich, die ich nichts über Affenbrot-, Banyan- und Eukalyptusbäume weiß, so dreist, jemanden als dämlich zu verurteilen? Wie war das gleich mit dem Glashaus?

David wies mich darauf hin, dass morgen Dreikönigstag sei.

»Die Witwe Bossom kam eigens vorbei, um mich daran zu erinnern«, berichtete er glucksend, was mich mächtig wurmte. Würde die ihn denn nie in Ruhe lassen? Die Vorstellung, dass sie ihn immer noch bedrängt, ist mir ausgesprochen zuwider. Aber obwohl ich ganz und gar nicht abergläubisch bin, sorgte ich doch dafür, sämtliche Weihnachtsdeko noch beizeiten verschwinden zu lassen. Den künstlichen Baum verstaute ich in seinem Karton wie eine grüne Mumie, die Karten nahm ich allesamt vom Kaminsims. Obwohl ich mir inzwischen offen gestanden überlege, den ganzen Kram mitsamt der Lichterkette gar nicht mehr wegzuräumen. Denn das Weihnachtsfest scheint jetzt immer schneller wieder stattzufinden, je älter ich werde.

8. Januar

Gerade einen Zweig vertrocknete Stechpalme hinter einem Bild gefunden, das ich vor dem Dreikönigstag nicht von der Wand genommen hatte, sowie eine Weihnachtskarte, die sich hinter einem meiner Staffordshire-Porzellanhunde auf dem Kaminsims verkrümelt hatte.

Ob das nun bedeutet, dass das Haus für den Rest dieses Jahres verflucht ist?

Später

Wunderbares Wetter heute – die Wintersonne flutet durchs kahle Geäst der Bäume im Garten –, und weil alle noch Urlaub haben, ist es mucksmäuschenstill in der Stadt. Ich zog den Mantel an und ging in den Garten, um ein paar trockene Blätter vom Weg zu kehren. Pouncer spazierte auf der Mauer auf und ab wie ein Wachposten auf Patrouille und ließ sich gelegentlich nieder, um sich die Pfoten zu lecken. Dann hockte er eine Weile reglos da und zuckte nur manchmal mit den Schultern und legte die Ohren an, als erinnere er sich urplötzlich an irgendeine fiese Beleidigung.

Musste reingehen, weil das Telefon klingelte, und als ich abnahm, drang ein begeisterter Redeschwall von Marion an mein Ohr.

»Was hat es mit dieser Indienreise auf sich?«, fragte sie. »Kann ich auch mitkommen? Mel sagt, ihr wollt im April hinfahren und macht schon Pläne. Das klingt toll! Ich wollte immer schon mal auf dem Hippie-Trail unterwegs sein.«

»Wir machen keine Hippie-Reise und wollen auch nicht chillen«, erwiderte ich einigermaßen patzig. »Brad und Sharmie wünschen sich, dass ich Bäume für sie male. Und ich weiß das überhaupt erst seit ein paar Tagen! Aber klar, Süße, wenn ich es wirklich mache und du gern mitwillst, dann können wir ja alle zusammen fahren.«

Musste das Gespräch abrupt beenden, weil jemand wie wild an die Tür hämmerte. Herein stürzte Mel, umgeben von einer Patschouliölwolke, bewaffnet mit Landkarten und Fotobüchern über Indien. Dann förderte sie aus ihren Taschen zwei kleine Gipsfiguren zutage – Buddha und die abscheuliche leuchtend blaue Kali mit den vielen Gliedmaßen.

»Die beiden sollen während unserer Planung über uns wachen«, verkündete Mel. »Sie werden uns Glück bringen.«

Morgens hatte ich einen Blick auf Mels Facebook-Seite geworfen, auf der heute stand: Das Herz hat seine eigene Sprache. Das Herz kennt Millionen von Wörtern. Was mich jetzt ziemlich verstimmte, denn Mels doofes Herz hätte ja ein paar dieser Wörter dazu benutzen können, mich vorher anzurufen, anstatt einfach so hereinzuplatzen. Ich hatte nämlich vorgehabt, meine Heizkörper zu entlüften, und mich schon darauf gefreut, wie ein Profihandwerker mit meinem Spezialschlüssel durchs Haus zu marschieren, dem Zischen zu lauschen und die Wärme in den Radiatoren zu spüren, wenn das Wasser wieder reinströmte. Das konnte ich nun natürlich vergessen.

»Am zweiten April fliegen wir nach Delhi«, verkündete Mel. »Ich hab sehr günstige Flüge gefunden. Und dann kannst du bei Brad und Sharmie bleiben, während Marion und ich – und Penny, wenn sie auch mitkommen möchte – in einem zauberhaften Ferienhaus wohnen, das ich entdeckt habe. Am besten wäre es, wenn du die Impftermine vereinbarst, weil du dich mit diesem Medizinzeug gut auskennst«, erklärte Mel, »und ich … ich kümmere mich um die Flüge und die Visa.«

Mittlerweile hatte Mel im Wohnzimmer die Schuhe abgestreift und sich im Schneidersitz auf den Boden gepflanzt. Sie kam mir vor wie eine viktorianische Forscherin, und ich muss sagen, dass ihre Begeisterung durchaus liebenswert und ansteckend war. Schließlich blickte sie von ihrer Landkarte auf.

»Ach und Mar, ich hatte dir doch von diesem Typen erzählt, der ein Zimmer sucht. Ich hab ihn gestern bei einem schamanischen Workshop getroffen. Willst du dir den alten Knaben nicht wenigstens mal angucken?«

Offenbar heißt der Bursche Robin, ist um die sechzig und so was wie ein alter Hippie, dem der alternative Buchladen in der Golborne Road gehört, nicht weit von der Portobello. Derzeit wohnt Robin noch in der Wohnung über seinem Laden, aber da die Mieten steigen, möchte er bis Jahresende in eine günstigere Bleibe weiter westlich ziehen. Damit er in Ruhe suchen und seine Wohnung in der inzwischen total angesagten Straße für viel Geld vermieten kann, würde er gern bei mir unterkommen, bis er was Neues gefunden hat.

Melanie scheint recht versessen auf ihn zu sein. Sie meint, er sei sehr intelligent und belesen und ließe sich nicht von »Scheinwelten« täuschen. Und er könne auf unsere beiden Häuser aufpassen, während wir in Indien seien, fügte sie noch hinzu. Morgen wolle sie mit Robin mal vorbeikommen.

»Solange er nicht versucht, mich zu vedischer Medizin zu bekehren«, bemerkte ich trocken. Damit hatte ich nämlich vor einem Jahr eine grässliche Erfahrung gemacht. So ein Ayurveda-Arzt sagte, ich solle die Zunge rausstrecken. Dann machte er sich ein paar Notizen, verschrieb mir Pillen, mit denen es mir elendiglich schlecht ging, und knöpfte mir einen Riesenbatzen Geld ab.

10. Januar

Ehemaliger Royal Marine an hartgekochten Eiern erstickt! Bei Wettessen in Pub drei zugleich in den Mund gestopft (»Hetzkurier«)

Als ich das las, nahm ich mir fest vor, mein Essen nicht mehr so runterzuschlingen. Weil ich nun alt bin und immer so furchtbar viel zu tun habe – und wohl auch weniger Nahrung brauche als früher, vermute ich –, habe ich es mir in letzter Zeit nämlich angewöhnt, das Mittagessen im Stehen in der Küche einzunehmen. Dabei stopfe ich mir auch wie dieser Typ Zeug in den Mund, bevor ich den vorherigen Bissen überhaupt richtig gekaut und geschluckt habe. Nicht selten musste ich deshalb schon zur Spüle hasten und Wasser trinken, um nicht zu ersticken – und das alles gänzlich ohne Eieresswettbewerb.

Ich hatte Melanie gesagt, sie solle heute mit Robin vorbeikommen, damit ich ihn in Augenschein nehmen könne, und heute Abend klingelte sie bei mir. Es ist wirklich eigentümlich: Ich brauche inzwischen viel länger, um die Treppe runterzukommen, und wenn jemand an der Haustür ist, bin ich meist ausgerechnet oben. Dann tappe ich nach unten und halte mich dabei sorgsam am Geländer fest, und just, wenn ich unten ankomme, wird meist noch mal furchtbar laut und lange geklingelt, worauf ich jäh zusammenzucke, die Tür aufreiße und damit den Menschen draußen fast zu Tode erschrecke. Um dieses unerquickliche Türdrama zu vermeiden, bin ich dazu übergegangen, wie eine irre Alte zu brüllen: »Komme! Komme! Nur die Ruhe!«

Meine Ungehaltenheit verflüchtigte sich jedoch auf der Stelle, als ich Robin erblickte, der neben Melanie stand. Er ist einer dieser kultivierten alten Hippies von der besten Sorte: groß und schlaksig und etwas gebeugt, aber mit leuchtend blauen Augen und humorvollem Lächeln. Er musterte mich mit charmanter Miene, und ich war auf Anhieb entzückt – zumindest bis er vor sich hin murmelnd über die Schwelle trat und dabei so bizarr mit den Händen fuchtelte wie Joe Cocker, wenn er With a Little Help From My Friends sang.

»Er macht das Schwellenritual«, raunte Melanie mir zu.

»Muss er das jedes Mal machen, wenn er ein fremdes Haus betritt?«, raunte ich beunruhigt zurück.

»Nein, nur beim ersten Mal«, antwortete Melanie. »Damit segnet er das Haus und schützt sich vor unglücklichen oder boshaften Geistern, die vielleicht hier ihr Unwesen treiben.«

»Ich hoffe doch, er hält mich nicht für einen unglücklichen …«

»Nein, natürlich nicht«, versicherte mir Mel. »Da geht es um Menschen, die vielleicht früher mal hier gelebt haben. Also, Robin – das ist meine Freundin Mar.«

»Marie«, korrigierte ich und schüttelte Robin die Hand.

»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus«, sagte er mit liebenswürdigem Lachen. »Viele meiner Freunde halten mich für komplett plemplem. Aber ich finde, schaden kann es nie, und vielleicht hilft es ja ein paar armen Seelen, endlich Ruhe zu finden. So!«, fügte er dann hinzu, atmete im Flur tief ein und sah sich um. »Ich spüre es bereits! Dieses Haus hat eine wunderbar heitere und friedvolle Atmosphäre. Das kann ich wirklich über wenige Häuser sagen, versichere ich Ihnen. Es ist voller Lachen, Herzenswärme, Kreativität und Liebe!«

Angesichts der Tatsache, dass dieses Haus von mir bewohnt wird, die ich mein Leben mit albernen Ängsten zubringe – wie der Annahme, dass ich dement sei, weil mir der Vorname von Churchill nicht mehr einfällt –, konnte ich Robin eigentlich nicht beipflichten. Aber es war ein reizendes Kompliment, weshalb ich beschloss, über das Schwellenritual hinwegzusehen.

Wir nahmen einen kleinen Lunch-Salat zu uns, und als Robin danach seine unvermeidlichen Nahrungsergänzungspillen zum Vorschein brachte, war er höflich genug, sie herumzureichen wie Zigaretten – gute Manieren, vermutlich erlernt im Eliteinternat. Melanie bediente sich, aber ich hatte nicht die Absicht, von irgendwem sonderbare Pillen anzunehmen.

»Ah, verstehe, Sie brauchen so was nicht«, sagte Robin und warf mir ein strahlendes, wissendes Lächeln zu. »Sie sind eine alte Seele, das spüre ich.«

»So alt nun auch wieder nicht«, erwiderte ich etwas pikiert.

»Je älter man innerlich ist, desto jünger ist man äußerlich. Yin und Yang«, fügte Robin sofort hinzu. »Sie müssen mir das Zimmer übrigens gar nicht zeigen – ich weiß jetzt schon, dass es mir gefallen wird. Aber ich will Sie keinesfalls unter Druck setzen. Mel hat mir die Lage erklärt. Ich würde nur gern hier wohnen, bis ich was anderes gefunden habe – ein paar Monate vielleicht. Und ich zahle immer mit Dauerauftrag. Übrigens bin ich mir sicher, dass wir beide uns schon aus einem anderen Leben kennen …«

Später

Auwei, ich komme mir ziemlich albern vor. Aber ich habe mich tatsächlich dazu hinreißen lassen, Robin das Zimmer sofort zu vermieten. Normalerweise bestehe ich bei neuen Untermietern auf einer Probezeit, aber Robin ist so ein Schatz, dass ich ihm einfach nicht widerstehen konnte. Und er ist auch ziemlich attraktiv. Ich meine, ich habe ja David, aber da ich nicht die ganze Zeit mit ihm zusammen bin, wäre es recht nett, ab und an mal ein klein wenig mit Robin zu flirten. So was tut dem guten alten Ego immer gut. Außerdem wird Robin ja nicht ewig hier wohnen, wie er selbst sagt. Aber als wir an einem Bücherregal vorbeikamen, war er so begeistert von der Literatur, die er darin entdeckte – »Anna Kavan! Arthur Koestler! Julian MacLaren-Ross! Jocelyn Brooke! Denton Welch! Was für eine erlesene und anspruchsvolle Sammlung Sie haben. Das sind auch meine Lieblingsautoren« –, dass ich wirklich beinahe glaubte, wir wären uns in einem früheren Leben schon mal begegnet.

Obwohl ich gar nicht an frühere Leben glaube, möchte ich hinzufügen.

13. Januar

Sitze im Morgenmantel mit meinem Laptop am Kamin und schreibe. Pouncer träumt offenbar was Furchtbares, denn seine Ohren sind komplett nach hinten geklappt. Vielleicht sollte ich mal Melanies Traumfänger an Pouncer ausprobieren – aber wie ich meinen Kater kenne, würde er das Ding wohl für einen Vogel halten und in Stücke reißen.

Penny war gerade zum Abendessen hier; sie ist ausgesprochen scharf auf diese Indiengeschichte. Ich muss gestehen, dass ich mir kurzzeitig immer wieder wünsche, niemandem davon erzählt zu haben, denn es wird eine sagenhaft klischeehafte Angelegenheit à la »Vier alte Damen auf Abenteuerreise in Indien« werden. Wir planen, drei Wochen dort zu sein, was mir schrecklich lang vorkommt, aber für zwei Wochen würde sich so eine weite Reise gar nicht lohnen. Bin aber entzückt, dass Penny mitkommt, denn nur mit Melanie, die sich auf Schritt und Tritt mit gefalteten Händen verbeugen und »Nastase« sagen wird, und mit Marion Gutmensch, die dort bestimmt andauernd über das Elend jammert, würde es wohl nicht sehr lustig werden. Ich vermute auch, dass man dort nicht so leicht an Alkohol kommt, was gut ist für Penny (habe leider feststellen müssen, dass sie selbigem zurzeit sehr zugeneigt ist).

Morgen jedenfalls fahre ich zu David und werde einen schönen Tag haben. David will mich zum Abendessen ausführen, und wenn wir vorher noch Zeit haben, schauen wir auf ein paar Drinks bei James rein. Da er ja von seinem verstorbenen Partner Hughie jede Menge Geld geerbt hat, trinkt James nur noch Champagner. Und den vermutlich eimerweise, seit er ins gottverlassene Fakeley gezogen ist, um mit Owen zusammenzuleben. (Während Owen die Farm bewirtschaftet, betätigt sich James offenbar im Stil von Derek Jarman und Andy Goldsworthy als »Naturkünstler«. Was sicher mein Lügentalent auf die Probe stellen wird, wenn ich James’ »Werke« dann zu Gesicht bekomme.)

Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Owen. Ich fand ihn sehr nett, als James ihn uns in London vorstellte. Und dass ich ihn nett finde, ist auch die Wahrheit, weil ich mein Tagebuch nicht belüge. Na ja, nur manchmal, wenn ich meine Gedanken selbst zu gemein finde; es wäre schließlich schrecklich, wenn nach meinem Tod jemand meine Tagebücher lesen und merken würde, was für eine abscheuliche, niederträchtige Kreatur ich in Wirklichkeit bin.

Habe regelrecht Sehnsucht nach David. Wir haben zwar telefoniert, aber ich habe ihn ja seit Neujahr nicht mehr gesehen.

Später

Gerade ist Robin eingezogen – um einiges später als geplant. Fühlte mich etwas daneben, als ich ihn im Morgenmantel empfing. Doch da der Mann mich künftig oft in dieser Aufmachung sehen wird, kann er den Schock auch ruhig gleich verdauen. Außerdem ist mein Morgenmantel ein durchaus glamouröses Kleidungsstück. Weil ich darin so viel Zeit verbringe, trage ich eine Art Operngewand, in der Hoffnung, dass die kunstvolle Stickerei und der wunderbar gearbeitete Kragen sowie die prachtvollen Manschetten von meinem zerknautschten Frühmorgengesicht oder meiner schlaffen Spätabendfratze ablenken können. (Und früh am Morgen kann bei mir durchaus bis zwölf Uhr mittags heißen.)

Wunderte mich ziemlich, dass Robin mit so wenigen Sachen ankam. Er sagt, das meiste habe er gelagert oder für die neuen Mieter in seiner Wohnung zurückgelassen. Aber er brachte einen Mandalateppich mit (der heißt offenbar so wegen seines runden Musters, das irgendwas mit heiliger Geometrie zu tun hat, hat Robin mir erklärt). Und er hatte jede Menge alte Bücher, Papier, Bleistifte, Zeicheninstrumente und seltsamerweise einen Zauberstab dabei. Als ich den in der Schachtel sah, hielt ich ihn für einen Zweig und sagte: »Das kann ich sicher wegwerfen, oder?« Worauf Robin mir die Schachtel entsetzt aus der Hand nahm und erklärte, der Stab habe magische Kräfte, und er habe ihn am Tag der Sonnenwende von einem Baum in Glastonbury geschenkt bekommen.

»Von einem Baum?«, fragte ich etwas beunruhigt.

»Ja«, antwortete Robin. »Einem sehr engen Freund von mir.«

Und dabei ließen wir es dann bewenden.

Momentan hört Robin Walgesänge, die ich ziemlich grausig finde. Aber ich werde mich im Lauf der Zeit bestimmt daran gewöhnen.

Später

Gerade kam Robin runter und fragte nach dem WLAN-Passwort. Als ich ihm die Zahlen nannte, schien er auf seinem Handy irgendeine Berechnung anzustellen.

»Was machst du da?«, fragte ich.

Er blickte auf und sah mich lächelnd an. »Ach, nur ein bisschen Numerologie. Keine Sorge – diese Zahl ist unbedenklich. Ich wollte nur vermeiden, die Echsen auf den Plan zu rufen.«

Echsen?

14. Januar

Bevor ich Robin nach den Echsen fragen konnte, kündigte er an, dieses Wochenende bei einem Bewusstseinserweiterungsworkshop in Hastings zu sein. Was ich etwas ärgerlich fand, weil ich meine Untermieter immer gern im Haus habe, um Einbrecher abzuschrecken, während ich verreist bin. Aber Robin versprach, ein Räucherritual mit Salbei zu machen, bevor er aufbrach, wonach das Haus angeblich komplett geschützt sei. Darüber war ich nicht allzu glücklich, weil ich fürchtete, dass er dabei überall Asche verstreuen würde. Robin versicherte mir jedoch, es sei rein symbolisch und ganz und gar unbedenklich.

Später

War tagelang nicht mit meinem zauberhaften Fiat 500 unterwegs und hoffte, dass er nicht so eingerostet sein würde wie ich, wenn ich eine Zeitlang keinen Spaziergang gemacht habe. Als ich aus dem Fenster blickte und Ausschau hielt nach meinem hübschen Auto, glitzerte es so leuchtend blau wie immer (war allerdings, wie ich bestürzt feststellte, gesprenkelt mit Vogeldreck, weil ich es dummerweise unter einem Baum geparkt hatte). Aber ob wohl sein Innenleben gut in Schuss war? Womöglich hatte die Batterie jegliche Hoffnung aufgegeben und war wie ein Hund auf dem Grab seines Herrn einfach verschieden.

Doch es war alles paletti. Ich verstaute meinen Koffer – in den ich auch das Geburtstagsgeschenk von Penny gepackt hatte –, ließ mich auf dem Fahrersitz nieder und brauste los.

David wiederzusehen war großartig; er wirkte allerdings sehr enttäuscht, als ich sagte, ich würde nur zwei Nächte bleiben.

»Ich hatte gedacht, wir könnten übermorgen zum Glastonbury Tor fahren«, sagte er. »Weißt du noch, wie wir vor unserer Hochzeit da hochgestiegen sind?«

Natürlich wusste ich das noch. Und ich erinnerte mich auch sehr genau daran, dass David mir auf dem Gipfel den Heiratsantrag gemacht hatte. Weshalb mir jetzt besonders viel daran gelegen war, dem Glastonbury Tor keinen Besuch abzustatten.

»Ein andermal«, erwiderte ich, recht kurz angebunden. Danach war die Stimmung etwa fünf Minuten lang etwas angespannt, aber es gelang uns schließlich, die atmosphärische Störung zu vergessen, während wir versuchten, eine Aubergine im Ofen zu backen, um Baba Ghanoush zu machen. Was uns beiden bislang kein einziges Mal geglückt war und auch diesmal nicht gelang. Wie üblich hatten wir am Ende eine matschige Pampe, die wie verfaulende Froschzungen schmeckte.

15. Januar

Mein Geburtstag! Wir hatten eine kuschelige Nacht zusammen und erwachten beide bestens gelaunt.

David schenkte mir eine interessant aussehende DVD über eine in Vergessenheit geratene New Yorker Fotografin namens Vivian Maier, mit einer Karte, auf der stand: Heute bist du fünfundzwanzigtausendzweihundertachtundneunzigeinhalb Tage alt. Von Penny hatte ich handgemachte Zwetschgenmarmelade bekommen – keine Ahnung, wo sie die erstanden hatte, aber sie schmeckte absolut köstlich. Auf Pennys Karte stand: Älterwerden ist nichts für Feiglinge!

Vor dem Mittagessen rief Jack an, um zu gratulieren, und Gene war auch dran und wollte wissen, ob mir die Karte gefiele, die er mir geschickt hatte.

»Ich habe keine Karte bekommen«, sagte ich.

»Aber ich hab sie dir doch aufs Handy geschickt, Oma!«

»Ach Schatz, du weißt doch, dass mein Handy ein altes Nokia ist. Damit kann ich so was nicht empfangen!«

Am anderen Ende entstand ein Schweigen. »Das ist aber komisch«, sagte Gene schließlich. »Bist du auch ganz sicher?«

»Ja, bin ich«, antwortete ich, recht enttäuscht. »Na ja, vielleicht sollte ich mir zum Geburtstag selbst ein neues Handy schenken. Was hältst du davon?«

»Ja, cool, und dann schick ich dir die Karte noch mal«, erwiderte Gene.

Die Lüge war unvermeidlich. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, ihm zu gestehen, dass ich mir nie und nimmer ein iPhone zulegen würde. Und alles, was mit einem kleingeschriebenen Buchstaben beginnt, auf den dann – noch monströser – ein Großbuchstabe folgt, ist ganz gewiss der allerletzte Notnagel.

Später

Es war wirklich ein wunderbarer Abend. Der Besuch bei James und Owen musste allerdings gestrichen werden, denn wir konnten nicht viel trinken, weil wir mit dem Auto unterwegs waren, und hatten außerdem eine Reservierung im Restaurant. Aber David führte mich in die Alte Feuerwache aus, was derzeit in Shampton in aller Munde ist. Shampton, früher ein ganz gewöhnliches Städtchen auf dem Lande, zieht nun aus irgendwelchen Gründen solche Leute an, die ansonsten in Notting Hill leben. Die einstigen Fleischer, Gemüsehändler und Geschäfte, in denen man noch Nägel einzeln erstehen konnte, sind Lifestyle-Läden gewichen, in denen man Kissen, bizarre Lampen und riesige Fotos von einer Aubergine oder Quitte vor schwarzem Hintergrund angeboten bekommt.

Am Stadtrand gibt es eine Kunstgalerie in einem großen rechteckigen Gebäude – was früher vermutlich mal die Alte Schuhlederfabrik oder irgendwas in der Art war – inmitten von abscheulichen Gärten, die ein holländischer Gartenarchitekt verbrochen hat. Da befindet sich ein Fleck grauer Gräser bei einem Fleck brauner Gräser neben grünlichen Gräsern unweit schwarzer Gräser. Dann kommt man zu einer Kiesfläche, hinter der man auf ein weites Areal mit beigen Gräsern stößt. Früher gab es mal diesen Lavendeltrend, inzwischen sind es Gräser. Kann ich nicht nachvollziehen.

In der Alten Feuerwache bekamen wir einen Tisch in der Mitte, direkt neben der Rutschstange.

»Entschuldige, aber ich hab keinen anderen mehr bekommen«, sagte David. »Na ja, so merkt man jedenfalls, dass hier wirklich früher die Feuerwehr am Werk war.«

»Du musst auch nicht befürchten, dass ich hier Poledancing mache«, erwiderte ich. »Dafür bin ich mit neunundsechzig wirklich zu alt. Wahnsinn, wenn ich mir das überlege.«

»Für mich wirst du niemals alt sein«, sagte David.

»Weil du so alt bist, dass du mich nicht mehr richtig erkennen kannst.« Ich legte meine Hand auf seine. »Komisch, oder, dieser Trend zu alten Gebäuden? Letztes Jahr habe ich in einer alten Essigfabrik zu Abend gegessen.«

»Ja, es gibt hier auch noch die alte Pferdeklinik«, sagte David. »Und die alte Leichenhalle im Keller …«

»Meinst du, wenn Gene neunundsechzig ist, wird er im Alten Atomkraftwerk oder im Alten Kletterzentrum essen gehen?«

»Haben Sie heute Geburtstag?«, fragte unvermittelt die Frau am Nebentisch und beugte sich zu uns herüber. Wie sich herausstellte, handelte es sich um die gefährliche Witwe Bossom, Davids Stalkerin. »Herzlichen Glückwunsch!«

Ich lächelte möglichst erfreut und bedankte mich höflich.

»Wie schnell die Jahre vergehen, nicht wahr«, äußerte die Witwe Bossom. In ihren blond gefärbten Haaren steckte eine Sonnenbrille – abends! –, und ihre eng anliegende Hemdbluse war für eine Frau ihres Alters eindeutig zu weit aufgeknöpft. Mit einem Blick unter den Tisch stellte ich fest, dass sie eine eng sitzende Jeans mit Leopardenmuster trug, die in Wildlederstiefel gesteckt war. Gertenschlank war die Witwe nicht gerade, und ihr Outfit hinterließ den Eindruck, als würde sie demnächst aus ihren Kleidern platzen – der Busen zuvorderst. Die Stimme war rau und kehlig und klang nach ausgiebigem Gin-Tonic-Konsum.